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TikTok made me buy it! Der erste Band der preisgekrönten Krimireihe rund um Pip Fitz-Amobi
Der New-York-Times-Bestseller, bekannt aus der Netflix-Serie Heartstopper
»Es geht um das, was vor fünf Jahren passiert ist.«
»Warum?«, fragte er.
»Weil ich nicht glaube, dass es dein Bruder war - und ich will versuchen, es zu beweisen.«
Vor fünf Jahren wurde die siebzehnjährige Andie Bell ermordet. Der Fall ist längst abgeschlossen, denn alle sind sich sicher, dass ihr Freund Sal Singh die Tat begangen hat. Nur Pippa glaubt nicht daran und will den Fall für ein Schulprojekt noch einmal aufrollen. Sie beginnt nachzuforschen und Fragen zu stellen. Aber was ist, wenn der Mörder noch frei herumläuft? Wie weit wird er gehen, um Pippa davon abzuhalten, die Wahrheit ans Licht zu bringen?
Packend und nervenaufreibend bis zur letzten Seite
Für alle Fans von One of Us Is Lying, We Were Liars und Riverdale
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Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Teil I
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Teil II
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Teil III
Neunundzwanzig
Dreißig
Einunddreißig
Zweiunddreißig
Dreiunddreißig
Vierunddreißig
Fünfunddreißig
Sechsunddreißig
Siebenunddreißig
Achtunddreißig
Neununddreißig
Vierzig
Einundvierzig
Zweiundvierzig
Dreiundvierzig
Vierundvierzig
Fünfundvierzig
Sechsundvierzig
Siebenundvierzig
Achtundvierzig
Neunundvierzig
Drei Monate später
Impressum
Eigentlich ist der Fall abgeschlossen: Vor fünf Jahren wurde die Schülerin Andy Bell von ihrem Freund Sal Singh ermordet. Die Polizei ist sich sicher, dass es so war. Die ganze Stadt ist sich sicher. Alle – außer Pippa. Für ein Schulprojekt will sie den Fall noch einmal aufrollen. Bewaffnet mit ihrem Laptop, einer Diktiergerät-App und viel Mut beginnt Pippa, Fragen zu stellen. Doch bald merkt sie, dass nicht alle wollen, dass die dunklen Geheimnisse der Vergangenheit gelüftet werden ...
Holly Jackson, geb. 1992, hat sich schon als Kind gern Geschichten ausgedacht. Sie lebt in London, und wenn sie nicht gerade schreibt oder liest, spielt sie am liebsten Videospiele oder sucht nach Rechtschreibfehlern auf Verkehrsschildern. A Good Girl‘s Guide to Murder ist ihr Debüt.
Pip wusste, wo sie wohnten.
Jeder in Little Kilton wusste, wo sie wohnten.
Ihr Zuhause war zu einem Spukhaus geworden. Die Leute gingen schneller, wenn sie dort vorbeimussten, und ihre Unterhaltungen erstarben mitten im Gespräch. Nach Schulschluss bildeten sich kleine Gruppen kreischender Kinder, die sich gegenseitig herausforderten, zum Haus zu laufen und die Gartenpforte zu berühren.
Doch in dem Haus lebten keine Geister, sondern nur drei traurige Menschen, die sich bemühten, ihr Leben wie früher weiterzuleben. Es gab keine flackernden Lampen oder von Geisterhand umgekippte Stühle, dafür ein in schwarzen Lettern aufgesprühtes »Abschaum« und von Steinen eingeworfene Fensterscheiben.
Pip hatte sich immer gefragt, warum sie nicht fortzogen. Nicht, dass sie es müssten, denn sie hatten ja nichts verbrochen. Aber sie verstand nicht, wie diese Leute so leben konnten.
Pip wusste eine Menge; sie wusste, dass Hippopotomonstrosesquippedaliaphobie der wissenschaftliche Ausdruck für die Furcht vor langen Wörtern war; sie wusste, dass Babys ohne Kniescheiben zur Welt kommen konnten; sie kannte die besten Zitate von Plato und Cato auswendig, und sie wusste, dass es über viertausend Kartoffelsorten gab. Aber sie verstand nicht, woher die Singhs die Kraft nahmen, zu bleiben. Hier, in Kilton, unter der Last so vieler starrender Blicke, des Getuschels, das gerade laut genug war, um es zu verstehen, des nachbarlichen Smalltalks, der nie mehr zu einer richtigen Unterhaltung wurde.
Besonders grausam war es, dass sich ihr Haus so nahe an der Little Kilton Grammar School befand, auf die sowohl Andie Bell als auch Sal Singh gegangen waren und an die Pip in wenigen Wochen, wenn die vom August trunkene Sonne in den September überginge, für ihr letztes Jahr zurückkehren würde.
Pip blieb stehen und legte eine Hand auf die Pforte, womit sie mehr Mut bewies als die Hälfte der anderen Kinder des Städtchens. Ihr Blick wanderte den Weg zur Haustür entlang. Es mochten nur wenige Schritte sein, doch fühlte es sich an, als klaffte ein gähnender Abgrund zwischen der Stelle, an der sie stand, und der Tür. Dies könnte eine sehr schlechte Idee sein; das hatte sie durchaus bedacht. Die Vormittagssonne war heiß, und sie spürte schon, wie ihre Kniekehlen unter der Jeans klebrig wurden. War die Idee kühn oder einfach nur dumm? Andererseits hatten selbst die größten Persönlichkeiten der Geschichte immer Risiko über Sicherheit gestellt. Wollte sie etwas erreichen, musste sie das auch tun. Also pfiff sie auf den Abgrund und ging auf die Tür zu, an der sie nur eine Sekunde stockte, um sich zu vergewissern, dass sie dies hier wirklich wollte. Sie klopfte dreimal. In der Haustür sah sie ihr angespanntes Spiegelbild: das lange dunkle Haar, an den Spitzen zu einem helleren Braun ausgeblichen; das Gesicht, das blass war, obwohl sie die letzte Woche in Südfrankreich verbracht hatte, die durchdringenden, schlammgrünen Augen, gewappnet für das, was kommen würde.
Sie hörte das Rasseln einer Kette und ein doppeltes Klicken im Schloss. Dann schwang die Tür auf.
»Ja?«, fragte er, wobei er die Tür nur halb offen hielt. Pip blinzelte, um nicht zu starren, aber sie konnte einfach nicht anders. Er sah Sal so ähnlich, dem Sal, den sie aus all den Fernsehberichten und von den Zeitungsfotos her kannte. Wie der Sal, dessen Bild in ihrer Erinnerung schon zu verblassen begann. Ravi hatte das gleiche wilde, zur Seite gestrichene schwarze Haar wie sein Bruder, die gleichen gebogenen Augenbrauen und den gleichen dunklen Teint.
»Ja?«, fragte er wieder.
»Ähm ...« Pips spontaner Charmereflex versagte. Ihr Hirn verarbeitete noch, dass er, im Gegensatz zu Sal, ein Kinngrübchen hatte, genau wie sie selbst. Und er war noch größer geworden seit dem letzten Mal, als sie ihn gesehen hatte. »Ähm, entschuldige, hi.« Sie winkte linkisch, was sie umgehend bereute.
»Hi?«
»Hi, Ravi«, sagte sie. »Ich ... du kennst mich nicht ... Ich bin Pippa Fitz-Amobi. Ich war ein paar Klassen unter dir in der Schule, bevor du abgegangen bist.«
»Okay ...«
»Ich wollte nur fragen, ob du vielleicht ein Sekündchen Zeit hast? Na ja, kein Sekündchen ... Hast du gewusst, dass Sekündchen tatsächlich eine Zeiteinheit ist? Ein Hundertstel einer Sekunde, also ... hast du vielleicht mehrere Sekündchen Zeit?«
Gott, das passierte, wenn sie nervös war oder sich in die Enge getrieben fühlte: Sie fing an, blödsinnige, als schlechte Witze getarnte, Fakten von sich zu geben. Und noch etwas: War sie nervös, wurde Pippa schlagartig arroganter und klang wie ein reicher Snob. Wann hatte sie jemals im Ernst von »Sekündchen« gesprochen?
»Was?«, fragte Ravi sichtlich verwirrt.
»Sorry, egal«, sagte Pip, die sich langsam erholte. »Also ich mache eine EPQ an der Schule und ...«
»Was ist eine EPQ?«
»Erweiterte Projektqualifizierung. Das ist ein Projekt, das man im letzten Schuljahr selbstständig machen muss. Man kann das Thema frei wählen.«
»Oh, bis dahin bin ich in der Schule nie gekommen«, sagte er. »Ich bin runter, sobald ich konnte.«
»Äh, tja, ich wollte fragen, ob ich dich für mein Projekt interviewen darf.«
»Worum geht es?« Skeptisch zog er die dunklen Augenbrauen zusammen.
»Ähm ... es geht um das, was vor fünf Jahren passiert ist.«
Ravi atmete laut aus und verzog den Mund. Er sah angespannt, fast wütend aus.
»Warum?«, fragte er.
»Weil ich nicht glaube, dass es dein Bruder war – und ich will versuchen, es zu beweisen.«
Pippa Fitz-Amobi
EPQ 01. 08. 2017
Protokoll – Eintrag 1
Dieses Protokoll soll eigentlich mögliche Hindernisse aufzeichnen, auf die man bei der Recherche, beim Schreiben und bei den Zielen für den Abschlussbericht stoßen kann. Mein Protokoll wird ein wenig anders aussehen: Ich werde meine gesamte Recherche hier aufzeichnen, sowohl relevante wie auch irrelevante Fakten und Ergebnisse, weil ich bisher noch nicht genau weiß, wie mein Abschlussbericht aussehen wird oder was am Ende relevant sein könnte. Ich weiß nicht, worauf ich hinauswill. Deshalb muss ich schlicht abwarten, wo ich am Ende meiner Recherche stehe und wie dann mein Essay aussehen soll. [Wird das jetzt ein bisschen wie ein Tagebuch???]
Ich hoffe, dass es nicht der Essay wird, den ich Mrs. Morgan vorgeschlagen hatte, sondern die Wahrheit: Was passierte wirklich am 20. April 2012 mit Andie Bell? Und wenn Salil, »Sal«, Singh – wie mir mein Gefühl sagt – nicht schuldig ist, wer hat sie dann umgebracht?
Ich glaube nicht, dass ich den Fall tatsächlich aufkläre und herausbekomme, wer Andie ermordet hat. Ich bin keine Polizistin mit Zugriff auf ein forensisches Labor (logisch). Ich hoffe, dass ich bei meiner Recherche Fakten aufdecken kann, die zu berechtigten Zweifeln an Sals Schuld führen werden und belegen, dass es falsch von der Polizei war, diesen Fall ohne weitere Nachforschungen abzuschließen.
Deshalb wird meine Recherche-Methode sein: Befragung aller Betroffenen, obsessives Social-Media-Stalking und wilde, WILDE Spekulation.
[LASS MRS. MORGAN NICHTS HIERVON SEHEN!!!]
Das erste Stadium dieses Projekts wird also eine Recherche sein: Was geschah mit Andrea Bell – allen bekannt als Andie? Und wie waren die Umstände ihres Verschwindens? Diese Informationen werde ich Zeitungsartikeln und Pressemitteilungen der Polizei aus der Zeit entnehmen.
[Notier dir deine Quellen gleich, damit du es nicht später machen musst!!!]
Copy and Paste der ersten landesweiten Meldung zu ihrem Verschwinden:
»Andrea Bell, 17, wurde letzten Freitag in Little Kilton, Buckinghamshire, vermisst gemeldet.
Sie verließ ihr Elternhaus in ihrem Wagen – einem schwarzen Peugeot 206 –, hatte ihr Handy dabei, nahm aber keine Kleidung mit. Die Polizei sagt, ihr Verschwinden sei ›vollkommen untypisch‹.
Die Polizei hat am Wochenende ein Waldgebiet in der Nähe ihres Elternhauses abgesucht.
Andrea, genannt Andie, ist weiß, 1,68 m groß und hat langes blondes Haar. Am Abend ihres Verschwindens hat sie wahrscheinlich eine dunkle Jeans und einen bauchfreien blauen Pullover getragen.1
Spätere Artikel haben mehr Einzelheiten dazu geliefert, wann Andie zuletzt lebend gesehen wurde, und zu dem Zeitfenster, in dem sie entführt worden sein musste.
Andie Bell wurde »zuletzt von ihrer jüngeren Schwester Becca gegen 22:30 Uhr am 20. April 2012 lebend gesehen«.2
Dies stimmt mit dem überein, was die Polizei in einer Pressemitteilung am Dienstag, den 24. April, herausgab: »Die Aufnahmen einer Überwachungskamera vor der STN-Bank in der Little Kilton High Street zeigen Andies Wagen um 22:40 Uhr, der sich von ihrem Elternhaus weg bewegt.«3
Laut Aussage ihrer Eltern, Jason und Dawn Bell, sollte Andie sie »um viertel vor eins in der Nacht von einer Party abholen.« Als sie nicht kam und auch nicht auf ihre Anrufe reagierte, fragten sie bei ihren Freunden nach, ob jemand wüsste, wo sie sei. Um 03:00 Uhr am Samstagmorgen »rief [Jason Bell] die Polizei an und meldete seine Tochter als vermisst.«4
[Diese Stelle scheint mir geeignet, um mein Telefoninterview mit Angela Johnson von der Vermisstenstelle aufzuzeichnen, das ich gestern geführt hatte.]
Transkript des Interviews mit Angela Johnsonvon der Vermissten-Abteilung der Polizei
Angela:
Hallo.
Pip:
Hi, spreche ich mit Angela Johnson?
Angela:
Ja. Sind Sie Pippa?
Pip:
Ja. Vielen Dank, dass Sie auf meine E-Mail geantwortet haben.
Angela:
Kein Problem.
Pip:
Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich dieses Interview aufzeichne, damit ich es später für mein Projekt abtippen kann?
Angela:
Nein, ist in Ordnung.
Pip:
Also, ich habe mich gefragt, ob Sie mir erklären könnten, wie es genau abläuft, wenn jemand vermisst gemeldet wird. Was sind die ersten Schritte, die die Polizei unternimmt?
Angela:
Nun, wenn jemand den Notruf wählt und jemanden vermisst meldet, versucht die Polizei, so viele Einzelheiten wie möglich zu erfahren, um die potenzielle Gefährdung der vermissten Person einschätzen zu können und entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Die Details, nach denen wir bei dieser ersten Meldung fragen, sind Name, Alter, Aussehen, welche Kleidung die Person zuletzt getragen hat, die Umstände des Verschwindens, ob es untypisch für diese Person ist, einfach zu verschwinden, und Einzelheiten zum Fahrzeug, wenn eines beteiligt ist. Anhand dieser Informationen entscheidet die Polizei, ob es sich um einen Fall mit hohem, niedrigem oder mittlerem Risikopotenzial handelt.
Pip:
Und bei welchem Fall wäre das Risikopotenzial hoch?
Angela:
Wenn die Person aufgrund ihres Alters oder einer Behinderung gefährdet ist. Oder wenn ihr Verhalten untypisch ist, sodass ihr Verschwinden bedeuten könnte, dass ihr etwas zugestoßen ist. Dann würden wir ebenfalls von hohem Risiko sprechen.
Pip:
Ähm, also wenn die vermisste Person siebzehn Jahre alt ist und es heißt, dass ihr Verschwinden nicht zu ihr passt, wäre das auch ein Hochrisiko-Fall?
Angela:
Immer, wenn es um Minderjährige geht.
Pip:
Und wie würde die Polizei in so einem Fall reagieren?
Angela:
Tja, es würden sofort Beamte zu dem Ort geschickt werden, von dem die Person verschwunden ist. Ein Officer würde weitere Einzelheiten zur vermissten Person erfragen, wie zum Beispiel Namen und Adressen von Freunden oder Partnern, etwaige gesundheitliche Beschwerden und die Bankdaten, für den Fall, dass die Person versucht, Geld abzuheben, und so gefunden werden könnte. Außerdem braucht die Polizei neuere Fotos von der vermissten Person, und bei einem hohen Risiko werden eventuell schon DNS-Proben genommen für spätere forensische Untersuchungen. Wenn die Eigentümer zustimmen, würde man eine gründliche Durchsuchung des Hauses oder der Wohnung vornehmen, falls sich die vermisste Person dort versteckt hat oder versteckt wird, und um mögliche Hinweise oder Spuren zu finden. Das ist das normale Prozedere.
Pip:
Dann sucht die Polizei sofort nach Hinweisen dafür, dass die vermisste Person Opfer eines Verbrechens geworden ist?
Angela:
Unbedingt. Sind die Umstände des Verschwindens verdächtig, lautet die Anweisung für die Officers: »Im Zweifelsfall gehen wir von Mord aus.« Natürlich entpuppt sich nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Vermisstenfälle als Mordfälle, aber die Officers sind angewiesen, von Anfang an Beweise zu dokumentieren, als würden sie in einem Mord ermitteln.
Pip:
Und was passiert, wenn sich bei der ersten Hausdurchsuchung nichts ergibt?
Angela:
Dann wird die Suche auf die unmittelbare Umgebung ausgeweitet. Eventuell ruft die Polizei Telefondaten ab. Es werden Freunde, Nachbarn und alle befragt, die relevante Informationen haben könnten. Wenn es sich um einen jungen Menschen, also um einen Teenager handelt, der vermisst wird, kann man nicht davon ausgehen, dass die Eltern jeden der Freunde und Bekannten kennen. Gleichaltrige sind dann ein guter Ansatzpunkt, um wichtige Kontakte herauszufinden, Sie wissen schon, heimliche Freunde, solche Sachen. Und es wird normalerweise eine Pressestrategie besprochen, weil öffentliche Aufrufe in den Medien in solchen Situationen sehr nützlich sein können.
Pip:
Also, wenn eine Siebzehnjährige vermisst wird, würde die Polizei sehr früh ihre Freundinnen und ihren Freund kontaktieren?
Angela:
Ja, natürlich. Solche Erkundigungen werden schon deshalb eingeholt, weil eine vermisste Person, die weggelaufen ist, sich wahrscheinlich mit jemandem versteckt, der ihr nahesteht.
Pip:
Und ab wann würde die Polizei in einem Vermisstenfall davon ausgehen, dass sie nach einer Leiche suchen muss?
Angela:
Nun, was den Zeitpunkt betrifft, gibt es keine ... Oh, Pippa, ich muss Schluss machen. Tut mir leid, ich werde in mein Meeting gerufen.
Pip:
Okay, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben.
Angela:
Und falls Sie noch mehr Fragen haben, schicken Sie mir einfach eine E-Mail. Ich antworte dann, so schnell ich kann.
Pip:
Mach ich. Nochmals, danke.
Angela:
Bye.
Diese Statistiken entdeckte ich online:
80 % der Vermissten werden innerhalb der ersten 24 Stunden gefunden. 97 % werden innerhalb der ersten Woche gefunden. 99 % der Fälle werden innerhalb des ersten Jahres aufgeklärt. Womit nur 1 % übrig bleibt.
1 % der Menschen, die verschwinden, werden nie gefunden. Und es gibt noch eine andere Zahl, die zu bedenken ist: Nur 0,25 % aller Vermisstenfälle nehmen einen tödlichen Ausgang.5
Und was bedeutet das für Andie Bell? Sie bewegt sich irgendwo zwischen 1 % und 0,25 %.
Aber inzwischen gehen die meisten Leute davon aus, dass sie zu den 0,25 % gehört, obwohl ihre Leiche nie gefunden wurde. Und warum ist das so?
Wegen Sal Singh.
Pips Hände schwebten über der Tastatur, ihre Zeigefinger über dem W und dem H, als sie angestrengt dem Lärm unten lauschte. Ein Krachen, schwere Schritte, rutschende Pfoten und lautes Jungsgekicher. Im nächsten Moment war alles klar.
»Joshua! Wieso hat der Hund eines von meinen Batikhemden an?!«, tönte Victors laute Stimme von unten durch Pips Teppich.
Pip lachte schnaubend, während sie ihr Protokoll speicherte und den Laptop zuklappte. Dieses lautstarke Theater, das einsetzte, sobald ihr Dad von der Arbeit kam, war schon zu einem täglichen Ritual geworden. Ihr Dad war nie leise. Sein Flüstern konnte man quer durchs Zimmer hören; sein schenkelklopfendes Lachen war so laut, dass Leute dabei zusammenzuckten, und jedes Jahr wachte Pip verlässlich auf, wenn er auf Zehenspitzen durch den Flur oben schlich, um am Heiligabend die Weihnachtsstrümpfe zu befüllen.
Ihr Stiefvater war das wandelnde Gegenteil von dezent.
Unten fand Pip das Theater in vollem Gange. Joshua rannte von einem Raum zum anderen – von der Küche durch den Flur ins Wohnzimmer und wieder zurück, wobei er die ganze Zeit kicherte.
Dicht hinter ihm war Barney, der Golden Retriever der Familie, der Dads schrillstes Hemd trug, das grellgrüne, das er auf ihrer letzten Reise nach Nigeria gekauft hatte. Der Hund glitschte begeistert über die blanken Eichendielen im Flur und hechelte vor Aufregung.
Das Schlusslicht bildete Victor in einem Dreiteiler von Hugo Boss. Knapp zwei Meter groß, jagte er hinter dem Hund und dem Jungen her. Sein stoßweises Lachen wurde dabei beständig lauter. Die Amobi-Heimkino-Version von Scooby-Doo.
»Oh Mann, ich versuche hier, Hausaufgaben zu machen!«, rief Pip und machte grinsend einen Satz nach hinten, um nicht von dem Konvoi niedergemäht zu werden. Barney blieb kurz stehen, um ihr seinen Kopf gegen das Schienbein zu stoßen, bevor er weglief, um auf Victor und Josh zu springen, die gemeinsam auf das Sofa gesunken waren.
»Hallo, Sonnenschein«, strahlte Victor und klopfte auf das Sofapolster neben sich.
»Hi, Dad, du warst so leise, dass ich dich gar nicht gehört habe.«
»Pipsicle, du bist zu klug, um einen Witz zu recyceln.«
Sie setzte sich zu den beiden. Von Joshs und Dads schwerem Atem bewegten sich die Sofapolster unter ihren Beinen.
Josh begann, in seinem rechten Nasenloch zu bohren, und Victor schubste seine Hand weg.
»Wie war euer Tag?«, fragte er dann. Prompt legte Josh los, in aller Ausführlichkeit die Fußballspiele von heute zu beschreiben.
Pip schaltete ab; sie hatte das alles bereits im Auto gehört, als sie Josh vom Verein abgeholt hatte. Und da hatte sie schon nur halb hingehört, weil sie davon abgelenkt gewesen war, wie entgeistert der Ersatztrainer ihre blütenweiße Haut angestarrt hatte, als sie mit den Worten: »Ich bin Joshuas Schwester«, auf ihren neunjährigen Bruder deutete.
Mittlerweile sollte sie sich an die musternden Blicke der Leute gewöhnt haben, die versuchten, ihre Familienkonstellation zu begreifen und ihren Stammbaum zu entziffern. Der nigerianische Riese war ziemlich offensichtlich ihr Stiefvater und Joshua ihr Halbbruder. Aber Pip benutzte diese Wörter ungern, weil sie kalt und technisch klangen. Menschen, die man liebte, waren keine Algebra: Da ließ sich nichts berechnen, nichts subtrahieren oder mit einem Dezimalpunkt auf Abstand halten. Victor und Josh waren nicht bloß zu drei Achteln ihre Familie, nicht bloß zu vierzig Prozent mit ihr verwandt; sie gehörten vollständig zu ihr, ihr Dad und ihr nerviger kleiner Bruder.
Ihr »richtiger« Vater, der Mann, von dem das Fitz in ihrem Namen stammte, war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als sie zehn Monate alt gewesen war. Und obwohl Pip manchmal lächelnd nickte, wenn ihre Mum sie fragte, ob sie sich erinnerte, wie ihr Vater beim Zähneputzen immer gesummt hatte, oder wie er gelacht hatte, als eins von Pips ersten Wörtern »Kacka« war, erinnerte sie sich nicht an ihn. Aber manchmal war Erinnern eben nicht für einen selbst, sondern etwas, was man einfach tat, um jemand anderen zum Lächeln zu bringen. Solche Lügen waren erlaubt.
»Und wie läuft das Projekt, Pip?«, wandte Victor sich an sie, während er das Hemd, das der Hund immer noch trug, aufknöpfte.
»Ganz okay«, antwortete sie. »Im Moment sehe ich mir nur die Hintergrundinformationen an und tippe alles zusammen. Heute Morgen war ich bei Ravi Singh.«
»Oh, und?«
»Er hatte keine Zeit, aber ich kann am Freitag wiederkommen.«
»Ich würde das nicht machen«, wandte Josh ein.
»Weil du ein vorpubertärer Junge mit lauter Vorurteilen bist, der immer noch denkt, in Ampeln würden kleine Leute wohnen.« Pip sah ihn an. »Die Singhs haben nichts verbrochen.«
Victor schaltete sich ein. »Versuch dir mal vorzustellen, Josh, alle würden über dich urteilen wegen etwas, das deine Schwester gemacht hat.«
»Pip macht doch nie was anderes als Hausaufgaben.«
Mit einem perfekten Armschwung platzierte Pip ein Kissen direkt in Joshuas Gesicht. Victor hielt Joshs Arme unten, als er sich wehren wollte, und kitzelte ihn durch.
»Warum ist Mum noch nicht zurück?«, fragte Pip und nutzte den günstigen Moment, um mit ihrem von einer flauschigen Kuschelsocke bedeckten Fuß vor Joshs Gesicht herum zu wedeln.
»Sie wollte direkt von der Arbeit zu ihrem feuchtfröhlichen Mütter-Lesekreis«, grinste Victor.
»Heißt das ... wir dürfen Pizza zum Abendbrot essen?«, fragte Pip. Plötzlich war die Kabbelei mit Josh vergessen. Beim Thema Pizza hielten die beiden zusammen. Josh sprang auf und hakte sich bei Pip ein, um ihren Dad flehend anzusehen.
»Natürlich«, sagte Victor und tippte sich grinsend auf den Hintern. »Wie soll ich sonst diese Kiste für die Piste in Form halten?«
»Dad!«, stöhnte Pip und bereute, ihrem Vater jemals diesen Spruch beigebracht zu haben.
Pippa Fitz-Amobi
EPQ 02. 08. 2017
Protokoll – Eintrag 2
Was als Nächstes im Andie-Bell-Fall geschah, ist in den Zeitungsberichten ziemlich verwirrend dargestellt worden. Es gibt Lücken, die ich mit Mutmaßungen und Gerüchten auffüllen muss, bis sich aus späteren Interviews ein klareres Bild ergibt; hoffentlich können mir sein Bruder Ravi und Naomi, die eine von Sals besten Freundinnen war, dabei helfen.
Wie von Angela beschrieben, hatte die Polizei vermutlich erst die Aussagen der Bells aufgenommen, ihr Haus gründlich durchsucht und dann nach Kontaktdaten zu Andies Freunden gefragt.
Nach umfangreichem Stalking ihres Facebook-Verlaufs sieht es aus, als wären Andies engste Freundinnen zwei Mädchen namens Chloe Burch und Emma Hutton gewesen. Ich denke, hier ist mein Beweis:
Dieser Post ist zwei Wochen vor Andies Verschwinden entstanden. Wie es aussieht, wohnen Chloe und Emma nicht mehr in Little Kilton. [Vielleicht über Messenger anschreiben und fragen, ob sie ein Telefon-Interview geben?]
Chloe und Emma hatten an dem ersten Wochenende (21./22.04) eine Menge getan, um den Twitter-Aufruf der Thames Valley Police, #Find Andie, zu verbreiten. Ich halte es für keine übertriebene Spekulation anzunehmen, dass die Polizei Chloe und Emma entweder in der Freitagnacht oder am Samstagmorgen kontaktiert hat. Was sie der Polizei gesagt haben, weiß ich nicht. Aber das kann ich hoffentlich noch herausfinden.
Es ist bekannt, dass die Polizei mit Andies damaligem festen Freund gesprochen hat. Sein Name war Sal Singh, und er war mit Andie zusammen im letzten Jahr an der Kilton Grammar.
Irgendwann am Samstag sprach die Polizei mit Sal.
»Detective Inspector Richard Hawkins bestätigte, dass die Officers Salil Singh am Samstag, den 21. April, befragt hatten. Sie erkundigten sich, wo er sich die Nacht zuvor aufgehalten hatte, vor allem in der Zeit, in der Andie verschwunden sein musste.«6An dem Abend war Sal bei seinem Freund Max Hastings zu Hause gewesen, zusammen mit seinen vier besten Freunden: Naomi Ward, Jake Lawrence, Millie Simpson und Max.
Auch das muss ich nächste Woche überprüfen, wenn ich mit Naomi rede, aber ich glaube, Sal hatte der Polizei gesagt, dass er gegen viertel nach zwölf in der Nacht von Max weg und nach Hause sei, und sein Vater (Mohan Singh) bestätigte: »Sal war gegen 00:50 Uhr zu Hause«7. [Anmerkung: zu Fuß sind es von Max (Tudor Lane) zu Sal (Grove Place) ungefähr dreißig Minuten –sagt Google.]
Über das Wochenende bestätigten seine vier Freunde Sals Alibi.
Vermisstenplakate wurden aufgehängt, und die Tür-zu-Tür-Befragungen begannen am Sonntag.8
Am Montag halfen 100 Freiwillige der Polizei, das Waldgebiet abzusuchen. Ich hatte damals die Berichte in den Nachrichten gesehen. Es war ein ganzes Heer von Menschen unterwegs, das den Wald durchkämmte und ihren Namen rief. Später an dem Tag wurde ein Team von Spurensicherern gesehen, das ins Haus der Bells ging.9
Und am Dienstag wurde alles anders.
Ich denke, chronologisch vorzugehen ist am besten – also die Ereignisse von jenem Tag und den folgenden der Reihe nach durchzusehen, auch wenn wir, als Stadt, die Einzelheiten unsortiert und durcheinander erfuhren.
Am Dienstagvormittag: Naomi Ward, Max Hastings, Jake Lawrence und Millie Simpson kontaktierten die Polizei von der Schule aus und gestanden, falsche Angaben gemacht zu haben. Sie sagten aus, dass Sal sie gebeten habe, zu lügen, und dass er an dem Abend, an dem Andie verschwand, tatsächlich schon um 22:30 Uhr von Max weggegangen sei.
Ich weiß nicht genau, wie das korrekte Polizei-Prozedere war, aber ich schätze, dass Sal ab dem Zeitpunkt zu ihrem Hauptverdächtigen wurde.
Nur konnten sie ihn nicht finden. Sal war weder in der Schule noch zu Hause, und er ging nicht an sein Handy.
Später stellte sich allerdings heraus, dass Sal an dem Morgen eine Textnachricht an seinen Vater geschickt hatte, obwohl er alle anderen Anrufe ignoriert hatte. Die Presse bezog sich auf die Nachricht als »Geständnis«.10
Am Dienstagabend fand eines der Polizeiteams, die nach Andie suchten, eine Leiche im Wald.
Es war Sal.
Er hatte sich umgebracht.
Die Presse berichtete nie darüber, wie Sal Selbstmord beging, aber weil in der High School der Tratsch auf Hochtouren lief, weiß ich es (so wie es auch jeder andere Schüler in Kilton zu jener Zeit wusste).
Sal ging in den Wald nahe seinem Zuhause, nahm einen Haufen Schlaftabletten und zog sich eine Plastiktüte über den Kopf, die er mit Klebeband um seinen Hals fixierte. Er erstickte, während er bewusstlos war.
Auf der Pressekonferenz der Polizei an dem Abend wurde Sal nicht erwähnt. Die Polizei gab nur die Information über die Überwachungskamera heraus, die Andie um 22:40 aufgenommen hatte, als sie von ihrem Zuhause weggefahren war.11
Am Mittwoch wurde Andies Wagen in einer kleinen Seitenstraße gefunden (Romer Close).
Erst am darauffolgenden Montag gab eine Polizeisprecherin Folgendes bekannt: »Ich kann Ihnen Aktuelles zur Andie-Bell-Ermittlung mitteilen. Anhand neuester Informationen und forensischer Beweise haben wir Grund zu der Annahme, dass ein junger Mann namens Salil Singh, 18 Jahre, in Andies Entführung und Mord verwickelt war. Die Beweise würden ausreichen, um den Verdächtigen zu verhaften und anzuklagen, wäre er nicht gestorben, bevor derlei Maßnahmen eingeleitet werden konnten. Die Polizei sucht nicht nach anderen Verdächtigen im Zusammenhang mit Andies Verschwinden, aber unsere Suche nach Andie wird unvermindert intensiv fortgesetzt. Unsere Gedanken gelten der Familie Bell, wie auch unser aufrichtiges Mitgefühl angesichts der Trauer, die ihnen diese Information bereiten muss.«
Ihre ausreichenden Beweise waren:
Sie fanden Andies Handy bei Sals Leiche.
Die forensischen Tests wiesen Spuren von Andies Blut unter den Fingernägeln seines rechten Mittel- und Zeigefingers nach.
Andies Blut wurde ebenfalls im Kofferraum ihres verlassenen Wagens gefunden. Sals Fingerabdrücke waren am Armaturenbrett und am Lenkrad des Wagens, zusammen mit denen von Andie und dem Rest der Bells.12
Die Beweise, hieß es, hätten ausgereicht, um Sal anzuklagen, und – wie die Polizei gehofft hätte – eine Verurteilung zu erreichen. Aber Sal war tot, deshalb gab es keinen Prozess und keinen Schuldspruch. Auch keine Verteidigung.
In den Wochen danach wurden die Waldgebiete in und um Little Kilton erneut abgesucht. Es wurden Leichenspürhunde eingesetzt und Polizeitaucher suchten im Fluss Kilbourne. Aber Andies Leiche wurde nie gefunden.
Der Vermisstenfall Andie Bell wurde Mitte Juni 2012 vorläufig abgeschlossen.13 Der Fall konnte nur deshalb »vorläufig abgeschlossen« werden, weil »die vorliegenden Beweise hinreichend Grund für eine Anklage bieten, wäre der Beschuldigte nicht vor Abschluss der Ermittlungen verstorben.« Der Fall »kann jederzeit neu aufgerollt werden, sollten sich neue Beweise oder Spuren ergeben.«14
In 15 Minuten müssen wir ins Kino: wieder mal ein Superheldenfilm, zu dem Josh uns mittels emotionaler Erpressung überredet hat. Aber einen letzten Teil zum Hintergrund beim Andie Bell-/Sal Singh-Fall muss ich noch aufschreiben, dann geht es los.
Achtzehn Monate nach dem vorläufigen Abschluss des Falles übergab die Polizei einen Bericht an den zuständigen Untersuchungsrichter. In Fällen wie diesem entscheidet der Untersuchungsrichter, ob weiter ermittelt werden soll oder nicht, abhängig davon, ob man die Person für wahrscheinlich tot hält und ob genügend Zeit verstrichen ist.
Wenn ja, stellt der Untersuchungsrichter einen Antrag beim Justizminister auf Feststellung der Todesursache ohne Leiche. Ist keine Leiche da, stützt sich die Untersuchung hauptsächlich auf die Beweise der Polizei und die Aussagen der leitenden Ermittler; darauf, für wie wahrscheinlich sie es halten, dass die vermisste Person tot ist.
Bei der Untersuchung zur Feststellung der Todesursache werden die medizinischen Ursachen und Umstände des Todes geprüft. Es dürfen nicht »Einzelne als ursächlich für den Tod beschuldigt oder genannten Einzelnen eine strafrechtliche Verantwortung zugeschrieben werden.«15
Die gerichtliche Untersuchung im Januar 2014 endete damit, dass der Untersuchungsrichter auf »Widerrechtliche Tötung« entschied und eine Sterbeurkunde für Andie Bell ausgestellt wurde.16 Widerrechtliche Tötung bedeutet wörtlich, dass »die Person durch eine ›widerrechtliche Handlung‹ von jemandem getötet wurde«, oder, genauer gesagt, Tod durch »Mord, Totschlag, Kindestötung oder Tod durch gefährliches Lenken eines Fahrzeugs.«17
Und damit endete alles.
Andie Bell war offiziell für tot erklärt worden, obwohl ihre Leiche nie gefunden wurde. Angesichts der Umstände können wir jedoch davon ausgehen, dass das Urteil bei »widerrechtlicher Tötung« Mord bedeutet. Nach der Untersuchung gab es eine offizielle Erklärung der Strafverfolgungsbehörde: »Der Fall gegen Salil Singh hätte sich auf Indizien und forensische Beweise gestützt. Es steht der Strafverfolgungsbehörde nicht zu, eine Aussage darüber zu machen, ob Salil Singh Andie Bell getötet hat oder nicht; das zu entscheiden, wäre einzig die Aufgabe der Geschworenen gewesen.«18
Obwohl es also nie einen Prozess gegeben hatte, obwohl nie ein Geschworenensprecher aufgestanden war und mit verschwitzten Händen und von Adrenalin befeuert erklärt hatte »Die Geschworenen befinden den Angeklagten für schuldig«, obwohl Sal nie eine Chance gehabt hatte, sich zu verteidigen, galt er als schuldig. Nicht im rechtlichen Sinne, aber in jedem anderen, auf den es ankommt.
Fragt man die Leute in der Stadt, was mit Andie Bell passiert ist, antworten sie ohne zu zögern: »Sie ist von Salil Singh ermordet worden.« Kein vermeintlich, kein, könnte sein, kein wahrscheinlich, kein höchstwahrscheinlich.
Er war es, sagen sie. Sal Singh hat Andie umgebracht.
Aber ich bin mir nicht ganz so sicher ...
[Nächster Eintrag – wenn möglich nachsehen, wie eine Anklage gegen Sal ausgesehen haben könnte, wäre der Fall vor Gericht gekommen. Dann zerpflücken und durchlöchern.]
Es sei ein Notfall, verkündete die Textnachricht. Ein SOS-Notfall. Pip wusste sofort, dass dies nur eines bedeuten konnte.
Sie schnappte sich ihre Autoschlüssel, rief ihrer Mum und Josh ein kurzes «Bis später« zu und rannte zur Haustür hinaus.
Unterwegs hielt sie beim Laden, um eine extragroße Tafel Schokolade zu kaufen, die helfen würde, Laurens extra-fies gebrochenes Herz zu heilen.
Als sie vor dem Haus ihrer Freundin hielt, sah sie, dass Cara genau dieselbe Idee gehabt hatte. Allerdings nahm sich Caras Erste-Hilfe-Paket gegen Herzschmerz umfangreicher aus als Pips; sie hatte auch noch eine Packung Papiertaschentücher, Chips und Dip sowie eine bunte Auswahl an Gesichtsmaskenproben dabei.
»Bereit?«, fragte Pip und stieß Cara zur Begrüßung mit der Hüfte an.
»Ja, und gegen Tränen gewappnet.« Cara hielt die Taschentuchpackung hoch, deren Ecke sich in ihren aschblonden Locken verfing.
Pip half ihr, sie wieder frei zu zupfen, bevor sie auf die Klingel drückte und beide bei der blechernen Melodie das Gesicht verzogen.
Laurens Mum öffnete ihnen.
»Ah, die Kavallerie ist da«, sagte sie lächelnd. »Sie ist oben in ihrem Zimmer.«
Sie fanden Lauren vollständig in einer Deckenfestung vergraben. Der einzige Hinweis auf ihre Existenz war ein Fächer aus rotem Haar, der daraus hervorlugte. Es brauchte eine geschlagene Minute und massive Schoko-Bestechung, sie aus der Versenkung zu locken.
»Als Erstes«, erklärte Cara und klaubte Lauren das Handy aus den Fingern, »darfst du das die nächsten vierundzwanzig Stunden nicht ansehen.«
»Er hat mit einer Textnachricht Schluss gemacht!«, heulte Lauren und putzte ihre Nase. Ein ganzer Rotzschwall landete in dem erbärmlich dünnen Papiertaschentuch.
»Jungs sind Ärsche. Bin ich froh, dass ich mich mit denen nicht abgeben muss«, sagte Cara, legte einen Arm um Lauren und lehnte ihr spitzes Kinn auf ihre Schulter. »Du hast was viel Besseres verdient als ihn, Loz.«
»Ja.« Pip brach noch einen Schokoriegel für Lauren ab. »Außerdem hat Tom dauernd ›pazifisch‹ gesagt, wenn er ›spezifisch‹ meinte.«
Cara schnalzte mit der Zunge und zeigte zustimmend auf Pip. »Das war schon mal ein riesiges Alarmsignal.«
»Ich denke, dass er nicht pazifisch intelligent ist«, sagte Pip.
»Auch nicht atlantisch«, pflichtete Cara ihr bei.
Lauren lachte schniefend, und Cara zwinkerte Pip zu; ein stummer Triumph. Sie wussten, wenn sie zusammenarbeiteten, würde es Lauren bald wieder besser gehen.
»Danke, dass ihr gekommen seid«, sagte Lauren unter Tränen. »Ich war nicht sicher, ob ihr kommt. Schließlich habe ich euch ein halbes Jahr vernachlässigt, um mit Tom abzuhängen. Und jetzt bin ich bei euch das dritte Rad am Wagen.«
»So ein Quatsch«, widersprach Cara. »Wir sind alle drei beste Freundinnen, oder nicht?«
»Klar.« Pip nickte. »Wir und diese drei Jungs, denen wir erlauben, unsere bezaubernde Gesellschaft zu genießen.«
Die anderen lachten. Ant, Zach und Connor waren die drei männlichen Mitglieder ihrer Schulclique, auch wenn sie momentan noch in den Ferien waren.
Doch von ihren Freundinnen kannte Pip Cara am längsten, und, ja, sie waren sehr eng befreundet. Was unausgesprochen blieb. Sie waren unzertrennlich, seit die sechsjährige Cara die kleine, einsame Pip umarmt und gefragt hatte: »Magst du auch Häschen?« Sie waren immer füreinander da, wenn das Leben zu viel wurde, um es allein zu ertragen. Pip, obwohl damals erst zehn, hatte Cara beigestanden, als ihre Mutter die schreckliche Krankheitsdiagnose bekam und starb. Und sie war vor zwei Jahren ihr Fels in der Brandung gewesen, verlässlich lächelnd und jederzeit da, um die halbe Nacht zu telefonieren, als Cara ihr Coming-out hatte. Cara war eigentlich keine beste Freundin, sie war eine Schwester.
Und Caras Familie war wie eine Zweitfamilie für Pip. Elliot – oder Mr. Ward, wie sie ihn in der Schule nennen musste – war ihr Geschichtslehrer und eine dritte Vaterfigur für sie, gleich nach Victor und dem Geist ihres ersten Vaters. Pip war so oft bei den Wards, dass es dort einen Becher mit ihrem Namen darauf gab und ein Paar Hausschuhe, passend zu Caras und denen ihrer großen Schwester Naomi.
»Na gut.« Cara angelte nach der Fernbedienung. »Romantische Komödien oder Filme, in denen Jungs brutal ermordet werden?«
Es waren ungefähr anderthalb Heulfilme auf Netflix nötig, bis Lauren sich durch das Stadium der Verleugnung gearbeitet hatte und sich nun vorsichtig in Richtung Akzeptanz bewegte.
»Ich sollte zum Friseur gehen«, stellte sie fest. »Das macht man doch so, oder?«
»Ich habe ja immer gesagt, dass dir kurze Haare gut stehen würden«, bestätigte Cara.
»Und meint ihr, ich sollte mir die Nase piercen lassen?«
»Uuh, ja!« Cara nickte.
»Ich verstehe die Logik dahinter nicht, sich ein Nasenloch ins Nasenloch zu machen«, meinte Pip dazu.
»Noch ein großartiges Pip-Zitat für die Annalen.« Cara gab vor, in die Luft zu schreiben. »Was war das neulich noch mal, bei dem ich so lachen musste?«
»Das mit der Wurst.« Pip seufzte.
»Ach ja.« Cara kicherte. »Also, das war so, Loz. Ich frage Pip, welchen Pyjama sie anziehen will, und da sagt sie: ›Ist mir Wurst.‹ Und sie hat nicht mal kapiert, wieso das eine so komische Antwort ist.«
»Ist es auch nicht«, sagte Pip. »Die Großeltern von meinem ersten Dad sind Deutsche. ›Ist mir Wurst‹ ist in Deutschland ganz normal. Es heißt einfach mir egal.«
»Das oder dass man eine Wurst-Fixierung hat.« Lauren lachte.
»Sagt die Tochter eines Pornostars«, konterte Pip.
»Mein Gott, wie oft muss ich das denn noch erwähnen? Er hat bloß einmal in den Achtzigern Nacktaufnahmen gemacht, mehr nicht.«
»Zurück zu den Jungs aus diesem Jahrzehnt«, wechselte Cara das Thema und knuffte Pips Schulter. »Warst du schon bei Ravi Singh?«
»Ein fragwürdiger Übergang. Und, ja, aber ich gehe morgen noch mal hin und interviewe ihn.«
»Ich fasse es nicht, dass du schon mit deiner EPQ angefangen hast«, sagte Lauren, die mit einer übertriebenen Sterbender-Schwan-Geste vorgab, wieder unter die Decke tauchen zu wollen. »Ich würde am liebsten mein Thema wechseln. Hungersnöte sind zu deprimierend.«
»Schätzungsweise willst du dann demnächst auch Naomi interviewen.« Cara sah Pip streng an.
»Sicher. Kannst du sie bitte vorwarnen, dass ich ungefähr nächste Woche mit meiner Aufnahme-App und einem Stift vorbeikomme?«
»Klar«, sagte Cara, zögerte aber. »Sie wird auch einverstanden sein und so, aber kannst du bitte vorsichtig mit ihr sein? Manchmal macht sie das immer noch fertig. Ich meine, er war einer ihrer besten Freunde. Eigentlich wohl eher ihr bester Freund.«
»Ja, natürlich.« Pip grinste. »Was denkst du denn, wie ich das mache? Sie fesseln und die Antworten aus ihr rausprügeln?«
»Ist das deine Taktik für Ravi morgen?«
»Ich glaube nicht.«
Lauren setzte sich auf und schniefte so geräuschvoll, dass Cara zusammenzuckte.
»Gehst du zu ihm nach Hause?«, fragte sie.
»Ja.«
»Oh, aber ... was werden die Leute denken, wenn sie dich in Ravi Singhs Haus gehen sehen?«
»Ist mir Wurst.«
Pippa Fitz-Amobi
EPQ 03. 08. 2017
Protokoll – Eintrag 3
Ich bin voreingenommen. Natürlich bin ich das. Jedes Mal, wenn ich meine letzten beiden Einträge noch einmal lese, male ich mir Gerichtsdramen aus: Ich bin eine eingebildete Anwältin, die aufspringt, um Einspruch zu erheben, ihre Notizen durchsieht und Sal zuzwinkert. Wenn die Anklage in meine Falle tappt, stürme ich nach vorn und knalle die Hand auf den Richtertisch, während ich brülle: »Euer Ehren, er war es nicht!«
Denn aus Gründen, die ich nicht einmal richtig erklären kann, will ich, dass Sal Singh unschuldig ist. Gründe, die mich umtreiben, seit ich zwölf Jahre alt war; Unstimmigkeiten, die seit fünf Jahren an mir nagen.
Aber ich muss mich bei meinen Recherchen vor einer Bestätigungstendenz hüten. Deshalb dachte ich, es wäre eine gute Idee, jemanden zu interviewen, der vollends überzeugt von Sals Schuld ist. Stanley Forbes, Journalist bei der Kilton Mail, hat eben auf meine E-Mail geantwortet, dass ich ihn heute jederzeit anrufen könne. Er hat viel zu dem Andie-Bell-Fall in der hiesigen Zeitung geschrieben und war sogar bei der Anhörung des Untersuchungsrichters. Um ehrlich zu sein, halte ich ihn für einen miesen Journalisten und bin ziemlich sicher, dass die Singhs ihn wegen Verleumdung verklagen könnten. Ich werde das Transkript direkt danach tippen.
Ooooh Mannnnnnn ...
Transkript des Interviews mit Stanley Forbesvon der Zeitung Kilton Mail
Stanley:
Ja.
Pip:
Hi, Stanley, hier ist Pippa. Wir hatten vorhin gemailt.
Stanley:
Ja, klar, ich weiß. Sie wollen mit mir über den Andie Bell-/Salil Singh-Fall reden, oder?
Pip:
Ja, stimmt.
Stanley:
Na, dann schießen Sie mal los.
Pip:
Okay, danke. Ähm, also als Erstes, Sie waren bei der Anhörung des Untersuchungsrichters, richtig?
Stanley:
Und ob ich da war.
Pip:
Weil in der Presse nicht viel mehr stand als das Urteil und hinterher die Mitteilung der Strafverfolgungsbehörde, habe ich mich gefragt, ob Sie mir sagen können, was für Beweise dem Untersuchungsrichter von der Polizei vorgelegt worden sind.
Stanley:
Ein ganzer Haufen Zeug.
Pip:
Sicher, und könnten Sie mir ein paar der Punkte nennen, die die Polizei vorgebracht hat?
Stanley:
Äh, also der Leitende Ermittler in Andies Fall hatte die Einzelheiten zu ihrem Verschwinden, die Zeiten und so. Und dann kam er zu den Beweisen, die Salil mit dem Mord in Verbindung bringen. Sie haben einen ordentlichen Aufstand um das Blut im Kofferraum ihres Wagens gemacht; sie haben gesagt, es würde nahelegen, dass sie irgendwo umgebracht und ihre Leiche anschließend dahin transportiert wurde, wo er sie letztlich abgelegt habe. Zum Schluss hat der Untersuchungsrichter etwas gesagt in Richtung, »Es scheint eindeutig, dass Andie das Opfer eines Sexualmordes war und reichlich Anstrengung unternommen wurde, ihre Leiche verschwinden zu lassen.«
Pip:
Und hat Detective Inspector Richard Hawkins oder irgendein anderer Officer eine Zeitspanne genannt, während der sich alles in der Nacht zugetragen haben soll, und wie Sal sie vermeintlich umgebracht haben soll?
Stanley:
Ja, daran erinnere ich mich. Andie ist mit ihrem Auto von zu Hause weggefahren, und irgendwo auf seinem Heimweg hat Salil sie abgefangen. Entweder er oder sie ist dann zu einem abgelegenen Ort gefahren, wo er sie umgebracht hat. Er hat die Leiche im Kofferraum versteckt und ist dann irgendwo hingefahren, um die Leiche zu verstecken oder loszuwerden. Und das gut genug, sodass sie auch in fünf Jahren nicht gefunden werden konnte. Also muss das ein ziemlich großes Loch gewesen sein. Danach hat er den Wagen in dieser Seitenstraße abgestellt, Romer Close, glaube ich, und ist zu Fuß nach Hause.
Pip:
Also hat die Polizei wegen des Bluts im Kofferraum geglaubt, dass Andie irgendwo ermordet und anschließend an einem anderen Ort versteckt worden ist?
Stanley:
Ja.
Pip:
Okay. In vielen Ihrer Beiträge über den Fall beziehen Sie sich auf Sal als einen »Mörder«, einen »Killer« und sogar ein »Monster«. Ihnen ist aber bewusst, dass Sie ohne Verurteilung bei solch einer Berichterstattung von »vermeintlich« oder »mutmaßlich« sprechen sollten?
Stanley:
Ich denke nicht, dass ich mir von einer Jugendlichen erklären lassen muss, wie ich meinen Job zu machen habe. Jedenfalls ist offensichtlich, was er getan hat, und jeder weiß das. Er hat sie umgebracht, und die Schuldgefühle haben ihn in den Selbstmord getrieben.
Pip:
Okay, und aus welchen Gründen sind Sie von Sals Schuld überzeugt?
Stanley:
Das sind fast zu viele, um sie aufzuzählen. Abgesehen von den Beweisen, war er ihr Freund, nicht? Und es ist immer der Freund oder Ex-Freund. Nicht nur das. Salil war Inder.
Pip:
Ähm, eigentlich ist Sal in England geboren und aufgewachsen, obwohl Sie in all Ihren Artikeln von ihm als Inder reden.
Stanley:
Tja, ist doch dasselbe. Er war indischer Abstammung.
Pip:
Und inwiefern ist das relevant?
Stanley:
Ich bin ja kein Experte oder so, aber die haben schon eine andere Lebensweise, oder nicht? Sie behandeln Frauen nicht so wie wir, sehen sie eher als ihren Besitz. Also schätze ich, dass Andie vielleicht beschlossen hatte, mit ihm Schluss zu machen oder so, und da hat er sie in seinem Zorn umgebracht, weil sie in seinen Augen ihm gehörte.
Pip:
Wow ... Ich ... Ähm ... Sie ... Im Ernst, Stanley, mich erstaunt, dass Sie nicht wegen Verleumdung verklagt worden sind.
Stanley:
Das ist nicht passiert, weil jeder weiß, dass ich nur die Wahrheit sage.
Pip:
Ich nicht. Ich finde, dass es unverantwortlich ist, jemanden als Mörder zu etikettieren, ohne »vermeintlich« oder »mutmaßlich«, wenn es keinen Prozess und keine Verurteilung gegeben hat. Oder Sal ein Monster zu nennen. Und wo wir gerade bei der Wortwahl sind, ist es interessant, die damaligen Beiträge mit Ihrer jüngsten Berichterstattung zu dem Sumpfwürger zu vergleichen. Er hat fünf Menschen ermordet und sich vor Gericht schuldig bekannt, trotzdem schreiben Sie von ihm als einem »liebeskranken jungen Mann«. Weil
er
weiß ist?
Stanley:
Das hat nichts mit Salils Fall zu tun. Ich sage einfach, wie es ist. Und jetzt machen Sie sich mal locker. Er ist tot, was spielt es da für eine Rolle, ob die Leute ihn für einen Mörder halten? Ihm kann das nichts mehr anhaben.
Pip:
Es spielt eine Rolle, weil seine Familie nicht tot ist.
Stanley:
Allmählich klingt es, als würden Sie ihn tatsächlich für unschuldig halten. Entgegen all der Fachkompetenz der leitenden Police Officers.
Pip:
Ich denke nur, dass es gewisse Lücken und Widersprüche in der vermeintlichen Anklage gegen Sal gibt.
Stanley:
Tja, wenn sich der Junge nicht abgemurkst hätte, bevor er verhaftet werden konnte, hätten wir die Lücken vielleicht füllen können.
Pip:
Das war jetzt unsensibel.
Stanley:
Na ja, es war unsensibel von ihm, seine hübsche blonde Freundin zu ermorden und ihre sterblichen Überreste zu verstecken.
Pip:
Angeblich!
Stanley:
Wollen Sie mehr Beweise, dass der Junge ein Mörder war, Sie Salil-Fan? Wir durften es nicht drucken, aber meine Quelle bei der Polizei hat mir verraten, dass sie damals eine Morddrohung in Andies Schließfach in der Schule gefunden haben. Er hat ihr gedroht, und dann hat er es getan. Glauben Sie immer noch, dass er unschuldig sein könnte?
Pip:
Ja, glaube ich. Und ich denke, Sie sind ein rassistischer, intoleranter, dämlicher Widerling ...
(Stanley legt auf)
Tja, ich glaube nicht, dass Stanley und ich dicke Freunde werden.
Dennoch habe ich bei dem Interview zwei Informationsbrocken ergattert, die ich vorher nicht hatte. Zum einen, dass die Polizei glaubt, Andie wäre irgendwo ermordet, dann in den Kofferraum ihres Wagens gelegt und an einen zweiten Ort gebracht worden – den Ablageort.
Die zweite Info, die mir der entzückende Stanley gegeben hat, ist die von der »Morddrohung«. Die ist nie in irgendwelchen Artikeln oder Pressemitteilungen der Polizei erwähnt worden, wofür es einen Grund geben muss. Vielleicht hielt die Polizei sie nicht für relevant. Oder sie konnten sie nicht eindeutig Sal zuordnen. Oder Stanley hat sich die Drohung ausgedacht. So oder so sollte ich dieses Detail im Hinterkopf behalten, wenn ich mit Andies Freunden rede.
Jetzt kenne ich also (halbwegs) die Polizeiversion der Ereignisse in jener Nacht, und habe eine Vorstellung, wie die Anklage ausgesehen hätte, weshalb es Zeit wird für eine MORDKARTE.
Nach dem Essen, denn Mum ruft sicher in drei ... zwei ... jep ...
Das Abendessen habe ich in elf Minuten verschlungen, ein neuer Rekord für mich. Sehr zu Dads Belustigung und Mums Verärgerung. Und nun habe ich gerade die Karte erstellt.
Sieht ja sagenhaft professionell aus! Aber es hilft, die Polizeiversion der Ereignisse zu veranschaulichen. Ich musste bei dem Entwurf ein paar Annahmen zugrunde legen. Zum einen gibt es mehrere Wege von Max zu Sal; ich habe den gewählt, der durch die High Street führt, weil Google ihn als den schnellsten angibt und ich davon ausgehe, dass die meisten Leute nachts gut beleuchtete Straßen vorziehen.
Außerdem bietet diese Strecke einen guten Treffpunkt irgendwo in der Wyvil Road, wo Andie möglicherweise angehalten hat und Sal in den Wagen gestiegen ist. Und, um wie ein Detective zu denken: Von der Wyvil Road gehen auch einige ruhige Nebenstraßen ab, und dort liegt eine Farm. Diese ruhigen, abgelegenen Stellen – eingekreist – könnten der Tatort sein (gemäß dem Polizeibericht).
Wo Andies Leiche abgelegt wurde, habe ich nicht einmal zu erraten versucht, denn, wie der Rest der Welt, habe ich nicht den blassesten Schimmer, wo das sein könnte. Doch da es ungefähr 18 Minuten dauert, um von der Stelle, an der Andies Wagen gefunden wurde, zu Sals Haus am Grove Place zu kommen, muss ich davon ausgehen, dass er gegen 00:20 Uhr wieder in der Nähe der Wyvil Road war. Falls Sal also gegen 22:45 Uhr zu Andie ins Auto gestiegen ist, hätte er eine Stunde und fünfunddreißig Minuten gehabt, um sie zu ermorden und die Leiche zu verstecken. Ich meine, von der Zeit her scheint es mir einleuchtend. Es ist möglich. Aber es drängen sich noch ein Dutzend »Warums?« und »Wies?« auf.
Andie und Sal sind beide von da, wo sie waren, gegen 22:30 Uhr losgegangen, demnach mussten sie vorgehabt haben, sich zu treffen, oder? Es scheint zu zufällig, als dass sie es nicht verabredet hätten. Die Polizei hat allerdings nie einen Anruf oder irgendwelche Textnachrichten zwischen Andie und Sal erwähnt, die für eine Verabredung sprechen würden. Und wenn sie das zusammen geplant hatten, in der Schule zum Beispiel, wo es keine Aufzeichnung ihres Gesprächs gäbe, warum hatten sie dann nicht einfach abgemacht, dass Andie ihn bei Max abholt? Das kommt mir eigenartig vor.
Aber ich schweife ab. Das liegt daran, dass es zwei Uhr nachts ist, und ich gerade eine halbe Stange Toblerone gegessen habe.
Die Aufregung kroch ihr unter die Haut, pulsierte durch ihren Körper. Sie spürte das Trommeln ihres rasenden Pulses am Hals und in den Handgelenken. Ihr Räuspern war mehr ein heiser krächzendes Schaben und ihr Atem ein abgehacktes Pfeifen. Aber am Schrecklichsten war, dass sie – nachdem sie das Pfeifen einmal wahrgenommen hatte – um nichts in der Welt mehr aufhören konnte, sich selbst überdeutlich atmen zu hören.
Sie stand vor der Haustür und versuchte, sie mit der Kraft ihrer Gedanken dazu zu bewegen, sich zu öffnen. Die Sekunden zogen sich wie Kaugummi, als die Tür zurückstarrte. Die Minuten dehnten sich zu einer Ewigkeit aus. Wie lange war es her, seit sie geklopft hatte? Als Pip es nicht mehr aushielt, zog sie die Tupperdose mit den frischen Muffins unter ihrem Arm hervor und wandte sich zum Gehen. Das Spukhaus war heute für Besucher geschlossen. Die Enttäuschung schmerzte.
Nur wenige Schritte entfernt ließen sie ein Klicken und ein schabendes Geräusch jäh anhalten. Sie drehte sich um und sah Ravi Singh in der Tür stehen. Seine Haare waren verwuschelt und er sah ziemlich verwirrt aus.
»Oh«, stieß Pip in einer hohen Piepsstimme hervor, die nicht nach ihr klang. »Sorry, ich dachte, du hättest gesagt, ich soll am Freitag wiederkommen, und heute ist Freitag.«
»Ähm, ja, habe ich«, sagte Ravi, der sich am Hinterkopf kratzte, während er den Blick auf den Bereich um Pips Knöchel richtete. »Aber ... ehrlich gesagt, na ja ... Ich dachte, du willst mich bloß verarschen. Dass es ein Streich sein sollte. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du tatsächlich wiederkommst.«
»Das ist, äh, schade.« Pip bemühte sich, nicht gekränkt zu wirken. »Es ist kein Streich, versprochen. Ich meine es ernst.«
»Ja, du kommst mir auch eher ernst vor.«
»Ich bin unvernünftig ernst.« Pip lächelte und hielt ihm die Tupperdose hin. »Und ich habe Muffins gemacht.«
»Bestechungsmuffins?«
»Ja, jedenfalls steht es so im Rezept.«
Ravis Mundwinkel zuckten, doch ein richtiges Grinsen kam nicht zustande. Erst jetzt ahnte Pip, wie schwer sein Leben in dieser Stadt sein musste, wo ihn jeder anschaute und seinen toten Bruder sah. Kein Wunder, dass es ihm schwerfiel, zu lächeln.
»Und darf ich reinkommen?«, fragte Pip, die ihre Unterlippe vorschob und ihre Augen übertrieben aufschlug. Sie präsentierte ihren besten flehenden Blick, von dem ihr Dad behauptete, er sähe aus, als hätte sie Verstopfung.
»Ja, ist gut«, antwortete Ravi nach einer quälend langen Pause. »Aber nur, wenn du aufhörst, dieses Gesicht zu ziehen.« Er trat zurück, um sie ins Haus zu lassen.
»Danke, danke, danke«, sagte Pip rasch und stolperte in ihrem Übereifer über die Schwelle.
Ravi sah sie irritiert an, schloss die Haustür und fragte sie, ob sie eine Tasse Tee wolle.
»Ja, gern.« Pip stand verlegen im Flur und versuchte, so wenig Raum wie möglich einzunehmen. »Schwarz, bitte.«
»Ich traue grundsätzlich keinem, der seinen Tee schwarz trinkt.« Er bedeutete ihr, ihm in die Küche zu folgen.
Der Raum war groß und außergewöhnlich hell. Die Außenwand war eine einzige riesige Glasfront mit Schiebetüren zu einem langen Garten, der wie eine Farbexplosion aus Sommerblüten und märchenhaften Ranken aussah.
»Und wie trinkst du ihn?«, fragte Pip. Sie stellte ihren Rucksack auf einen der Stühle.
»Mit Milch, bis er weiß ist, und drei Zuckerwürfeln«, sagte Ravi über den Krach des Wasserkochers hinweg.
»Drei Zuckerwürfel? Drei?«
»Ja, ich weiß. Ich bin definitiv noch nicht süß genug.«
Pip beobachtete, wie Ravi geschäftig in der Küche hantierte, während der Wasserkocher das Schweigen zwischen ihnen entschuldigte. Ravi kramte in einem fast leeren Glas mit Teebeuteln und trommelte nervös mit den Fingern auf die Arbeitsplatte, als er mit der anderen Hand den Tee aufgoss und seinen mit Milch und Zucker verrührte. Seine Nervosität war ansteckend, und Pips Herzschlag wurde schneller, bis er im Takt mit Ravis Getrommel schlug.
Er brachte die beiden Becher zum Tisch und hielt dabei Pips am kochend heißen Boden fest, damit sie ihn am Henkel nehmen konnte. Auf ihrem Becher war ein Cartoon-Grinsen abgebildet und die Aufschrift: When’s the best time to visit the dentist? Tooth hurty.
»Sind deine Eltern nicht da?«, fragte Pip und stellte den Becher auf den Tisch.
»Nein.« Er trank einen Schluck, und Pip stellte erfreut fest, dass er kein Schlürfer war. »Und wären sie es, wärst du nicht hier. Wir versuchen, möglichst wenig über Sal zu sprechen; es nimmt Mum zu sehr mit. Eigentlich jeden.«
»Ich mag es mir gar nicht vorstellen«, sagte Pip leise. Es war unerheblich, dass fünf Jahre vergangen waren; dies hier war für Ravi nach wie vor frisch – das sah man ihm deutlich an.
»Es ist nicht nur, dass er tot ist. Es ist dieses ... na ja, wir dürfen nicht um ihn trauern. Und sollte ich sagen ›Mir fehlt mein Bruder‹, macht es mich zu einer Art Monster.«
»Das denke ich nicht.«
»Ich auch nicht, aber ich schätze, damit sind wir beide in der Minderheit.«
Pip nippte an ihrem Tee, um die Stille zu überbrücken, aber er war noch viel zu heiß, sodass ihr die Tränen kamen.
»Weinst du jetzt schon? Wir sind doch noch nicht mal bei den traurigen Stellen der Geschichte angekommen.« Ravis Augenbrauen wanderten höher.
»Heißer Tee«, keuchte Pip. Ihre Zunge fühlte sich verbrannt und pelzig an.
»Lass ihn für ein Sekündchen abkühlen, du weißt schon, ein Hundertstel einer Sekunde.«
»Hey, daran erinnerst du dich noch?«
»Wie könnte ich das vergessen? Also, welche Fragen wolltest du mir stellen?«
Pip schaute auf das Handy in ihrem Schoß. »Zunächst mal, macht es dir etwas aus, wenn ich uns aufnehme, damit ich nachher alles korrekt abtippen kann?«
»Klingt nach einem spaßigen Freitagabend.«
»Ich nehme das als Ja.« Pip zog den Reißverschluss ihres messingfarbenen Rucksacks auf und holte ihr Bündel Notizen hervor.
»Was ist das?«, fragte Ravi.
»Vorbereitete Fragen.« Sie rückte die Papiere zu einem ordentlichen Stapel.
»Oh, wow, du kniest dich da richtig rein, was?« Er sah sie mit einem Ausdruck an, der zwischen Belustigung und Skepsis schwankte.
»Ja.«
»Sollte ich nervös sein?«
»Noch nicht«, antwortete Pip und sah ihm kurz in die Augen, bevor sie das rote Aufnahmesymbol antippte.
Pippa Fitz-Amobi
EPQ 04. 08. 2017
Protokoll – Eintrag 4
Transkript des Interviews mit Ravi Singh
Pip:
Also, wie alt bist du?
Ravi:
Warum?
Pip:
Nur damit alle Fakten richtig sind.
Ravi:
Okay, Sergeant, ich bin gerade einundzwanzig geworden.
Pip:
(Lacht) [Randnotiz: MEIN GOTT, MEIN LACHEN IST GRAUENHAFT AUF BAND. ICH LACHE NIE WIEDER!] Und Sal war drei Jahre älter als du?
Ravi:
Ja.
Pip:
Erinnerst du dich, ob sich dein Bruder am Freitag, dem 20. April 2012 seltsam benommen hat?
Ravi:
Wow, gleich zum Wesentlichen. Ähm, nein, überhaupt nicht. Wir haben früh Abendbrot gegessen, so gegen sieben, bevor mein Dad ihn bei Max abgesetzt hat, und Sal hat ganz normal gequatscht, wie sonst auch. Falls er heimlich einen Mord geplant hatte, haben wir nichts davon gemerkt. Er war ... vergnügt, würde ich sagen. Ja, das beschreibt es.
Pip:
Und als er von Max zurück war?
Ravi:
Da war ich schon im Bett. Aber ich erinnere mich, dass er am nächsten Morgen richtig gute Laune hatte. Sal war immer ein Morgenmensch. Er ist aufgestanden und hat Frühstück für uns alle gemacht. Erst kurz nachdem er einen Anruf von einer von Andies Freundinnen bekommen hat, haben wir erfahren, dass sie vermisst wurde. Von da an war er natürlich nicht mehr gut gelaunt, sondern hat sich Sorgen gemacht.
Pip:
Also hatten ihn in der Nacht weder Andies Eltern noch die Polizei angerufen?
Ravi:
Nicht, dass ich wüsste. Andies Eltern kannten Sal eigentlich nicht. Er ist ihnen nie begegnet oder war bei ihnen zu Hause. Normalerweise war Andie hier, oder sie waren in der Schule oder auf Partys zusammen.
Pip:
Wie lange waren sie zusammen?
Ravi:
Seit kurz vor Weihnachten im Jahr davor, also ungefähr vier Monate. Sal hatte ein paar verpasste Anrufe von einer von Andies besten Freundinnen, so gegen zwei Uhr nachts. Aber sein Handy war lautlos gestellt, deshalb hatte er nichts davon mitbekommen und weitergeschlafen.
Pip:
Was ist sonst noch an dem Samstag passiert?
Ravi:
Na ja, nachdem er wusste, dass Andie vermisst wird, saß Sal praktisch auf dem Telefon. Er hat sie alle paar Minuten angerufen. Er hat jedes Mal nur die Mailbox erreicht, aber er dachte, wenn sie bei jemandem rangeht, dann bei ihm.
Pip:
Warte mal, Sal hat versucht, sie auf ihrem Handy anzurufen?
Ravi:
Ja, so eine Million Mal, das ganze Wochenende und auch am Montag.
Pip:
Das klingt nicht wie etwas, was man tun würde, wenn man weiß, dass man die Person ermordet hat und sie nicht rangehen kann.
Ravi:
Vor allem nicht, wenn er ihr Handy irgendwo direkt bei sich oder in seinem Zimmer versteckt hätte.
Pip:
Noch besseres Argument. Was ist sonst an dem Tag passiert?
Ravi:
Meine Eltern haben ihm gesagt, er solle nicht zu Andie nach Hause gehen, weil die Polizei das Haus durchsuchen würde. Also saß er nur hier zu Hause und hat versucht, sie zu erreichen. Ich habe ihn gefragt, ob er eine Ahnung hat, wo sie sein könnte, aber er war ratlos. Allerdings hat er etwas gesagt, das ich nie vergessen werde. Er hat gesagt, Andie tue nichts unabsichtlich und sei vielleicht weggelaufen, um jemanden zu bestrafen. Natürlich war ihm nach dem Wochenende klar, dass es wohl eher nicht so sein konnte.
Pip:
Wen hätte Andie bestrafen wollen? Ihn?
Ravi:
Weiß ich nicht, und ich habe nicht weiter nachgefragt. Ich habe sie nicht besonders gut gekannt; sie war nur ein paarmal hier gewesen. Ich meine, ich habe angenommen, dass Sal mit «jemanden« Andies Dad gemeint hat.
Pip:
Jason Bell? Warum?
Ravi:
Ich hatte nur mal was gehört, als sie hier war, und es klang so, als hätte sie kein so tolles Verhältnis zu ihm. An irgendwas Spezifisches kann ich mich aber nicht erinnern.
[Uff, er sagt »Spezifisches«, nicht »Pazifisches«.]
Pip:
Genau das brauchen wir leider. Also, wann hat die Polizei Sal kontaktiert?
Ravi:
Das war am Samstagnachmittag. Sie haben ihn angerufen und gefragt, ob sie vorbeikommen und mit ihm reden können. Die waren so gegen drei oder vier Uhr hier. Meine Eltern und ich sind in die Küche gegangen, um nicht zu stören, deshalb haben wir im Grunde nichts gehört.
Pip:
Und hat Sal hinterher erzählt, was sie ihn gefragt haben?
Ravi:
Wenig. Er hatte ein bisschen Angst, weil sie das Gespräch aufgenommen haben, und ...
Pip:
Moment mal, sie haben das aufgenommen? Ist das normal?
Ravi:
Keine Ahnung. Du bist der Sergeant.
[Randnotiz: Ist es schräg, dass mir dieser Spitzname gefällt?]
Sie haben gesagt, dass es reine Routine sei und ihm nur Fragen gestellt. Also, wo er an dem Abend war und mit wem er zusammen war. Und über seine und Andies Beziehung.
Pip:
Wie war ihre Beziehung?
Ravi:
Ich bin sein Bruder. Davon habe ich nicht viel mitbekommen. Aber, ja, Sal mochte sie sehr. Ich meine, er ist halb geplatzt vor Stolz, weil er mit dem schönsten und beliebtesten Mädchen des Jahrgangs zusammen war. Aber Andie hatte echt einen Hang zum Drama.
Pip:
Welche Art Drama?
Ravi:
Weiß nicht, ich denke, sie war einfach einer von diesen Menschen, die unheimlich gern Dinge dramatisieren.
Pip:
Haben deine Eltern sie gemocht?
Ravi:
Ja, meine Eltern fanden sie völlig in Ordnung. Sie hat ihnen ja auch nie einen Grund gegeben, es nicht zu tun.
Pip:
Und was war, nachdem die Polizei ihn befragt hatte?
Ravi:
Äh, an dem Abend sind seine Freunde vorbeigekommen, du weißt schon, um zu sehen, wie es ihm geht.
Pip:
Und hat er sie da gebeten, die Polizei zu belügen, um ihm ein Alibi zu geben?
Ravi:
Muss er wohl.
Pip:
Was glaubst du, warum er das gemacht hat?
Ravi:
Kann ich nicht sagen. Vielleicht war er nach der Polizeibefragung panisch. Vielleicht hatte er Angst, dass er verdächtigt werden könnte, und wollte sich schützen. Ich weiß es nicht.
Pip:
Gehen wir mal von Sals Unschuld aus, hast du eine Ahnung, wo er zwischen halb elf, als er bei Max weggegangen ist, und zehn vor eins, als er zu Hause ankam, gewesen sein könnte?
Ravi:
Nein. Er hatte uns auch erzählt, dass er erst gegen viertel nach zwölf bei Max losgegangen war. Vielleicht war er irgendwo allein und wusste, wenn er die Wahrheit sagen würde, dann hätte er kein Alibi. Es sieht übel aus, oder?
Pip:
Ja, die Polizei zu belügen und seine Freunde zu bitten, es ebenfalls zu tun, wirft ein schlechtes Licht auf Sal. Aber es ist kein Beweis, dass er irgendwas mit Andies Tod zu tun hatte. Und was ist an dem Sonntag passiert?
Ravi:
Am Sonntagnachmittag haben Sal, seine Freunde und ich uns freiwillig gemeldet, um Plakate aufzuhängen und Zettel zu verteilen. An dem Montag habe ich ihn in der Schule kaum gesehen, aber es muss ganz schön hart für ihn gewesen sein, weil alle nur über Andies Verschwinden geredet haben.
Pip:
Ich erinnere mich.
Ravi:
Die Polizei war auch da. Ich habe gesehen, wie sie Andies Schließfach durchsucht haben. Ja, an dem Abend war Sal ziemlich down. Er hat nichts gesagt, aber er hat sich Sorgen gemacht, kann man sich ja denken. Seine Freundin war verschwunden. Und am nächsten Tag ...
Pip:
Du musst nicht über den nächsten Tag reden, wenn du nicht willst.
Ravi: