Five Survive - Holly Jackson - E-Book

Five Survive E-Book

Holly Jackson

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Beschreibung

Von der Autorin der beliebten Krimireihe A GOOD GIRL'S GUIDE TO MURDER

ACHT STUNDEN.
SECHS FREUNDE.
EIN TÖDLICHER ROADTRIP.

Eigentlich sollte es ein spaßiger Ausflug werden: Red ist mit fünf Freunden losgefahren, um Spring Break zu feiern. Doch unterwegs bleibt der alte Campingbus liegen - und sie stecken mitten im Nirgendwo fest. Kein Empfang, keine Aussicht auf Hilfe. Und es kommt noch schlimmer, denn draußen im Dunkeln lauert jemand. Sobald sie den Bus verlassen, schießt er auf sie. Seine Behauptung: Jemand aus der Gruppe verheimlicht etwas. Doch wen meint er? Alle sind gezwungen, ihre brisantesten Geheimnisse preiszugeben. Die Spannungen innerhalb des engen Campers steigen. Und nicht alle werden die Nacht überleben ...

Meisterhafte Erzählung in Echtzeit - acht atemlose Stunden voller überraschender Wendungen

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Seitenzahl: 503

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Inhalt

Cover

Titel

Bilder

22:00 Uhr

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

23:00 Uhr

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

0:00 Uhr

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

01:00 Uhr

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

02:00 Uhr

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

03:00 Uhr

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

04:00 Uhr

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

05:00 Uhr

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

06:00 Uhr

Polizeifunk-Transkript des Chesterfield County Sheriff's Department, South Carolina

NEWSDAY

Danksagung

Weitere Titel der Autorin

Impressum

Holly Jackson

Übersetzung aus dem Englischen vonCherokee Moon Agnew

Kapitel 1

Hier und doch nicht. Rot und schwarz. Einen Moment da, dann wieder weg. Ihr Gesicht in der Scheibe verschwand im Scheinwerferlicht entgegenkommender Fahrzeuge, bevor es im Dunkeln wieder auftauchte. Und wieder fort war. Das Fenster behielt ihr Gesicht für sich. Gut, es konnte es ruhig behalten. Wieder da. Das Fenster wollte es also auch nicht.

Reds Spiegelbild starrte geradewegs durch sie hindurch, doch das Glas und die Dunkelheit fingen sie nicht richtig ein, verwackelten die Details. Die Grundzüge waren da: das Leuchten ihrer zu blassen Haut und die weit auseinanderstehenden dunkelblauen Augen, die nicht allein ihr gehörten. Ihr seht euch so ähnlich, hörte sie immer wieder – öfter, als ihr lieb war. Also wandte sie den Blick von ihrem Gesicht ab. Ihrer beider Gesicht. Ignorierte es. Aber es war schwieriger, etwas zu ignorieren, wenn man es wirklich versuchte.

Red richtete den Blick auf die Autos auf der Fahrspur neben ihnen. Irgendetwas stimmte nicht. Von hier oben, von ihrem Fenster aus, wirkten die Autos zu klein, doch Red kam sich dadurch nicht größer vor. Sie beobachtete eine blaue Limousine, die immer weiter vorrückte, um sie zu überholen, und Red half mit ihren Augen nach, schob sie an. Geschafft, Kumpel. Nun sauste sie vor der neun Meter vierzig langen Blechbüchse den Highway hinab. Was seltsam war, wenn man darüber nachdachte. Dass man einen Highway hinabfuhr, wenn hoch doch schon im Namen steckte.

»Red?« Die Stimme von gegenüber unterbrach ihre Gedanken über Lowways und Highways. Maddy sah sie durch das gedimmte Licht im Fahrzeug an, die Haut um ihre sandfarbenen Augen gerötet. Unter dem Tisch trat sie Red gegen das Schienbein. »Hast du etwa vergessen, dass wir gerade ein Spiel spielen?«

»Nein«, erwiderte Red, aber ja, sie hatte es vergessen. Was spielten sie noch mal?

»Wer bin ich?«, sagte Maddy, die Reds Gedanken zu lesen schien. Sie kannten sich schon ihr ganzes Leben. Red hatte lediglich sieben Monate Vorsprung bekommen, und sie hatte nicht sonderlich viel daraus gemacht. Vielleicht hatte Maddy in den mehr als siebzehn Jahren gelernt, ihre Gedanken zu lesen. Red hoffte es nicht. In ihrem Kopf waren Dinge, die kein anderer sehen durfte. Niemand. Nicht einmal Maddy. Vor allem nicht Maddy.

»Ja, ich weiß«, entgegnete Red, und ihre Augen wanderten zur anderen Seite des Wohnmobils, zur Tür und zum Schlafsofa – das gerade als Couch diente –, auf dem sie und Maddy heute Nacht schlafen würden. Red erinnerte sich nicht mehr: Welche Seite des Betts mochte Maddy noch mal lieber? Denn sie konnte nicht schlafen, wenn sie nicht links lag. Gerade als sie versuchte, Maddys Gedanken ebenfalls zu lesen, blieb ihr Blick an einem grünen Schild draußen hängen, das an der Windschutzscheibe vorbeihuschte.

»Da steht Rockingham. Müssen wir nicht bald abfahren?«, fragte Red, aber nicht so laut, dass es jemand von vorn hätte hören können. Wahrscheinlich lag sie sowieso falsch, es war also besser, nichts mehr zu sagen. Sie fuhren nun schon seit einer Stunde auf dieser Straße. Die I-73 war ohne großes Tamtam zuerst zur I-74 und dann zur US 220 geworden.

»Red Kenny, konzentrier dich.« Maddy schnippte mit den Fingern, auf ihren Lippen lag der Anflug eines Lächelns. Maddys Gesicht zeigte niemals auch nur eine Falte, selbst wenn sie noch so breit grinste. Haut wie aus Wachs, weich und reiner, als es die Polizei erlaubte, was Reds Sommersprossen nur noch mehr betonte, wenn sie auf Fotos nebeneinanderstanden. Davon abgesehen waren sie fast exakt gleich groß, bis zu dem Haar, das am weitesten hochstand, wobei Reds Haare dunkelblond und Maddys eher hellbraun waren, ein Unterschied von ein oder zwei Farbnuancen. Red trug ihre immer zusammengebunden, in der Stirn einen Pony, den sie selbst mit der Küchenschere schnitt. Maddys Haar war offen und ordentlich, die Spitzen weicher, als Reds jemals sein würden. »Ich stelle die Fragen, und du überlegst dir eine Person, einen Ort oder einen Gegenstand«, erklärte Maddy.

Red nickte langsam. Nun, selbst wenn Maddy lieber links lag, mussten sie wenigstens nicht in den Stockbetten schlafen.

»Ich habe dir schon sieben Fragen gestellt«, fuhr Maddy fort.

»Super.« Red wusste nicht mehr, welche Person, welcher Ort oder Gegenstand sie war. Aber schließlich waren sie schon den ganzen Tag unterwegs. Vor ungefähr zwölf Stunden waren sie von zu Hause losgefahren. Hatten sie nicht schon genug Spiele gespielt? Red konnte es kaum erwarten, endlich schlafen zu gehen, egal, ob links oder rechts. Sie wollte das Spiel einfach hinter sich bringen. Morgen um diese Zeit würden sie Gulf Shores erreichen und sich mit ihren restlichen Freunden treffen. Das war der Plan.

Maddy räusperte sich.

»Und was habe ich noch mal geantwortet?«, fragte Red.

Maddy atmete laut aus. Fast klang es wie ein Seufzen oder auch ein Lachen, doch das war schwer zu sagen. »Es war eine Person, eine Frau, kein fiktiver Charakter«, sagte sie und zählte die Antworten an ihren Fingern ab. »Jemand, den ich kenne, aber weder Kim Kardashian noch du.«

Red richtete den Blick zur Decke und versuchte, sich zu erinnern. »Sorry«, sagte sie. »Hab's vergessen.«

»Okay, wir fangen noch mal von vorn an«, erwiderte Maddy, doch in den Moment stolperte Simon aus dem kleinen Badezimmer und bewahrte Red vor weiteren Spielen. Als das Wohnmobil beschleunigte, knallte die Tür gegen ihn.

»Simon Yoo, warst du die ganze Zeit dadrin?«, fragte Maddy angewidert. »Wir haben zwei ganze Runden gespielt.«

Simon strich sich das schwarze, leicht gewellte Haar aus dem Gesicht, hielt sich einen unsteten Finger an die Lippen und flüsterte: »Pssst, so etwas erzählt man einer Dame nicht.«

»Dann mach gefälligst die Tür zu, meine Güte.«

Er tat es, aber mit dem Fuß, als wollte er damit irgendetwas demonstrieren. Fast verlor er das Gleichgewicht, als das Wohnmobil zum Überholen die Spur wechselte. Müsste die Ausfahrt nicht bald kommen? Vielleicht sollte Red etwas sagen, doch jetzt beobachtete sie, wie Simon durch das Wageninnere watete und sich hinter ihr an die winzige Küchenzeile lehnte. In einer seltsamen Bewegung schlüpfte er neben sie in die Sitzecke und stieß sich das Knie an der Tischplatte.

Red musterte ihn. Die Pupillen seiner dunklen runden Augen waren zu groß, und die Vorderseite seines türkisfarbenen Eagles-Shirt hatte einen verräterischen nassen Fleck.

»Du bist schon besoffen«, bemerkte sie beinahe beeindruckt. »Ich dachte, du hättest erst drei Bier getrunken.«

Simon rückte näher an sie heran, um ihr ins Ohr zu flüstern, und Red roch die stechende metallische Fahne. Was das anging, lag sie niemals falsch, denn dieser Geruch verriet ihr immer, ob ihr Dad log oder nicht. Nein, ich habe heute nicht getrunken, Red. Versprochen.

»Pssst«, flüsterte Simon. »Oliver hat Tequila dabei.«

»Und du hast dich einfach daran bedient?«, fragte Maddy, die mitgehört hatte.

Als Antwort stieß Simon beide Fäuste in die Luft und rief: »Spring Break, Baby!«

Red lachte. Wenn sie einfach fragen würde, hätte Maddy bestimmt nichts dagegen, heute Nacht rechts zu schlafen. Oder auch für den Rest der Woche. Sie hätte einfach fragen können.

»Oliver mag es nicht, wenn man seine Sachen anfasst«, sagte Maddy leise und warf ihrem Bruder, der nur wenige Meter vor ihr auf dem Beifahrersitz saß und am Radio herumfummelte, während er sich mit Reyna auf dem Fahrersitz unterhielt, über die Schulter einen Blick zu. Arthur stand direkt hinter Oliver und Reyna und schenkte Red ein kleines Lächeln, als sich ihre Blicke trafen. Vielleicht galt es aber auch Simon.

»Hey, es ist mein Wohnmobil. Also habe ich ein Recht auf alles, was sich darin befindet.« Simon hickste.

»Das Wohnmobil deines Onkels«, korrigierte Maddy ihn.

»Solltest du heute nicht auch mal fahren?«, wollte Red von ihm wissen. Der Plan war, die Fahrt gleichmäßig auf alle sechs aufzuteilen. Sie hatte die erste Zwei-Stunden-Schicht übernommen, um es hinter sich zu bringen, war in Philly losgefahren und die I-95 hinab, bis sie eine Mittagspause eingelegt hatten. Arthur hatte die ganze Zeit neben ihr gesessen und ihr ganz ruhig Anweisungen erteilt, als hätte er gemerkt, wann sie die Konzentration verlor oder Panik bekam – wegen der Größe des Wohnmobils und weil von hier oben alles so klein aussah. Offensichtlich war sie von Gedankenlesern umgeben. Dabei kannte sie Arthur erst seit sechs oder sieben Monaten. Das war nicht fair.

»Reyna und ich haben getauscht«, erwiderte Simon. »Weil ich schon zu viel Bier getrunken habe.« Er grinste verschlagen. Simon war schon immer mit allem durchgekommen. Er war einfach zu lustig, zu schnell. Man konnte ihm nie lange böse sein. Nun, vielleicht Maddy, wenn sie sich richtig Mühe gab.

»Hey, Reyna ist übrigens ziemlich cool«, flüsterte Simon Maddy zu, als würde sie über die Coolness der Freundin ihres Bruders bestimmen. Doch sie nahm es nur lächelnd zur Kenntnis und warf dem Traumpaar einen flüchtigen Blick zu.

Die Unterhaltung geriet ins Stocken. Jetzt war der richtige Moment gekommen, um nachzufragen, bevor Red es wieder vergaß.

»Hey, Maddy, wegen des Schlafsofas ...«

»Scheiße!«, zischte Oliver von vorn, ein hässliches Geräusch. »Das ist unsere Ausfahrt. Fahr rüber, Reyna. Jetzt! JETZT!«

»Ich kann nicht«, entgegnete Reyna nervös, überprüfte die Spiegel und setzte den Blinker.

»Die werden schon Platz machen. Wir sind größer als die. Fahr einfach!«, rief Oliver und streckte die Hände aus, als wollte er ins Lenkrad greifen.

Ein Kreischen, nicht vom Wohnmobil, sondern von Reyna, während sie das schwerfällige Gefährt auf die andere Spur lenkte. Ein wütender Chevrolet ließ seine Hupe ertönen, und der Kerl am Steuer hob den Mittelfinger und streckte ihn zum Fenster hinaus. Red tat so, als würde sie ihn fangen, in die Brusttasche ihres blau-gelb karierten Hemds stecken und für immer dort verwahren.

»Fahr, fahr, fahr«, bellte Oliver, und Reyna zog wieder nach rechts und erwischte gerade noch rechtzeitig die Ausfahrt. Wieder ein Hupen, diesmal von einem verärgerten Tesla, den sie auf dem Highway hinter sich gelassen hatten.

»Wir hätten auch einfach die nächste abfahren können. Dafür gibt es ja Google Maps«, schimpfte Reyna und bremste ab, ihre Stimme merkwürdig gequetscht, als müsste sie sie durch ihre zusammengepressten Zähne drücken. So aufgebracht hatte Red Reyna noch nie erlebt. Und auch nicht wütend. Eigentlich lächelte sie immer – und jedes Mal noch breiter, wenn sie Oliver in die Augen sah. Wie das wohl sein musste? Verliebt zu sein? Red konnte es sich gar nicht vorstellen. Deshalb beobachtete sie die beiden manchmal, um sich an ihnen ein Beispiel zu nehmen. Aber sie hätte schon früher etwas wegen der Ausfahrt sagen sollen, oder nicht? Sie waren den ganzen Tag noch nicht ein einziges Mal laut geworden. Dass es jetzt passiert war, war ihre Schuld.

»Tut mir leid«, sagte Oliver und strich Reyna das dicke schwarze Haar hinters Ohr, bevor er die Hand auf ihre Schulter legte, als wollte er dort seinen Abdruck hinterlassen. »Ich will nur so schnell wie möglich den Campingplatz erreichen. Wir sind alle müde.«

Red wandte den Blick ab, ließ die beiden allein in ihrem gemeinsamen Moment. Nun, so allein man eben sein konnte in einem Wohnmobil mit sechs Leuten, neun Meter vierzig lang. Anscheinend waren die extra vierzig Zentimeter so wichtig, dass man die Länge nicht abrunden konnte.

Die Welt außerhalb des Wohnmobils war wieder dunkel geworden. Bäume säumten die Straße, doch Red konnte sie kaum ausmachen, nicht hinter ihrem Spiegelbild und auch nicht hinter dem anderen Gesicht, das sich darunter verbarg. Nicht hier, nicht jetzt.

Der Truck vor ihnen bremste ab, als er ein Schild mit der Maximalgeschwindigkeit von fünfunddreißig Meilen pro Stunde passierte. Die Bremslichter färbten die Straße vor ihnen rot. Die Farbe, die ihr überallhin folgte – und sie hatte nie etwas Gutes zu bedeuten. Doch die Straße führte immer weiter, und sie folgten ihr.

Oh, Moment, was hatte sie Maddy noch mal fragen wollen?

Kapitel 2

Ein merkwürdiges Gurgeln ertönte in Reds Bauch, das Geräusch wurde jedoch von den Reifen auf dem Asphalt übertüncht. Sie konnte unmöglich hungrig sein, oder etwa doch? Sie hatten erst vor ein paar Stunden an einer Raststätte zu Abend gegessen. Doch das Gefühl blieb. Wieder rumorte ihr Magen, also griff sie nach der Chipstüte, die vor Maddy lag. Sie nahm sich eine Handvoll heraus und schob sie sich vorsichtig und einzeln in den Mund. Käsepulver bedeckte ihre Fingerspitzen.

»Oh, ja«, sagte Simon, rutschte aus der Sitzecke und ging zu seinem Stockbett hinter der Mini-Küche. »Ihr schuldet mir übrigens alle noch sieben Mäuse für die Snacks, die ich an der Tankstelle gekauft habe.«

Red starrte auf die übrigen Chips in ihrer Hand.

»Hey.« Maddy lehnte sich über den Tisch. »Ich mache das schon mit den Snacks. Keine Sorge.«

Red schluckte schwer. Sie senkte den Blick, damit Maddy ihre Augen nicht sehen konnte. Sich keine Sorgen zu machen war keine Entscheidung, die Red treffen konnte. In ihren dunkelsten Momenten, jenen Winternächten, in denen sie nachts im Bett über zwei Schlafanzügen und fünf Paar Socken ihren Mantel getragen und trotzdem gefroren hatte, hatte sich Red manchmal gewünscht, sie wäre Maddy Lavoy. In diesem warmen Haus zu leben, als wäre es ihres. Alles zu haben, was sie hatten und Red nicht mehr.

Hör auf damit. Sie spürte, wie ihre Wangen erröteten. Scham war ein rotes Gefühl, ein heißes, genau wie Schuld und Wut. Warum konnten die Kennys ihr Zuhause nicht mit Schuld und Scham beheizen? Aber bald würde alles besser werden, oder? Sehr bald, das war der Plan. Das, wofür sie alles tat. Dann würde alles anders werden. Wie befreiend es sein würde, einfach zu machen, statt alles doppelt oder dreifach zu überdenken. Oder zu sagen: Nein, danke, vielleicht nächstes Mal. Auf der Arbeit nicht um extra Schichten betteln zu müssen und nicht genug Schlaf zu bekommen. Sich noch eine Handvoll Chips zu nehmen, einfach, weil sie es wollte.

Red merkte, dass sie noch nichts erwidert hatte. »Danke«, murmelte sie, ohne Maddy anzusehen. Doch sie nahm sich keine Chips mehr, es fühlte sich nicht richtig an. Dann musste sie eben mit einem knurrenden Magen leben. Vielleicht war es ja gar kein Hunger.

»Keine Ursache«, erwiderte Maddy sorglos. Da sah man es wieder: Maddy hatte keine Sorgen. Dazu gab es keinen Grund. Sie gehörte zu den Menschen, die in allem gut waren. Auf Anhieb. Nun, vom Harfespielen einmal abgesehen. Es sei denn, Red war eine von Maddys Sorgen. Manchmal schien es so.

»Sind wir schon in South Carolina?«, fragte Red und wechselte das Thema. Darin war sie gut.

»Noch nicht«, rief Oliver nach hinten, obwohl er nicht der Lavoy war, den sie gefragt hatte. »Aber bald. Wir sollten den Campingplatz in ungefähr vierzig Minuten erreichen.«

»Juhuuu, Spring Break!«, schrie Simon erneut mit hoher Stimme, und irgendwie hatte eine neue Flasche Bier den Weg in seine Hand gefunden. Hinter ihm flog die Kühlschranktür auf.

»Ich mache das«, sagte Arthur, quetschte sich in dem engen Raum zwischen Schlafsofa und Esstisch an Simon vorbei und klopfte ihm auf den Rücken. Dann machte er einen Satz nach vorn, um die Kühlschranktür zu fassen zu kriegen, und drückte sie zu. Als er sich umdrehte, spiegelte sich das gedimmte Deckenlicht in seinem goldenen Brillengestell. Red mochte seine Brille. Sie bildete einen schönen Kontrast zu seiner dunklen Haut und dem lockigen braunen Haar. Sie fragte sich, ob sie vielleicht auch eine brauchte, weit entfernte Dinge schienen in letzter Zeit noch weiter weg und unschärfer. Noch etwas, das sie ihrer Sorgenliste hinzufügen konnte, denn sie konnte nichts dagegen unternehmen. Noch nicht. Arthur erwischte sie dabei, wie sie ihn anstarrte, und fuhr sich lächelnd mit einem Finger über die leichten Bartstoppeln am Kinn.

»Ihr habt wohl aufgegeben, Wer bin ich? zu spielen, was?«, fragte er Red und Maddy.

»Red hat vergessen, wer oder was sie war«, erwiderte Maddy, was Red auf den Gedanken brachte: Hatte sie nicht noch etwas anderes vergessen? Etwas, das sie Maddy hatte fragen wollen?

»Chips?« Maddy bot Arthur die Tüte an.

»Nee, danke.« Er wich von der Chipstüte zurück und fiel beinahe über die Kante des Schlafsofas. Mit einem Mal wirkten seine Augen trüb, und jetzt, da sie genauer hinsah, standen ihm etwa Schweißperlen auf der Stirn? Normalerweise fielen Red solche Sachen nicht auf, diesmal aber schon. Bedeutete das, dass sie ihn zu oft angaffte?

»Was ist los?«, fragte sie. »Tödliche Allergie gegen Käsebällchen?«

»Nein, zum Glück nicht«, entgegnete Arthur und setzte sich tastend auf das Schlafsofa.

Richtig, Red musste Maddy noch fragen, auf welcher Seite sie lieber schlief. Mist, Arthur hatte gerade irgendetwas gesagt, und sie hatte nicht zugehört. Ein wohlplatziertes »Hm?« war wohl das Beste.

»Ich habe gesagt, dass mir zum Glück nicht so schwindelig ist wie wahrscheinlich Simon.«

»Reiseübelkeit?«, fragte Red.

»Nein, das ist es nicht.« Arthur schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich ist es jetzt eh schon zu spät, euch das zu sagen, aber ich komme mit beengten Räumen nicht so gut klar.« Er schaute sich in dem vollgestopften Innenraum und der kompakten Küche um. »Ich dachte, es wäre größer ...«

»That's what she said!«, unterbrach ihn Simon.

»Um Himmels willen, Simon, Schluss jetzt mit den The Office-Zitaten«, schimpfte Maddy. »Das macht er schon seit der Mittelstufe, bevor er überhaupt wusste, was es bedeutet.«

»Ich stehe direkt hier, Mads. Rede nicht in der dritten Person von mir.«

»Könnt ihr bitte alle mal kurz ruhig sein?«, übertönte Oliver Maddys Retourkutsche. »Wir versuchen hier zu navigieren.«

Red wandte sich wieder an Arthur. »Na, dann ist ja gut, dass wir nicht die ganze Woche in diesem engen Teil verbringen. Oh ... warte.« Sie lächelte ihn an.

»Ja, ich weiß.«

Eigentlich war Arthur Simons Freund, aber inzwischen war er mit ihnen allen befreundet. Er ging nicht auf ihre Highschool, sondern auf eine in South Philly, aber er und Simon waren seit letztem Jahr im selben Basketballteam. Red vermutete, dass Arthur seine Schulfreunde nicht sonderlich mochte, denn seit das Abschlussjahr begonnen hatte, war er zu all ihren Partys und Treffen gekommen. Und sie fand es schön, wenn er dabei war. Er wollte immer wissen, wie es ihr ging und wie ihr Tag gewesen war, auch wenn Red für gewöhnlich log oder Geschichten übertrieb, die nur ansatzweise der Wahrheit entsprachen. Er zeigte Interesse, obwohl Red kein bisschen interessant war. Und einmal hatte er sie nach der Silvesterparty nach Hause gebracht und sie noch ein wenig in seinem warmen Auto sitzen lassen, bevor sie ins Haus gehen und sich dem Chaos stellen musste, das ihr Dad hinterlassen hatte. Arthur wusste natürlich nichts davon. Er dachte, sie würden nur reden – bis zwei Uhr nachts vor ihrem Haus. Eine nette Geste, deren er sich gar nicht bewusst war. Sie sollte sich dafür revanchieren.

»Ich glaube, wir sind bald da«, sagte sie. »Dann kannst du endlich aussteigen und dich in der Wildnis recken und strecken. Ich begleite dich.«

»Ja.« Arthur lächelte. »Wird schon.« Sein Blick wanderte von ihrem Gesicht zum Tisch, auf dem eine ihrer Hände lag. »Das wollte ich dich vorhin schon fragen, aber ich wollte dich nicht vom Fahren ablenken. Was steht denn da auf deiner Hand?«

»Oh.« Red errötete, hob die Hand, rieb sie unsicher und stellte fest, dass auf ihrem anderen Handrücken auch etwas stand. Überall To-do-Listen, sogar auf ihrem eigenen Körper. To-do-Listen und Niemals-abgehakt-Listen. »Hier habe ich ein Zwei-für-eins-Special für dich«, sagte sie. »Auf unserer linken Hand haben wir: AT&T anrufen.«

»Ah, okay. Faszinierend. Und was hat es damit auf sich?«, fragte er.

»Du weißt schon«, erwiderte Red. »Wollte nur mal fragen, wie es ihnen so geht. Ob sie einen schönen Tag hatten.«

Arthur nickte mit einem schiefen Grinsen, das ihrem glich. »Und? Hast du angerufen?«

Red schürzte die Lippen und musterte das leere Kästchen unterhalb ihres Fingerknöchels. »Nein«, sagte sie. »Dafür hatte ich keine Zeit mehr.«

»Und Hand Nummer zwei?«

»Auf Hand Nummer zwei«, sagte Red und machte es spannend, »haben wir die sehr ausführliche und detaillierte Anweisung: Packen.«

»Das musst du ja wohl geschafft haben«, meinte Arthur.

»Größtenteils«, entgegnete sie scherzhaft, doch diesmal war es die Wahrheit. Sie hatte erst heute Morgen gepackt, kurz bevor sie das Haus verlassen hatte. Ihr war nicht einmal genug Zeit geblieben, um ihre Packliste zu überprüfen, denn sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen sicherzustellen, dass für die Zeit, in der sie weg sein würde, genug Essen für ihren Dad im Haus war.

»Nun, warum hast du es dann nicht abgehakt?«, fragte Arthur und deutete auf das leere Kästchen auf der durchscheinenden Haut ihrer Hand. »Warte.« Er stand auf und nahm sich einen von Maddys Stiften vom Tisch, die sie vorhin benutzt hatte, als sie Galgenmännchen gespielt hatten. Er nahm den Deckel ab, beugte sich vor und setzte die Spitze des Filzstifts auf Reds Haut. Vorsichtig zog er zwei Linien: ein Kreuz in dem kleinen Kästchen. »Jetzt haben wir's«, sagte er und machte einen Schritt zurück, um sein Meisterwerk zu begutachten.

Red betrachtete ihre Hand. Sie kam sich lächerlich vor, es sich einzugestehen, aber dieses kleine Kreuz veränderte etwas in ihr. So klein und unbedeutend es auch war – in ihrem Kopf explodierte ein winziges Feuerwerk. Und es fühlte sich gut an. Es fühlte sich immer gut an, die Kästchen abzuhaken. Stolz hielt sie Maddy ihre Hand hin und bekam das zustimmende Nicken, das sie sich erhofft hatte.

Arthur beobachtete sie immer noch. Irgendetwas lag in seinem Blick. Etwas, das Red nicht deuten konnte.

»Paranüsse«, sagte Red.

Arthur runzelte die Stirn. »Wie bitte?«

»Als Kind war ich dagegen allergisch, aber jetzt nicht mehr. Ist das nicht merkwürdig? Dass sich ein Mensch einfach so verändern kann?«, fragte sie und fummelte an der Vordertasche ihrer hellblauen Jeans herum. Sie saß jetzt schon eine ganze Weile auf diesem Platz. Zu lange. »Meine Mu... E-eltern mussten es mir auf die Hand schreiben, damit ich es nicht vergesse. Außerdem – erinnert euch das Muster der Vorhänge an irgendwas?« Sie berührte den blau-weißen Vorhang neben sich und ließ ihre Finger durch die Plisseefalten gleiten. »Das beschäftigt mich schon den ganzen Tag, aber ich komme einfach nicht drauf. Ein Cartoon oder irgendwas.«

»Es ist nur irgendein Muster«, antwortete Maddy.

»Nein, es erinnert mich an etwas. Irgendwas Bestimmtes.« Red strich mit dem Finger darüber. Wie über die Silhouette einer Figur, die sie nicht verorten konnte. Vielleicht aus einem Buch, das ihr abends vorgelesen worden war. Oder aus einer Fernsehsendung? Was es auch war, es war besser, sich nicht an diese Zeit zu erinnern, als sie noch klein gewesen war, denn sie wusste, wer sonst noch Teil dieser Erinnerung sein würde.

»Tomaten«, sagte Arthur und bewahrte sie vor der Erinnerung. »Davon kriege ich Ausschlag am Mund. Aber nur, wenn sie roh sind.« Er richtete sich auf, und die Falten seines weißen Baseballshirts mit den blauen Ärmeln glätteten sich. »Ich sollte den beiden mal lieber mit dem Weg helfen. Ich glaube, Simon stört sie nur.«

»Ich leiste hier hervorragende Arbeit, vielen Dank«, konterte Simon, der über Olivers Schulter auf ein iPhone in einer orange marmorierten Hülle sah. Es musste Reynas sein. Auf dem Display war eine Karte geöffnet, und der blaue Punkt bewegte sich entlang der markierten Straße. Der blaue Punkt waren sie alle sechs und die ganzen neun Meter vierzig des Wohnmobils. Zum Glück war es kein roter Punkt. Blau war sicherer.

Arthur ging nach vorn und versperrte Red die Sicht auf das Display. Nun wanderte ihr Blick zu Maddy, die ihr nicht gerade subtil zuzwinkerte.

»Hä?«

Maddy gab ihr zu verstehen, dass sie still sein solle, und deutete mit einer kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung auf Arthur. »Erfüllt alle Kriterien«, flüsterte sie.

»Halt den Mund«, warnte Red sie.

»Halt du den Mund.«

Dann wurden sie beide still, denn Maddys Handy begann zu vibrieren, ein aggressives Wespensummen auf dem Tisch. Das Display leuchtete auf und zeigte die Ansicht der Frontkamera: die cremefarbene Decke und ein Stück von der Unterseite von Maddys Kinn. Oben stand Mom und FaceTime-Video, und der Slide-Button wartete geduldig darauf, dass sie ranging.

Maddy reagierte sofort. Zu schnell. Sie verspannte sich, und die Knochen traten unter ihrer Haut hervor. Ihre Hand schnellte nach vorn, um nach dem Smartphone zu greifen. Dann hielt sie es hoch und drehte es von Red weg.

Red wusste genau, was sie da tat. Das wusste sie immer, auch wenn Maddy nicht wusste, dass sie es wusste.

»Ich rufe sie an, sobald wir angekommen sind«, sagte Maddy, beinahe zu leise, um über das Geräusch der Reifen hinweg gehört zu werden, und drückte den seitlichen Knopf, um den Anruf abzulehnen. Sie sah überallhin, nur nicht zu Red.

Mom.

Als würde Maddy denken, Red würde allein beim Anblick des Wortes auseinanderbrechen und verbluten.

So war es seit Jahren. Im ersten Highschool-Jahr hatte Maddy Leute beiseitegezogen, um ihnen klarzumachen, dass sie vor Red keine Deine-Mudder-Witze reißen durften. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Red es jemals herausfinden würde. Es war ein verbotenes Wort. Ein schmutziges Wort. Selbst über die Mummers Parade wollte sie nicht vor Red sprechen.

Wie lächerlich.

Nur, dass Maddy nicht falschlag.

Red fing tatsächlich allein bei dem Wort an zu bluten. Wenn sie es hörte, daran dachte, sich daran erinnerte, hinterließ die Schuld jedes Mal einen tiefen Krater in ihrer Brust. Blut, rot wie ihr Name und rot wie ihre Scham. Deshalb dachte sie nicht daran, erinnerte sich nicht daran, und sie blickte auch nicht nach links, um das Gesicht in ihrer Spiegelung in der Scheibe zu erkennen. Nein, das würde sie nicht mehr tun. Diese Augen gehörten allein ihr.

Kapitel 3

Red konzentrierte sich darauf, geradeaus zu starren. Sie wollte noch einmal über das Muster der Vorhänge nachdenken, konnte jedoch nicht das Risiko eingehen, wieder in diese Richtung zu sehen. Stattdessen schaute sie nach unten auf das Kreuz auf ihrer Hand, fuhr mit dem Blick die Linien nach und versuchte, das winzige Feuerwerk noch einmal heraufzubeschwören.

Maddy legte ihr Handy mit dem Display nach unten auf den Tisch.

»Sollen wir noch was spielen?«, fragte sie.

Wenn Red noch länger hier sitzen musste, würde sie durchdrehen. Vielleicht würde es helfen, ein paar Runden durch das Wohnmobil zu drehen. Neun Meter vierzig, nicht nur neun. Der 2017 GetAway Vista 31B. 2017 war auch das Jahr gewesen, in dem ... Nein, stopp.

Sie wollte gerade aufstehen, als das Quaken einer Ente sie innehalten ließ, mechanisch und penetrant. Es kam von hinter ihrem Kopf.

»Oh, das ist meins«, sagte Oliver, sprang vom Beifahrersitz auf und quetschte sich mit seinen breiten Schultern zwischen Arthur und Simon hindurch. »Mom ruft an.«

Red atmete ein.

»Woher weißt du, dass es deine Mom ist, ohne aufs Handy zu sehen?«, fragte Simon verwirrt.

»Personalisierter Klingelton«, erklärte Oliver. Er ging am Esstisch vorbei zur winzigen Küche und fuhr sich durch das goldbraune Haar, das genau dieselbe Farbe hatte wie seine Augen. Sein Rucksack stand auf der Theke. Er öffnete den Reißverschluss. »Meine Mom hat damit angefangen. Hat für jedes Familienmitglied einen eigenen Klingelton«, sagte er und steckte die Hand hinein. »An ihrem Geburtstag gibt es immer Ente à l'orange. Deshalb die Ente.« Er fand das klingelnde Handy und zog es heraus. »Arthur, kannst du dich um das Navi kümmern?«

»Kein Problem.« Arthur setzte sich auf den nun leeren Beifahrersitz.

»Hey, Mom«, meldete sich Oliver und hielt das Handy von sich weg, damit er gut zu sehen war. Er machte einen Schritt nach vorn und setzte sich neben Red in die Sitzecke. Catherine Lavoys Gesicht füllte das Display. Ihr Haar hatte dieselbe Farbe wie Olivers, ordentlich und gelockt. Um ihre Augen zeigten sich feine Linien, als sie aus dem Handy herauslächelte. Sie sah müde aus, das Gesicht voller Schatten.

»Hallo, Schätzchen«, sagte sie, ihre Stimme ungewohnt brüchig. Sie räusperte sich. »Ich habe gerade bei Madeline angerufen, aber sie ist nicht rangegangen.«

»Ich bin hier, Mom«, sagte Maddy und sah Red merkwürdig an, doch Red tat so, als würde sie es nicht merken. Es war sowieso albern, denn Red mochte Catherine. Sogar mehr als das. Catherine war schon ihr ganzes Leben lang da gewesen. Sie war herzlich, fürsorglich und wusste Red immer zu helfen. Und was am wichtigsten war: Sie schnitt Sandwiches immer in Dreiecke. Oliver drückte den Knopf, um die hintere Kamera zu aktivieren, damit Maddy ihrer Mom zuwinken konnte. »Sorry, hab's nicht gehört.«

»Schon okay«, erwiderte Catherine. »Ich wollte nur wissen, ob bei euch alles in Ordnung ist. Seid ihr schon angekommen?«

Oliver aktivierte wieder die Frontkamera, und Red konnte an seiner Blickrichtung erkennen, dass er sein eigenes Gesicht betrachtete und den Winkel so veränderte, dass das Licht seine Wangenknochen bestmöglich betonte. »Nein, noch nicht. Aber ich glaube, es ist nicht mehr weit bis zum Campingplatz. Hey, wo sind wir eigentlich?«, rief er nach vorn.

Arthur warf einen Blick über die Schulter. »Fahren gerade durch ein gewisses Morven Township. Wir sollten in ungefähr fünfundzwanzig Minuten da sein.«

»Wer war das?«, fragte Catherine und musterte die Ecken ihres Bildschirms, als würde sie dort die Antwort finden.

»Maddys Freund, Arthur«, erwiderte Oliver.

»Wer fährt?«, wollte Catherine wissen.

»Im Moment Reyna.«

»Hi, Mrs Lavoy!«, rief Reyna von vorn, ohne den Blick von der dunklen Straße abzuwenden.

»Hallo, Reyna!«, rief Catherine zu laut zurück, und ihre Stimme kam krächzend durch die Lautsprecher. »Okay, dann seid ihr also fast da?«

»Korrekt.«

»Super. Oh, ist das Red?«, fragte Catherine, beäugte intensiv ihr Display und führte es näher an ihre Augen.

Oliver drehte das Handy und fing Red mit der Kamera ein. Sie lächelte.

»Oh, ja, das ist sie! Hallo, Schätzchen. Wie geht's dir?«

»Ach, gut. Kann mich bisher nicht beklagen.«

Catherine lachte. »Und? Benehmen sich meine Kinder auch gut? Du weißt, dass ich dir am meisten vertr...«

Catherine fror auf dem Display ein, und Pixel verzerrten ihr Gesicht.

»Das ...«

Ihre Hand huschte über das Display und verschmolz mit ihrem entstellten Gesicht. Nicht länger ein Mensch, nur noch verstummte Farbklötze.

»Mom?«, fragte Oliver.

»Da...da...«

Ihre Worte klangen abgehackt, roboterartig und seltsam.

Red war auch eingefroren auf dem Display, mit aufgerissenen Augen, besorgt, dass sie für immer in Olivers Handy feststecken könnte.

»Mom, kannst du mich hören?«, fragte Oliver. »Mom?«

»Kö...nnt ihr m...ich hören? Hallo?« Catherines Stimme kam zwar durch, doch ihr Gesicht konnte nicht mithalten. Ihr Mund formte Worte, die bereits verklungen waren, und sprach, bevor sie etwas sagen konnte.

»Ja«, sagte Oliver. »Na ja, zumindest irgendwie. Anscheinend ist der Empfang hier stellenweise ziemlich schlecht.«

»Okay, nun.« Catherines Gesicht spulte nach vorn und zuckte, während es sich in die Gegenwart beförderte. »Dann lasse ich euch mal ... Ist das eine Bierflasche?« Catherines Blick wanderte wieder zur Kamera und fiel auf etwas auf dem Tresen hinter Olivers Schulter.

»Ja, das ist meine«, erwiderte Oliver gelassen und ohne zu zögern. Vielleicht war er sogar ein besserer Lügner als Red.

»Du trinkst aber nicht auf diesem Trip, oder, Maddy?« Catherine sprach nun lauter, weil ihre Tochter nicht mehr auf dem Display zu sehen war.

»Nein, Mom«, setzte Maddy an. »Ich weiß ...«

»Du bist siebzehn. Ich will von niemandem hören, dass du getrunken hast. Du kannst auch ohne Alkohol Spaß haben.«

Was Red daran erinnerte, dass Maddy in nur wenigen Wochen Geburtstag hatte. Schon jetzt zerbrach sie sich den Kopf darüber, wie sie sich ein Geschenk leisten sollte.

»Ja, ich weiß. Ich trinke nichts«, versprach Maddy und lehnte sich nach vorn, damit ihre Mom sie besser hören konnte.

»Oliver?«

»Ja, Mom. Ich passe auf sie auf. Wir nehmen unsere Aufgabe als Betreuer sehr ernst, nicht wahr, Reyna?«

»Jawohl, Ma'am«, rief Reyna.

»In Ordnung.« Catherine wich ein Stück von der Kamera zurück. »Dann lasse ich euch mal. Ich muss jetzt sowieso ein paar Dinge erledigen. Schreibt mir morgen früh, bevor ihr weiterfahrt.«

»Machen wir, Mom«, sagte Oliver.

»Okay, tschüss alle, tschüss Red.«

Alle verabschiedeten sich durcheinander, Simon aus irgendeinem Grund mit hoher, schriller Stimme.

»Hab euch lieb, Oliver, Maddy.«

»Wir dich auch, Mom«, erwiderten sie in perfekter Lavoy-Synchronität. Oliver drückte auf den roten Knopf und beförderte Catherine zurück in das warme Haus in Philadelphia.

»Puh.« Maddy atmete laut aus. »Was will sie denn noch? Ich muss Spring Break doch sowieso schon mit meinem großen Bruder und dessen Freundin verbringen, weil sie darauf bestanden hat. Das nervt so.«

Sie sprach mit Red. Sie musste mit Red sprechen, denn in dem Moment wurden ihre Augen größer, und sie wandte den Blick ab, weil sie festgestellt hatte, dass sie sich bei der mit der toten Mutter über ihre Mom beschwert hatte. Aber das war in Ordnung, denn Red dachte gerade an den Cartoon Phineas und Ferb. Zwar passte er nicht zum Muster auf den Vorhängen, doch jetzt hatte sie die Titelmelodie im Kopf.

»Alles gut«, sagte Oliver zu seiner Schwester. »Reyna und ich haben unser eigenes Apartment. Ihr kriegt uns nicht mal zu Gesicht. Wir lassen dich und deine Freunde vollkommen in Ruhe. Ich verbringe doch keine ganze Woche mit einer Horde Teenager in einem Wohnmobil.«

»Ja«, erwiderte Maddy nun an ihren Bruder gewandt, »aber davon weiß Mom nichts.«

»Und was Mom nicht weiß, macht sie nicht heiß. Sie hat im Moment einfach viel Stress auf der Arbeit«, verteidigte Oliver seine Mom. Das tat er oft.

Red wollte jetzt wirklich aufstehen, dieser Unterhaltung entfliehen und sich nach vorn zu Arthur stellen, doch Oliver und seine breiten Schultern hielten sie hier gefangen. Jetzt kam auch noch Simon, was die Situation nur noch verschlimmerte, und ließ sich neben Maddy plumpsen. Er griff in die Chipstüte und schob sich eine ganze Handvoll auf einmal in den Mund.

»Ja, ich weiß«, sagte Maddy, die Wangen immer noch gerötet. »Aber sie muss es ja nicht an mir auslassen.«

»Sie will dich nur beschützen«, konterte Oliver.

»Wovon redet ihr da alle?«, fragte Simon und spuckte beim Reden orangefarbene Krümel aus.

»Meine Mom«, erklärte Oliver. »Sie ist gestresst, weil sie gerade einen riesigen Fall an der Backe hat.«

»Ach ja, sie ist Anwältin, richtig?«, fragte Simon und nahm sich noch mehr Chips.

Oliver blickte nicht gerade begeistert drein. »Sie ist stellvertretende Bezirksstaatsanwältin«, erwiderte er, und es war schwer, den Stolz in seiner Stimme zu überhören, die Art, wie er die Worte betonte. Red übersetzte es so: Nein, du Idiot. Sie ist nicht einfach nur irgendeine Anwältin.

»Und was ist das für ein Fall?«, fragte Simon, der Olivers Missfallen nicht zu bemerken schien.

»Du hast bestimmt schon in den Nachrichten davon gehört«, erwiderte er spitz. »Ist eine ziemlich große Sache.«

Eine riesige Sache, dachte Red.

»Es ist ein Mordfall. Ein Mord, in den zwei Mitglieder der größten organisierten Verbrecherbande der Stadt involviert sind«, sagte Oliver und wirkte ein wenig enttäuscht. Als hätte er von Simon nicht die erhoffte Reaktion bekommen. »Quasi die Philadelphia-Mafia«, fuhr er fort.

»Oh, cool«, erwiderte Simon kauend. »Wusste gar nicht, dass es die Mafia überhaupt noch gibt. Ich liebe Der Pate. ›Rache ist ein Gericht, das man am besten kalt serviert‹«, zitierte er mit fürchterlichem italoamerikanischen Akzent.

»Und ob es die noch gibt«, sagte Oliver, bereit, die Geschichte weiter auszuführen, jetzt, da er Simons Aufmerksamkeit geweckt hatte.

Konnte Red unter den Tisch krabbeln, um herauszukommen? Uff, nein. Zu viele Beine.

»Jedenfalls gab es in der Kriminellenfamilie Streit um die Führerschaft. Aber ich will dich nicht mit den Details langweilen. Ende August letzten Jahres wurde eines der Oberhäupter, Joseph Mannino, von einem anderen, Francesco Gotti, umgebracht. Mutmaßlich, sollte ich dazusagen. Hat ihm zweimal in den Hinterkopf geschossen.«

Red versuchte, es sich nicht vorzustellen, und begutachtete stattdessen wieder die Vorhänge. Sie hatte es schon so oft gehört, wahrscheinlich kannte sie die Details sogar besser als Oliver. Nicht, dass sie das erwähnen würde.

»Wir sind jetzt offiziell in South Carolina!«, rief Arthur und deutete auf ein grünes Schild, das von den Scheinwerfern des Wohnmobils angestrahlt wurde.

»Mom ist die leitende Staatsanwältin, die Frank Gotti wegen Mordes vor Gericht bringt. Die Vorverhandlung ist in ein paar Wochen ...«, fuhr Oliver fort.

Am 25. April, um genau zu sein, dachte Red, überrascht, dass sie sich an dieses Detail erinnerte. Das sah ihr gar nicht ähnlich.

»Dann muss noch die Jury bestimmt werden, und dann folgt der eigentliche Prozess.«

»Cool«, wiederholte Simon. »Mrs Lavoy nimmt's mit der Mafia auf.«

Oliver schien ein wenig anzuschwellen, richtete sich gerader auf, engte Red noch mehr ein. »Aber es ist nicht nur das. Sie musste hart darum kämpfen, den Fall überhaupt zu bekommen. Normalerweise ist so ein Verbrechen ein Fall fürs Bundesgericht und wird von der Bundesstaatsanwaltschaft übernommen. Sie haben schon oft versucht, Frank Gotti dranzukriegen. Wegen verschiedener Delikte wie Drogenhandel und Gaunereien. Bisher wurde er aber nie verurteilt. Mom hat es geschafft, sie davon zu überzeugen, dass für diesen Mord die Bezirksstaatsanwaltschaft zuständig ist, weil er nicht mit dem Drogenhandel in Verbindung steht. Und weil Frank Gotti Mannino selbst umgebracht und keinen Auftragskiller angeheuert hat, wie die Mafia es für gewöhnlich tut.«

Simon gähnte. Oliver verlor seinen Zuhörer, merkte es aber nicht.

»Und das wissen wir«, fuhr Oliver fort, »weil es einen Augenzeugen gibt. Jemand hat Frank Gotti beim Weggehen beobachtet, nachdem er Mannino erschossen hat. Und deshalb ist Mom so gestresst. Weil der ganze Fall von der Zeugenaussage abhängig ist. Und – wie du dir vielleicht vorstellen kannst – in Fällen gegen die Mafia werden Augenzeugen oft eingeschüchtert oder einfach umgelegt. Deshalb musste Mom sicherstellen, dass der Zeuge in allen Gerichtsakten anonym bleibt. Die Presse nennt ihn Zeuge A.«

»Verstehe«, sagte Simon. Bedauerte er es inzwischen, gefragt zu haben? Red bedauerte es jedenfalls, dass sie das alles noch einmal hören musste.

»Aber wenn sie den Fall gewinnt«, sagte Oliver mit leuchtenden Augen, als wäre das der wichtigste Teil der ganzen Geschichte und als sollte Simon lieber weiter zuhören, »bestimmt das ihre gesamte zukünftige Karriere. Der aktuelle Bezirksstaatsanwalt geht demnächst in Ruhestand, und wenn Mom es schafft, dass Gotti schuldig gesprochen wird, ist es so gut wie sicher, dass sie dieses Jahr die demokratischen Vorwahlen gewinnt und zur Bezirksstaatsanwältin gewählt wird.«

»Beschreien wir es lieber nicht«, warf Maddy ein, und es war schön, zur Abwechslung mal eine andere Stimme zu hören als die von Oliver – und die in Reds Kopf.

»Nein.« Oliver nickte seiner Schwester zu. »Ich will damit nur sagen, dass Mom gute Chancen hat, Bezirksstaatsanwältin zu werden, sollte Gotti verurteilt werden.« Dann wandte er sich wieder an Simon. Armer Simon. »Ihr größter Konkurrent ist im Moment Mo Frazer, ein weiterer stellvertretender Bezirksstaatsanwalt. Er ist sehr beliebt, vor allem in der afroamerikanischen Community. Aber wenn Mom diesen Schuldspruch kriegt, hat sie bestimmt die Nase vorn.«

Endlich lehnte sich Oliver zurück und senkte den Kopf, als würde er darauf warten, dass man ihn persönlich beglückwünschte.

»Glückwunsch«, sagte Red daher und widerstand dem Drang zu klatschen. Simon ergriff die Chance und flüchtete.

»Klappe, Red«, entgegnete Oliver und versuchte, es scherzhaft klingen zu lassen. Manchmal sah Red in ihm eine Art geborgten Bruder. Sie kannte ihn schon ihr ganzes Leben, sogar länger als Maddy, wenn sie genauer darüber nachdachte. In anderen Momenten fragte sie sich jedoch, ob er sich überhaupt an ihren Namen erinnerte. Nicht, dass er sonderlich kompliziert war. Man musste nur an die Grundfarben denken.

»Jedenfalls hat sie bisher eine ordentliche Karriere hingelegt. Bezirksstaatsanwältin, noch bevor sie fünfzig ist. Ich werde bis dahin natürlich schon längst Staatsanwalt sein«, sagte er erneut, als würde er nur einen Scherz machen, obwohl es in Wahrheit keiner war. Oliver schaffte es, aus allem einen Schwanzvergleich zu machen. Red schnaubte und tätschelte der Stimme in ihrem Kopf den Rücken.

»Was denn?« Oliver wandte sich ihr zu, und seine ohnehin breiten Schultern waren plötzlich noch breiter, wie eine Barrikade auf jeder Seite seines Halses. »Okay, was willst du denn aus deinem Leben machen? Ich habe ganz vergessen, auf welches College du dieses Jahr gehst. Sagst du es mir noch mal?«

Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals.

»Harvard«, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. »Vollstipendium.«

Oliver riss die Augen auf. Sie hatte gerade seinen Erfolg – ein Jurastudium am Dartmouth College und eine Medizinstudentin als Freundin – mit ihrem angeblichen Stipendium in den Schatten gestellt. Wie konnte sie es nur wagen? Red genoss den Anblick, solange sie noch konnte.

»Wa... Wirklich?«, fragte er.

»Ja«, erwiderte sie. »Frühe Zulassung.«

»Red«, sagte Maddy gespielt warnend, ihr Ausdruck leicht tadelnd. Früher hatte sie Oliver auch gern aufgezogen.

»Was?« Oliver blickte zwischen den beiden hin und her.

»Ich gehe dieses Jahr nicht aufs College«, gestand Red zögerlich. Solange es währte, machte es Spaß, dieses andere Leben zu leben.

Oliver lachte, und irgendwo darunter verbarg sich ein erleichtertes Seufzen. »Ich wollte schon sagen. Vollstipendium an der Harvard, ha! Wer's glaubt ...«

Ach, er hatte ihr nicht geglaubt, ja?

»Du gehst gar nicht aufs College?«, fragte er jetzt, da er sich vollkommen von dem Schock erholt hatte.

»Red hat die Bewerbungsfrist verpasst«, erklärte Maddy an ihrer Stelle. Was nicht stimmte, aber es war eine gute Lüge, eine praktische, denn sie war so Red.

»Du kennst mich doch«, fügte Red hinzu, um dem Ganzen Nachdruck zu verleihen.

»Wie kann man denn bitte die Bewerbungsfrist verpassen?« Oliver wandte sich mit besorgtem Gesichtsausdruck zu ihr. Red gefiel es nicht, welche Richtung dieses Gespräch einschlug. Sie war für immer und ewig in dieser verdammten Sitzecke gefangen.

Sie zuckte mit den Schultern, in der Hoffnung, es würde ihn endlich zum Schweigen bringen.

Das tat es aber nicht, denn Oliver öffnete erneut den Mund. »Ich verstehe das nicht«, sagte er. »Du warst so ein kluges Kind.«

Sag es nicht. Bitte, sag es nicht.

»Was für eine Schande«, fuhr Oliver fort. »Du hattest so viel Potenzial.«

Da war er. Der Spruch, der sie zerriss. Irgendwann hatte sie aufgehört mitzuzählen, wie oft sie diesen Satz schon gehört hatte. Doch er hatte nur ein einziges Mal wirklich etwas bedeutet. Red war dreizehn gewesen, und ihre Mom hatte noch gelebt. Sie hatten sich durch die Küche hinweg angeschrien, damals, als es zu Hause noch warm gewesen war.

»Red?«, fragte Maddy.

Es war zu heiß hier drin.

Red stand auf, stieß sich die Knie am Tisch und geriet ins Schwanken, als das Wohnmobil wendete.

»Ich muss ...«

Doch sie wurde von Arthur gerettet, der rief: »Scheiße, ich glaube, wir sind falsch gefahren.«

Kapitel 4

»Was soll das heißen?«

Oliver erhob sich aus der Sitzecke – Gott sei Dank, Red war endlich frei –, ging die vier Schritte bis nach vorn und stieß Simon beiseite. »Zeig mal«, sagte er zu Arthur und streckte die Hand nach dem Smartphone mit der Karte aus.

Red war frei – und sie würde nicht länger an diesem Tisch sitzen bleiben.

Sie rutschte heraus, bewegte sich auf die Versammlung vorn zu und setzte sich auf die Kante des Schlafsofas. Ach ja, jetzt erinnerte sie sich.

»Maddy, auf welcher Seite ...«

»Nein, das geht schon«, redete Oliver über sie hinweg und wischte über das Display. »Es berechnet eine neue Route. Fahr einfach weiter die Straße lang, dann kommen wir durch einen kleinen Ort namens Ruby. Danach sollte es links gehen, dann eine Weile nach Süden in Richtung Carolina Sandhills National Wildlife Refuge«, las er vom Display ab. »Und da muss irgendwo der Campingplatz sein. Leute, wir sollten in ungefähr zehn Minuten da sein.«

»Super«, sagte Reyna und nahm eine Hand vom Steuer, um sich die Augen zu reiben.

»Bist du müde?«, fragte Oliver. »Soll ich übernehmen?« Seine Stimme klang anders, wenn er mit Reyna sprach. Irgendwie sanfter.

»Nein, geht schon«, erwiderte sie und warf ihm über die Schulter ein flüchtiges, aber breites Lächeln zu. Was für eine Schande, dass ein so schönes Lächeln ausgerechnet Oliver galt. Aber das war ein gemeiner Gedanke. Oliver meinte es nur gut. Alle meinten es immer nur gut.

»Alles okay?«, wollte Arthur von Red wissen. Er gab den Beifahrersitz für Oliver frei und stellte sich neben sie.

Sie nickte. »Das Wohnmobil fühlt sich nur irgendwann kleiner an, wenn man schon über zehn Stunden drin ist.«

»Wem sagst du das«, stimmte er zu. »Aber wir sind gleich da. Oder wir besaufen uns wie Simon. Dann ist uns sowieso alles egal.«

»Ich bin nicht besoffen«, widersprach Simon hinter Arthur. »Ich bin angenehm angetrunken.«

»Mal sehen, ob der Simon von morgen früh das auch so sieht«, sagte Red.

»Und die Maddy von jetzt widerspricht auch«, sagte Maddy und drehte sich auf ihrem Platz in der Sitzecke so, dass sie alle ansehen konnte. »Du willst es doch nicht schon jetzt übertreiben. Wir haben noch eine ganze Woche vor uns.«

Simon leerte sein Bier in einem einzigen langen Zug, den Blick auf Maddy gerichtet.

»Hier links?«, fragte Reyna und bremste ab. »Oliver?«

»Sorry, ähm ...« Er starrte auf das Smartphone in seiner Hand. »Das GPS spinnt gerade. Ich glaube, ich habe keine Verbindung mehr. Ich weiß nicht genau, wo wir sind.«

»Ich brauche aber jetzt eine Antwort.« Reyna blieb an der Kreuzung stehen, die Hand schon auf dem Blinker.

Hinter ihnen hupte es. Und noch mal.

»Oliver?«, fragte Reyna nun lauter und hielt das Lenkrad so fest umklammert, dass ihre Fingerknöchel unter der Haut hervortraten wie knochige Bergspitzen.

»Ähm, ja, ich glaube schon. Hier links«, erwiderte er unsicher.

Doch es war alles, was Reyna brauchte. Sie gab Gas und bog ab. Das Auto hinter ihnen heulte wütend auf, während es über die Kreuzung brauste.

»Arschloch«, murmelte sie.

»Sorry«, sagte Oliver. »Dein Handy funktioniert nicht richtig.«

»Nicht du, das Auto.«

»Die Karte funktioniert einfach nicht richtig«, schimpfte Oliver, wischte wie verrückt auf dem Display herum, schloss die Navigations-App und öffnete sie wieder. Doch da war nichts, nur ein gelber Hintergrund und ein leeres Raster. Sonst nichts. »Es weiß nicht, wo wir sind. Null Balken. Hey, hat jemand von euch Netz?«

Red hatte ihr Handy drüben auf dem Tisch liegen lassen. Doch wenn sie null Balken hatte, konnte das entweder heißen, dass sie auch keinen Empfang hatte, oder dass AT&T ihr nach der letzten unbezahlten Rechnung endgültig den Saft abgedreht hatte.

»Ich habe einen Balken«, sagte Arthur mit dem Smartphone in der Hand.

»Welchen Anbieter hast du?« Oliver blickte zu ihm hoch.

»Verizon«, erwiderte er. »Warte, ich schaue mal nach.« Er tippte auf seinem Display herum. »Hab die Karte noch geladen von vorhin, als ich Red die Richtung gewiesen habe. Okay, wir sind richtig abgebogen. Wir bleiben jetzt für zwei Meilen auf dieser Straße und dann am Bo Melton Loop rechts.«

»Mein Handy zickt auch rum«, sagte Maddy, hielt es in die Höhe und schüttelte es, als könnte sie es damit wiederbeleben.

»Wir sind jetzt mitten in der Pampa, Leute«, sagte Simon mit einem fürchterlichen Südstaatenakzent, gespickt mit der Imitation eines verrückten alten Mannes. Der nüchterne Simon konnte Akzente für gewöhnlich ziemlich gut imitieren. Darauf war er sehr stolz, denn es sicherte ihm stets eine Rolle im Schulstück. Sein gehobener britischer Akzent war wirklich erstklassig.

Red blickte durch die große Windschutzscheibe, ein dunkles Panorama. Die zwei Scheinwerfer durchschnitten die Nacht und ließen sie lebendig werden. Es gab keine Welt mehr, nur dieses Wohnmobil und sie sechs – und was auch immer die Dunkelheit ihnen bringen mochte.

Arthur gab ein leises Geräusch von sich, ein kehliges Stöhnen, während er auf sein Handydisplay starrte. Red stand auf und blickte ihm über die Schulter, um zu sehen, was er da sah. Er warf ihr einen Blick zu und räusperte sich. Vielleicht stand sie zu nahe.

»Sieht ganz so aus, als hätte ich jetzt auch keinen Empfang mehr«, sagte er, und in dem Moment entdeckte Red die null Balken oben auf seinem Display.

»Scheiße«, zischte Oliver und tippte erneut auf Reynas Handy herum, als könnte er es zwingen zu funktionieren. Wenn jemand das vermochte, dann ein Lavoy.

»Schon okay«, sagte Arthur zu ihm. »Ich habe die Route noch geöffnet, ich kann nur nicht sehen, wo wir gerade sind. Wir müssen nach Straßenschildern Ausschau halten.«

»Oldschool Navigation«, kommentierte Reyna.

»Wartet, ich helfe euch«, sagte Simon und schlurfte hinüber zu Arthur und Red. »Ich bin gut mit Karten.«

»Das sagst du bei allem«, bemerkte Red.

»Ich bin eben in allem gut«, erwiderte Simon. »Außer Bescheidenheit.«

Abgesehen von ihnen war niemand auf der Straße. Keine entgegenkommenden Scheinwerfer, keine aufleuchtenden Bremslichter vor ihnen. Konzentriert starrte Red aus der Windschutzscheibe.

»Wann müssen wir abbiegen?«, fragte Reyna.

»Noch nicht«, entgegnete Red. Sie musterte nun die markierte Straße auf Arthurs Display, ohne einen blauen Punkt, an dem sie sich orientieren konnten, und versuchte, sie mit der Dunkelheit draußen abzugleichen.

»Red würde ich nicht trauen, was Wegbeschreibungen angeht«, bemerkte Maddy.

»Hey!«

»Na ja, es ist ja nicht so, als wärst du jemals pünktlich, oder?«

Red lehnte sich nach hinten, um Maddy anzusehen, die noch immer in der Sitzecke saß, den Kopf auf die Fingerknöchel gestützt. »Nur, damit du's weißt«, sagte sie. »Heute Morgen waren alle später dran als ich. Ich war ganze zehn Minuten vor euch da.«

Maddy blickte verlegen drein und biss sich auf die Unterlippe.

»Was?«

»Nichts.«

Red wusste, dass das nicht stimmte.

»Maddy, was ist?«

»Ich, ähm, habe dir gesagt, dass wir uns um neun bei uns treffen. Aber allen anderen habe ich zehn Uhr gesagt.«

»Du hast mir eine ganze Stunde früher genannt?«, fragte Red. Warum tat es so weh, dass Maddy das getan hatte? Es war eine Lüge, ja, aber keine unbegründete. Maddy hatte gewusst, dass Red zu spät kommen würde. Sie wusste zwar nicht, warum, aber sie kannte das Endergebnis, was aufs Gleiche herauskam, oder nicht?

»Also genau genommen bist du fünfzig Minuten zu spät gekommen, und alle anderen waren pünktlich.«

»Ich habe den Bus verpasst«, sagte Red, auch wenn es nicht stimmte. Sie hatte von ihrem restlichen Bargeld das Lieblingsmüsli ihres Dads gekauft und dann den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen müssen, den Einkaufstrolley hinter sich herziehend.

»Ha, schaut mal, die Straße heißt Wagon Wheel Road«, grunzte Simon und deutete auf das Display.

»Muss ich hier rechts abbiegen?«, fragte Reyna, und ihre Hand bewegte sich zum Blinker, obwohl niemand hinter ihnen war, der sich für das Signal interessiert hätte.

Nein, nicht hier.

»Nein, nein, nein«, sagte Arthur schnell. »Die Nächste. Glaube ich.«

Reyna beschleunigte wieder und folgte weiter der Straße, die nun eine Kurve machte.

»Wagon Wheel.« Simon kicherte immer noch vor sich hin.

»Hier«, übernahm Oliver die Führung. »Bieg ab, Reyna.«

»Mach ich ja«, erwiderte sie leicht genervt.

Zu viele Köche ... Aber was war dann Reyna? Der Löffel? Die Lavoys hatten zu Hause schicke Löffel. Mit Perlmutt und ohne Flecken.

Plötzlich war da noch ein Geräusch außer dem Wind, der gegen die Seite des Wohnmobils peitschte. Es knirschte unter ihnen. Die Straße wurde unebener, war voller Kieselsteine, und das Wohnmobil geriet ins Taumeln. Es gab keine gelben Markierungen mehr, kein deine und meine Seite, und im Scheinwerferlicht konnte Red Baumreihe um Baumreihe ausmachen, schweigende Wachposten an einer dunklen, gottverlassenen Straße.

Sie fühlte sich beobachtet, auch wenn sie sich deshalb dumm vorkam. Bäume hatten keine Augen. Aber Türen auch nicht. Und dennoch hatte ihre Mom an ihre Zimmertür Wackelaugen geklebt, damit sie sich im Dunkeln sicher füh... Nein, stopp. Sie musste sich jetzt auf den Weg konzentrieren.

»Sieht aus, als wären wir mitten im Nirgendwo«, kommentierte Maddy aus ihrer Ecke und legte die Hände an die Schläfen, um hinaus in die Dunkelheit sehen zu können.

»Der Campingplatz ist ja auch im Nirgendwo. Also alles gut«, erwiderte Oliver.

Das Wohnmobil schwankte, als sie ein Schlagloch erwischten.

Arthur kaute auf seiner Unterlippe, die Augen hinter den Brillengläsern zusammengekniffen. »Ich glaube, hier links«, sagte er unsicher und so leise, dass Reyna es nicht hörte.

»Links! Hier links!« Simon hatte dieses Problem nicht. Doch Reyna hörte nicht auf ihn, sie schien dem Betrunkenen nicht zu vertrauen.

»Links«, sagte Red.

»Sicher?«, fragte Oliver, doch Reyna hatte das Lenkrad bereits eingeschlagen, und nun war die Straße nicht einmal mehr geteert, es gab nur noch Dreck und Steine. Staub wirbelte im Scheinwerferlicht auf. »Das kann unmöglich stimmen. Zeig mir mal die Karte.« Er schnippte mit den Fingern, damit Arthur ihm das Handy reichte. »Reyna, dreh um.«

»Ich kann nicht umdrehen!«, erwiderte sie nun deutlich genervter. »Die Straße ist zu schmal und das Wohnmobil viel zu groß.«

»Wo sind wir?«, fragte Red Arthur und lehnte sich zu ihm, um auf die Karte zu sehen – als würde es einen Unterschied machen.

»Ich glaube, wir sind irgendwo hier.« Er deutete auf das Display. »McNair Cemetery Road. Vielleicht.«

»Das ist definitiv falsch«, sagte Oliver genervt. »Wir müssen umdr...«

»Es geht nicht!« Reyna warf ihm einen bösen Blick zu.

»Führt da irgendwo eine Straße ab?« Red stieß Arthur an.

»Moment, ich glaube, demnächst geht es nach links«, sagte er und zoomte weiter hinein. »Könnte sein, dass wir so auf die andere Straße zurückkommen.« Er sah Red an, und sie nickte.

»Verdammte Scheiße«, schimpfte Oliver und stieß mit einem Knie gegen das Armaturenbrett. »Hätte ich navigiert, wären wir nicht falsch gefahren.«

»Was für ein Stress.« Maddy vergrub die Finger in ihrem offenen Haar. »Wir hätten einfach fliegen und uns ein Apartment mieten sollen. Wie alle anderen auch.« Als ihr bewusst wurde, was sie eben gesagt hatte, errötete Maddy, und ihre Blicke trafen sich für eine halbe Sekunde. Red war der Grund, warum sie nicht wie alle anderen flogen und sich ein Apartment mieteten. Deshalb war Maddy auf die Idee mit dem Wohnmobil gekommen. Viel günstiger, nur Sprit und ein bisschen Taschengeld. Komm schon, das wird lustig. Es war alles Reds Schuld.

»Fahr einfach weiter«, sagte Red zu Reyna und blendete alle anderen aus.

»Ich sehe aber keine Straße, die nach links führt.« Reyna lehnte sich weiter nach vorn zum Lenkrad und versuchte, etwas zu erkennen.

Als sie um eine Kurve bogen, verloren sich die Scheinwerfer im Wald und spiegelten sich in einer Art Gewässer wider: ein Bachlauf, der sich irgendwo hinter den Bäumen versteckte.

»Wo soll ich denn abbiegen?«, fragte Reyna drängend.

»Da!« Simon deutete zur Windschutzscheibe hinaus. »Da ist es. Hier links.«

»Sicher?«

Red warf einen Blick auf die Karte in Arthurs Händen. »Ja«, sagte sie. »Da vorn.«

»Sieht nicht mal aus wie eine richtige Straße«, murmelte Oliver, während sie sich langsam vorwärtsbewegten und der Dreck und die Kiesel laut gegen die Räder schlugen.

Diese Straße war noch schmaler, noch enger, die Bäume bewegten sich auf sie zu und versperrten den Weg mit tief hängenden Ästen, die über das Dach des Wohnmobils kratzten.

»Fahr weiter«, sagte Red. Es war ihre Schuld, dass die anderen jetzt hier waren, statt morgen mit all ihren anderen Freunden im Flugzeug zu sitzen.

»Die Karte ist weg«, sagte Arthur, als auf dem Display nur noch leere Gitter zu sehen waren.

»Fahr weiter«, wiederholte sie.

»Ist ja nicht so, als hätten wir eine Wahl«, konterte Oliver.

Die Bäume lichteten sich und wurden schließlich von niedrigen Sträuchern und hohem Gras zu beiden Seiten abgelöst.

»Ist das eine Sackgasse?«, fragte Oliver und starrte geradeaus.

»Fahr weiter«, sagte Red.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass das eine Sackgasse ist«, beschloss Oliver, obwohl es niemand von ihnen erkennen konnte. »Reyna, die Straße ist breit genug. Dreh um und fahr zurück.«

»Okay.« Reyna gab nach und trat auf die Bremse. Das Wohnmobil verlangsamte sich und ratterte über die kaum vorhandene Straße.

Ein lautes Geräusch, ein Bersten, durchschnitt die Nacht.

»Was war das?«, fragte Simon.

Das Wohnmobil machte einen Satz und sackte vorne links ab. Red verlor das Gleichgewicht und stieß gegen Arthur.

»Fuck!«, rief Oliver, starrte Reyna auf der abgesunkenen Seite an und donnerte mit der Faust auf das Armaturenbrett. »Ich glaube, wir haben einen Platten.«

Kapitel 5

Reyna schaltete den Motor aus, und die Nacht wurde viel zu still. Nur noch die Geräusche ihrer Körper waren zu hören. Red konnte kaum noch atmen.

»Ich steige zuerst aus.« Oliver stand auf, schob sich an den anderen vorbei und ging zur Tür des Wohnmobils direkt hinter dem Schlafsofa. Seine Schritte waren schwer, und der Boden bebte unter ihnen. Er öffnete die Tür und ließ die Außenwelt herein.

Eine kühle nächtliche Brise traf Red ins Gesicht, während sie Oliver dabei beobachtete, wie er die vier Stufen hinabging.

Als Nächstes traute sich Maddy. Sie rutschte aus der Sitzecke, um ihrem Bruder zu folgen.

»Alles okay bei dir?«, fragte Arthur Reyna, die vom Fahrersitz aufstand und den Nacken streckte.

»Ja«, sagte sie, doch ihre Stimme zitterte leicht. »Keine Ahnung, was wir da erwischt haben. Auf der Straße ist nichts.«

»Sehen wir nach.« Arthur schenkte ihr ein freundliches Lächeln, wandte sich um und ging zur Tür, dicht gefolgt von Simon, der auf den steilen Stufen ein wenig schwankte.

»Nach dir«, sagte Red und bedeutete Reyna voranzugehen. »Alles wird gut. Da bin ich mir ganz sicher.«

»Am Ende wird alles meine Schuld sein«, sagte Reyna zu ihr, und ihre dunklen Augen blitzten kurz auf. »Du wirst schon sehen.«

Sprach sie von Oliver? Red kannte dieses Gefühl, doch sie hatte nicht gewusst, dass Reyna es auch so empfand. Sie beide waren zwar Lavoy-Anhängsel, aber eben keine Lavoys. Das war ihnen nur allzu bewusst. Nur, dass Red tatsächlich oft schuld war. Selbst jetzt.

»Nein, das wird schon«, sagte Red und griff sich ihr Handy vom Tisch. Oliver konnte Reyna nicht die Schuld geben. Sie waren glücklich, das perfekte Paar. Kleine Berührungen und sanfte Stimmen.

Reynas Schuhe tappten die Treppe hinab, und dann war Red an der Reihe. Ihre Beine schmerzten bei jeder Stufe, weil sie zu lange gesessen hatte. Eins, zwei, drei, vier. Als ihre Füße den Schotterweg berührten, fragte sie sich, ob Reyna schon mal eine Leiche gesehen hatte, als Teil ihres Studiums. Vielleicht konnte sie sie fragen, ob sie immer noch aussahen wie die Menschen, die sie einmal gewesen waren. Oder ob es stimmte, dass Blut nicht immer rot, sondern manchmal auch blau war.

Red folgte Reyna, die wiederum Simon folgte. Sie umrundeten die Vorderseite des Wohnmobils und traten ins viel zu grelle Fernlicht, in dem der aufgewirbelte Staub flimmerte.

»Oh, fuck!«, erklang Olivers Stimme. Er war bereits dort, hockte neben dem Reifen und leuchtete ihn mit Reynas Handy-Taschenlampe an. »Der ist auf jeden Fall platt.«

»Sicher?«, fragte Arthur und trat aus dem blendenden Fernlicht heraus.

»Ja, sicher. Das ist sogar noch untertrieben. Der Reifen hat ein riesiges Loch und einen gigantischen Riss.«

»Wovon?«, fragte Maddy und hockte sich neben Oliver, als Red um das Wohnmobil bog und den Reifen mit eigenen Augen sah. Das Gummi klaffte auseinander, ein Spalt etwa so breit wie ihre Hand. Es war keinerlei Luft mehr darin, und das Gewicht des Wohnmobils drückte den Reifen vollständig platt. Neun Meter vierzig lang, aber wie schwer?

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Oliver, leuchtete mit der Taschenlampe umher und strich mit der Hand vorsichtig über den Boden. »Vielleicht liegt irgendwo Glas. Oder ein spitzer Stein. Vielleicht ein Nagel. Reyna?« Er sah zu ihr hoch und leuchtete ihr in die Augen. »Du hast nichts gesehen?«

»Nein, ich habe nichts gesehen«, entgegnete sie und wechselte einen flüchtigen Blick mit Red.

»Na ja, du musst ja über irgendwas drübergefahren sein. Warum hast du nicht richtig hingeguckt?«, fragte Oliver nun in rauerem Ton und widmete sich wieder seiner Suche.

Reyna hatte recht gehabt. Nun, sie kannte Oliver eben besser als Red.

»Niemand von uns hat etwas gesehen. Es ist stockdunkel.« Das war Reds kläglicher Versuch zu helfen, doch Reynas schiefes Grinsen verriet, dass sie es zu schätzen wusste.

»Ich kann nichts finden. Vielleicht ist es weggeflogen. Oder vielleicht ist der verdammte Reifen auch einfach so geplatzt.« Oliver erhob sich und richtete die Taschenlampe nun auf Simon. »Lässt dein Onkel dieses Wohnmobil jemals warten?«

»Woher zur Hölle soll ich das wissen?« Simon hickste. Aber woher sollte er auch, vor allem in seinem jetzigen Zustand?

»Na ja, wie lange hat er das Wohnmobil denn schon?«, bohrte Oliver nach.

»Keine Ahnung.«

»Wie kannst du das nicht wissen?« Olivers Ton wurde schärfer.

»Weil er betrunken ist«, sagte Maddy und warf dem schwankenden Simon einen entschuldigenden Blick zu.