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n letzter Zeit erhält Pip immer wieder anonyme Nachrichten mit der Frage: Wer wird nach dir suchen, wenn du verschwindest? Und nicht nur das: Ein Stalker stellt ihr nach - und der Täter weiß, wo Pip wohnt. Als sie Zusammenhänge zwischen dem Stalker und einem Serienmörder aus der Gegend aufdeckt, kommt ihr ein schrecklicher Verdacht: Kann es sein, dass der Mann, der seit sechs Jahren wegen der Morde im Gefängnis sitzt, gar nicht der eigentliche Täter ist? Pip wird klar, dass sie einem weiteren ungeheuren Fall auf der Spur sein könnte. Und wenn sie nicht schnell die richtigen Antworten auf all ihre Fragen findet, könnte dieses Mal sie diejenige sein, die zum Opfer wird ...
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In letzter Zeit erhält Pip immer wieder anonyme Nachrichten mit der Frage: Wer wird nach dir suchen, wenn du verschwindest? Und nicht nur das: Ein Stalker stellt ihr nach – und der Täter weiß, wo Pip wohnt. Als sie Zusammenhänge zwischen dem Stalker und einem Serienmörder aus der Gegend aufdeckt, kommt ihr ein schrecklicher Verdacht: Kann es sein, dass der Mann, der seit sechs Jahren wegen der Morde im Gefängnis sitzt, gar nicht der eigentliche Täter ist? Pip wird klar, dass sie einem weiteren ungeheuren Fall auf der Spur sein könnte. Und wenn sie nicht schnell die richtigen Antworten auf all ihre Fragen findet, könnte dieses Mal sie diejenige sein, die zum Opfer wird …
Holly Jackson hat sich schon als Kind gern Geschichten ausgedacht. Sie lebt in London, und wenn sie nicht gerade schreibt oder liest, spielt sie am liebsten Computerspiele oder sucht nach Rechtschreibfehlern auf Verkehrsschildern. Nach dem NYT-Bestseller A GOOD GIRL’S GUIDE TO MURDER haben auch die weiteren zwei Bücher rund um Pippa die Community begeistert.
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Copyright © 2021 by Holly Jackson
Titel der englischen Originalausgabe, erschienen 2021: »As Good as Dead«
Originalverlag: Farshore, jetzt HarperCollins
Publishers Limited, l London Bridge Street, London SEI 9GF, United Kingdom.
Illustrationen zur Verfügung gestellt von HarperCollins Publishers Limited.
Cover Images © Shutterstock
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2023/2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Elena Bruns, Lingen
Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen unter Verwendung einer Vorlage von: Illustrations provided by HarperCollins Publishers Limited. Cover Images © Shutterstock
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-3830-9
luebbe.de
Dieses Buch ist für euch alle.Danke, dass ihr bis zum Ende bei mir geblieben seid.
Tote Augen, so nannte man sie doch, nicht wahr? Leblos, glasig, leer. Tote Augen waren nun ihre ständigen Begleiter, folgten ihr, waren stets nur ein Blinzeln entfernt. Sie versteckten sich in ihrem Hinterkopf und eskortierten sie in ihre Träume. Seine toten Augen in exakt dem Moment, in dem sie von lebendig zu nicht mehr lebendig übergingen. Pip sah sie in den schnellsten Blicken und den tiefsten Schatten; und manchmal auch im Spiegel, in ihrem eigenen Gesicht.
Jetzt gerade sah Pip sie, wie sie direkt durch sie hindurchblickten. Tote Augen im Kopf einer toten Taube, die ausgebreitet in der Einfahrt lag. Gläsern und leblos, abgesehen von der Bewegung ihres eigenen Spiegelbilds in ihnen, als sie in die Knie ging und die Hand ausstreckte. Nicht, um die Taube zu berühren, nur eben nahe genug.
»Bereit zur Abfahrt, Pickle?«, fragte Pips Dad hinter ihr. Sie zuckte zusammen, als er die Haustür mit einem scharfen Klicken schloss, in dem sich der Nachhall eines Schusses verbarg. Pips anderer Begleiter.
»J-ja«, antwortete sie, richtete sich auf und räusperte sich. Atme. Atme dich da durch. »Sieh mal.« Sie zeigte in Richtung Boden, was unnötig war. »Eine tote Taube.«
Er bückte sich, um hinzusehen. Die schwarze Haut in seinen Augenwinkeln kräuselte sich, als er die Augen verengte, und sein makelloser Dreiteiler bildete kleine Falten um seine Knie. Dann setzte er eine Miene auf, die Pip allzu vertraut war. Er würde etwas Witziges und Lächerliches sagen wie …
»Taubenpastete zum Abendessen?«, kam prompt.
Ja, wie auf Bestellung. Fast jeder zweite Satz von ihm war derzeit ein Scherz, als würde er sich dieser Tage extrem viel Mühe geben, sie zum Lächeln zu bringen. Pip gab nach und grinste.
»Nur, wenn es Ratt-à-touille als Beilage gibt«, konterte sie, wandte sich vom leeren Taubenblick ab und schwang den bronzefarbenen Rucksack über ihre Schulter.
»Ha!« Strahlend klopfte er ihr auf die Schulter. »Meine morbide Tochter.« Wieder veränderte sich sein Gesichtsausdruck, als ihm bewusst wurde, was er gesagt hatte, mitsamt all der anderen Bedeutungen dieser drei Worte. Pip konnte dem Tod nicht entkommen, nicht einmal in diesem Moment an einem sonnigen Augustmorgen mit ihrem Dad. Er schien jetzt alles zu sein, wofür sie lebte.
Ihr Dad schüttelte die unangenehmen Gedanken ab, die für ihn nur flüchtig existierten, und nickte zum Wagen. »Na los, du darfst zu diesem Meeting nicht zu spät kommen.«
»Ja«, sagte Pip, öffnete die Autotür und setzte sich hi-nein, weil sie unsicher war, was sie sonst sagen sollte. Doch als sie wegfuhren, blieben ihre Gedanken in der Einfahrt bei der Taube.
Der Vogel holte sie ein, als sie auf den Bahnhofsparkplatz von Little Kilton bogen. Es war viel los, und die Sonne funkelte auf den Reihen von Pendlerautos.
Ihr Dad seufzte. »Ach, dieser Fuckboy von Porschefahrer hat schon wieder meine Lücke besetzt.« Fuckboy: Noch ein Ausdruck, bei dem Pip sofort bereut hatte, ihn ihrem Dad beigebracht zu haben.
Die einzigen freien Plätze waren ganz hinten, nahe dem Maschendrahtzaun, bis wohin die Sicherheitskameras nicht reichten. Howie Bowers’ alter Wirkungsbereich. Geld in der einen Tasche, Papiertütchen in der anderen. Und ehe Pip sich’s versah, wurde das klickende Lösen ihres Sitzgurts zum Klackern von Stanley Forbes’ Absätzen auf dem Asphalt hinter ihr. Nun war es Nacht, Howie nicht im Gefängnis, sondern direkt dort unter dem orangenen Licht der Straßenlaterne, seine Augen in tiefen Schatten verborgen. Stanley erreicht ihn und tauscht eine Handvoll Geld gegen sein Leben, sein Geheimnis ein. Und als er sich zu Pip dreht, sind seine Augen tot, platzen sechs Löcher in ihm auf, aus denen Blut über sein Hemd und auf das Pflaster rinnt, und irgendwie ist es an ihren Händen. Es ist überall auf ihren Händen und …
»Kommst du, Pickle?« Jetzt hielt ihr Dad ihr die Tür auf.
»Ja, komme«, antwortete sie und wischte sich die Hände an ihrer besten Hose ab.
Der Zug nach London Marylebone war ebenfalls voll, sodass alle Schulter an Schulter standen und man sich mit geschlossenem Mund zulächelte, was das »Sorry« ersetzen sollte, wenn sie gegeneinanderstießen. Zu viele Hände klammerten sich an die Metallstangen, weshalb Pip sich stattdessen am Arm ihres Dads festhielt, um Ruhe zu bewahren. Hätte es doch nur funktioniert!
Zweimal sah sie Charlie Green in der Bahn. Das erste Mal täuschte sie der Hinterkopf eines Mannes, bis er sich anders hinstellte, um seine Metro besser lesen zu können. Das zweite Mal erkannte sie ihn in einem Mann, der auf dem Bahnsteig wartete und eine Waffe hielt. Doch als er in den Wagon einstieg, verlor er jede Ähnlichkeit mit Charlie, und die Waffe war nur ein Regenschirm.
Vier Monate waren vergangen, und die Polizei hatte ihn immer noch nicht gefunden. Seine Frau Flora hatte sich vor acht Wochen in Hastings der Polizei gestellt; irgendwie waren sie auf der Flucht getrennt worden. Sie wusste nicht, wo ihr Mann war, aber online ging das Gerücht, dass er es irgendwie nach Frankreich geschafft hätte. Pip hielt dennoch nach ihm Ausschau, und das nicht nur, weil sie wollte, dass er geschnappt wurde, sondern weil sie wollte, dass man ihn fand. Und dieser Unterschied war entscheidend, denn bis dahin würde nichts wieder normal sein.
Ihr Dad sah sie an. »Bist du nervös wegen des Meetings?«, fragte er über das Kreischen der Wagonräder hinweg, als der Zug bei der Einfahrt in den Bahnhof Marylebone verlangsamte. »Das wird schon gut gehen. Hör einfach auf Roger, okay? Er ist ein hervorragender Anwalt, der weiß, wovon er redet.«
Roger Turner war Anwalt in der Kanzlei ihres Dads und anscheinend der Beste in Verleumdungsfällen. Wenige Minuten später sahen sie ihn, wartend vor dem alten, rot geklinkerten Konferenzzentrum, das für das Meeting gebucht war.
»Schön, dich wiederzusehen, Pip«, begrüßte Roger sie und reichte ihr die Hand. Schnell überprüfte sie, ob an ihrer kein Blut mehr war, bevor sie seine schüttelte. »Schönes Wochenende gehabt, Victor?«
»Ja, war nett, danke, Roger. Und ich habe heute noch Reste fürs Mittagessen, also wird es auch noch ein wundervoller Montag!«
»Ich denke, wir gehen lieber rein, wenn du so weit bist?«, fragte Roger Pip mit einem Blick auf seine Uhr. In der anderen Hand hielt er eine blank polierte Aktentasche.
Pip nickte. Ihre Hände fühlten sich wieder nass an, aber das war Schweiß. Es war bloß Schweiß.
»Alles wird gut, Schatz«, versicherte ihr Dad und richtete ihren Kragen.
»Ja, ich habe schon Tausende Schlichtungsgespräche geführt«, ergänzte Roger grinsend und strich sich das graue Haar zurück. »Kein Grund zur Sorge.«
»Ruf mich hinterher an.« Pips Dad beugte sich zu ihr und küsste sie aufs Haar. »Und wir sehen uns heute Abend zu Hause. Roger, bis nachher in der Kanzlei.«
»Ja, bis dann, Victor. Nach dir, Pip.«
Sie waren im Konferenzraum 4E im obersten Stockwerk. Pip hatte darum gebeten, die Treppe zu nehmen, denn wenn ihr Herz nach dem Aufstieg hämmerte, tat es das wenigstens nicht aus einem anderen Grund. So argumentierte sie in ihrem Kopf, und so kam es, dass sie jetzt jedes Mal rannte, wenn sich ihr Brustkorb zu eng anzufühlen begann. Laufen, bis sich ein anderer Schmerz einstellte.
Sie kam als Erste oben an, während der deutlich ältere Roger noch einige Stufen hinter ihr keuchte. Ein elegant gekleideter Mann stand auf dem Flur vor 4E und lächelte, als er sie sah.
»Ah, Sie müssen Pippa Fitz-Amobi sein«, sagte er. Noch eine vorgestreckte Hand, noch ein kurzes Überprüfen auf Blutspuren. »Und Sie der Rechtsbeistand, Roger Turner. Ich bin Hassan Bashir und heute als unabhängiger Schlichter hier.«
Mit einem Lächeln schob er seine Brille höher auf die Nase. Er sah freundlich aus, und sein Blick war so eifrig, dass ihm die Augen fast aus den Höhlen zu springen schienen. Pip hasste es, ihm den Tag zu versauen, was sie zweifellos tun würde.
»Freut mich«, sagte sie und räusperte sich.
»Mich auch.« Er klatschte in die Hände, was Pip überraschte. »Also, die andere Partei ist schon drinnen, und wir können direkt starten. Es sei denn, Sie haben vorher noch Fragen.« Er blickte zu Roger. »Ich denke, wir sollten wohl lieber anfangen.«
»Ja, alles gut.« Roger schob sich vor Pip, sodass er vorausging, als Hassan ihnen die Tür zum Raum 4E aufhielt. Drinnen herrschte Stille. Roger nickte Hassan zum Dank zu und ging hinein. Dann war Pip dran. Sie holte Luft, straffte ihre Schultern und atmete durch zusammengebissene Zähne aus.
Bereit.
Sie betrat den Raum, und sein Gesicht war das Erste, was sie auf der anderen Seite des langen Tisches wahrnahm. Seine definierten Wangenknochen bildeten eine direkte Linie zu den heruntergezogenen Mundwinkeln. Das unordentliche, blonde Haar hatte er nach hinten gestrichen. Er blickte auf, sah sie direkt an, und da war die Andeutung von etwas Dunklem und Hämischem in seinen Augen.
Max Hastings.
Pips Füße erstarrten. Sie hatte es ihnen nicht befohlen. Es war eher ein primitives, unausgesprochenes Wissen, dass nur ein einziger Schritt weiter einer zu nahe zu ihm wäre.
»Hier, Pip.« Roger zog direkt gegenüber von Max einen Stuhl für sie zurück und bedeutete ihr, sich dort hinzusetzen. Neben Max und Roger gegenüber saß Christopher Epps, derselbe Anwalt, der Max in seinem Prozess vertreten hatte. Zuletzt war Pip dem Mann im Zeugenstand begegnet; sie hatte denselben Hosenanzug getragen wie jetzt, während er sie getriezt und mit diesem abgehackten Kläffen, das seiner Stimme eigen war, in die Enge getrieben hatte. Sie hasste auch ihn, aber das Gefühl wurde leicht geschluckt von dem Hass, den sie für den Jungen ihr gegenüber empfand. Und nur eine Tischbreite lag zwischen ihnen.
»Gut, willkommen alle zusammen«, sagte Hassan munter und nahm seinen Platz am Kopf des Tisches ein, zwischen den beiden Parteien. »Lassen Sie mich kurz ein paar Worte sagen. Meine Rolle als Schlichter bedeutet, dass ich hier bin, um Ihnen zu helfen, eine Einigung oder einen Ausgleich zu erreichen, die oder der für beide Parteien akzeptabel ist. Und mein einziges Interesse ist, dass alle hinterher zufrieden sind, okay?«
Entweder ignorierte Hassan die Stimmung im Raum, oder er nahm sie nicht wahr.
»Der Sinn einer Schlichtung ist im Wesentlichen, einen Prozess zu vermeiden. Ein Gerichtsverfahren kann eine Menge Mühe mit sich bringen und sehr teuer für alle Beteiligten sein, weshalb es immer besser ist, wenn wir hier zu einer Einigung kommen, bevor überhaupt eine Klage eingereicht wird.« Er grinste erst zu Pips Seite, dann zu Max’. Und sein Lächeln war gleichbleibend.
»Sollten wir zu keiner Einigung finden, beabsichtigen Mr. Hastings und sein Rechtsbeistand, eine Verleumdungsklage gegen Miss Fitz-Amobi wegen eines Tweets und eines Blogposts vom dritten Mai des Jahres einzureichen, die ihrer Ansicht nach verleumderische Behauptungen und eine gefälschte Audiodatei enthielten.« Hassan blickte in seine Notizen. »Mr. Epps sagt im Namen seines Mandanten, beides habe gravierende Folgen für seinen Mandanten gehabt, sowohl was dessen psychisches Wohlergehen als auch die irreparable Rufschädigung angeht. Was wiederum zu wirtschaftlichen Einbußen geführt habe, für die er Entschädigung fordere.«
Pip ballte die Hände im Schoß zu Fäusten, sodass ihre Fingerknöchel sich wie urzeitliche Rückenwirbel unter der Haut abzeichneten. Sie wusste nicht, ob sie hier sitzen und sich das alles anhören konnte. Nein, Scheiße, sie konnte es nicht! Aber sie atmete und versuchte es, für ihren Dad, für Roger und für den armen Hassan da drüben.
Vor Max auf dem Tisch stand natürlich seine Wasserflasche: Milchiges, dunkelblaues Plastik mit Gummitülle zum Rausziehen. Es war nicht das erste Mal, dass Pip ihn damit sah. Wie sich herausstellte, überschnitten sich Laufrouten in einem solch kleinen Ort wie Little Kilton häufig. Inzwischen rechnete Pip schon damit, Max auf seiner Route zu begegnen, wenn sie auf ihrer war. Fast, als würde er es irgendwie mit Absicht so einrichten. Und immer mit dieser blöden blauen Flasche.
Max bemerkte, dass sie die Flasche anstarrte, griff danach, drückte die Tülle mit einem Klick hoch und nahm geräuschvoll einen großen Schluck, den er im Mund hin und her bewegte.
Dabei sah er Pip die ganze Zeit an.
Hassan lockerte seine Krawatte ein wenig. »Also, Mr. Epps, möchten Sie dann mit Ihrem Eröffnungsplädoyer beginnen?«
»Gewiss doch«, antwortete Epps, der in seinen Papieren kramte. Seine Stimme war genauso schroff, wie Pip sie in Erinnerung hatte. »Mein Mandant leidet erheblich, seit Miss Fitz-Amobi am Abend des dritten Mais die verleumderische Behauptung über ihn öffentlich gemacht hat. Man bedenke, dass Miss Fitz-Amobi online überaus präsent ist und zu der Zeit über 300000 Follower hatte. Mein Mandant hat eine erstklassige Ausbildung an einer sehr angesehenen Universität vorzuweisen, die ihn als Bewerber für jeden Arbeitgeber überaus attraktiv machen sollte.«
Wieder trank Max aus seiner Wasserflasche, als wollte er diesen Punkt unterstreichen.
»Dennoch hat Mr. Hastings große Mühe, eine Anstellung auf dem Niveau zu finden, das er verdient, was im direkten Zusammenhang mit der Rufschädigung durch Miss Fitz-Amobis verleumderische Behauptung steht. Folglich muss mein Mandant noch bei seinen Eltern wohnen, da er keine angemessene Anstellung findet und sich daher keine Miete in London leisten kann.«
Oh, armer kleiner Serienvergewaltiger, dachte Pip und sprach es mit ihrem Blick aus.
»Doch der Schaden beschränkt sich nicht auf meinen Mandanten«, fuhr Epps fort. »Seine Eltern, Mr. und Mrs. Hastings, leiden ebenfalls unter dem Stress und mussten sogar kürzlich das Land verlassen, um für ein paar Monate an ihrem Zweitwohnsitz in Florenz Zuflucht zu suchen. An ihrem Haus hier gab es einen Fall von schwerem Vandalismus, und zwar in derselben Nacht, in der Miss Fitz-Amobi ihre Verleumdung veröffentlichte. Jemand hatte mit Farbe an die Fassade geschmiert: Vergewaltiger, ich kriege dich …«
»Mr. Epps«, unterbrach Roger. »Sie wollen hoffentlich nicht unterstellen, dass meine Mandantin etwas mit diesem Vandalismus zu tun hat. Die Polizei hat sie in dem Zusammenhang nicht einmal angesprochen.«
»Ganz und gar nicht, Mr. Turner.« Epps nickte. »Ich erwähne es nur, weil wir eine Kausalverbindung zwischen Miss Fitz-Amobis verleumderischer Behauptung und dem Vandalismus vermuten, da sich Letzterer in den Stunden vor der Veröffentlichung ereignete. Seither fühlt sich die Familie Hastings in ihrem eigenen Haus nicht mehr sicher und musste Kameras vorn am Haus anbringen. Ich hoffe, das veranschaulicht nicht nur die finanziellen Schwierigkeiten von Mr. Hastings, sondern auch den extremen Schmerz und das Leid, dem er und seine Eltern durch Miss Fitz-Amobis boshafte, verleumderische Behauptung ausgesetzt sind.«
»Boshaft?«, wiederholte Pip und bekam heiße Wangen. »Ich habe ihn einen Vergewaltiger genannt, und er ist ein Vergewaltiger, also …«
»Mr. Turner«, fiel Epps ihr scharf ins Wort. »Ich schlage vor, dass Sie Ihrer Mandantin raten, still zu sein, und sie daran erinnern, dass jedwede verleumderische Behauptung hier als Rufmord gewertet werden kann.«
Hassan hob seine Hände. »Ja, atmen wir alle mal tief durch. Miss Fitz-Amobi, Ihre Seite wird sich später äußern können.« Wieder lockerte er seine Krawatte.
»Schon gut, Pip, ich mache das«, flüsterte Roger ihr zu.
»Ich möchte Miss Fitz-Amobi daran erinnern«, fuhr Epps fort, der Pip gar nicht ansah, sondern Roger, »dass mein Mandant vor vier Monaten vor Gericht stand und in sämtlichen Anklagepunkten für nicht schuldig befunden wurde. Mehr Beweis bedarf es nicht, dass die Behauptung vom dritten Mai de facto eine Verleumdung war.«
»Nichtsdestoweniger«, schritt nun Roger ein, der in seinen Papieren blätterte, »kann eine Behauptung nur verleumderisch sein, wenn sie als Tatsache dargestellt wird. Der Tweet meiner Mandantin lautet: Max Hastings’ letztes Prozess-Update. Mir ist egal, was die Geschworenen glauben: Er ist schuldig.« Er räusperte sich. »Die Formulierung Mir ist egal weist die folgenden Worte als subjektiv aus, als Meinung, keine Tatsache …«
»Ach, kommen Sie mir nicht damit«, unterbrach Epps. »Wollen Sie sich auf Meinungsfreiheit berufen? Im Ernst? Ich bitte Sie! Die Behauptung war eindeutig als Tatsache formuliert, und die Audiodatei wurde als echt ausgegeben.«
»Sie ist echt«, sagte Pip. »Wollen Sie sie hören?«
»Pip, bitte …«
»Mr. Turner …«
»Die ist eindeutig gefälscht.« Zum ersten Mal sagte Max etwas, wahnsinnig ruhig, und faltete die Hände vor sich. Er sah nur den Mediator an. »So klinge ich noch nicht einmal.«
»Wie? Wie ein Vergewaltiger?«, spie Pip ihm entgegen.
»MR. TURNER …«
»Pip …«
»Okay, alle zusammen.« Hassan stand auf. »Schalten wir mal einen Gang zurück. Wir werden alle Gelegenheit haben, uns zu äußern. Bedenken Sie, dass wir hier ein Ergebnis erreichen wollen, mit dem alle zufrieden sind. Mr. Epps, könnten Sie uns erklären, welchen Schadensersatz Ihr Mandant möchte?«
Epps neigte den Kopf und zog ein Blatt unten aus seinem Papierstapel hervor. »Da davon auszugehen ist, dass mein Mandant seit nunmehr vier Monaten in einer angemessenen Anstellung sein müsste, mit einem Monatsgehalt, das jemandem in seiner Position entspricht, fordern wir eine Entschädigung für den erlittenen Verdienstausfall. Ein angemessenes Gehalt betrüge hier mindestens dreitausend Pfund Sterling, womit sich der Verlust insgesamt auf zwölftausend Pfund beläuft.«
Max trank wieder von seinem Wasser und schluckte laut. Zu gern würde Pip die Scheißflasche nehmen und sie ihm ins Gesicht knallen. Wenn schon Blut an ihren Händen sein musste, sollte es seines sein.
»Natürlich lassen sich der Schmerz und die psychische Belastung, die mein Mandant und seine Eltern ertragen müssen, schwer mit Geld beziffern, aber wir denken, dass eine Summe von achttausend Pfund angemessen wäre, womit wir insgesamt bei zwanzigtausend Pfund wären.«
»Lächerlich«, sagte Roger kopfschüttelnd. »Meine Mandantin ist erst achtzehn Jahre alt.«
»Mr. Turner, Sie sollten mir gestatten auszureden«, erwiderte Epps überheblich und befeuchtete seinen Finger, um zum nächsten Blatt zu wechseln. »Wie dem auch sei, im Gespräch mit meinem Mandanten äußerte er die Ansicht, dass sein fortdauerndes Leiden durch die Tatsache verursacht wird, dass die verleumderische Behauptung nicht zurückgenommen und keine Entschuldigung veröffentlicht wurde, was für ihn von größerer Bedeutung wäre als eine geldwerte Entschädigung.«
»Miss Fitz-Amobi hat den Post vor Wochen gelöscht, als Ihr Schreiben einging«, widersprach Roger.
»Mr. Turner, bitte«, antwortete Epps. Wenn Pip noch einmal sein Bitte hören musste, könnte sie auch ihm das Gesicht einschlagen. »Den Tweet zu löschen, nachdem der Schaden angerichtet war, ändert nichts an der Rufschädigung. Daher schlagen wir Folgendes vor: Miss Fitz-Amobi veröffentlicht ein Statement auf demselben öffentlichen Account, in dem sie ihre ursprüngliche verleumderische Behauptung zurücknimmt, ihr Fehlverhalten eingesteht und sich für jeden Schaden entschuldigt, den mein Mandant durch ihre Worte erlitten hat. Darüber hinaus – und dies ist der wichtigste Punkt, also hören Sie aufmerksam zu – muss sie in diesem Statement zugeben, dass sie die fragliche Audiodatei gefälscht hat und mein Mandant jene Worte nie gesagt hat.«
»Einen Scheiß werde ich!«
»Pip …«
»Miss Fitz-Amobi«, flehte Hassan und zurrte wieder an seiner Krawatte, als würde sie sich von selbst enger um seinen Hals schlingen.
»Ich werde den Ausbruch Ihrer Mandantin ignorieren, Mr. Turner«, sagte Epps. »Sollten diese Forderungen erfüllt werden, sind wir bereit, die geforderte Schadenersatzsumme auf die Hälfte, sprich: zehntausend Pfund, zu reduzieren.«
»Okay, das ist ein guter Ausgangspunkt.« Hassan nickte und versuchte, wieder die Kontrolle zu übernehmen. »Mr. Turner, möchten Sie sich zu dem Vorschlag äußern?«
»Danke, Mr. Bashir«, nickte Roger und übernahm. »Die vorgeschlagene Schadenersatzsumme ist immer noch zu hoch. Sie stellen Mutmaßungen über die potenziellen Berufsaussichten Ihres Mandanten an. Ich sehe ihn nicht als einen besonders herausragenden Kandidaten, erst recht nicht auf dem gegenwärtigen Arbeitsmarkt. Meine Mandantin ist erst achtzehn. Ihre einzigen Einkünfte stammen aus Werbeeinnahmen ihres True-Crime-Podcasts, und sie wird in wenigen Wochen an die Universität gehen, was bedeutet, dass sie sich für ihr Studium hoch verschulden wird. Angesichts dessen ist die Forderung absurd.«
»Na gut, siebentausend«, sagte Epps und verengte die Augen.
»Fünftausend«, konterte Roger.
Epps blickte kurz zu Max, der kaum merklich nickte und sich seitlich in seinen Stuhl lehnte. »Das ist akzeptabel für uns«, stimmte Epps zu, »zusammen mit der Richtigstellung und Entschuldigung.«
»Ah, jetzt scheinen wir doch voranzukommen.« Hassan lächelte verhalten. »Mr. Tuner, Miss Fitz-Amobi, dürfen wir Ihre Gedanken zu diesen Bedingungen erfahren?«
»Kein Deal«, sagte Pip und schob ihren Stuhl zurück, sodass die Beine über den polierten Fußboden schabten.
»Pip.« Roger wandte sich zu ihr, bevor sie aufstehen konnte. »Warum besprechen wir das nicht irgendwo und …«
»Ich nehme mein Statement nicht zurück und werde nicht lügen und sagen, die Audiodatei wäre manipuliert. Ich habe ihn einen Vergewaltiger genannt, weil er einer ist. Eher sterbe ich, als mich jemals bei dir zu entschuldigen.« Sie sah Max an und bleckte die Zähne, als Wut ihre Wirbelsäule hinaufkroch.
»MR. TURNER! Mäßigen Sie bitte Ihre Mandantin!« Epps schlug mit der Hand auf den Tisch.
Hassan wirkte unsicher.
Pip stand auf. »Die Sache ist die, wenn du mich verklagst, Max …« Sie spie seinen Namen aus, weil sie ihn nicht auf ihrer Zunge ertrug. »… habe ich die ultimative Verteidigung: die Wahrheit. Also nur zu, reich Klage ein. Ich sehe dich vor Gericht. Und du weißt ja, wie das läuft, nicht? Es wird bewiesen werden müssen, dass meine Aussage wahr ist, was bedeutet, dass wir deinen Vergewaltigungsprozess wiederholen. Dieselben Zeugen, dieselben Opferaussagen, die Beweise. Es wird keine Tatvorwürfe geben, aber wenigstens erfährt jeder, was du bist, für immer. Vergewaltiger.«
»Miss Fitz-Amobi!«
»Pip …«
Sie stützte die Hände auf den Tisch und beugte sich vor, um Max direkt anzusehen. Könnte sie doch nur mit ihrem Blick Flammen sprühen, sein Gesicht verbrennen. »Denkst du wirklich, du kannst das ein zweites Mal abziehen? Noch einmal zwölf Geschworene überzeugen, dass du kein Monster bist?«
Er erwiderte ihren Blick. »Du hast den Verstand verloren«, höhnte er.
»Mag sein. Das sollte dir Angst machen.«
»Gut!« Hassan stand auf und klatschte in die Hände. »Vielleicht machen wir eine kurze Teepause.«
»Ich bin hier fertig«, sagte Pip, hängte sich ihren Rucksack über die Schulter und riss die Tür so energisch auf, dass sie gegen die Wand schmetterte.
»Miss Fitz-Amobi, kommen Sie bitte zurück.« Hassans verzweifelte Stimme folgte ihr auf den Korridor. Schritte ebenfalls. Pip drehte sich um. Es war nur Roger, der Papiere in seine Aktentasche stopfte.
»Pip«, rief er atemlos. »Ich denke wirklich, wir sollten …«
»Ich verhandle nicht mit ihm.«
»Warten Sie kurz!« Epps’ laute Stimme hallte durch den Korridor, als er ihnen nachgeeilt kam. »Geben Sie mir nur eine Minute, bitte.« Er strich sich das graue Haar glatt. »Wir werden frühestens in einem Monat Klage einreichen, in Ordnung? Einen Prozess zu vermeiden ist im Interesse aller. Also, nehmen Sie sich ein paar Wochen, alles zu überdenken, wenn die Lage nicht so emotional ist.« Er sah auf Pip herab.
»Ich muss nichts überdenken«, entgegnete sie.
»Bitte, nur …« Epps kramte in seiner Anzugtasche und zog zwei Visitenkarten hervor. »Meine Karte«, sagte er und reichte sie Pip und Roger. »Da steht auch meine Handynummer. Überlegen Sie es sich in Ruhe, und sollten Sie Ihre Meinung ändern, rufen Sie mich jederzeit an.«
»Werde ich nicht.« Widerwillig nahm Pip seine Karte und steckte sie in ihre Jackentasche.
Christopher Epps betrachtete sie einen Moment und zog die Augenbrauen zusammen, was beinahe besorgt wirkte. Pip hielt seinen Blick; sich abzuwenden würde bedeuten, dass er gewann.
»Und noch ein Rat«, sagte er. »Sie müssen ihn nicht annehmen, aber ich habe schon Leute in einer selbstzerstörerischen Abwärtsspirale gesehen. Ja, ich habe viele von ihnen verteidigt. Am Ende werden Sie jedem um Sie herum schaden, genau wie sich selbst. Sie werden nicht anders können. Ich bitte Sie umzukehren, bevor Sie alles verlieren.«
»Danke für Ihren unvoreingenommenen Rat, Mr. Epps«, antwortete sie. »Aber anscheinend unterschätzen Sie mich. Ich wäre bereit, alles zu verlieren, mich zu zerstören, wenn es heißt, dass ich Ihren Mandanten vernichte. Das scheint mir ein fairer Tausch. Schönen Tag noch, Mr. Epps.«
Sie lächelte ihn an, süß und ätzend, ehe sie auf dem Absatz kehrtmachte. Dann ging sie eilig davon. Das Klackern ihrer Absätze schlug fast im Takt mit ihrem Herzen. Und dort, gleich unter dem Herzschlag, unter den Schichten von Muskeln und Sehnen, war das Geräusch einer Waffe, die sechsmal abgefeuert wurde.
Er ertappte sie, wie sie starrte: auf sein dunkles Haar und das Kinngrübchen, in das ihr kleiner Finger passte, auf seine dunklen Augen, in denen sich die Flamme der neuen Herbstduftkerze ihrer Mum spiegelte. Irgendwie strahlten seine Augen immer, als würden sie von innen beleuchtet. Ravi Singh hatte das Gegenteil von toten Augen. Er war das Gegengift. Daran musste Pip sich ab und zu erinnern. Deshalb beobachtete sie ihn, sog ihn in sich auf, ließ nichts von ihm zurück.
»Hey, Perversling.« Ravi grinste ihr vom Sofa zu. »Was glotzt du so?«
»Nichts.« Sie zuckte mit den Schultern, ohne wegzusehen.
»Was heißt eigentlich Perversling?«, fragte Josh vom Teppich aus, wo er etwas Undefinierbares aus Lego baute. »Bei Fortnite hat das einer zu mir gesagt. Ist das schlimmer als das F-Wort?«
Pip lachte schnaubend, als Ravis Miene panisch wurde, er die Lippen schürzte und seine Augenbrauen hochzog, bis sie unter seinem Haar verschwanden. Er sah über die Schulter zur Küche, wo Pips Eltern nach dem Abendessen aufräumten. Ravi und Pip hatten gekocht.
»Ähm, nein, so schlimm ist es nicht«, antwortete er so beiläufig wie möglich. »Aber sag es trotzdem nicht, okay? Vor allem nicht, wenn deine Mum dabei ist.«
»Aber was machen Perverslinge denn?« Josh blickte zu Ravi auf, und einen flüchtigen Moment lang fragte Pip sich, ob Josh genau wusste, was er tat, und es genoss, wie Ravi sich wand.
»Die, äh …« Ravi stockte. »Sie beobachten Leute, und das auf gruselige Art.«
»Ach so.« Josh nickte. Er schien die Erklärung anzunehmen. »Wie der Typ, der unser Haus beobachtet?«
»Ja, warte mal … nein«, sagte Ravi. »Es gibt keinen Perversling, der euer Haus beobachtet.« Hilfe suchend sah er Pip an.
»Ich kann dir nicht helfen«, flüsterte sie grinsend. »Schaufle dir selbst dein Grab.«
»Danke, Pippus Maximus.«
»Können wir diesen neuen Spitznamen begraben?«, fragte sie und warf ein Kissen nach ihm. »Ich mag den nicht. Können wir nicht wieder zurück zu Sarge? Sarge gefällt mir.«
»Ich nenne sie Hippo Pippo«, kam von Josh. »Das hasst sie auch.«
»Aber es passt so gut zu dir«, sagte Ravi und stupste sie mit den Zehen in die Rippen. »Du bist die maximale Pip, die eine Pip nur sein kann. Die Ultra-Pip. Dieses Wochenende werde ich dich als Pippus Maximus meiner Familie vorstellen.«
Sie verdrehte die Augen und stupste ihn mit ihren Zehen an eine Stelle zurück, die ihn zum Quieken brachte.
»Pip hat deine Familie schon zigmal gesehen.« Josh sah verwirrt zu ihnen hoch. Er schien eine neue Fast-Elfjährigen-Phase durchzumachen, in der er sich in jedes einzelne Gespräch im Haus einmischen musste. Gestern hatte er sogar etwas zu Tampons zu sagen gehabt.
»Ja, aber das ist die erweiterte Familie, Josh. Viel unheimlicher. Cousins, Cousinen und, ich wage es kaum auszusprechen, die Tanten«, betonte Ravi dramatisch und machte dazu Gespensterbewegungen mit den Händen.
»Schon okay«, sagte Pip. »Ich bin gut vorbereitet. Ich muss nur noch ein paarmal meine Tabelle durchgehen, dann komme ich klar.«
»Und außerdem ist es … warte mal.« Ravi zog die Augenbrauen zusammen. »Hast du eben Tabelle gesagt?«
»J-ja.« Pips Wangen wurden heiß. Sie hatte nicht vorgehabt, es ihm zu erzählen. Ravis Liebstes auf der Welt war es, sie aufzuziehen, und sie musste ihm wahrlich nicht noch mehr Munition geben. »Es ist nichts.«
»Doch, ist es wohl. Was für eine Tabelle?« Er setzte sich auf. Wäre sein Grinsen noch ein bisschen breiter, würde es sein Gesicht spalten.
»Nichts.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
Er lehnte sich rasch vor, ehe sie sich verteidigen konnte, und erwischte sie an ihrer kitzligsten Stelle: am Übergang zwischen Hals und Schulter.
»Ah, aufhören!« Pip lachte; sie konnte nicht anders. »Ravi, stopp. Ich habe Kopfweh.«
»Dann erzähl mir von der Tabelle«, forderte er erbarmungslos.
»Na gut«, japste sie atemlos, und endlich hörte Ravi auf. »Es ist … Ich habe bloß eine Tabelle gemacht, um mir alles zu merken, was du mir über deine Familie erzählt hast. Nur Kleinigkeiten, damit ich mich erinnere. Du weißt schon, damit sie mich vielleicht mögen, wenn sie mich kennenlernen.« Sie weigerte sich, ihn anzusehen, weil sie wusste, was für einen Gesichtsausdruck er hätte.
»Was für Kleinigkeiten?«, fragte er und hatte hörbar Mühe, nicht zu lachen.
»Dinge wie, ähm … oh, deine Tante Priya – die jüngere Schwester deiner Mum – mag auch gern True-Crime-Dokus, also wäre es gut, mit ihr über die zu reden. Und deine Cousine Deeva steht total auf Laufen und Fitness, wenn ich mich richtig erinnere.« Sie schlang die Arme um ihre angewinkelten Knie. »Oh, und deine Tante Zara wird mich nicht mögen, ganz egal, was ich versuche, also sollte ich nicht enttäuscht deswegen sein.«
»Stimmt.« Ravi lachte. »Sie hasst jeden.«
»Weiß ich. Das hast du schon gesagt.«
Er musterte sie einen Moment lang schmunzelnd. »Ich fasse nicht, dass du dir heimlich Notizen gemacht hast.« Mit einer geschmeidigen Bewegung stand Ravi auf, schob die Arme unter Pip und hob sie hoch. Er schwang sie herum, während sie energisch protestierte, und sagte: »Unter diesem großen, rauen Äußeren haben wir ja eine niedliche kleine Irre.«
»Pip ist nicht niedlich«, warf Josh unnötigerweise ein.
Ravi ließ sie zurück aufs Sofa fallen. »Gut.« Er streckte sich. »Ich muss los. Manch einer muss morgen zu einer schaurig frühen Zeit für seine Anwaltsausbildung aufstehen. Und meine Freundin wird irgendwann wahrscheinlich einen guten Anwalt brauchen, also …« Er zwinkerte ihr zu. Dasselbe hatte er gesagt, als sie ihm erzählte, wie die Mediation gelaufen war.
Es war erst seine erste Woche, doch Pip erkannte bereits, dass er es liebte, auch wenn er sich über das frühe Aufstehen beschwerte. Für seinen ersten Tag hatte sie ihm ein T-Shirt mit der Aufschrift Lawyer Loading … geschenkt.
»Wiedersehen, Joshua«, sagte er und tippte ihn mit dem Fuß an. »Mein Lieblingsmensch.«
»Echt?« Josh strahlte ihn an. »Und was ist Pip?«
»Ach, die kommt direkt an zweiter Stelle«, antwortete Ravi und drehte sich zu ihr zurück. Er küsste sie auf die Stirn, sodass sein Atem in ihr Haar wehte, und als Josh nicht hinschaute, presste er seine Lippen auf ihre.
»Das habe ich gehört«, bemerkte Josh.
»Ich verabschiede mich noch von deinen Eltern«, sagte Ravi. Doch dann beugte er sich erneut zu Pip und flüsterte ihr ins Ohr: »Und sag deiner Mutter, leider bist du schuld, dass dein zehnjähriger Bruder irrtümlich denkt, ein Perversling würde euer Haus beobachten. Es hat nichts mit mir zu tun.«
Pip drückte Ravis Ellbogen, was eines ihrer Geheimzeichen für Ich liebe dich war, und lachte, als er wegging.
Ihr Lächeln blieb diesmal noch eine Weile, nachdem Ravi fort war. Tat es. Aber als Pip nach oben ging und allein in ihrem Zimmer stand, wurde ihr bewusst, dass es sie ohne Abschied verlassen hatte. Und sie wusste nie, wie sie es zurückholen konnte.
Stechende Kopfschmerzen begannen sich hinter ihren Schläfen auszubreiten, als sie durchs Fenster in die zunehmende Dunkelheit draußen sah. Tief hängende Wolken hatten sich zu einem dunklen Umriss zusammengebraut. Nacht. Pip sah nach der Uhrzeit auf ihrem Handy. Es war eben neun. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis alle im Bett lagen und schliefen. Alle außer ihr. Das einsame Augenpaar in einer schlafenden Kleinstadt, das die Nacht anflehte, vorbeizugehen.
Sie hatte sich versprochen, es nie mehr zu machen. Das letzte Mal war das letzte Mal. Das hatte sie wie ein Mantra in ihrem Kopf wiederholt. Doch selbst wenn sie jetzt versuchte, es sich zu sagen, wenn sie die geballten Fäuste gegen ihre Schläfen presste, um den Schmerz zu übertönen, wusste sie, dass es sinnlos war. Dass sie verlieren würde. Sie verlor immer. Und sie war es müde, so müde, dagegen zu kämpfen.
Pip ging zur Tür und schloss sie leise, falls jemand vorbeikam. Ihre Eltern durften es nie erfahren. Und Ravi auch nicht. Vor allem nicht Ravi.
Sie legte ihr iPhone zwischen ihren Notizblock und ihre klobigen Kopfhörer auf den Schreibtisch und öffnete die zweite Schublade oben rechts. Nacheinander begann sie den Inhalt auszupacken: die Dose mit den Heftzwecken, ihr wieder aufgewickeltes rotes Band, ein altes Paar weiße Ohrhörer, ein Klebestift.
Sie nahm den A4-Block heraus und erreichte den Boden der Schublade – den falschen Boden, den sie aus weißer Pappe gefertigt hatte. An einer Seite hakte sie mit den Fingernägeln dahinter und zog sie hoch.
Darunter waren die Wegwerfhandys versteckt. Alle sechs ordentlich aufgereiht. Sechs Prepaid-Handys, bar bezahlt, jedes in einem anderen Laden gekauft. Dabei hatte Pip jedes Mal eine Baseballkappe getragen, deren Schirm sie tief in die Stirn zog.
Die Telefone starrten sie blind an.
Nur noch einmal, dann war sie fertig. Sie hatte es versprochen.
Pip griff hinein und nahm das linke, ein altes graues Nokia. Sie drückte die Taste, um es einzuschalten, und ihre Finger zitterten. Ein vertrautes Geräusch verbarg sich in ihrem Herzschlag. Das Telefon leuchtete grünlich auf und hieß sie willkommen. In dem simplen Menü tippte Pip auf ihre Nachrichten, zu dem einzigen Kontakt, den sie auf diesem Handy gespeichert hatte. Auf ihnen allen.
Ihr Daumen drückte einmal auf die 3, um ein D zu bekommen.
Darf ich jetzt rüberkommen?, schrieb sie. Sie presste auf Senden und versprach sich erneut: Dies ist das allerletzte Mal.
Wartend beobachtete sie das leere Display unter ihrer Nachricht. Sie wollte, dass eine Antwort erschien, konzentrierte sich nur darauf, nicht auf das anschwellende Geräusch in ihrer Brust. Aber jetzt, da sie daran dachte, konnte sie es nicht wieder abstellen, nicht ungehört machen. Sie hielt den Atem an und wünschte sich noch dringender eine Antwort.
Es wirkte.
Ja, antwortete er.
Es war ein Wettlauf zwischen ihrem Herzschlag und dem Pochen ihrer Turnschuhsohlen auf dem Pflaster. Ihr Körper war voller Klang, von ihrer Brust bis zu ihren Füßen, nur gedämpft vom Lärmschutz ihrer Kopfhörer. Und Pip machte sich nicht vor, dass eines durch das andere verursacht wurde; sie lief erst seit vier Minuten, und schon war sie hier, bog in die Beacon Close. Ihr Herz war ihren Füßen voraus.
Sie hatte ihren Eltern gesagt, sie würde kurz Laufen gehen, wie sie es immer tat – in ihren blauen Leggings und einem weißen Sportoberteil –, so wäre wenigstens der Teil mit dem Laufen ein Fetzen Ehrlichkeit. Fetzen und Scherben waren alles, worauf sie hoffen konnte. Manchmal genügte das Laufen selbst, aber heute Abend nicht. Nein, heute Abend konnte ihr nur eines helfen.
Sie wurde langsamer, als sie sich dem Haus mit der Nummer dreizehn näherte, und nahm die Kopfhörer herunter, sodass sie in ihrem Nacken hingen. Einen Moment lang blieb sie stehen und überprüfte, ob sie dies hier wirklich tun musste. Wenn sie noch einen Schritt machte, gäbe es kein Zurück.
Sie ging die Einfahrt hinauf zu dem Reihenhaus, vorbei an dem glänzend weißen BMW, der ein wenig schief parkte. An der dunkelroten Haustür ballte Pip die Faust, um ans Holz zu klopfen, anstatt zu klingeln. Die Klingel war verboten. Sie machte viel zu viel Lärm, und die Nachbarn könnten etwas mitbekommen.
Pip klopfte wieder, bis sie seinen größer werdenden Umriss durch das Milchglas sah. Sie hörte, wie ein Riegel weggeschoben wurde, dann ging die Tür nach innen auf, und Luke Eatons Gesicht erschien in dem Spalt. Im Dunkeln wirkten die Tattoomuster an seinem Hals und seitlich auf seinem Gesicht, als hätte sich seine Haut abgelöst und neue Streifen würden ein Netz bilden.
Er zog die Tür nur so weit auf, dass Pip hindurchpasste.
»Schnell«, sagte er schroff und ging vor durch den Flur. »Es kommt bald jemand.«
Leise schloss Pip die Tür hinter sich und folgte Luke um die Ecke in die kleine, quadratische Küche. Luke hatte dieselben dunklen Basketballshorts an, in denen Pip ihm zum ersten Mal begegnet war – als sie hergekommen war, um mit Nat da Silva über den verschwundenen Jamie Reynolds zu sprechen. Zum Glück waren Nat und Luke nicht mehr zusammen. Das Haus war leer bis auf sie zwei.
Luke bückte sich zu einem der Küchenschränke. »Hattest du letztes Mal nicht gesagt, das war’s? Dass du nicht wiederkommst?«
»Ja, hatte ich«, antwortete Pip matt und nestelte nervös an ihren Fingernägeln. »Ich muss nur schlafen, sonst nichts.«
Luke raschelte in dem Schrank und richtete sich mit einer Papiertüte in der Hand wieder auf. Er öffnete sie und hielt sie so, dass Pip hineinsehen konnte.
»Diesmal sind es zwei Milligramm pro Pille«, erklärte er und schüttelte die Tüte. »Deshalb sind es nicht so viele.«
»Ja, ist gut.« Pip sah zu Luke auf und bereute es sofort. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie sein Gesicht musterte, nach Ähnlichkeiten mit Stanley Forbes suchte. Die beiden waren in Charlie Greens engster Auswahl für Child Brunswick gewesen, herausgefiltert aus sämtlichen Männern in Little Kilton. Aber Luke war nicht Child Brunswick, er war der falsche Mann – was ein Glück für ihn war, denn deshalb lebte er noch. Pip hatte nie sein Blut gesehen, es nie so an sich getragen wie Stanleys. Es war jetzt an ihren Händen, das Gefühl von brechenden Rippen unter ihren Handballen. Tropfen fielen auf den Linoleumboden.
Nein, das war nur Schweiß, nur ein Zittern in ihren Händen.
Pip gab ihnen etwas zu tun, um sie abzulenken. Sie griff in den Bund ihrer Leggings und zog das Geld hervor, blätterte die Scheine vor Luke auf, bis er nickte. Dann gab sie ihm das Geld und hielt ihre andere Hand hin. Da kam die Tüte rein, die in ihrem Griff knitterte.
Luke zögerte, und sein Blick veränderte sich, kam Mitleid gefährlich nahe. »Übrigens.« Wieder bückte er sich zum Schrank und holte ein kleines, durchsichtiges Tütchen hervor. »Wenn du Probleme hast, habe ich was Stärkeres als Xanax. Das knockt dich komplett aus.« Er hielt das Tütchen hoch und schüttelte es. Darin waren längliche Tabletten in einem hellen Moosgrün.
Pip starrte sie an und biss sich auf die Unterlippe. »Stärker?«, fragte sie.
»Und ob.«
»W-was ist das?«, fragte sie und fixierte weiter die Tabletten.
»Das hier«, Luke schüttelte das Tütchen wieder, »ist Rohypnol. Das Zeug knipst dich voll aus.«
Pips Magen verkrampfte sich. »Nein, danke.« Sie senkte den Blick. »Damit habe ich schon Erfahrung.« Gemeint war, dass sie es sich aus dem Magen pumpen lassen musste, nachdem Becca Bell es ihr vor zehn Monaten in ihr Getränk gemischt hatte. Pillen, die ihre Schwester Andie an Max Hastings verkauft hatte, bevor sie starb.
»Wie du willst«, meinte er und steckte das Tütchen ein. »Aber es ist da, wenn du es brauchst. Teurer allerdings, natürlich.«
»Natürlich«, wiederholte sie, während sie in Gedanken woanders war.
Sie wandte sich zum Gehen. Luke Eaton hatte es nicht mit Verabschiedungen; mit Begrüßungen auch nicht. Trotzdem sollte sie sich vielleicht noch mal umdrehen und ihm sagen, dass dies tatsächlich das letzte Mal war und er sie nie wiedersehen würde. Wie sonst wollte sie es durchhalten? Doch dann kam ihr ein anderer Gedanke. Diesem Impuls folgend kehrte sie in die Küche zurück, sagte jedoch nichts vom letzten Mal.
»Luke«, begann sie schärfer als beabsichtigt. »Diese Pillen – das Rohypnol –, verkaufst du das an jemanden hier im Ort? Kauft jemand hier das von dir?«
Blinzelnd sah er sie an.
»Ist es Max Hastings? Kauft er das bei dir? Groß, etwas längeres blondes Haar, eloquent. Ist er es? Kauft er diese Pillen bei dir?«
Luke antwortete nicht.
»Ist es Max?«, fragte Pip, und ihre Stimme kippte ein wenig.
Lukes Blick wurde härter, und jedes Mitgefühl war vergessen. »Du kennst die Regeln inzwischen. Ich beantworte keine Fragen. Ich stelle keine und beantworte keine.« Da war der Anflug eines spöttischen Grinsens. »Regeln gelten auch für dich. Ich weiß, dass du glaubst, du bist was Besonderes, aber das bist du nicht. Bis zum nächsten Mal.«
Pip knüllte die Tüte in ihrer Hand, als sie das Haus verließ. Sie überlegte, mit der Tür zu knallen, weil sie wütend war, doch sie tat es nicht. Ihr Herz klopfte jetzt sogar noch schneller, hämmerte in ihrem Brustkorb, füllte ihren Kopf mit dem Geräusch knackender Rippen. Und die toten Augen versteckten sich gleich dort drüben im Schatten der Straßenlaternen. Wenn Pip blinzelte, warteten sie auch dort in der Dunkelheit auf sie.
Kaufte Max die Pillen bei Luke? Früher hatte er sie bei Andie Bell gekauft, die sie von Howie Bowers bekam. Aber Luke war immer der gewesen, der Howie belieferte, und nur er war noch übrig, nachdem die beiden am Ende der Versorgungskette weg waren. Falls Max noch kaufte, musste er es bei Luke tun. Das ergab am meisten Sinn. Wären er und Pip beinahe an Lukes Haustür aufeinandergetroffen, so wie auf ihren Laufrunden? Schmuggelte er immer noch Frauen Pillen in die Drinks? Ruinierte er immer noch Leben, wie er es bei Nat da Silva und Becca Bell getan hatte? Bei dem Gedanken wurde Pip übel, und, oh nein, sie würde sich übergeben, hier, mitten auf der Straße!
Sie krümmte sich und versuchte, sich hindurchzuatmen. Die Tüte knisterte in ihren zitternden Händen. Es konnte nicht mehr warten. Sie stolperte auf die andere Straßenseite, in den Schutz der Bäume. Dort griff sie in die Tüte und holte eines der kleinen Plastiktütchen heraus, das sie nur mit Mühe öffnen konnte, weil ihre Hände voller Blut waren.
Schweiß. Es ist Schweiß.
Eilig zog sie eine der langen weißen Tabletten heraus, die anders aussah als die vorherigen. In die eine Seite waren drei Linien und das Wort Xanax geprägt, in die andere eine 2. Wenigstens waren es keine Fälschungen oder Verschnitte. Ein Hund bellte irgendwo in der Nähe. Beeil dich. Pip knackte die Tablette in der Mitte durch und legte eine Hälfte auf ihre Zunge. Ihr Mund war bereits voller Speichel, und sie schluckte das Mittel so herunter. Dann ließ sie die Tüte in ihrer Achselhöhle verschwinden, als eine Frau mit einem kleinen weißen Terrier um die Ecke kam. Es war Gail Yardley, die ein Stück weiter hinten in Pips Straße wohnte.
»Ah, Pip«, sagte sie und entspannte ihre Schultern. »Du hast mich erschreckt.« Sie musterte Pip von oben bis unten. »Ich hätte geschworen, dass ich dich vor Sekunden erst vor eurem Haus gesehen habe, wie du von deiner Laufrunde zurückgekommen bist. Der Verstand spielt einem manchmal Streiche, nicht?«
»Ja, das passiert uns allen.« Pip achtete darauf, eine neutrale Miene aufzusetzen.
»Tja, na ja.« Gail lachte komisch nasal. »Dann halte ich dich mal nicht auf.« Sie ging weiter, während ihr Hund stehen blieb, um an Pips Turnschuhen zu schnüffeln, bis die Leine sich straff spannte. Dann trottete er hinter Gail her.
Pip lief um die Ecke, um die Gail gekommen war. Ihr Hals kratzte, wo die Tablette entlanggeglitten war. Und jetzt war da noch ein anderes Gefühl: Schuld. Sie konnte nicht glauben, dass sie es wieder getan hatte. Das letzte Mal, sagte sie sich, als sie nach Hause ging. Das letzte Mal, und jetzt bist du durch.
Wenigstens würde sie heute Nacht etwas Schlaf bekommen. Die unnatürliche Ruhe müsste sich bald einstellen, ähnlich einem warmen Schild vor ihrer zu dünnen Haut, und danach die Erleichterung, wenn sich ihre Kiefermuskeln endlich lockerten. Ja, heute Nacht würde sie schlafen; sie musste.
Der Arzt hatte ihr für eine Weile Valium verschrieben, nachdem es passiert war. Das erste Mal, dass sie den Tod sah und ihn in ihren Händen hielt. Aber es dauerte nicht lange, bis er es wieder absetzte, obwohl sie ihn angefleht hatte, es nicht zu tun. Bis heute konnte sie zitieren, was er gesagt hatte, Wort für Wort.
»Sie müssen sich eigene Strategien ausdenken, wie Sie mit dem Trauma und dem Stress umgehen. Medikamente machen es langfristig eher schwieriger, sich von der PTBS zu erholen. Sie brauchen die nicht, Pippa. Sie schaffen das.«
Wie sehr er sich geirrt hatte. Sie brauchte die Tabletten genauso dringend, wie sie Schlaf brauchte. Dies war ihre Strategie. Und zugleich wusste sie, dass er recht hatte und dass sie alles schlimmer machte.
»Die beste Behandlung ist Gesprächstherapie, deshalb machen wir mit Ihren wöchentlichen Sitzungen weiter.«
Sie hatte es versucht. Das hatte sie wirklich. Und nach acht Sitzungen hatte sie allen erzählt, dass sie sich viel besser fühlte, ehrlich. Ihr ging es gut. Die Lüge hatte sie mittlerweile so gut geübt, dass jeder sie glaubte, sogar Ravi. Und sie dachte, würde sie noch zu einer einzigen Sitzung gehen, stürbe sie. Wie konnte sie darüber reden? Es war etwas Unmögliches, das sich jeder Sprache, jedem Sinn verweigerte.
Einerseits konnte sie aus voller Überzeugung sagen, dass sie nicht glaubte, Stanley Forbes hätte den Tod verdient gehabt. Dass er verdient hatte zu leben und sie alles getan hatte, ihn zurückzuholen. Was er als Kind getan hatte, wozu er gezwungen wurde, war nicht unverzeihlich. Er hatte gelernt, sich jeden Tag angestrengt, ein besserer Mann zu sein, das glaubte Pip mit jeder Faser ihres Seins. Das und die schreckliche Schuld, dass sie es gewesen war, die seinen Mörder zu ihm führte.
Gleichzeitig war sie vom genauen Gegenteil überzeugt. Was noch tiefer aus ihrem Innern kam. Ihrer Seele vielleicht, sofern sie an solche Sachen glaubte. Obwohl er ein Kind gewesen war, war Stanley der Grund, weshalb Charlie Greens Schwester ermordet wurde. Pip hatte sich selbst gefragt: Würde jemand Josh auswählen und ihn einem Mörder ausliefern, damit er den furchtbarsten Tod starb, den man sich vorstellen konnte, würde sie zwei Jahrzehnte darauf verwenden, nach Gerechtigkeit zu suchen, diejenigen jagen und töten? Die Antwort war ja. Sie wusste, dass sie es, ohne zu zögern, tun würde, ganz egal, wie lange es dauerte. Charlie hatte recht gehabt; sie waren gleich. Da war diese Übereinstimmung, dieses … dieses Identische.
Deswegen konnte sie nicht darüber reden, weder mit einem Spezialisten noch sonst jemandem. Weil es unmöglich war, inkompatibel. Es hatte sie zerrissen, und nichts könnte die beiden Teile wieder zusammenflicken. Jenseits von Sinn. Keiner könnte es verstehen, außer … außer ihm. An ihrer Auffahrt zögerte sie und sah zum Haus direkt dahinter.
Charlie Green. Deshalb brauchte sie es, dass er gefunden wurde, nicht geschnappt. Er hatte ihr schon einmal geholfen, ihr die Augen geöffnet, was richtig und falsch betraf und wer entschied, was diese Worte bedeuteten. Vielleicht … vielleicht würde er es verstehen, wenn sie mit ihm reden könnte. Er war der Einzige, der es konnte. Er musste einen Weg gefunden haben, mit seiner Tat zu leben, und eventuell könnte er Pip zeigen, wie sie es auch konnte. Ihr verraten, wie sie alles wieder richtete, wieder ein Ganzes wurde. Aber auch hier war Pip zwiegespalten; es war absolut sinnvoll und vollkommen absurd.
Es raschelte in den Bäumen gegenüber von ihrem Haus.
Pip stockte der Atem, als sie sich umdrehte und in die Nacht spähte, versuchte, die Dunkelheit zu einer Person zu formen, den Wind zu einer Stimme. War dort jemand, versteckt zwischen den Bäumen und beobachtete sie? Verfolgte sie? Baumstämme oder Beine? Charlie? War er das?
Sie strengte ihre Augen an, bemühte sich, einzelne Blätter an den dürren Zweigen auszumachen.
Nein, dort konnte niemand sein, sei nicht dumm. Es war nur wieder eine dieser Sachen, die jetzt in ihrem Kopf lebten. Angst vor allem hatten. Wut auf alles. Es war nicht real, und sie musste den Unterschied neu lernen. Schweiß an den Händen, kein Blut. Sie ging zu ihrem Haus und blickte sich nur einmal um. Die Pille wirkt bald, sagte sie sich. Zusammen mit allem anderen.
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Wichtig ist zunächst einmal festzustellen, dass die Todeszeit immer nur ein geschätzter Zeitrahmen sein kann. Ein Gerichtsmediziner kann keine exakte Todeszeit angeben, wie wir es manchmal in Filmen oder Serien sehen. Es gibt drei wesentliche Mortis-Faktoren, anhand derer der Zeitpunkt des Todes geschätzt wird. Manche dieser Tests werden noch am Tatort vorgenommen, so bald wie möglich nach dem Leichenfund. Als Faustregel gilt, je früher das Opfer post mortem gefunden wird, desto akkurater die Schätzung der Todeszeit.[1]
Unmittelbar nach dem Tod entspannen sich sämtliche Muskeln. Dann, gewöhnlich ungefähr zwei Stunden nach Eintritt des Todes, beginnt der Körper, sich wegen eines Säureaufbaus im Muskelgewebe zu versteifen.[2] Dies ist der Rigor Mortis. Er beginnt in den Kiefer- und Halsmuskeln und wandert dann durch den Körper nach unten zu den Extremitäten. Rigor Mortis ist normalerweise innerhalb von 6-12 Stunden abgeschlossen und löst sich dann nach circa 15-36 Stunden nach dem Tod wieder.[3] Da dieser Versteifungsprozess innerhalb eines grob einschätzbaren Zeitrahmens abläuft, kann er sehr nützlich sein, um den Todeszeitpunkt zu schätzen. Allerdings gibt es einige Faktoren, die das Einsetzen und die Dauer des Rigor beeinflussen, wie beispielsweise die Temperatur. Warme Temperaturen beschleunigen den Verlauf, kalte verlangsamen ihn.[4]
Auch als »Leichenflecken« bekannt. Als Livor Mortis bezeichnet man die Ablagerung von Blut im Körper infolge von Schwerkraft und Verlust des Blutdrucks.[5] Die Haut verfärbt sich rot/violett, wo sich innen das Blut angesammelt hat.[6] Der Livor Mortis beginnt 2-4 Stunden nach Eintritt des Todes, ist bis 8-12 Stunden wegdrückbar und nach 8-12 fixiert.[7] Wegdrückbarkeit bezieht sich darauf, ob die Haut noch entfärbbar ist. Das heißt, ob die Totenflecken durch Pressen verschwinden, ein bisschen so wie wenn man auf die eigene Haut drückt und sie blass wird.[8] Doch dieser Prozess kann durch Faktoren wie Temperatur oder Veränderung der Körperposition beeinflusst werden.
Algor Mortis bezieht sich auf die Temperatur eines Körpers. Nach dem Tod beginnt der Körper auszukühlen, bis seine Temperatur mit der Umgebungstemperatur übereinstimmt.[9] Gewöhnlich verliert der Körper circa 0,8 Grad pro Stunde, bis er die Umgebungstemperatur erreicht.[10] Am Tatort – zusätzlich zu Beobachtung der Rigor- und Livor-Rate – wird ein ärztlicher Leichenbeschauer auch die Innentemperatur des Körpers und die der Umgebung messen, um zu schätzen, wann das Opfer getötet wurde.[11]
Obwohl diese Prozesse uns nicht die exakte Minute verraten können, in der eine Person gestorben ist, sind sie wichtige Faktoren, anhand derer ein Gerichtsmediziner einschätzt, in welchem Zeitrahmen der Tod eingetreten ist.
Tote Augen starrten ihr entgegen. Real tot, nicht die saubere, idealisierte Version; die violett-fleckige Haut einer Leiche und der unheimliche, für immer weiße Abdruck eines zu engen Gürtels, den die Person getragen haben musste, als sie starb. In gewisser Weise war es beinahe komisch, dachte Pip, als sie die Seite auf ihrem Laptop nach unten scrollte. Komisch insofern, als man, wenn man zu lange darüber nachdachte, verrückt wurde. Wir alle enden irgendwann so wie diese post mortem aufgenommenen Toten auf einer mies formatierten Website über Leichenzersetzung und Todeszeitpunkt.
Ihr Arm lag auf ihrem Notizblock, dessen Seiten sich rasch mit ihrer Schrift füllten. Hier und da waren Unterstreichungen und mit Marker hervorgehobene Stellen. Und jetzt ergänzte sie unten: Wenn sich der Körper warm und steif anfühlt, trat der Tod drei bis acht Stunden zuvor ein.
»Sind das Tote?!«
Die Stimme durchschnitt die Polster ihrer Kopfhörer; Pip hatte niemanden reinkommen gehört. Sie zuckte zusammen, und ihr Herz klopfte in ihrem Hals. Sie zog die Kopfhörer in den Nacken, und die Geräusche kehrten mit Wucht zurück. Allen voran ein vertrautes Seufzen hinter ihr. Die Kopfhörer blendeten fast alles aus, weshalb Josh sie sich immer wieder zum FIFA-spielen klaute, um mit ihnen ihre Mum stumm zu schalten. Pip beugte sich schnell vor, um zu einem anderen Tab zu wechseln, aber im Grunde war keiner von denen besser.
»Pip?« Die Stimme ihrer Mum wurde strenger.
Pip drehte sich mit ihrem Schreibtischstuhl um und riss die Augen extraweit auf, um ihr Schuldbewusstsein zu überspielen. Ihre Mum stand direkt hinter ihr, eine Hand in die Hüfte gestemmt. Ihr blondes Haar sah irrsinnig aus, war teils in Alufolie gewickelt, was an eine metallene Medusa denken ließ. Es war Strähnentag. Die fanden jetzt häufiger statt, weil ihre Haaransätze langsam grau wurden. Sie hatte noch ihre durchsichtigen Latexhandschuhe an und Reste von Färbemittel an den Fingern.
»Also?«, fragte sie.
»Ja, das sind Tote«, antwortete Pip.
»Und warum, meine geliebte Tochter, siehst du dir an einem Freitagmorgen um acht Tote an?«
War es wirklich erst acht Uhr? Pip war seit fünf auf.
»Du hast gesagt, ich soll mir ein Hobby suchen.« Pip zuckte mit den Schultern.
»Pip!«, erwiderte ihre Mum streng, obwohl ihre Mundwinkel sich ein klein wenig nach oben bogen.
»Es ist für meinen neuen Fall«, gestand Pip und drehte sich wieder zum Bildschirm um. »Du weißt schon, der Jane-Doe-Fall, von dem ich euch erzählt habe. Die Frauenleiche, die vor neun Jahren ein Stück außerhalb von Cambridge gefunden wurde. Ich ermittle da für den Podcast, wenn ich an der Uni bin. Versuche herauszufinden, wer sie war und wer sie umgebracht hat. Ich habe schon Interviews für die nächsten Monate abgemacht. Das hier ist wichtige Recherche, ehrlich«, versicherte sie und hob beide Hände.
»Noch eine Podcast-Staffel?«, fragte Pips Mum, wobei sie eine Augenbraue hochzog. Wie konnte eine Augenbraue so viel ausdrücken? Irgendwie schaffte sie es, vier Monate Sorge und Beunruhigung in diese kleine Haarlinie zu stopfen.
»Na, irgendwie muss ich den Lebensstil finanzieren, an den ich mich gewöhnt habe. Du weißt schon, künftige teure Verleumdungsklagen, Anwaltshonorare …«, sagte Pip. Und illegale, nicht verschriebene Benzodiazepine, dachte sie insgeheim. Aber die waren nicht der eigentliche Grund; bei Weitem nicht.
»Sehr witzig«, schnaubte ihre Mum. Doch immerhin entspannte sich ihre Augenbraue. »Nur … pass auf dich auf. Mach eine Pause, wenn du eine brauchst, und ich bin immer hier zum Reden, wenn …« Sie streckte eine Hand nach Pips Schulter aus, erinnerte sich aber in letzter Sekunde an die Haarfarbe und hielt inne, wenige Zentimeter über Pips T-Shirt. Vielleicht bildete Pip es sich ein, aber irgendwie spürte sie die Wärme der Hand über ihrer Schulter. Sie fühlte sich gut an, wie ein kleiner Schutzschild.
»Klar«, war alles, was Pip einfiel.
»Und beschränken wir die grafischen Toten auf ein Minimum, ja?« Sie nickte zum Bildschirm. »Wir haben einen Zehnjährigen im Haus.«
»Oh, tut mir leid«, sagte Pip. »Ich vergaß Joshs neue Fähigkeit, durch Wände zu sehen. Mein Fehler.«
»Ehrlich, momentan ist er überall«, seufzte ihre Mum, blickte sich um und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich weiß nicht, wie er das macht. Gestern hat er mich Fuck sagen hören, dabei hätte ich geschworen, dass er auf der anderen Seite des Hauses war. Warum ist die lila?«
»Hä?«, fragte Pip verwirrt, bis sie dem Blick ihrer Mum zum Monitor folgte. »Ach so, das nennt man Leichenflecken. Es passiert mit dem Blut, wenn man stirbt. Es sammelt sich auf der … Willst du das wirklich wissen?«
»Eher nicht, Süße. Ich täusche bloß Interesse vor.«
»Dachte ich mir.«
Ihre Mum wandte sich zur Tür, wobei ihre Haarfolie knisterte. An der Schwelle blieb sie stehen. »Josh geht heute zu Fuß. Sam und seine Mum holen ihn jeden Moment ab. Wie wäre es, wenn ich uns beiden danach ein schönes großes Frühstück mache?« Sie lächelte hoffnungsvoll. »Pancakes oder so?«
Pips Mund war ausgetrocknet, und ihre Zunge fühlte sich wie eine übergroße Anomalie an, die an ihrem Gaumen klebte. Früher hatte sie Mums Pancakes geliebt – dick und so voller Sirup, dass sie einem den Mund zusammenleimen konnten. Jetzt gerade wurde ihr bei dem Gedanken an sie ein bisschen schlecht, aber sie rang sich ein Lächeln ab. »Das wäre schön. Danke, Mum.«
»Perfekt.« Die Augenwinkel ihrer Mum kräuselten sich, als sie ein wenig zu sehr lächelte.
Pips Magen verkrampfte sich; dies hier war allein ihre Schuld. Ihre Familie zwang sich in eine Vorstellung, bemühte sich doppelt bei ihr, weil sie selbst kaum die Energie hatte, einen Versuch zu unternehmen.
»Dann in ungefähr einer Stunde.« Ihre Mum zeigte auf ihr Haar. »Und erwarte nicht, deine abgekämpfte Mutter beim Frühstück zu sehen – stattdessen wird dort eine neu erblondete Sexbombe sitzen.«
»Ich kann es kaum erwarten.« Pip strengte sich an. »Hoffentlich ist der Sexbombenkaffee nicht so schwach wie der von meiner abgekämpften Mutter.«
Ihre Mum verdrehte die Augen und verließ das Zimmer, wobei sie etwas über Pip, ihren Dad und deren starken Kaffee murmelte, der schmeckte wie Sch…
»Das habe ich gehört!«, krähte Josh durchs Haus.
Pip stieß ein amüsiertes Schnauben aus und glitt mit den Fingern über die gepolsterten Ohrmuffen ihrer Kopfhörer an ihrem Hals. Über den weichen Kunststoff des Haarbands und zu dem Teil, wo sich die Textur veränderte: dem aufgerauten, Blasen werfenden Sticker, der einmal über die Länge verlief. Es war ein A Good Girl’s Guide to Murder-Sticker mit dem Logo ihres Podcast. Ravi hatte die machen lassen und ihr geschenkt, als sie die letzte Folge der zweiten Staffel hochgeladen hatte, die am schwersten aufzunehmen gewesen war. Die Geschichte dessen, was in dem alten verlassenen Farmhaus geschehen war, das nun bis auf die Grundmauern abgebrannt war. Durch das Gras hatte sich eine Blutspur gezogen, die sie mit einem Schlauch wegspülen mussten.
Wie traurig, hieß es in den Kommentaren.
Ich verstehe nicht, warum sie so erschüttert klingt, schrieben andere. Sie hat es doch darauf angelegt.
Pip hatte die Geschichte erzählt, aber nie wirklich den Kern: dass die Ereignisse sie gebrochen hatten.
Sie setzte die Kopfhörer wieder auf und sperrte die Welt aus. Kein Geräusch außer dem Sirren in ihrem Kopf. Sie schloss auch die Augen und tat, als gäbe es keine Vergangenheit, keine Zukunft. Nur dies: Abwesenheit. Es tat gut, frei und ungebunden dort zu treiben. Doch lange war ihr Verstand nie ruhig.
Und ebenso wenig waren es die Kopfhörer. Ein schrilles »Ping« ertönte in ihren Ohren. Pip drehte ihr Handy um und sah aufs Display. Es war eine E-Mail, die über das Formular auf ihrer Website eingegangen war. Wieder dieselbe Nachricht: Wer sucht nach dir, wenn du es bist, die verschwindet? Von »[email protected]«. Wieder eine andere E-Mail-Adresse, aber exakt die gleiche Botschaft. Pip bekam sie jetzt seit Monaten, zusammen mit anderen bildhaften Kommentaren von Trollen. Wenigstens war sie poetischer und reflektierter als die unverhohlenen Vergewaltigungsdrohungen.
Wer sucht nach dir, wenn du es bist, die verschwindet?
Pip blickte auf die Frage. In der ganzen Zeit hatte sie nie darüber nachgedacht zu antworten.
Wer würde nach ihr suchen? Sie wollte gern glauben, dass Ravi es würde. Ihre Eltern. Cara Ward und Naomi. Connor und Jamie Reynolds. Nat da Silva. DI Hawkins? Es war immerhin sein Job. Vielleicht würden sie; doch vielleicht sollte es niemand.
Hör auf, befahl sie sich und versperrte sich den Weg an jenen dunklen, gefährlichen Ort. Könnte eine weitere Tablette helfen? Sie schaute zur zweiten Schublade, in der die Pillen wohnten, gleich neben den Prepaid-Handys unter dem falschen Boden. Aber nein, sie war schon ein bisschen müde und wacklig. Und die waren zum Schlafen, nur zum Schlafen.