The Reappearance of Rachel Price (deutsche Ausgabe) - Holly Jackson - E-Book

The Reappearance of Rachel Price (deutsche Ausgabe) E-Book

Holly Jackson

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Beschreibung

Vor 16 Jahren verschwand Bels Mutter Rachel auf mysteriöse Weise. Die damals 2-jährige Bel war die einzige Zeugin - und erinnert sich an nichts. Der Fall wird neu aufgerollt, als ihr Vater einer True-Crime-Doku zustimmt. Bel kann es kaum erwarten, dass die Dreharbeiten zu Ende gehen und ihr Leben zur Normalität zurückkehrt. Doch dann geschieht das Unmögliche: Rachel steht plötzlich vor der Tür. Und erzählt eine haarsträubende Geschichte. Kann es sein, dass sie lügt? Und wenn ja: Wo war sie all die Jahre wirklich? Während die Kameras laufen, macht sich Bel auf die Suche nach der Wahrheit - und findet Dinge über ihre Familie heraus, die alles für sie verändern ...

Von der internationalen Bestseller-Autorin und Gewinnerin des TikToks-Awards 2023 als »Author of the Year«

Farbschnitt und Page-Overlay exklusiv in der ersten Auflage!

Übersetzt von Sabine Schilasky

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 674

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungStammbaumFilmklappeEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißigFünfunddreißigSechsunddreißigSiebenunddreißigAchtunddreißigNeununddreißigVierzigEinundvierzigZweiundvierzigDreiundvierzigVierundvierzigFünfundvierzigSechsundvierzigSiebenundvierzigAchtundvierzigNeunundvierzigFünfzigDanksagung

Über dieses Buch

Vor 16 Jahren verschwand Bels Mutter Rachel auf mysteriöse Weise. Die damals 2-jährige Bel war die einzige Zeugin – und erinnert sich an nichts. Der Fall wird neu aufgerollt, als ihr Vater einer True-Crime-Doku zustimmt. Bel kann es kaum erwarten, dass die Dreharbeiten zu Ende gehen und ihr Leben zur Normalität zurückkehrt. Doch dann geschieht das Unmögliche: Rachel steht plötzlich vor der Tür. Und erzählt eine haarsträubende Geschichte. Kann es sein, dass sie lügt? Und wenn ja: Wo war sie all die Jahre wirklich? Während die Kameras laufen, macht sich Bel auf die Suche nach der Wahrheit – und findet Dinge über ihre Familie heraus, die alles für sie verändern …

Über die Autorin

Holly Jackson, geb. 1992, hat sich schon als Kind gern Geschichten ausgedacht. Sie lebt in London, und wenn sie nicht gerade schreibt oder liest, spielt sie am liebsten Videospiele oder sucht nach Rechtschreibfehlern auf Verkehrsschildern. A Good Girl's Guide to Murder ist ihr Debüt.

Übersetzung aus dem Englischen vonSabine Schilasky

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der englischen Originalausgabe:

»The Reappearance of Rachel Price«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2024 by Holly Jackson

Jacket photography copyright © 2024 by Christine Blackburne

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

This edition published by arrangement with Random House Children’s Books, a division of Penguin Random House LLC.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Elena Bruns

Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen unter Verwendung eines Designs von:

Cover design © HarperCollinsPublishers Ltd 2024/Cover imagery © Shutterstock

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN978-3-7517-6165-9

one-verlag.de

luebbe.de

Für meine kleine Schwester

Eins

»Was, denkst du, ist mit deiner Mutter passiert?«

Das Wort hörte sich in Bels Ohren falsch an, als er es aussprach. Mutter. Unnatürlich. Aber nicht ganz so schlimm wie Mom. Mom drückte von innen gegen ihre Lippen, unförmig und wütend wie eine aufgequollene Schnecke, die schließlich hervorbrechen und auf den Boden fallen würde, wo sie jeder anstarren konnte. Denn das täte jeder; wie immer. Dieses Wort gehörte nicht in ihren Mund, also sprach Bel es nicht aus, wenn sie es vermeiden konnte. Mutter klang zumindest kalt, irgendwie distanziert.

»Ist schon okay. Lass dir Zeit«, sagte Ramsey, dessen Vokale abgehackt und entblößt klangen.

Bel blickte hinüber zu ihm, mied aber die Kamera. Sorgenfalten bildeten sich auf seiner dunklen Stirn und zurrten an seinen Augenwinkeln, als er Bel fixierte, denn sie ließ sich bereits Zeit, zu viel Zeit; mehr als bei den Probe-Interviews der letzten Tage. Er kratzte sich an der Schläfe, genau da, wo sein krauses dunkles Haar über den Ohren zu verblassen begann. Ramsey Lee: Filmemacher und Regisseur aus Südlondon – eine Welt entfernt von allem hier in Gorham, New Hampshire, wo er ihr gegenübersaß.

Ramsey räusperte sich.

»Ähm …«, begann Bel und verschluckte sich an der Schnecke. »Ich weiß nicht.«

Ramsey lehnte sich zurück, wobei sein Stuhl knarzte, und Bel erkannte an dem Aufschimmern von Enttäuschung in seinem Gesicht, dass sie es nicht gut machte. Schlimmer. Es musste die Kamera sein. Die Kamera veränderte alles, weil sie so beharrlich war. Eines Tages würden Tausende von Menschen dies hier sehen und wären nur durch das Glas des Fernsehbildschirms davon getrennt. Sie würden jedes Wort analysieren, das sie sprach, jede Pause, die sie machte, und etwas dazu zu sagen haben. Sie würden ihr Gesicht mustern: ihre warmweiße Haut; die roten Wangen; ihr scharfgeschnittenes Kinn, das noch spitzer wurde, wenn sie sprach, vor allem, wenn sie lächelte; ihr honigblondes Haar und die runden, graublauen Augen. Sieht sie nicht aus wie Rachel früher?, würden sie sagen, die Leute jenseits des Fernsehbildschirms. Bel fand, dass sie eigentlich eher ihrem Dad ähnelte, aber danke.

»Tut mir leid«, ergänzte Bel und kniff die Augen zu. Grellorangefarbenes Licht leuchtete ihr aggressiv aus den drei Softboxen entgegen. Sie musste nur diesen Dokumentardreh durchstehen, so tun, als würde sie es nicht hassen, und über Rachel sprechen. Danach konnte sie wieder in ihr normales Leben zurückkehren, ein Leben, in dem nicht über Rachel geredet wurde.

Ramsey schüttelte den Kopf, und ein kleines Lächeln brach durch.

»Schon gut«, sagte er. »Es ist eine schwierige Frage.«

War es im Grunde nicht. Und die Antwort genauso wenig. Bel wusste wirklich nicht, was mit ihr passiert war. Das wusste niemand. Darum ging es ja gerade.

»Ich glaube, sie …«

Hinter der Kamera stolperte jemand über ein Kabel, das aus der Wand riss. Eine der Lampen schwankte flackernd auf dem wackligen Fuß und erlosch. Bevor sie umfiel, packte eine Hand die Lampe und richtete sie wieder auf.

»Oh, Mist. Sorry, Rams«, sagte der Mann, der gestolpert war, und folgte dem losen Kabel zurück zur Steckdose. Da das Licht jetzt aus war, sah Bel ihn zum ersten Mal richtig. Sie konnte nicht sagen, ob sie ihn vorher bemerkt hatte, als Ramsey ihr das Team vorgestellt hatte, weil sie zu sehr von den Lichtern und der Kamera geblendet gewesen war. Er müsste der Jüngste in der vierköpfigen Crew sein, nicht viel älter als sie. Und womöglich war er der lächerlichste Mensch, den Bel jemals gesehen hatte. Sein braunes Haar fiel ihm in dichten Locken bis auf die Schultern und war zu einer Seite seines blassen, kantigen Gesichts gestrichen, das voller Schatten war; er trug eine Hose mit Schottenkaro und Schlag zu einem hellvioletten Pulli mit kleinen grün-gelben Dinosauriern, die quer über seine Brust liefen.

»Sorry«, wiederholte er, und das O verriet ihn; er musste auch aus London sein. Mit einem Ächzen drückte er den Stecker zurück in die Dose, sodass das Licht aufschien und ihn vor Bel verbarg. Gott sei Dank, denn dieser hässliche Pullover lenkte sie ab.

»Ich hatte dir gesagt, du sollst die Kabel festkleben, Ash.« Ramsey lehnte sich zur Seite, um an der Lichtwanne vorbeizuschauen.

»Habe ich …«, war Ashs Stimme hinter dem Licht zu hören. Sie wirkte irgendwie kantig, so wie sein Gesicht. »Bis das Klebeband alle war.«

»Alter, wir haben an die fünfzigtausend Rollen oben!«, erwiderte Ramsey.

»Fünfzigtausend und eine«, sagte die Frau hinter dem Mikrofon, das an einem langen Stab auf einem Stativ befestigt und mit einer grauen Flauschhülle versehen über Bel und Ramsey direkt außerhalb des Bilds schwebte. Saba, so hatte Ramsey sie genannt und sie als die Tonfrau vorgestellt. Sie hatte riesige Kopfhörer auf, die ihr Gesicht klein wirken ließen und die dunkle Haut ihrer Wangen in unnatürliche Falten drückten.

»Sorry«, erklang Ashs Stimme. »Ich richte das nachher.«

»Ist okay«, sagte Ramsey, dessen Züge für einen Moment weicher wurden. Dann sah er zu dem Mann hinter der riesigen Kamera. »James, warum schwenkst du zu Ash?«

»Ich dachte, wir wollten einen Cinéma-vérité-Stil für die Doku und du könntest das drin haben wollen.«

»Nein, das will ich nicht drin haben. Machen wir die Aufnahme noch mal, und diesmal passen bitte alle auf, wo sie hintreten.«

Ramsey lächelte Bel entschuldigend zu, die auf dem Plüschsofa vor kunstvoll arrangierten Kissen allen gegenübersaß.

»Ash ist mein Schwager«, erklärte er. »Ich kenne ihn schon, seit er elf war. Es ist sein erster Job, stimmt’s nicht, Ash? Als Kameraassistent.«

Ash: Kameraassistent. Saba: Tonfrau. James: Kameramann. Und Ramsey: Filmemacher, Produzent, Regisseur. Es musste nett sein, solche Worte zu haben, die auf den eigenen Namen folgten. Worte, die man selbst gewählt hatte. Bei Bel war es anders: Dies ist Annabel. Die Tochter von Rachel Price. Der letzte Teil wurde stets in einem vielsagenden Flüstern ausgesprochen. Denn obwohl Rachel nicht mehr da war, existierte alles nur in Bezug auf sie. Gorham war kein eigener Ort mehr; es war der Ort, in dem Rachel Price gelebt hatte. Nummer 33 Milton Street war nicht Bels Zuhause, sondern das Haus, in dem Rachel Price gewohnt hatte. Bels Dad, Charlie Price, tja, er war Rachel Prices Ehemann, obwohl der Price-Teil von ihm kam.

»Ash, die Klappe«, erinnerte Ramsey ihn.

»Oh.« Ash kam hinter dem Licht hervor und hielt eine schwarz-weiße Klappe mit beiden Händen. Auf dem Brett stand Das Verschwinden der Rachel Price. So hieß der Dokumentarfilm. Darunter war von Hand geschrieben: Interview mit Bel. Und sie war ehrlich überrascht, dass dort nicht einfach Rachel Prices Tochter stand.

Ash trat vor die Kamera, wobei die weiten Säume seiner Hosenbeine geräuschvoll aneinander entlangwischten.

»Take sechs«, sagte er und ließ die Klappe laut knallen, bevor er aus dem Bild huschte.

»Fangen wir noch einmal an.« Ramsey atmete langsam aus. Sie waren schon seit Stunden hier, und allmählich sah man es ihm an. »Deine Mum wird seit über sechzehn Jahren vermisst. In der ganzen Zeit hat es nirgends eine Spur von ihr gegeben. Keine Aktivitäten auf ihren Bankkonten, keinen Kontakt zur Familie, keinen Leichenfund, trotz großangelegter Suche. Natürlich gab es Sichtungen«, sagte er, wobei er sich zu sehr in das Wort hineinlehnte, sodass es schief herauskam. »Leute im Internet, die behaupten, Rachel gesehen zu haben. In Paris, in Brasilien. Vor wenigen Monaten sogar unweit von hier, in North Conway. Aber selbstverständlich sind das alles unbelegte Behauptungen. Deine Mum verschwand am dreizehnten Februar 2008. Was, denkst du, ist mit ihr passiert?«

Bel konnte nicht schon wieder Ich weiß nicht sagen, sonst dürfte sie nie gehen.

»Das ist mir genauso ein Rätsel wie dem Rest der Welt«, antwortete sie, und an dem Blitzen in Ramseys Augen erkannte sie, dass es eine bessere Antwort war. Okay, weitermachen. »Ich kenne alle Theorien, die Leute dazu aufgestellt haben. Und müsste ich eine aussuchen …«

Ramsey spornte sie mit einem Kopfnicken an.

»Ich denke, sie hatte versucht zu gehen. Sie ist gegangen. Und vielleicht wurde sie dann von einem opportunistischen Täter ermordet – den Ausdruck benutzen die Medien. Oder sie hat sich in den White Mountains verirrt, ist im Schnee gestorben, und ihre Überreste wurden von einem Tier gefressen. Deshalb haben wir sie nie gefunden.«

Ramsey beugte sich vor und stützte nachdenklich das Kinn in die Hand.

»Also hältst du es für das wahrscheinlichste Szenario, dass deine Mutter tot ist, Bel?«

Bel nickte halb und starrte zu dem Couchtisch vor ihr. Die volle Wasserflasche war nur eine Requisite; sie durfte nicht daraus trinken. Auf dem Tisch stand auch ein Marmorschachbrett, alle Figuren für die Schlacht aufgestellt, und Bels Knie zeigten auf das Niemandsland in der Mitte. Dieser umgestaltete Konferenzraum im Royal Inn in der Main Street war eine Bühne. Die Wasserflasche, das Schachbrett und die Kissen waren Staffage. Nichts hiervon war für irgendjemanden real. Alles nur Show.

»Ja, ich glaube, dass sie tot ist. Ich denke, sie starb an jenem Tag oder kurz danach.«

Dachte sie das? Spielte es eine Rolle? Weg war weg.

Ramsey blickte jetzt auch zu dem Schachbrett.

»Du sagst, dass du glaubst, deine Mum hätte gehen wollen«, sagte er und sah wieder Bel an. »Meinst du, sie wollte weglaufen?«

Bel zuckte mit den Schultern. »Ich schätze ja.«

»Aber es gibt aussagekräftige Beweise, die gegen diese Theorie sprechen. Rachel hatte in den Tagen und Wochen vor ihrem Verschwinden kein Geld von ihrem Konto abgehoben. Falls sie vorhatte, wegzulaufen und ein neues Leben anzufangen, hätte sie Geld gebraucht. Und nicht nur das: Sie hatte ihr Portemonnaie mit ihrem Ausweis nicht bei sich und die Bankkarten zu Hause gelassen. Auch ihr Telefon hatte sie nicht dabei. Sie hatte keine Kleidung oder sonstige Habe eingepackt. Gar nichts. Sie nahm nicht einmal ihren Mantel mit, obwohl es an dem Tag eisig war. Den ließ sie ebenfalls im Wagen, zusammen mit ihrem Telefon und dem Portemonnaie.«

Und mir, dachte Bel.

»Was sagst du dazu?«, fragte Ramsey.

Was sollte sie denn seiner Meinung nach sagen?

»Ich weiß nicht.« Bel war wieder bei jenen drei Worten, hinter denen sie sich versteckte.

Ramsey schien zu spüren, dass sie blockierte, zog sich zurück und richtete sich auf.

»Du bist jetzt achtzehn, Bel. Als Rachel verschwand, warst du nicht einmal zwei Jahre alt. Zwanzig Monate, um genau zu sein. Und natürlich war einer der auffälligsten Punkte an diesem Fall, der ihn von allen anderen abgrenzt, dass du bei ihr warst. Du bist bei deiner Mum gewesen, als sie verschwand.«

»Ja«, sagte Bel. Sie wusste, welche Frage als Nächstes käme. Und ganz gleich, wie oft sie gestellt wurde, die Antwort war immer dieselbe. Und für Bel war sie schlimmer, das konnte man ihr glauben.

»Erinnerst du dich an überhaupt nichts von dem Tag? Dass ihr im Einkaufszentrum wart? Dass du in dem Wagen warst?«

»Ich erinnere mich an nichts«, sagte sie matt. »Ich war zu klein, um mich zu erinnern. Oder um irgendjemandem zu erzählen, was ich an dem Tag gesehen habe.«

»Und das ist das Verrückteste.« Erneut lehnte Ramsey sich vor, und jeweils in der Satzmitte wurden die Worte strenger, als er versuchte, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Du warst ein Kleinkind, zu jung, um richtig mit jemandem zu kommunizieren, erst recht der Polizei. Aber, wenn jemand Rachel entführt hat, aus dem Auto verschleppt, das verlassen mit dir darin gefunden wurde, musst du genau gesehen haben, wer es war. Du hast den Täter oder die Täterin gesehen. Und irgendwann musst du, egal wie kurz, die Antwort auf das Rätsel gekannt haben.«

»Ich weiß.«

Verrückt, nicht wahr? Ja, das Verrückteste sogar.

Bel schloss die Augen, und drei glühende Sonnenpunkte erhellten die dunkle Welt in ihrem Kopf. Diese Lichter waren einfach zu grell. Strahlten sie auch Hitze ab, oder bildete sie sich das bloß ein? Es würde jedenfalls erklären, warum ihr Gesicht so heiß war.

»Ist es in Ordnung, wenn wir weitermachen?«, fragte Ramsey sie.

»Ja.« Eigentlich hatte sie keine Wahl. Es waren Verträge unterschrieben, Verzichtserklärungen und Freigaben erteilt worden. Und vor allem hatte sie es ihrem Dad versprochen. Sie konnte um seinetwillen auf nett machen. An den richtigen Stellen Ja, Nein und Verzeihung sagen.

»Hast du wirklich gar keine Erinnerung an jenen Tag?«

»Nein.« Und die hätte sie das nächste Mal, wenn er fragte, auch nicht. Oder das Mal danach. Sie wusste nichts über das, was geschehen war. Keine Ahnung. Nur das, was sie erfuhr, als sie größer wurde, alt genug, um Dinge zu verstehen: dass sie zurückgelassen wurde. Verlassen auf der Rückbank des Wagens, wie auch immer es dazu gekommen war.

»Dieser Fall ist einer der meistdiskutierten und studierten in True-Crime-Podcasts und den sozialen Medien, hält sich selbst nach sechzehn Jahren noch im öffentlichen Bewusstsein«, sagte Ramsey mit leuchtenden Augen. »Der Name Rachel Price ist beinahe zum Synonym für Mysterium geworden. Weil ihr Verschwinden ein Rätsel ist und es in der menschlichen Natur liegt, Rätsel lösen zu wollen, meinst du nicht auch?«

Was sollte Bel darauf antworten? Zu spät.

»Und das deshalb«, fuhr Ramsey fort, »weil Rachel an jenem Tag zweimal zu verschwinden schien. Kannst du uns erzählen, was um zwei Uhr an jenem Nachmittag passiert ist? Als deine Mum mit dir wegfuhr?«

»Noch einmal?«

»Ja, bitte, für die Kamera«, antwortete Ramsey, womit er Bel die Schuld nahm und sie stattdessen der Kamera gab. Kameras hatten keine Gefühle. Ramsey schien nett. Andererseits wollte er natürlich auch, dass sie ihn für nett hielt, oder?

Bel räusperte sich. »An dem Nachmittag war ich mit Rachel im Auto. Sie fuhr mit mir zum Einkaufszentrum White Mountains, das in Berlin ist. Nicht weit von Gorham, ungefähr zehn Minuten Fahrt. Sicherheitskameras haben aufgenommen, wie wir in das Einkaufszentrum gegangen sind. Rachel hat mich getragen.«

»Und warum wart ihr dort?«

»Dahin ist sie oft an ihren freien Tagen mit mir gefahren«, sagte Bel. »Rachel hatte früher mal in einem Café dort gearbeitet. Sie ist häufiger auf einen Kaffee hin, um ihre alten Freunde zu sehen. Das war nicht ungewöhnlich. Es hieß Moose Mouse Coffeehouse.«

Selbstverständlich erinnerte Bel sich nicht daran, aber sie hatte die Aufzeichnungen der Sicherheitskameras gesehen, die letzten Bilder der lebenden Rachel Price. Von sich selbst als Baby in einem himmelblauen Schneeanzug mit Marshmallow-Ärmeln, das auf Rachels Schoß zappelte. Umgeben von leeren Tischen. Die winzigen Gestalten waren verschwommen, wirkten aber vergnügt. Sie ahnten nicht, dass sie verschwinden würden. Eine von ihnen für immer.

»Aber ungewöhnlich war«, entgegnete Ramsey, »dass Rachel nach euren Getränken aufstand, wobei sie dich immer noch trug. Sie verließ um zwei Uhr neunundvierzig das Moose Mouse Coffeehouse, wie die Kameras zeigten. Wir können das in den Aufzeichnungen verfolgen. Aber dann biegt sie um eine Ecke, einen blinden Fleck zwischen den Sicherheitskameras des Einkaufszentrums und …?«

Er schien auf etwas zu warten.

»Wir verschwanden«, füllte Bel die Leerstelle.

»Ihr habt euch in Luft aufgelöst«, ergänzte Ramsey. »Ihr erscheint nicht auf der Kamera, auf der ihr hättet auftauchen müssen, wäre Rachel weitergegangen. Auch auf keiner anderen danach, gar keiner. Nirgends. Was bedeutet, dass ihr das Einkaufszentrum nicht verlassen haben konntet. Und dennoch habt ihr es. Ihr beide seid im Einkaufszentrum verschwunden, und dafür gibt es keine Erklärung. Hast du eine Ahnung, wie das sein kann?«

»Nein, keine. Ich erinnere mich nicht.« Wie ein Running Gag, nur von der schlimmen Sorte.

»Die Polizei hat die Aufzeichnungen nach Rachels Verschwinden analysiert. Sie haben jeden in dem Einkaufszentrum überprüft, die Leute doppelt und dreifach nachgezählt. Und die Zahlen stimmen, bis auf zwei Personen: dich und Rachel. Die einzigen beiden, die hineingegangen, aber nicht wieder herausgekommen waren. Bei den Ermittlungen zog man sogar in Erwägung, dass ihr das Einkaufszentrum aus irgendwelchen Gründen in Verkleidung verlassen habt, euer Aussehen geändert hattet, aber das passte nicht zu den Zahlen. Ihr wart schlicht verschwunden.«

Bel zuckte mit den Schultern, weil sie unsicher war, was Ramsey von ihr hören wollte. Sie selbst war ja nicht mehr verschwunden.

»Und ehe wir uns versahen, warst du wieder da. Du wurdest allein in Rachels Wagen gefunden, verlassen am Straßenrand nahe dem Moose Brook State Park. Der Wagen war an den Rand gelenkt worden, in den Schnee, noch mit leuchtenden Scheinwerfern und laufendem Motor. Ein Mann« – Ramsey blickte in seine Notizen –, »Julian Tripp, fuhr um kurz nach sechs Uhr dort vorbei und fand dich. Er rief sofort die Polizei …«

»Er ist jetzt übrigens mein Klassenlehrer. Mr. Tripp.«

Ramsey lächelte. Die Unterbrechung störte ihn nicht. »Die Welt ist klein.«

»Na ja, es ist eine Kleinstadt«, korrigierte Bel ihn.

»Ich denke, es ist klar, warum sich True-Crime-Fanatiker so auf diesen Fall konzentrieren. Seit dem Ende der offiziellen Untersuchung hat es keine neuen Antworten gegeben. Er kann nicht gelöst werden und wird niemals einen Sinn ergeben. Für dich muss es so viel härter sein, weil du doch direkt dabei warst.« Ramsey legte eine kleine Pause ein. »Wie ist es für dich gewesen, Bel? Im Schatten dieses unmöglichen Kriminalfalls aufzuwachsen?«

So hatte es bisher noch niemand formuliert. Es fühlte sich sehr wohl wie ein Schatten an, der an den meisten Tagen ein dunkles, unangenehmes Etwas war, von dem man den Blick abwandte, wenn man es gut mit sich meinte. Und das tat Bel. Sie rieb sich die Nase so fest, dass der Knorpel im Innern ein klickendes Geräusch machte. Dann fiel ihr wieder ein, dass sie gefilmt wurde und ein Mikrofon über ihr hing. Verdammt! Hoffentlich würde Ramsey das später rausschneiden.

»Es ist okay«, sagte sie schließlich. »Ich habe mich längst damit abgefunden, dass wir nie Antworten bekommen werden. Es ist nicht meine Schuld, dass ich mich an nichts erinnere; ich war einfach zu klein. Und weil ich keine Erinnerungen habe, werden wir das Rachel-Price-Rätsel nie lösen. Aber das ist okay für mich. Ehrlich. Ich habe meinen Dad.« Bel stockte und lächelte ein wenig, sodass ihr Kinn sehr spitz wurde. »Er hat alles getan, damit ich eine möglichst normale Kindheit hatte, soweit es unter den Umständen ging. Deshalb will ich nicht, dass alle Mitleid mit mir haben«, sagte sie, und das meinte sie ernst. Sie hoffte, die Kamera erkannte es. »Ich habe eigentlich Glück …«

»Ähm, Ramsey«, erklang Ashs Stimme hinter dem Licht.

»Wir filmen, Ash.« Ramsey blickte sich verärgert zu ihm um.

»Oh, ich weiß.« Er trat näher, und Bel konnte ihn wieder sehen, nachdem sie ein wenig gegen die Helligkeit geblinzelt hatte. »Es ist nur, dass wir über dem Zeitplan sind, und ich denke …«

Er wies zu der Tür, die in die Eingangshalle des Hotels führte. In dem verglasten oberen Teil war ein gegen die Scheibe gepresstes Gesicht zu sehen. Bel schirmte ihre Augen mit einer Hand ab, doch die Lichter waren immer noch zu grell, um zu erkennen, wer das war.

»Sie ist schon hier«, sagte Ash und prüfte auf seinem Handy die Uhrzeit. »Sie ist zu früh.«

»Wer ist sie?«, fragte Bel. Sie wusste, dass die Interviews mit Carter und Tante Sherry erst nächste Woche gefilmt werden sollten.

»Scheiße«, fauchte Ramsey und sah auf seine Uhr. Rasch blickte er mit großen Augen zu Bel, und die freundlichen Lachfältchen verschwanden.

Bel lehnte sich vor und vergaß ihrerseits sämtliche Nettigkeit. Ihre Stimme wurde hart, als sie fragte: »Wer ist hier, Ramsey? Wer ist sie?«

Zwei

Die Tür wurde geöffnet und schleifte in den Angeln.

»Hallo?« Eine Frauenstimme waberte durch den Raum. »Das Mädchen vorn am Empfang hat gesagt, dass Sie hier drinnen filmen.«

Kannte Bel die Stimme? Sie kam ihr bekannt vor, doch sie konnte sie nicht zuordnen, nicht ohne ein Gesicht. Sie versuchte, etwas zu sehen, und ihr Bauch verkrampfte sich.

Absätze klackerten auf dem polierten Holzboden, als die Frau sich ihnen näherte.

Ramsey stand von seinem Stuhl auf und nickte dabei James hinter der Kamera zu.

»Hallo«, sagte er munter. »Vielen Dank, dass Sie so früh kommen. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Fahrt. Wir schließen hier gerade ab, Susan.«

Bel schluckte, und ihr Kiefer entspannte sich. Eine Sekunde lang hatte sie befürchtet, es käme R…

»Schön, Sie endlich persönlich kennenzulernen«, sagte die Frau, ging hinüber zu Ramsey und schüttelte seine ausgestreckte Hand. Dabei klimperten Armreifen an ihrem Handgelenk.

Susan? Warum fiel Bel keine Susan ein?

»Ganz meinerseits«, antwortete Ramsey.

Die Frau trat ins Licht. Sie trug ein dunkles Kostüm und dazu einen bauschigen, smaragdgrünen Schal – und nun sah Bel, wer sie war. Natürlich. Denn für Bel war sie nicht Susan. Sie war Grandma. Rachels Mom.

»Rams, soll ich …«, begann Ash, der immer noch linkisch dastand und vage mit dem Daumen auf Bel wies.

»Oh, ach so«, wandte Grandma sich an Ash und musterte ihn von oben bis unten. »Na, Sie sind ja mal ganz was Besonderes.«

Bel stand auf, sodass die sorgsam arrangierten Kissen hinter ihr durcheinanderpurzelten.

»Hi, Grandma.«

Die Kamera folgte ihr, denn James hob sie mit Schwung von dem Stativ auf seine Schulter und trat zurück, um ein breiteres Bild zu bekommen.

Grandma blinzelte sie an.

»Das ist doch nicht meine Annabel, oder?«, fragte sie und hob zum Ende des Satzes die Stimme. »O mein Gott, schau sich einer dich an!«

Im nächsten Moment wurde Bels Gesicht in den smaragdgrünen Schal gedrückt, als Grandma sie fest umarmte und sich starker Parfümgeruch in Bels Kehle staute.

»Ich kann es gar nicht glauben! Du siehst so erwachsen aus.«

»Na ja«, sagte Bel, deren Brustkorb sich zu eng anfühlte. »Weil ich erwachsen bin. So wie jetzt sehe ich schon seit einigen Jahren aus.«

Grandma wich ein wenig zurück, um Bel zu betrachten. Ihre knochigen Finger umklammerten Bels Schultern.

»Gott, du siehst Rachel so ähnlich.«

Nein, tat sie verdammt noch mal nicht.

Grandmas Augen begannen zu glänzen, und sie biss sich auf die bebende Unterlippe.

»Grandaddy wäre so stolz, dich ganz erwachsen zu sehen. Wie traurig, dass er es verpasst hat. Hätte dein Vater dich doch nicht so lange von uns ferngehalten. Das war grausam. Mein einziges Enkelkind.«

Sie ließ Bel los und angelte ein zerknülltes Taschentuch aus ihrer Tasche, in das sie sich laut schnäuzte. Es klang wie ein Vogelschrei, der den gesamten Raum ausfüllte.

»Er ließ dich nicht einmal zur Beerdigung kommen«, schniefte Grandma.

Das wollte Bel nicht durchgehen lassen.

»Weil du gesagt hast, dass du ihn dort nicht sehen wolltest«, erwiderte sie scharf, und wieder verkrampfte sich ihr Kiefer. Durfte Bel vor der Frau fluchen – wie alt war sie? Anfang siebzig? Da war es erlaubt, oder?

»Aber ich wollte dich dort, und Grandaddy hätte es auch gewollt. Das Einzige, was er sich wirklich gewünscht hatte, bevor er starb, war, endlich den Mörder seiner Tochter hinter Gittern zu sehen. Wo er hingehört«, erwiderte sie spitz und wischte sich um des Effekts willen die Nase. »Krebs. Vor vier Jahren«, ergänzte sie in Ramseys Richtung.

»Tut mir sehr leid«, flüsterte er beinahe, als wollte er die Szene nicht stören. Er verschwand im Hintergrund. Sollte dies hier gefilmt werden?

Grandma lächelte Bel süßlich an, doch die konnte nur daran denken, dass Dad Susan ein Masshole genannt hatte. Weil sie aus Massachusetts war und ein …

»Oh, ich habe eine glänzende Idee«, fuhr Grandma fort, weil sie nichts begriff. »Du könntest diesen Sommer zu mir kommen. Es wäre so schön! Du kannst mir mit den Pferden helfen. Einige Zeit in dem Haus verbringen, in dem deine Mom aufgewachsen ist, mal wegkommen von demMann. Was meinst du, Annabel?«

Was Bel meinte? Dass es ein hohles Angebot war, und wäre Grandma wirklich interessiert, hätte sie Bel mal besucht oder angerufen. Aber das tat sie nicht. Und wenn diese Kameras fort waren, würde sie wieder wegfliegen. So waren Menschen.

»Das klingt zu schön, um wahr zu sein«, sagte Bel. Ja, sie konnte auch ein Arschloch sein. »Und derMann ist mein Dad.«

Grandma biss die Zähne zusammen. »Der Mann ist …«

»Er hat Rachel nicht umgebracht.«

Bels Augen funkelten. Es waren nur sie zwei in dem Raum … und ein britisches Filmteam, das sich im Dunkeln versteckte. »Du hast bekommen, was du wolltest, Grandma. Er wurde wegen Mordes angeklagt. Er hat bis zum Prozess im Gefängnis gesessen. Und rate mal! Sie befanden ihn für nicht schuldig.«

»Nicht schuldig ist nicht dasselbe wie unschuldig. Und Geschworene können sich irren«, sagte Grandma, deren Lippen sich beim Sprechen zu sehr bewegten. »Ich bin nicht die Einzige, die das denkt. Jeder weiß, dass er es war.«

»Er hatte ein Alibi«, konterte Bel mit einem wütenden Grinsen. »Das scheinst du praktischerweise zu vergessen.«

»Er hätte trotzdem genug Zeit gehabt«, höhnte Grandma und drehte sich zu Ramsey um.

Nein, Bel würde ihr nicht das letzte Wort lassen; nicht, wenn Kameras zuschauten, nicht, wenn es um Dad ging.

»Er war an dem Tag bei der Arbeit. Gegen zwei Uhr hat er sich in die Hand geschnitten. Übel.«

»Verletzungen, die er sich zuzog, als er sie ermordet hat.«

Bel lachte. »Es gab Zeugen. Mehrere Leute in der Autowerkstatt hatten gesehen, wie er sich in die Hand schnitt, Grandma. Er verband sie und fuhr zur nächsten Notaufnahme.«

»In Berlin, wo du und Rachel wart.« Grandmas Augen leuchteten auf, als hätte sie einen Punkt gemacht. Sollte sie nur abwarten. Bel würde sie begraben.

»Das ist ein Zufall.« Sie spannte den Kiefer an und zielte. »Er wurde während der ganzen Zeit gefilmt, die er auf eine Schwester wartete, damit seine Wunde genäht wurde. Die ganze Zeit, die er in der Klinik war. Um fünf Uhr achtunddreißig ging er wieder und fuhr nach Hause. Die Fahrt dauerte übrigens ungefähr sechzehn Minuten, wie sein Verteidiger sagte. Womit wir fünf Uhr vierundfünfzig hätten, als Dad nach Hause kam. Ich wurde ein paar Minuten nach sechs von Mr. Tripp gefunden. Die Polizei rief Dad um sechs Uhr fünfundzwanzig an, nachdem sie mich anhand von Rachels Ausweis identifiziert hatten. Da war er zu Hause. Außerdem gab es einen Anruf auf Rachels Handy um sechs Uhr vier, als er sich fragte, wo wir sind. Die Daten des Mobilfunkmasts beweisen ebenfalls, dass er zu Hause war. Wenn du sagst, er sei direkt zum Entführungsort gefahren, neunzehn Minuten vom Krankenhaus entfernt, hätte er nur acht Minuten gehabt, um Rachel zu entführen, sie umzubringen und loszuwerden und dann rechtzeitig zu dem Anruf zu Hause zu sein. Die Fahrt nach Hause dauert sechs Minuten. Es ist unmöglich. Er war es nicht.« Bel holte Luft. All das hatte sie schon lange auswendig gelernt; es war ja nicht das erste Mal, dass sie diese Fakten einsetzen musste. »Hältst du das für genug Zeit, um jemanden umzubringen und die Leiche für immer verschwinden zu lassen?«

Grandma sah blass aus, um ihren Mund hingen schlaffe Falten; ein Leben lang mürrisch zu sein, dürfte das bewirken. »Du sprichst hier von deiner Mutter.«

Das Wort schon wieder. Es war genauso unnatürlich wie Grandmas Stimme.

»Was ist hier los?« Eine neue Stimme erklang, und diese würde Bel überall erkennen.

»Dad?«, fragte sie und suchte ihn hinter dem grellen Licht.

Charlies Silhouette durchquerte den Raum in Richtung Filmset. Seine schweren Stiefel polterten auf dem Boden, und seine Schultern in dem ölfleckigen Shirt waren leicht vorgebeugt.

»Du hast mir gesagt, dass du um zwei mit Bel fertig bist«, wandte er sich an Ramsey. Mit einer schmutzigen Hand fuhr er sich über das kurze Haar. Es war so cremig braun, wie er seinen Kaffee trank, mit ein wenig Grau an den Schläfen. »Es ist fast halb vier. Ich habe mir Sorgen gemacht. Ihr Handy ist ausgeschaltet.«

»Tut mir leid.« Ramsey neigte den Kopf. »Uns ist die Zeit davongelaufen.«

»Charlie Price«, machte sich Grandma bemerkbar und dehnte den Zischlaut am Ende zu sehr.

Jetzt erst sah Charlie zu ihr und riss die Augen weit auf.

Bel bemerkte eine Bewegung hinter Dads Schulter und beobachtete, wie Ramsey sich zu James umdrehte. Film weiter, befahl er stumm und machte eine Kurbelbewegung mit den Fingern. Die Kamera gehorchte.

»Was macht sie hier?«, fragte Charlie in den Raum hinein.

»Sie drehen eine Doku über meine Tochter. Warum sollte ich nicht hier sein?«, erwiderte Grandma und plusterte sich in ihrem grünen Schal auf. Sie musterte ihn und verzog das Gesicht. »Wie ich sehe, hast du immer noch nicht gelernt, dir die Hände zu waschen.«

»Ich war bei der Arbeit, Susan«, antwortete Charlie ruhig. »Manche von uns müssen sich ihren Lebensunterhalt verdienen.«

»Ach, das wieder.« Sie rümpfte die Nase. »Immerzu kampflustig, Charlie. Es muss furchtbar für dich sein, das jeden Tag zu erleben, Annabel, Süße.«

»Ich …«, begann Bel.

»Schon okay, Bel, darauf musst du nicht antworten.« Er blinzelte ihr langsam zu, und seine blauen Augen teilten ihr alles mit, was gesagt werden musste. Wütende Menschen sehen schuldig aus, sagte er immer.

»Lässt er dich nicht sprechen, Süße?«

»Susan, bitte«, sagte Charlie mit zusammengebissenen Zähnen, als würde er in die abgestandene Luft schnappen.

»So aufbrausend«, entgegnete Grandma, dabei war sie diejenige, die ihre Stimme erhob.

Da war wieder der Knoten in Bels Bauch, wurde immer strammer, jagte seinen eigenen Schwanz.

»Warum filmt ihr noch?« Charlie blickte zu dem Mikrofongalgen über seinem Kopf, den Saba ruhig hielt. »Hört bitte auf.«

»Warum, Charlie?«, fragte Grandma. »Soll die Welt nicht sehen, wer du wirklich bist?«

Die Luft im Raum wurde dicker, zäh und gummiartig, als Bel sie nach unten zwang, wo sie den Knoten in ihrem Bauch nährte.

»Und wer bin ich wirklich, Susan?« Charlie sah wieder zu ihr.

»Möchtest du, dass ich es noch einmal ausspreche?«, zischte Grandma.

Charlie trat einen Schritt zurück, rang sich ein steifes Lächeln ab und strich über die Stoppeln an seinem Kinn. »Nein, schon okay. Du hast es im Laufe der Jahre oft genug gesagt. Mich erstaunt, dass es dich nicht allmählich langweilt, in Kameras zu sprechen.«

»Ich höre auf, wenn jeder die Wahrheit kennt«, spie Grandma aus.

»Das ist sinnlos.« Charlie seufzte. »Du hast an jenem Tag deine Tochter verloren, Susan. Ich verlor meine Frau und das Leben, das ich kannte. Komm, Bel, nimm deine Sachen. Wir gehen. Du musst Hunger haben.«

Müsste sie, nur konnte sie außer dem schrecklichen Knoten nichts fühlen.

»Ich sorge mich um Annabel«, sagte Grandma, die nach Bels Arm greifen wollte, doch Bel wich ihr rasch aus. »Ich sorge mich, dass sie allein mit dir in dem Haus ist.«

»Mach dich nicht lächerlich«, erwiderte Charlie. »Komm, Bel.«

»Komme.« Aber sie rührte sich nicht, denn sie war zwischen ihnen und dem Tisch mit dem Schachbrett gefangen. Im Niemandsland.

»Lächerlich, ja?«, kreischte Grandma beinahe, sodass die Kanten ihrer Worte zusammenzustoßen schienen. »Lächerlich ist, dass die Frauen, denen du nahekommst, am Ende tot sind.«

Stille senkte sich über den Raum und drohte alle zu erdrücken.

Charlie verengte die Augen, sodass sich die Haut in den Winkeln genauso kräuselte wie beim Lachen. »Was soll das heißen?«

Grandma reckte den Hals aus dem grünen Schal, als glaubte sie, dass sie den Krieg gewann.

»Deine Mutter starb, als du sechzehn warst, oder nicht?«

Bel versuchte, nicht nach Luft zu ringen. Grandma konnte unmöglich andeuten …

»Das war ein tragischer Unfall«, sagte Charlie leise. Ein Muskel zuckte in seiner Wange. »Sie ist die Treppe hinuntergestürzt und hat sich den Kopf angeschlagen. Zu der Zeit habe ich geschlafen.«

»Ja, natürlich«, sagte Grandma mit einem Gurren, als würde sie ein Kind beruhigen. »Aber Fakt ist, dass zwei tragische Todesfälle anfangen, wie ein Muster auszusehen, Charlie.«

Charlie lachte kopfschüttelnd. Es war ein leeres Lachen, um den Schmerz zu übertünchen. »Großartig«, sagte er. »Also bin ich jetzt nicht nur ein Frauenmörder, sondern auch ein Muttermörder. Irre.«

Fuck. Das hätte er nicht sagen dürfen. Es war offensichtlich sarkastisch gemeint, was jeder sehen konnte. Jeder mit einem Funken Verstand. Aber die Kamera lief, und in den falschen Händen könnte jemand dies hier sehr übel aussehen lassen. Warum hatte Dad dieser Doku überhaupt zugestimmt? Da konnte nichts Gutes bei herauskommen. Bel musste etwas Größeres, etwas Schlimmeres tun, um ihm zu helfen.

»Fick dich, Susan. Hau ab zu deinen verfluchten Gäulen, du Pferdefickerin«, sagte sie.

Jetzt rang jemand im Raum nach Luft.

Grandma zog den Kopf ein und starrte Bel mit offenem Mund an. Volltreffer. Die Schlacht war vorbei.

»Komm mit, Kleines«, sagte Charlie und unterdrückte ein Grinsen, als sie sich ansahen. »Gehen wir.« Dann verhärteten sich seine Züge. »Ramsey, ich möchte dich kurz draußen sprechen. Lass die Kamera hier.«

»Ja, natürlich«, antwortete Ramsey und trat wieder aus dem Hintergrund. »Ash, frag mal, ob Susan etwas trinken möchte. Einen Tee? Kaffee?«

»Für Koffein ist es viel zu spät«, sagte Grandma verschnupft und sackte niedergeschlagen auf eine Couchecke.

»Oh, klar.« Ash kam vorwärtsgeschlurft. »Ähm … Bier?«

»Nein, Ash«, fauchte Ramsey, der Charlie zur Tür folgte. »Hol ihr ein Wasser oder so.«

»Wasser oder so, kommt sofort.« Ash reckte einen Finger gen Decke, drehte sich auf seinen karierten Beinen um und eilte hinter Ramsey her nach draußen.

Grandma sah nicht zu Bel, mied sie – das war also unverändert – und kramte nach etwas in ihrer Handtasche. Genau genommen achtete niemand auf Bel, denn Saba und James waren mit ihren jeweiligen Apparaten beschäftigt, betätigten Knöpfe und Schalter, während die Kamera von Bel abgewandt war. Dies war ihre Chance.

Sie griff mit spitzen Fingern nach unten, schnappte sich die schwarze Königin vom Schachbrett und schob sie in ihren Ärmel, ehe irgendjemand es mitbekam. Die gehörte jetzt ihr. Der Knoten in ihrem Bauch lockerte sich, der Druck ließ nach, und sie empfand eine neue Leichtigkeit, als sie den kühlen Marmor auf ihrer Haut fühlte. Ein starkes Gefühl, auch wenn es nie anhielt. Wenigstens war das Ding selbst von Dauer.

Bel verließ den Raum, ohne sich noch einmal zu dem königinnenlosen Brett oder der Frau umzuschauen, die dahintersaß und die Bel kaum kannte.

»Bye, Grandma«, rief sie munter über die Schulter. »Es war so schön, dich zu sehen! Komm mal wieder zu Besuch.«

Draußen auf dem Parkplatz kitzelte der kühle Aprilwind Bels Gesicht, war die Ablösung bereits unterwegs: Ein winziger neuer Babyknoten von Anspannung wartete in ihrem Bauch auf den richtigen Moment. Die Main Street war laut; lärmendes Motorenbrummen von den Autos, seismisches Rumpeln vorbeifahrender Lkws und kreischende Kinder auf der anderen Straßenseite, die mit dem Kunststoff-Elch vor Scoggins General Store spielten.

Bel entdeckte ihren Dad und Ramsey weiter hinten auf dem Parkplatz, nahe Dads grauem Geländewagen, der voller Staub und Schlammspritzer war.

»Ich schwöre dir«, sagte Ramsey, der die Hände vor der Brust gefaltet hatte. »Das war keine Absicht. Wir hatten mit Bel überzogen, weil es ein bisschen dauerte, bis sie locker wurde. Und Susan ist eine Stunde zu früh gekommen. Sie sollten sich nicht überschneiden, ehrlich nicht.«

Bel wusste, dass er die Wahrheit sagte, aber Ramsey hatte ihr da drinnen nicht geholfen, also war er jetzt auf sich gestellt.

»Was dich nicht abgehalten hat, die Situation auszunutzen und die Kamera laufen zu lassen«, entgegnete Charlie. Er wischte an den Flecken auf seinem Shirt. »Sieh mich an: Ich habe nicht gewusst, dass ich heute gefilmt werde.«

»Tut mir leid, aber wir machen einen Dokumentarfilm. Es ist buchstäblich unser Job, die Kameras laufen zu lassen. Du hast allem zugestimmt. Du hast einen Vertrag unterschrieben.«

»Nicht so, und das weißt du.«

»Komm schon, Charlie, es ist ja nicht so, als würdest du hier unfair entlohnt. Und ich hatte dir eine E-Mail geschickt, dass wir Susan interviewen würden.«

Frustriert kratzte Charlie sich am Kopf.

»Hör mal.« Ramsey sah ihn direkt an. »In diesem Film geht es um dich und deine Familie. Zum allerersten Mal sprichst du öffentlich, erlaubst einen Blick in dein Leben und wie sich Rachels Verschwinden auf dich ausgewirkt hat. Was Susan von dir denkt, ist Teil davon. Die Welt hat früher schon von ihr gehört. Aber es liegt bei dir, das Narrativ zu formen, das du erzählen willst. Und übrigens finde ich, dass du dich da drinnen sehr gut geschlagen hast.«

Was immer Ramsey hier tat, es funktionierte. Charlie seufzte.

»Na gut«, sagte er. »Aber keine Überlappungen mehr. Nicht noch mehr Überraschungen.«

Ramsey hob beide Hände. »Keine Überraschungen mehr, alles klar. Also sehen wir dich und den Rest der Familie morgen bei dir? Wir fangen um elf mit dem Aufbau an, falls das noch okay ist.«

»Ja, gut.« Charlie wollte gehen, wie Bel an der leichten Bewegung seiner Schultern sah.

»Du warst großartig heute, Bel.« Ramsey lächelte ihr zu. »Richtig super. Danke.«

Hatte er bereits vergessen, wie oft sie Weiß ich nicht geantwortet hatte? Vielleicht glich die Grandma-Geschichte es aus. Schade, denn wahrscheinlich hatte Bel bis dahin nett gewirkt. Ach, und wenn schon. Sie durfte mies aussehen.

Sie waren beinahe am Wagen, als Dad sie endlich direkt anschaute.

»Pferdefickerin.« Er lachte. »Wer hat dich großgezogen?«

»Oh, ein furchtbarer Mensch.«

Dad lachte noch mehr. Gut, sie wollte ihn nach dem eben zum Lachen bringen. Dann schüttelte er es ab und fragte: »War es okay, das Interview, meine ich? Nicht zu schwierig oder zu aufwühlend?«

»Nee, das war in Ordnung. Nur lang. Und ich durfte das unechte Wasser nicht anfassen.«

Sie griff nach der Beifahrertür.

»Oh, warte«, hielt Dad sie zurück. »Ich habe einen Haufen Werkzeug und so auf dem Vordersitz. Kannst du hinten reinspringen, Kleines?«

Bel starrte durch das schmutzige Fenster zur Rückbank. Sie schluckte und wandte den Blick ab.

»Nein, ich sitze vorn«, sagte sie rasch und öffnete die Beifahrertür.

»Bel, da ist es voller Kram. Geh einfach nach hinten.«

»Nein, nein, ist schon okay. Siehst du?« Sie stieg über den Werkzeugkasten und Haufen von Papieren, Essensverpackungen und Flaschen von Mountain Dew – weil Dad ein Kind war, das immer noch Mountain Dew trank. Sie hob den Werkzeugkasten hoch, setzte sich und nahm ihn auf den Schoß. Er war schwer und kantig, aber im Fußraum war kein Platz zwischen dem Müll und ihrem Rucksack. »Siehst du, reichlich Platz.«

Kopfschüttelnd ließ Dad den Motor an. »Bacon Sandwiches zum Mittag?«, fragte er. Er brauchte keine Antwort.

»Du kennst mich zu gut.«

Drei

Bel fand sie an ihrem Lieblingsplatz: dem hinteren Ende des Friedhofs, unter dem roten Ahorn, der sein Laub über Meilen verteilte. So morbide waren sie. Absätze klopften gegen den Stein der erhöhten Mauer.

Bel ging auf sie zu, vorbei an fleckigen Grabsteinen, augenlosen Engeln und alten Blumensträußen, die zu stinken begannen. In zwanzig Schritt Entfernung blieb sie stehen und schirmte ihre Augen mit einer Hand ab.

»Na, was sagt man dazu?«, rief Bel. »Ist das nicht Carter Price, Spitzenballerina und künftiger Dokustar?«

Carter regte sich. Ihre definierten Wangenknochen zeichneten sich scharf unter den blauen Augen ab – ein bewegtes Blau, wie unruhiges Wasser. Hübscher als Bels Augen. Price-Augen. Carter neigte den Kopf zur Seite, sodass ihr das hüftlange rotbraune Haar über die Schulter fiel und das helle Sonnenlicht einfing.

»Halt die Klappe.« Carter sah nach unten zu ihrer Hand, wo etwas zwischen ihren Fingern klemmte.

»Du rauchst?«, fragte Bel, während sie hinaufkletterte und sich neben sie hockte.

»Wie kommst du darauf?« Carter hob die Zigarette an ihre Lippen.

»Seit wann?«

»Seit gestern.« Carter hustete. »Sag meiner Mom nichts. Die ist aus ihrer Handtasche.«

»Ich erzähle niemandem irgendwas«, versprach Bel und rückte näher, bis sich ihre Knie berührten. »Gib mal kurz.«

Carter reichte ihr die Zigarette zwischen zwei dünnen Fingern.

»Danke.« Bel schob das Ende zwischen ihre Lippen und nahm einen tiefen Zug, drückte sie an der Mauer aus und ließ sie ins Gras unten fallen.

»Ey!« Carter sah sie genervt an. »Ich habe dich schon ganz oft rauchen gesehen!«

»Tja, aber du bist besser als ich. Und du bist fünfzehn.« Bel klopfte ihr auf den Rücken, was so gar nicht nicht bevormundend war. Schließlich war das ihr Job als ältere Cousine.

»Scheiße«, fauchte Carter.

Bel zog ihre Hand zurück. »Wie geht es deinen Füßen heute?«

Carter schaute nach unten zu den schwarzen Converse an ihren nackten Beinen und bewegte die Wadenmuskeln.

»Die sind abgefuckt, aber okay.«

»Sind wir das nicht alle?«, sagte Bel grinsend und wollte Carter unter dem Arm kitzeln, weil sie dort besonders kitzlig war. Doch Carter sah es kommen und schlug ihre Hand weg. Es war stärker als nötig, sodass Haut auf Haut klatschte, Knochen auf Knochen.

»Aua!«, kicherte Bel und hielt sich ihre Hand. »Wir sind auf einem Friedhof, da darfst du nicht hauen. Hab Achtung vor den Toten.«

»Fick dich.« Carter lächelte.

»Und beschissenes Fluchen gehört sich auch nicht.«

»Na, das hast du mir beigebracht«, konterte Carter.

Manchmal wurden sie irrtümlich für Schwestern gehalten. Dabei sahen sie sich nicht sehr ähnlich. Carter hatte ohne Frage all die guten Gene von ihrer Seite der Familie abbekommen. Doch sie waren zusammen aufgewachsen und sich fast so nahe wie Schwestern. Bel und ihr Dad wohnten in Nummer 33 Milton Street, sein Bruder Jeff mit Tante Sherry und Carter in Nummer 19. Also quasi buchstäblich einen Steinwurf entfernt; oder ein paar Steinwürfe. Carter und Bel hatten es getestet. Und natürlich mächtig Ärger bekommen; Ms. Nosy nebenan hatte sie verpetzt.

»Sind sie das?«, fragte Carter und wies mit der spitzen Nase nach vorn. Bel folgte ihrer Blickrichtung. Von hier aus konnte man gerade noch die Front von Bels Haus sehen. Davor hatte ein winziger LEGO-förmiger Van gehalten, aus dem Strichmännchen gleiche Gestalten ausstiegen und Arme und Beine bewegten.

»Die bauen erstmal die Beleuchtung und so auf. Wir müssen bald wieder zurück.«

»Wie war das Interview?« Carter knibbelte an ihren Fingernägeln, um etwas zu tun, da die Zigarette jetzt fort war. Sie bewegte sich immerzu irgendwie, war nie richtig still. Trommelte mit den Fingern oder schwenkte die baumelnden Beine.

»Abgefuckt, aber okay«, wiederholte Bel, was Carter gesagt hatte. »Und dann ist Rachels Mom aufgetaucht.«

»Masshole?« Carter sah sie entsetzt an.

»Mhm.«

Ihre Cousine schnalzte mit der Zunge. Sie verstand all die Worte, die Bel nicht aussprach, als handelte es sich um ihre eigene Sprache.

»Ich weiß nicht, warum die mich in der Doku wollen«, sagte sie. »Ich bin erst nach Tante Rachels Verschwinden geboren und habe sie nicht mal gekannt.«

»Ich kannte sie ja auch nicht«, entgegnete Bel, als wäre dies ein Wettbewerb. »Oh, und ich sollte dich warnen. Einer vom Filmteam, der Kameraassistent, ist der schrägste Vogel, den du je gesehen hast. Buchstäblich das uneheliche Kind eines abgehalfterten Rockstars und eines Clowns. Und ein Loser. Ramsey hat ihm eindeutig bloß den Job gegeben, weil er sein Schwager ist. Falls uns heute langweilig wird, können wir uns über ihn lustig machen.«

»Bel, sei nett.«

Bel zischte und versteckte sich vor der Sonne. »Kann ich nicht. Die brennt.«

Carter schüttelte den Kopf. Ihr entfuhr ein kleines Lachen, das von irgendetwas beschwert war.

»Du bist doch nicht nervös, oder?«, fragte Bel. »Musst du nicht. Gewöhn dich lieber dran, okay? Bald bist du viel zu berühmt, um dich an deine arme alte Cousine zu erinnern.«

»Sorry, wie heißt du noch mal?«

Bel knuffte sie, und diesmal schaffte sie es, Carter zu kitzeln. »Ich dachte, du wartest wenigstens, bis du an der Juilliard angenommen bist und dich nach New York verpisst hast, ehe du mich für immer vergisst.«

Am Ende gingen alle weg. Nicht nur Rachel Price. Leute waren temporär. Das war eine Sache, auf die man zählen konnte: Menschen gingen immer fort, sogar Carter.

»Vielleicht werde ich nicht genommen«, sagte Carter kleinlaut.

»Natürlich wirst du, wenn du es genug willst.« Bel stieß sie an und fühlte Carters Rippen. »Komm jetzt, gehen wir zurück. Dein Publikum wartet!« Die letzten Worte rief sie, um Carter vor all den Toten in Verlegenheit zu bringen, die aus den Gräbern über sie lachten.

In der Milton Street dreiunddreißig wimmelte es bereits von Menschen und Equipment. Große Metalltruhen wurden aufgeklickt, spien Kamerateile und lange Stäbe aus; Lichtwannen lagen in Einzelteilen auf dem Wohnzimmerteppich, und Charlie stakste zwischen allem umher, während er der Crew Kaffeebecher reichte, obwohl keiner von ihnen eine Hand frei hatte, um sie anzunehmen.

Onkel Jeff und Tante Sherry waren schon hier. Kaum betraten Bel und Carter das Haus, zog Sherry ihre Tochter beiseite.

»Ich hatte dir etwas zum Anziehen bereitgelegt, Schatz«, sagte sie. »Es war auf deinem Bett.«

Sherry musste Stunden damit verbracht haben, sich hierfür bereit zu machen: Ihr Haar war zu ordentlichen braunen Locken gedreht, ihre blasse Haut zu einem Beinahe-Orange gepudert, das sich in den Falten um ihre Augen verklumpte, die Wimpern waren dick mit Mascara beschichtet, und Rouge verlieh ihr die Wangenknochen, die Carter von Natur aus besaß.

Jeff tat, was er am besten konnte: im Weg sein.

»Also, Ramsey«, sagte er und folgte dem Mann, der aufzubauen versuchte, bei jedem Schritt. »Könnte ich schon Arbeiten von dir gesehen haben?«

»Ich habe einige Dokumentarfilme gemacht«, antwortete Ramsey und hob ein Kabelknäuel auf. »Vor wenigen Jahren einen über einen Husky in Alaska, der als Schlittenhund gearbeitet hat. Der hieß Snow Dog. Disney hat ihn gekauft.«

»Ah ja«, sagte Jeff, der sich am graumelierten Schopf kratzte. »Mein Freund Bob aus Vermont hatte mal einen Husky. Ich glaube, von dem Film habe ich gehört.«

Nein, hatte er nicht.

»Der Hund ist gestorben, und wir hatten eine echte Schnulze.« Ramsey wich ihm aus, um zu einem der eben aufgestellten Scheinwerfer zu gelangen.

»War es das Letzte, woran du gearbeitet hast?«, fragte Jeff.

Ramsey blickte zur Haustür, dem einzigen Fluchtweg. »Nein, ich habe letztes Jahr noch eine Doku gemacht. Über einen Highschool-Direktor in Millinocket, Maine.«

»Ich glaube, von der habe ich auch gehört!«

Ramsey lächelte. »Du musst an einen anderen Film denken, Kumpel. Der wurde von keinem Sender gekauft. Keiner wird ihn je sehen.«

»Warum das denn nicht?«, fragte Jeff, der den Raum nicht las und die Stimmung um ihn herum nicht erfasste. Allerdings sollte man der Fairness halber sagen, dass hier auch eine Menge los war.

»Ähm …« Mehr sagte Ramsey nicht, sondern schaute sich hilfesuchend um. Er bemerkte Bel. Nein, hier findest du keine Hilfe, Kumpel.

»Ja, Ramsey«, hakte sie nach. »Warum das denn nicht?«

Er verengte die Augen, als wüsste er, dass sie versuchte, ihn in Verlegenheit zu bringen, was er jedoch nur amüsant fand. Vermutlich lernte man jemanden recht gut kennen, wenn man stundenlang mit der Person in einem Raum eingesperrt war und immer wieder dasselbe Gespräch wiederholte. Vielleicht mochte Bel Ramsey doch.

Er gab nach. »Einige der Sender meinten, es fehlte ein menschliches Element. Keine Ahnung, wie sie darauf kamen. Es ging ja nur um Menschen. Richtig viel Handlung und irre Wendungen – das kann man sich nicht ausdenken, ehrlich.« Er schüttelte den Kopf. »Doch sie fanden eben, dass etwas fehlte.«

»Aha.« Jeff war immer noch dabei. »Ein Jammer. Hast du schon einen Sender für Das Verschwinden der Rachel Price?«

»Noch nicht.« Ramsey lächelte. »Aber den werden wir haben. Es ist eine unglaubliche Geschichte.«

»Richtig viel Handlung und irre Wendungen«, bemerkte Bel.

Er salutierte ihr mit einem Kameraobjektiv in der Hand.

Jeff war noch nicht fertig mit Ramsey, aber Bel blendete ihn aus, als ihr Dad kam und ihr einen Kaffee anbot. In seinem Lieblingsbecher mit dem Weihnachtsmanngesicht darauf.

»Übrigens guckt Ms. Nosy von draußen zu«, sagte sie und nahm den Becher, dessen Farboberfläche einige Sprünge aufwies. Der Weihnachtsmann trug Spuren Tausender Weihnachten auf seiner Porzellanhaut.

»Ms. Nelson, Bel«, korrigierte Charlie und hob mit einem Finger ihr Kinn an und drehte ihr Gesicht zu sich. »Bevor ich es vergesse, du hattest die Mülltonne heute Morgen nicht richtig verschlossen. Du musst sie mit dem Tau fest zubinden, denk dran, es ist Schw…«

»Schwarzbärensaison, ich weiß«, fiel sie ihm ins Wort. Sie meinte, sich daran zu erinnern, das Bungeeseil richtig festgehakt zu haben. Aber das musste ein anderes Mal gewesen sein. »Tut mir leid.«

»Dein Glück, dass dein Daddy hier ist, um Bären zu verscheuchen.«

»Hey, ich bin die Fiese«, erwiderte sie beleidigt. »Das Verscheuchen übernehme ich.«

Charlie grinste sie an, drehte sich dann um und schlug Jeff auf den Rücken. Beide hatten zufällig dunkelgrüne Pullover und Jeans an.

»Jefferson, hör auf, Ramsey ein Ohr abzukauen. Lass ihn seine Arbeit machen.«

Obwohl Jeff drei Jahre älter war, hörte er auf seinen Bruder und machte sich auf die Suche nach jemand anderem, den er nerven konnte.

»Wann kommt dein Dad?«, fragte Ramsey, der noch mehr Kabel in den Händen hielt, an Charlie gewandt.

Charlie blickte auf seine Uhr. »Der Pfleger müsste jeden Moment mit ihm hier sein. Sie hatten einen etwas schwierigen Morgen.«

»Prima. Wir sind fast bereit. James, wo ist das HDMI-Kabel hin?«

»Ich könnte jetzt allen die Mikros anstecken«, meldete sich Saba, die aus dem Chaos auftauchte. »Ash, du nimmst Charlie und Bel, ich die anderen.«

Ash richtete sich hinter der größten Metalltruhe auf. Er trug ein weißes T-Shirt mit lauter Cartoon-Erdbeeren drauf unter einem Jeanshemd, das er in eine etwas dunklere Jeans gesteckt hatte. Natürlich mit Schlag, falls sich jemand das gefragt hat.

»Ich ziehe nur schnell einen anderen Pullover an«, verkündete Charlie und verschwand in den Flur.

»Bitte keine Streifen«, rief Ramsey ihm nach.

»Hallo.« Ash kam zu Bel geschlurft und packte ein Mikrofonset aus. »Kann ich?«

»Kannst du?«, erwiderte Bel und breitete die Arme aus wie eine Vogelscheuche, als wollte er sie abklopfen.

»Ich klemme das hier nur erst an.«

Ash trat vor, sodass sein Gesicht viel zu nahe an Bels war. Sein Atem war warm und minzig. Er hatte grüne Augen, was ihr vorher nicht aufgefallen war. Ein leicht bräunliches Grün, wie der Rasen eines Footballfelds. Er klemmte das winzige Mikrofon an den Kragen ihres Baseball-Shirts und wickelte das Kabel ab.

»Jetzt muss das da drunter versteckt werden«, sagte er und nickte unsicher vorn auf ihr Shirt. Vorsichtig zog er den Kragen nach vorn und schaute zur Seite, als er das kleine Kästchen unter das Shirt steckte und Kabel nachfütterte, während es über Bels Brust glitt.

»Also«, sagte er, »magst du lieber Äpfel oder Bananen?«

»Hä?«, fragte Bel.

»Na, es ist ein bisschen komisch, wenn ich so an dir herumfummle, deshalb dachte ich, ich mache Konversation«, erklärte er, als der kleine Transmitter schon unten am Saum ihres Shirts auftauchte.

»Konversation machen, ja?«, wiederholte sie. Ihre Haut kribbelte von dem kalten Kabel.

»Na, es hat doch geklappt. Wir unterhalten uns.« Er hielt den Transmitter in die Höhe. »Jetzt muss das hinten an dir angeklemmt werden. Hast du da eine Hosentasche oder so?«

Bel drehte sich für ihn um.

»Müssen wir nicht mehr Konversation machen, wenn du meinen Hintern anfassen willst?«

»Oh, ich habe heute Morgen einen Elch gesehen«, sagte Ash, der sich an ihrer Gesäßtasche zu schaffen machte. »Der war riesig.«

»Tja, du bist in New Hampshire.«

»Okay, du bist verkabelt.«

Bel drehte sich zurück zu Ash und musterte ihn von oben bis unten, ohne den Kopf zu bewegen.

»Doppelt Denim«, bemerkte sie.

»Oh, danke«, antwortete er und klopfte auf seine Kleidung.

»Das war kein Kompliment.«

»Wo ist das HDMI-Kabel?«, ertönte Ramseys Stimme nun verzweifelter.

»Ich habe es drüben hingelegt«, rief Ash und zeigte über Bels Schulter. »Beim Stat.«

»Stat?«, fragte Bel ihn.

»Stativ«, erklärte er. »Ich habe es abgekürzt. Man gewinnt jedes Mal eine Sekunde, wenn man abkürzt. Und die Sekunden summieren sich am Ende. Zeit ist Geld, meine Gute.«

»Und dennoch hast du eben neun mehr vergeudet, um es zu erklären.«

»Oh, stimmt.« Er blickte konzentriert auf seine Finger, als zählte er etwas an ihnen ab.

Bel verengte die Augen. »Du bist kein echter Mensch, oder?«

Er zuckte mit den Schultern, blickte sie vollkommen ungerührt an und lächelte unbekümmert. Es war nicht die Reaktion, die sie erwartet hatte.

»Ich werde mal … da rübergehen«, sagte sie. Wenn er nicht ging, tat sie es eben.

»Oh, warte. Lass mich dich noch anmachen!«, rief Ash, weil es um sie herum so laut im Zimmer war.

Bel merkte, wie sie wider Willen rot wurde.

»Hä?« Ihre Stimme klang etwas atemlos und komisch.

»Dein Mikro«, sagte Ash mit einem fast wissenden Lächeln und nestelte abermals an Bels Gesäßtasche. Verdammt, wusste er, welches Spiel sie trieb? Er könnte sogar besser darin sein als sie. Bel hatte ihn unterschätzt. Sie müsste noch unfreundlicher sein, wenn sie gewinnen wollte.

»Fertig, du kannst loslegen.« Ash richtete sich auf, und da war immer noch dasselbe Grinsen. Echt, er nervte.

Wortlos ging Bel weg. Hatte man nichts Unnettes zu sagen, sagte man überhaupt nichts.

Ihr Dad kam die Treppe herunter, jetzt in einem dunkelblauen Pullover, als an die Seitentür geklopft wurde, wo er eine Rampe angebaut hatte.

»Das werden Yordan und Grandpa sein.« Er eilte zur Tür, um sie zu begrüßen.

»Okay, Price-Familie, können alle zum Sofa gehen?«, rief Ramsey. »Wir sind bereit anzufangen.«

»Addiert die Kamera wirklich zehn Pfund?«, fragte Tante Sherry ihn, die zwischen Charlie und Jeff auf dem waldgrünen Sofa saß und in die Kamera starrte.

»Du siehst großartig aus, Sherry«, antwortete Ramsey von hinter der Kamera und blickte auf den Monitor. »Wenn sich die Mädchen jetzt vor das Sofa setzen könnten. Ja, genau so, in die Lücken. Perfekt.«

Jemand drückte Bels Schulter; es war Dad.

»Carter«, flüsterte Sherry, »nimm die Beine zur Seite, Schatz. Nein, ja, so. Das ist gut.«

»Dad, fass das nicht an. Das ist dein Mikrofon«, sagte Charlie. Grandpas Rollstuhl stand neben dem Sofa, sodass er es optisch verlängerte.

Yordan, der Pfleger, hielt sich unsicher im Hintergrund, er hatte sich hinter die Crew zurückgezogen. Sein dunkles Haar war sehr kurzrasiert, sein Bart hingegen weniger. Grandpa beschwerte sich dauernd, dass Yordan sich nicht rasierte. Jedenfalls an Tagen, an denen er sich erinnerte, wer er war.

»Alles gut?«, fragte Ramsey, wobei er Charlie ansah.

»Fürs Erste.« Charlie nickte. »Ich lasse Yordan meinen Dad nach Hause bringen, wenn es zu viel für ihn wird.«

»Natürlich. Vielen Dank, dass Sie sich zu uns gesellen, Patrick«, sagte Ramsey laut und mit klaren Pausen zwischen den Worten.

Grandpa wies mit einem zitternden Finger auf ihn. »Sie sind der Filmemacher aus L-L-London.«

»Ja, der bin ich.« Ramsey lächelte. Man sollte nicht meinen, dass sie exakt dieses Gespräch vor Minuten bereits geführt hatten. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Ich bin nie in London gewesen«, sagte Grandpa. »Oder?« Er sah Charlie an.

»Wir können alle mal zusammen hinreisen, Pat.« Sherry neigte sich vor. »Und Carter mit dem Royal Ballet auftreten sehen.«

Ah, also war es jetzt London? Noch weiter weg als New York.

»Mom, du verwirrst Paw-Paw«, sagte Carter leise.

Paw-Paw war zuerst Bels Name für ihren Grandpa gewesen, als sie noch ein Kleinkind war und zwei unterschiedliche Silben zu viel für sie gewesen waren. Bel wusste nicht, ob vor Rachel oder danach, und Grandpa erinnerte sich wahrscheinlich auch nicht.

»Also, ich habe meinen Laptop an den Fernseher angeschlossen«, sagte Ramsey wieder übertrieben deutlich für Grandpa. »Wir spielen drei Clips von euren alten Heimvideos vor, vielen Dank an Charlie und Jeff, dass ihr uns die geschickt habt. Ich möchte, dass ihr sie euch gemeinsam anseht, als Familie, und einfach reagiert. Natürlich. Erzählt mir, wie ihr euch dabei fühlt, auch von Erinnerungen an Rachel, von denen ihr erzählen möchtet. Ich stelle hier und da Fragen. Klingt das gut?«

»Klingt gut«, antwortete Charlie für die Familie. Was günstig war, denn für Bel klang es ganz und gar nicht gut. Sie war nicht sicher, ob sie diese Heimvideos jemals gesehen hatte oder ob sie es wollte, während eine Kamera auf sie gerichtet war. Carter pikte ihr in die Rippen, und sie setzte sich gerader hin.

»Kamera?«, fragte Ramsey, der zurücktrat, um nicht im Bild zu sein.

»Läuft«, antwortete James.

»Ash?«

Ash kam mit der schwarzweißen Klappe vor. Heute hieß die Szene: Reise in die Vergangenheit.

Ash knallte mit der Klappe.

Bei dem Geräusch zuckte Grandpa zusammen.

»Der erste Clip ist von Weihnachten 2007«, sagte Ramsey, der vor dem an den Fernseher gestöpselten Laptop hockte. Dort erschien dasselbe Bild. »Sieben Wochen vor Rachels Verschwinden.«

Er drückte »Play«, und der Fernseher erwachte zum Leben.

Da war sie: Rachel Price.

Genauso wie sie auf dem Foto aussah, das sie für die Vermisstenplakate benutzt hatten. Ein breites Lächeln, das ihr Kinn spitz machte; dunkle graublaue Augen, langes goldblondes Haar, beinahe so lang wie Carters heute. Sie hatte eine Pudelmütze auf, sodass das kleine Geburtsmal rechts oben auf ihrer Stirn verdeckt war, das wie ein flacher Kreis aus braunen Sommersprossen aussah. Ein besonderes Merkmal, um sie zu identifizieren, sollte eine Leiche gefunden werden, was nie geschehen war.

Rachel wirkte jung, stellte Bel fest, als sie nun darüber nachdachte; und sie war nicht viel älter geworden. Rachel Price unverschwunden. Vor dem Verschwinden. In einem langen grauen Mantel im Schnee stehend. Demselben Mantel, den sie im Auto zurückgelassen hatte.

Rachels Augen waren verengt und ihr Blick direkt auf Bel gerichtet. In Bel hinein.

Sie fröstelte, und die kleinen Härchen auf ihren Armen richteten sich auf, aber das würde sie sich nicht anmerken lassen.

Nicht vor der Kamera.

Nicht vor Rachel.

Vier

Rachel Price wieder lebendig, zurückgebracht durch die Zeit, mit Lippen, die ihre Zähne entblößten, als sie in der Kälte lächelte.

»Jeff«, sagte sie in einer Stimme, die beinahe real klang. »Nimmst du auf?«

»Wie kommst du darauf?«, ertönte Jeffs Stimme verzerrt und knisternd, weil er zu dicht am Mikrofon war. »Etwa wegen der Kamera in meiner Hand?«

Der heutige Jeff lachte über seinen eigenen Witz.

Der Aufnahmewinkel veränderte sich, als der frühere Jeff vortrat. Und nun sah Bel ein dick eingepacktes Baby in Rachels Armbeuge, der Körper nahtlos an sie geschmiegt und tief und fest schlafend. Nicht irgendein Baby. Das war Bel, so viel wusste sie, dennoch fühlte sie sich losgelöst von dem kleinen schlafenden Kind; sie entstammten zwei verschiedenen Welten.

»Sieh einer dich an«, sagte die heutige Sherry, während ihre frühere Version gleichzeitig sprach: »Ich gebe jetzt auf, wenn mir keiner bei diesem Schneemann hilft!«

Die jüngere Sherry kam ins Bild, und das Geräusch von stapfenden Schritten im Schnee folgte ihr. Auch Charlie erschien. Alle waren in dicke Wintersachen, Handschuhe und Mützen gehüllt, die ihre frostpinken Gesichter zur Hälfte verschluckten.

Ein Schneeball explodierte auf Sherrys Brust, sodass weißes Pulver auf ihr Kinn sprühte.

»Jeff, ich bring dich um!«, knurrte sie in die Kamera. »Du hättest das Baby treffen können!«

»Anna geht’s gut.« Rachel lächelte mit leuchtenden Augen zu dem Baby. »Sie verschläft alles.«

Für einen Moment vergaß Bel, dass sie das war; der erste Teil ihres Namens, den sie vor Jahren amputiert hatte. Sie hatte nicht gewusst, dass Rachel sie Anna genannt hatte. Das hatte ihr nie jemand erzählt.

»Na los, Charlie, Jeff. Spring mal einer von euch drauf!« Das war Grandpas Stimme – älter, aber jünger. Er klang noch wie er selbst; das fehlte Bel. Die Kamera schwenkte zu ihm, zeigte, wie er auf einem blauen Schlitten saß, der viel zu klein für ihn war, von zwei erwachsenen Männern ganz zu schweigen.