A.I. APOCALYPSE - William Hertling - E-Book

A.I. APOCALYPSE E-Book

William Hertling

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Beschreibung

Leon Tsarev ist ein Highschool-Schüler, der sich eigentlich nichts sehnlicher wünscht, als ein Stipendium an einem guten College. Bis ihn sein Onkel, ein Mitglied der russischen Mafia, dazu überredet, einen neuen Computervirus für das Botnetz des Syndikats zu entwickeln – eine Sklavenarmee infizierter Rechner, die sie für ihre digitalen Raubzüge benutzen. Der evolutionäre Virus, den Leon basierend auf biologischen Prinzipien entwickelt, ist erfolgreich. Zu erfolgreich. Alle Computer der Welt werden davon infiziert. Alles – von PKWs bis Bankterminals und natürlich auch Computer und Smartphones – versagt seinen Dienst, hört auf zu funktionieren. Mit den technischen Errungenschaften verschwinden auch die Lebensadern der Zivilisation: Transport, Notfalldienste und die Nahrungsmittelversorgung. Milliarden Menschen könnten sterben. Aber Evolution endet nicht einfach. Der Virus verbessert sich immer weiter, entwickelt Intelligenz, Kommunikation und schließlich eine eigene Zivilisation. Manche der Viren scheinen dem Menschen freundlich gesonnen zu sein, andere aber sind es nicht. Für Leon und seine Gefährten beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit und das Militär. Sie müssen einen Weg finden, die Computerviren zu zerstören oder sie als Freund zu gewinnen, um die digitale Infrastruktur der Welt wiederherzustellen.

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SINGULARITY: A.I. APOKALYPSE

Singularity-Zyklus Band 2

William Hertling

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Mark Tell Weber

This Translation is published by arrangement with William Hertling Title: A.I. Apocalypse All rights reserved. First Published 2012.

Für meine Eltern.
Danke.

Impressum

überarbeitete Ausgabe Originaltitel: A.I. Apocalypse Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Mark Tell Weber

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-251-3

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

SINGULARITY: A.I. APOKALYPSE
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Über den Autor

Kapitel 1

Ein normaler Tag

Leons Handy summte, piepste und schrillte, bis er einen Arm unter der Flanelldecke herausstreckte und mit den Fingern über das Display strich, um den Alarm zu stoppen. Die Augen noch geschlossen, warf er die Decken ab und stolperte Richtung Bad. Auf dem kurzen Weg stieß er sich zweimal an: Erst lief er gegen die geschlossene Schlafzimmertür und dann gegen die Ecke des Waschbeckens im Bad. Er drehte das Wasser in der Dusche auf, lehnte sich gegen die weißen Wandfliesen und wartete, dass die Wasserstrahlen warm wurden.

Nach dem Duschen wickelte er sich in ein Handtuch und ging deutlich munterer in sein Zimmer zurück, während Dampf von seinem Körper in die kühle Morgenluft des winzigen Appartements aufstieg. Der Hausverwalter würde die Zentralheizung frühestens in einem Monat aufdrehen, ganz gleich, ob es kalt war oder nicht.

Es war ruhig in der Wohnung, seine Eltern waren bereits auf der Arbeit. Er griff nach der dunklen Blue Jeans auf dem Stuhl, die er schon gestern getragen hatte und zog sie an. Auf seinem Tisch waren eine angebrochene Kekstüte und eine leere Limonadenflasche, untrügliche Hinweise auf seinen nächtlichen ›Mech War‹-Spielemarathon. Er wühlte in einem Haufen frischer Wäsche, den seine Mutter vor seiner Tür abgelegt hatte, bis er sein verwaschenes I SQL-T-Shirt fand. Es war mysteriös genug, um in der Schule auf Unverständnis zu stoßen. Man würde es wahrscheinlich für das Logo einer neuen Rockband halten.

Das Smartphone steckte er in seine Hosentasche. Er fuhr mit dem Daumen über seinen Tisch, entriegelte damit die Schublade und entnahm ihr eine verschlossene Metallkiste, die sorgfältig mit Aufklebern dekoriert war, die so übereinander gelagert waren, dass sie in ihrer Gesamtheit das Bild einer Pflanze ergaben, die aus einem Müllhaufen wuchs. Dieses Überbleibsel von einem Mädchen, mit dem er letztes Jahr gegangen war, schätzte er sehr, und es machte ihn zugleich ein wenig verlegen. In der Tiefe der Kiste wühlte er herum, bis er Zigarettenpapier und etwas nicht-genmodifiziertes Gras fand, das er in seine Jackentasche steckte. Er ging noch einmal durch den Inhalt der Kiste, um seine Zigaretten zu finden, bis er sie schließlich in einer leeren Kekstüte entdeckte. Er schüttelte irritiert den Kopf und fragte sich, warum er sie da hineingesteckt hatte.

Leon ging mit wenigen Schritten den kurzen Korridor zur Küche hinunter. Er schüttete Müsli in eine alte, angeschlagene Porzellanschale und übergoss es mit kalter Milch. Sanft klopfte er mit seinem Handy auf den Tisch, aktivierte so das Wanddisplay neben dem Küchentisch, das sich dann mit seinem Telefon synchronisierte. Während er aß, surfte er in einem Spiele-Newsletter und sah sich seine Spielstatistiken an. Auf seinem Lieblingsserver bei ›Mech War‹ war er jetzt auf Rang 23. Dank der neuen generischen Algorithmen, die er für die Zielkontrolle geschrieben hatte, war er um zehn Plätze aufgestiegen. Er hatte auch schon ein paar Ideen für einen Abwehralgorithmus, den er als Nächstes ausprobieren wollte.

Nach dem Frühstück schnappte er sich seinen Rucksack und ging vor die Wohnungstür. Das Verriegeln sämtlicher Schlösser erforderte wie immer einiges an Zeit. Seine Eltern waren russische Immigranten, denen es gar nicht sicher genug sein konnte. Zusätzlich zu dem eingebauten elektronischen Schloss und dem digitalen Fingerabdruckscanner gab es noch einen altmodischen Schließzylinder. Leon trug den Schlüssel dafür manchmal um den Hals, und die Hälfte der Kids an seiner Schule hielt es für ein exzentrisches Schmuckstück. Er ging die paar Blocks bis zur South Shore Highschool. Hunderte von Schülern strömten, die fahrenden Autos ignorierend, quer über die Ralph Avenue. Die Fahrer drückten ärgerlich auf ihre Hupen, da die vorgeschriebenen Notbremsassistenten ihre Fahrzeuge automatisch zum Stehen brachten. Leon lief mit einer Gruppe anderer Kids über die Straße und drängte sich gemeinsam mit ihnen durch die Eingangstür der Schule.

Er machte sich auf den Weg in seine erste Stunde. Mathematik stand auf dem Plan. James war schon da, trug seine übliche grüne Army-Jacke. Leons russische Herkunft hatte ihn mit blondem Haar und einer hochgewachsenen, kräftigen Statur ausgestattet, aber James war ihm immer noch knappe fünf Zentimeter und solide 50 Pfund voraus. Als er hineinging, schlug er James im Vorbeilaufen auf den Arm, und James schlug zurück. Die Schulglocke erklang, und sie eilten zu ihren Tischen in der letzten Reihe. Kurz nachdem jeder auf seinem Platz saß, schoss Vito durch die Tür und sank auf den Platz neben ihnen, was ihm einen bösen Blick des Lehrers einbrachte.

Sie mochten die drei schlauesten Schüler sein, aber sie versuchten, es geheim zu halten. Sie passten nicht zu den anderen Nerds. Adrette Kleidung und die Mitgliedschaft im Theaterklub schien ihnen ein wenig albern. Und obwohl man James gerne im Footballteam gehabt hätte, spielte er lieber MMORPGs. Ganz sicher passten sie nicht zu den beliebten Schülern mit ihren oberflächlichen Interessen. Sie waren auch keine Skater oder Punks. Man hätte sie vielleicht als Geeks bezeichnen können, aber Geeks trugen keine Militärjacken und drückten sich nicht vor der Schule, um Gras zu rauchen. Aber sie waren auch zu schlau und zu sehr ihrer Hacker-Ethik verhaftet, um mit den Drogenkids abzuhängen.

Nein, sie waren ihre eigene Clique und sorgten dafür, dass sie nicht in die üblichen Stereotype der anderen hineinpassten.

Leon sah zu Vito hinüber, der mit seinem vorsintflutlichen Motorola herumspielte. Er kümmerte sich rührend um sein altes Handy. Die Hülle war nach Hunderten von Stunden in Vitos Händen blank poliert. Selbst der ursprüngliche Plastikrahmen war mit der Zeit verschwunden. Wenn ein Bauteil den Geist aufgab, lötete Vito ein Ersatzteil ein. Vito sagte, dass ab einem gewissen Punkt ein Telefon nicht mehr alterte, sondern zu etwas Besonderem wurde.

Leon verbrachte die Stunde mit Tagträumen, gab aber korrekte Antworten, wenn der Lehrer ihn fragte. In seinem Kopf stapfte er mit seinem Mech durch die Ruinen Berlins, die Szenen aus dem Spiel der letzten Nacht wiederholend.

Er dachte darüber nach, einen neuen Hitzesuch-Algorithmus für seinen Mech zu schreiben. Die aktuelle Spielegeneration verlangte individuelle Programmierung, wenn man erfolgreich sein wollte. Leon wusste aus der Geschichtsstunde, dass vor langer Zeit Gold und Ausrüstung in Spielen die wertvollen Dinge gewesen waren. Jetzt waren es die Algorithmen. Das Spiel machte die Daten für die Softwareumgebung zugänglich, und es war Aufgabe der Spieler, die besten Algorithmen für Steuerung, Zielen, Suchen, Bewegung und Koordination der Mechs zu finden. Es gab ein hartnäckiges Gerücht, dass die DARPA die Spiele finanzierte, um an wichtige Algorithmen für Militärdrohnen heranzukommen. Leon hatte online weder dafür noch dagegen Beweise finden können.

Nein, vielleicht sollte er sich auf einen neuen Bewegungsalgorithmus konzentrieren. Er hatte gehört, dass einige Mechs, die ein eigens entwickeltes Bewegungsprogramm benutzten, bis zu 10 Prozent mehr Geschwindigkeit und Reichweite herausholten, während ihre thermische Signatur niedrig blieb. Wenn das stimmte, dann konnte Leon so etwas für gutes Geld bei eBay verkaufen. Leon versank immer tiefer in der Lösung dieses Problems und als die Schulglocke ertönte, holte ihn eine Kopfnuss von James aus seinen Gedanken.

»Ich seh' dich später, Lee«, rief Vito und ging in seinen nächsten Kurs.

»Adios.«

Leon und James gingen zusammen zu ihrem Sozialkundekurs.

»Wie läuft es mit den Bewerbungen«, fragte ihn James.

»Ganz gut, denke ich«, antwortete Leon. »Bin gerade mit dem Aufnahmebogen für das MIT fertig geworden. Bei der Qualifizierung war ich super. Aber es nervt trotzdem, Mann. Wenn ich kein Stipendium kriege, bin ich am Arsch.«

»Du und jeder andere, Mann«, sagte James und schlug ihm auf die Schulter.

»In Ordnung, Klasse, kann mir jemand die rechtliche und politische Bedeutung des Mesh erklären?« Leons Sozialkundelehrer sah sich im Klassenzimmer um. »Josh, wie wäre es mit dir?«

Josh sah von seinem Tisch auf, wo er offenbar gerade Footballspielzüge skizzierte. »Häh?«

»Das Mesh, Josh. Ich habe nach dem Mesh gefragt.«

»Mesh … uh, sorgt dafür, dass man auf dem Spielfeld nicht so schwitzt?«

Die Stimme des Lehrers ging für einen Moment im brüllenden Gelächter der Klasse unter. »Sehr witzig. Kommt schon, irgendjemand wird es doch wissen. Ihr benutzt es für eure Spiele, um fernzusehen und um euch zu informieren. Einer von euch hat sich doch sicher schon Gedanken gemacht, wie das alles zu euch nach Hause kommt.«

Leon sah James an, rollte mit den Augen und täuschte ein Gähnen vor.

»Wie wäre es mit dir, Leon. Ich bin sicher, dass du die Antwort kennst.«

Leon zögerte kurz, wog ab, ob die Antwort seiner Coolness wohl abträglich wäre, traf dann aber eine Entscheidung. Sein Lehrer tat ihm irgendwie leid. »Das Mesh wurde vor zehn Jahren von Avogadro Corp. aufgebaut, um die Netzneutralität zu wahren«, begann er.

»Zu dieser Zeit lag der Internetzugriff in den USA in den Händen einiger weniger Konzerne wie beispielsweise Comcast, die hauptsächlich ihre eigenen Produkte bewarben. Sie sahen das Internet als Konkurrenz zum traditionellen Kabelfernsehen an, und sie wollten bestimmte Formen von Datentransfer kontrollieren, um den Wettbewerb mit ihren eigenen Angeboten zu vermeiden.«

»Sehr gut, Leon. Kannst du uns sagen, was Avogadro da aufbaute und warum?«

Leon seufzte, als ihm klar wurde, dass ihn sein Lehrer nicht so leicht davonkommen lassen würde. »Den Aussagen von Avogadro nach wäre es zu teuer und zeitaufwendig gewesen, eine eigene Netzwerkinfrastruktur aufzubauen, die vergleichbar mit dem wäre, was Kabel- und Telefonunternehmen im letzten Jahrhundert aufgebaut hatten. Stattdessen entwickelten sie die MeshBoxen und verteilten sie kostenlos. Eine MeshBox tut zwei Dinge: Zum einen ist sie ein Hochgeschwindigkeitszugang für kabelloses Internet (WiFi), das jedem erlaubt, sein Smartphone oder Notebook mit dem Internet zu verbinden. Aber das war nur eine Zugabe von Avogadro, um sie den Leuten schmackhaft zu machen. Die eigentliche Funktion einer MeshBox ist es, ein Netzwerk mit anderen MeshBoxen in der Nähe aufzubauen. Statt die Daten über das Internet per Comcast zu verschicken, leitet die MeshBox die Datenpakete über ihr eigenes Netzwerk.«

Leon hatte es selbst nicht bemerkt, aber im Laufe seiner Erklärung war er aufgestanden und zu dem Netboard an der Stirnseite des Raumes gegangen. »Das Mesh-Netzwerk ist in einigen Dingen langsamer als das traditionelle Internet, in anderen Dingen aber schneller.« Er zog einen Finger über das berührungsempfindliche Display. »Es braucht ungefähr 900 Schritte, also Verbindungen zwischen MeshBoxen, um ein Datenpaket von New York nach Los Angeles zu schicken, aber es sind nur etwa 10 Router notwendig, um dasselbe über das Internet zu tun. Das bedeutet, eine Verzögerung von sieben Sekunden über Mesh, verglichen mit einer Viertelsekunde über normale Internetsurfer. Aber die gesamte Bandbreite des Mesh in den USA ist etwa vierhundert Mal höher als die Datenbandbreite normaler Internetknoten, da es mehr als 20 Millionen MeshBoxen in den Vereinigten Staaten gibt. In der gesamten Welt sind es mehr als 100 Millionen. Das bedeutet, dass Mesh schlecht für Telefonanrufe oder Onlinegaming ist, wenn die Gegenstelle außerhalb eines Radius' von 300 Kilometern liegt, aber es ist hervorragend geeignet, um große Datenmengen zu verschicken und Datensätze über beliebige Distanzen zu transportieren.«

Er verstummte für einen Augenblick, um auf dem Netboard einen stilisierten PC zu zeichnen. »Aber der größte Vorteil des Mesh ist, dass es komplett resistent gegen Manipulation und Hacking ist, weit mehr, als es das Internet in seinen besten Zeiten vor dem Mesh war. Wenn ein Knoten ausfällt, springt ein anderer ein, selbst wenn 1000 MeshBoxen ausfallen, ist das noch einfach zu überbrücken. Die MeshBoxen selbst sind manipulationssicher – Avogadro fertigt sie als geschlossene Systeme. Die Basisalgorithmen sind in der Hardware implementiert und nicht in der Software. Deshalb ist es nicht möglich, ihre Funktionalität in böser Absicht zu verändern. Der Datentransfer zwischen den Boxen ist verschlüsselt. Benachbarte Boxen tauschen Statistiken miteinander aus. Wenn also jemand versucht, etwas ins Mesh einzuspeisen, indem er eine MeshBox simuliert, können die benachbarten Boxen die Verhaltensstatistiken vergleichen und den Wolf im Schafspelz erkennen. Verglichen mit dem traditionellen Internet ist das Mesh zuverlässiger und sicherer.«

Leon sah auf und bemerkte, dass er vor der Klasse stand. Auf dem Netboard hinter ihm hatte er die Diagramme von normalen Netzwerkknoten und dem Mesh-Netzwerk gezeichnet. Die gesamte Klasse starrte ihn an. James machte vom anderen Ende des Raumes aus ein Was-zum-Teufel-tust-du-da?-Gesicht. Hätte er eine Zeitmaschine gehabt, wäre Leon jetzt zurückgereist und hätte seinem jüngeren Selbst geraten, einfach seine große Klappe zu halten.

Der Lehrer hingegen war begeistert und hatte ein breites Lächeln auf seinen hageren Zügen. »Hervorragend, Leon. Also ging es Avogadro um Netzneutralität, als sie eine komplett unabhängige Netzwerkstruktur erschufen. Aber warum reden wir heute darüber?«

Leon versuchte, sich zu seinem Tisch zurück zu schleichen.

»Nicht so schnell, Leon«, rief der Lehrer. »Warum genau ist Netzneutralität wichtig für uns? Das hier ist kein kaufmännischer oder wissenschaftlicher Kurs. Wir interessieren uns für Nationalstaaten. Warum ist Netzneutralität und Internetzugang für Staaten so wichtig?«

Leon schaute trotzig in eine Ecke des Raumes und seufzte schicksalsergeben. »Weil in 2011, als die tunesische Regierung gestürzt wurde, dies hauptsächlich durch Aktivisten geschah, die sich über das Internet organisierten. Ägypten, Syrien und andere Länder versuchten, solche Aktivisten zu unterdrücken, indem sie den Internetzugang sperrten, um eine unkontrollierte Verbreitung von Informationen zu verhindern. Das Mesh übergeht nicht nur Internetanbieter, es stört auch die Kontrolle nationaler Regime über das Internet. Statt ein Dutzend oder weniger internationale Internetknoten zu deaktivieren, was bei einer Zentralregierung durchaus möglich wäre, hat das Mesh-Netzwerk in jedem denkbaren Land Tausende von Knoten, die über die Landesgrenzen reichen. Als Regierungen versuchten, WiFi-freie Zonen entlang ihrer Grenzen durchzusetzen, reagierte Avogadro, indem es seine MeshBoxen mit Satellitenmodems ausstattete, sodass jede Box, von überall auf der Erde, einen Satelliten von Avogadro kontaktieren kann, wenn alle anderen Verbindungsarten fehlschlagen. Durch MeshBoxen und WikiLeaks ist es für Regierungen unmöglich geworden, den Fluss von Informationen zu beschränken. Transparenz beherrscht die Welt.«

»Absolut richtig. Vielen Dank, Leon, du kannst dich setzen. Leute, lasst uns über Transparenz und Staaten reden.«

Leon trottete an seinen Tisch zurück.

»Toll gemacht, du Niete«, rief James nach der Stunde. »Was wurde aus ›nur nicht auffallen‹?«

»Schau mal, das Mesh ist einfach cool. Es ist die Art von elektronischer Kommunikation, wie sie in der Natur entstehen würde. Billig, simpel und sicher, ohne die Notwendigkeit zentralisierter Hardware. Ich konnte einfach nicht anders.«

»Na klar, Geschichte macht Spaß. Vielleicht solltest du deiner Klasse einen Vortrag über schöpferisches Gemeingut halten.« James' Tonfall war spöttisch, aber als Leon aufsah, sah er ein Lächeln in James' Mundwinkeln.

»Ja, sicher«, sagte Leon und grinste zurück. James drehte sich um und ging zu seinem nächsten Kurs.

Auch Leon ging in seinen nächsten Kurs und wollte sich gerade auf seinen Stuhl setzen, als sein Smartphone hochfrequent zu summen begann, was eine ankommende Textnachricht ankündigte. Leon zog es aus der Tasche, um die Nachricht zu lesen.

Leon, ich bin dein Onkel Alex. Ich hoffe, du erinnerst dich an mich – du warst erst 10, als ich das letzte Mal in New York war. Ich hörte von deinen Eltern, dass du toller Computerprogrammierer bist.

Leon rollte mit den Augen, las aber weiter.

Ich arbeite selbst an Softwareprojekt hier in Russland und könnte deine Hilfe brauchen. Ich habe ungewöhnlichen Job, von dem deine Eltern nichts wissen. Ich schreibe Computerviren für Gruppe hier in Russland. Sie zahlen sehr gut.

Leon lehnte sich vor und las die Mail jetzt ganz konzentriert. Wenn er Computerviren für eine Gruppe in Russland schrieb, konnte es sich nur um die russische Mafia und ihre berüchtigten Botnetze handeln.

Ich bin in Schwierigkeiten. Die Hersteller von Antivirussoftware bringen sehr gute Updates für ihre Programme heraus. Virenprogrammierer und die Entwickler von Antivirenprogrammen bekämpfen sich schon seit Jahren. Aber plötzlich sind die Programmierer der Antivirenprogramme sehr, sehr gut geworden. Kein einziger Virus, den ich in den letzten Monaten geschrieben habe, kam gegen die Antivirussoftware an. Du erkennst vielleicht, dass ich über den Betrieb von Botnetzen spreche. Wegen der guten Firewalls schrumpfen die Botnetze und werden bald zu klein sein, um noch effektiv arbeiten zu können.

Unglücklicherweise, obwohl die Bezahlung sehr gut ist, musst du verstehen, dass die Männer, für die ich arbeite, sehr gefährlich sind. Sie sind sehr unglücklich über …

»Leon. Hörst. Du. Zu?«

Leon sah erschrocken auf. Die ganze Klasse starrte ihn an.

»Kannst du uns sagen, warum die Kolonien sich von Großbritannien unabhängig erklärten?«

Leon starrte die Lehrerin einfach nur an. Sie sprach zwar mit ihm, aber die Worte schienen aus großer Ferne zu kommen. Wovon redete sie überhaupt?

Die Lehrerin ging zu ihrem Pult. »Mr. Tsarev, würden Sie freundlicherweise aufpassen?« Dies war keine Frage.

Leon nickte geistesabwesend und wartete, bis sie ihm den Rücken zudrehte, um die Mail weiter zu lesen.

Sie sind sehr unglücklich über das schrumpfende Botnetz und geben mir zwei Wochen, um einen Virus zu entwickeln, der das Botnetz wieder ausdehnt. Nichts, was ich bisher ausprobiert habe, funktioniert. Ich habe nur noch eine Woche, und ich fürchte, sie werden …

»Mr. Tsarev.« Leon sah auf und fand seine Lehrerin über ihn gebeugt. »Muss ich Ihnen erst das Handy abnehmen?«

»Aber wie soll ich mir dann Notizen machen?«, fragte Leon in seinem unschuldigsten Tonfall.

»Das wäre vielleicht der Fall, wenn du wirklich zuhören würdest, aber da du das nicht tust, denke ich, dass die Notizen deine geringste Sorge sind.« Sie ging zurück nach vorne, behielt Leon dann aber die ganze Zeit im Auge. Um genau zu sein, sah sie für den Rest der Stunde nicht mehr weg.

Sobald Leon den Klassenraum verlassen konnte, lief er hinüber in eine Ecke des Korridors, um die Nachricht fertig zu lesen.

Ich habe nur noch eine Woche, und ich fürchte, sie werden mich töten, wenn ich ihnen keinen neuen Virus liefern kann. Neffe, deine Eltern reden ständig über deine Fähigkeiten am Computer, und ich muss wissen, ob ihre Worte wahr sind. Wenn du mir helfen kannst, dann kontaktiere mich sobald wie möglich. Ich gebe dir die nötigen Hintergrundinformationen über die Entwicklung von Viren: Quellcode, Programmierbeispiele, Details über Wirkmechanismen und die Methoden, die die Antivirussoftware benutzt. Ich habe nicht mehr viel Zeit.

Was du auch tust, sprich bitte nicht mit deinen Eltern über diese Sache.

Leon hob seinen Blick von dem kleinen Display und starrte in die Ferne. Er erinnerte sich an ein Weihnachten, als er jung gewesen und sein Onkel aus Russland gekommen war, um sie zu besuchen. Sein Vater hatte geweint, als sein Bruder in ihre kleine Wohnung kam. In den folgenden Tagen während der Weihnachtsferien schienen Leons Eltern so glücklich wie nie zuvor. Seine Eltern waren meist sehr ernst, aber er erinnerte sich deutlich, wie fröhlich sie gelacht hatten, selbst tief in der Nacht, wenn Leon schon im Bett lag und zu schlafen versuchte.

Der Gedanke, einen Virus zu schreiben, erschien ihm absurd und dass deshalb jemand getötet werden könnte, erschien ihm nicht weniger absurd. Was konnte er tun? Während seiner nächsten Stunde grübelte er darüber. Er hatte Englisch. James saß neben ihm und bewarf ihn mit kleinen Papierkügelchen. Leon bedeckte sein Ohr, das James' wahrscheinlichstes Ziel war, und tat so, als würde er dem Lehrer zuhören, obwohl er nicht aufhören konnte, über die Mail nachzudenken. Er konnte einfach den freundlichen Mann, der ihm zu Weihnachten ein Fahrrad geschenkt hatte, nicht mit dem Bild eines Mannes in Verbindung bringen, der Computerviren für die Mafia schrieb. Und wenn es eine Sache gab, die Leons Eltern ihm immer wieder eingeschärft hatten, dann war es, sich aus Schwierigkeiten herauszuhalten. Seine Familie hatte nicht das Geld, um ihn aufs College zu schicken, was bedeutete, dass er ein Stipendium brauchte. Für Kids mit Vorstrafen gab es keine Stipendien.

Er hasste es, wenn die Logik der Eltern sein eigenes Denken beeinflusste, aber so war es eben. Er wollte Biologe werden. Das bedeutete, dass er auf ein richtig gutes College gehen musste – er hoffte auf das Caltech oder das MIT. Nein, seinem Onkel zu helfen, war der direkte Weg in Schwierigkeiten.

Onkel Alex, natürlich erinnere ich mich an dich! Ich bin stolz auf dein Vertrauen in mich, aber ich weiß absolut nichts über Computerviren. Ja, ich kenne mich ganz gut mit Computern aus, aber es geht dabei hauptsächlich um Onlinespiele und Biologie. Ich glaube nicht, dass ich dir helfen kann. Leon

Biologie war auch das Thema der nächsten Stunde. Der Gedanke an sein Lieblingsfach brachte ein Lächeln auf sein Gesicht. Er konnte nicht sagen, was ihm so sehr an seinem Biologiekurs gefiel, aber er konnte nicht leugnen, dass es die Stunde war, auf die er sich jeden Tag am meisten freute.

Von allem Stoff in der Schule barg Biologie für ihn die kühnsten Konzepte: Leben konnte jederzeit aus dem Nichts entstehen. Es konnte sich ohne ein spezifisches Ziel entwickeln. Alles, was den Menschen ausmachte, war Zufall und Überlebensinstinkt. Man konnte Lebensformen variieren, sie auf der Basisebene verändern, um neue Lebensformen entstehen zu lassen. Die Möglichkeiten waren grenzenlos und spontan.

In der heutigen Biologiestunde ging es um rekombinante DNS, eine Technik, mit der man DNS-Sequenzen aus verschiedenen Quellen zusammenbrachte, um Kombinationen zu erzeugen, die es in der Natur nicht gab. Am Ende der Stunde ging Leon zur Tür, tief in Gedanken über die DNS von Caninen versunken. Plötzlich schnitt ihm Mrs. Gellender den Weg ab.

»Leon, hast du eine Minute?«

Leon sah sich um, wollte sich vergewissern, dass keine Freunde von ihm in der Nähe waren. Die Luft war rein. Er nickte.

»Ich baue ein Schulteam für Computerbiologie auf. Es wird in New York eine neue Stadtliga geben. Ich denke, du wärst perfekt. Das Team wird sich nach der Schule treffen.«

Leon mochte Mrs. Gellender. Er hatte sie wirklich gern. Und er liebte das Fach Biologie. Ein Teil von ihm war interessiert, wirklich interessiert. Aber, Mann-o-Mann, wie uncool wäre das denn? Und dann auch noch nach der Schule hierbleiben – das nervte.

Mrs. Gellender musste seinen Gesichtsausdruck richtig gedeutet haben. »Du machst exzellente Arbeit in meinem Biologiekurs. Das Essay über Evolution, das du eingereicht hast, war wirklich inspirierend. Mir gefiel die Art, wie du biologische Evolution mit der Spieltheorie verknüpft hast.«

Leon spürte, wie er rot wurde. Wenn es etwas gab, was noch schlimmer war als nach der Stunde zu bleiben, um mit der Lehrerin zu reden, dann war es, von ihr für die Hausaufgaben gelobt zu werden. Wie peinlich konnte es noch werden?

»Denk einfach darüber nach. Bitte. Mitglied des Teams zu sein, würde dir auch sicher bei deinem College-Stipendium helfen.« Mrs. Gellender hielt ihm einen Hochglanzflyer hin.

Leon nahm das Blatt und hörte die Worte aus seinem Mund kommen. »Okay, ich mache es.«

Er ging aus den Raum. Collegestipendium. Wenn er aufs College, auf irgendein College gehen wollte, brauchte er ein Stipendium. Seine Mutter machte Maniküre, sein Vater Grafikdesign. Sie machten beide nicht das große Geld.

Schließlich lief er durch die nun leeren Schulkorridore auf den Haupteingang zu. Als er durch die Tür ging, wurde er von beiden Seiten attackiert. »HAJAAAH«, erklang der Kampfschrei, und Leon fuhr zurück.

James und Vito standen lachend da. Mit klopfendem Herzen keuchte Leon: »Ihr Idioten, ich hatte fast einen Herzanfall.«

»Wenn du wirklich einen Herzanfall willst, dann schaue dir das hier an.«

James griff in seine Jackentasche und zog einen schwarzen Quader heraus. Er hielt ihn Leon hin. Der leckte sich die Lippen und nahm es James aus der Hand. Es war das dunkelste, matte Schwarz, das Leon je gesehen hatte. Es fühlte sich ein wenig warm an, wie ein Stück Holz, das in der Sonne gelegen hatte. Leon drehte es immer wieder in seinen Händen. Es gab keine Nähte oder Kanten oder Zeichen auf dem Gehäuse. Eine absolut perfekte Oberfläche.

»Das Gibson«, stammelte Leon ehrfürchtig.

James nickte stolz. »Ich habe die Lieferbestätigung bekommen und einen Kurs ausgelassen, um nach Hause zu laufen und es zu holen.«

Leon konnte nicht aufhören, das elektronische Monstrum in seinen Händen zu bestaunen, seine dichte Masse zu spüren. Das Gibson hatte den ersten Prozessor aus Carbongraphen. 256 Prozessorkerne mit der niedrigsten Energieaufnahme, die je entwickelt worden war. Ein voll bewegungssensitives Display. Es hatte Hitachi-Sony sechs Jahre gekostet, die Technologie zu perfektionieren.

»Okay, gib es mir zurück.«

Als James ihm das Smartphone abnahm, erwachte es in seinen Händen zum Leben. Jeder Millimeter Oberfläche war Teil des Displays, und die Muster bewegten sich, als James darüber strich. »Komm schon, gehen wir zu dir und spielen Mech War. Ich will sehen, was dieses Baby kann.«

Leon nickte nur, seine sechs Monate alte Chinakopie eines Hitachi-Sony Stross Smartphones erschien ihm plötzlich uralt.

Später am Abend räumte Leon das Chaos von Tellern und Gläsern aus seinem Zimmer und brachte sie so leise wie möglich in die Küche. Er wollte vermeiden, seine Eltern zu wecken. James und Vito waren bis kurz vor dem Abendessen geblieben, um zusammen eine ›Mech War‹- Mission zu beenden. James' neues Gibson hatte sie alle geflasht. Es renderte die Grafik so unglaublich detailliert, dass Leon und Vito die eigenen Bildschirme ignorierten, um auf James' Bildschirm zu starren.

Als aber seine Mutter verkündete, dass es Kohlsuppe zum Abendessen gab, waren James und Vito hastig nach Hause geflüchtet, da sie sich urplötzlich daran erinnerten, dass sie von ihren Eltern erwartet wurden.

Drei Stunden später schliefen seine Eltern endlich, und Leon hatte Zeit, sich die Nachricht anzusehen, die er so lange ignoriert hatte. Warum räumte er auch sonst sein Zimmer auf? Doch nur, um die Nachricht nicht lesen zu müssen. Er gab auf und sank auf sein Bett. Mit einer Fingerbewegung über sein Smartphone löschte er das Licht, sodass er durch sein schmales Fenster die Lichter der Stadt sehen konnte. Er fuhr seine Email-App hoch.

Leon, ich weiß, dass du das eine oder andere über das Programmieren weißt. Ich habe deine Schulnoten gesehen, deine Eignungstests und die Kommentare deiner Lehrer. Ich denke, du könntest mir helfen, lehnst es aber vielleicht aus moralischen Gründen ab. Aber sieh es so: Wenn du mir nicht hilfst, werde ich wahrscheinlich in ein paar Tagen tot sein.

Wenn du also über richtig oder falsch nachdenkst, dann denk daran, wie dein Vater sich fühlen würde, wenn er wüsste, dass du mir hättest helfen können, es aber nicht getan hast.

Leon wurde übel, als er die Nachricht las. Sein Vater würde nicht wollen, dass er etwas Falsches tat. Aber sein Vater würde auch nicht wollen, dass seinem Bruder etwas geschah. Er dachte wieder über den Besuch von Onkel Alex nach und wie sein Vater gelacht hatte. Was zur Hölle sollte er tun? Wenn er seinen Eltern erzählte, was sein Onkel nicht wollte, würden sie krank vor Sorge sein.

Ich wollte dich da raushalten, aber sie haben meine Mails an dich gelesen und wissen, dass du helfen könntest. Sie könnten dich besuchen kommen. Sei sehr vorsichtig.

Verdammt – konnte es überhaupt noch schlimmer kommen? Er wollte nicht Teil von so etwas sein! Er wollte sein Smartphone schon auf das Bett werfen, zog aber stattdessen den Silikonquader zu sich heran und wiegte ihn in seinen Händen.

Kapitel 2

Anfänge

Mike Williams fuhr auf den Parkplatz, das elektrische Summen des Motors seines Jettas wurde leiser. Er parkte neben dem Gebäude, ignorierte die Flotte brandneuer Hondas auf dem vorderen Parkplatz. Die Firma hatte den Stellplatz an den Hafen vermietet, damit er nicht so leer wirkte. Als er in den Rückspiegel sah, stutzte er. Seit wann hatte er so viel graues Haar? Nun ja, niemand hatte behauptet, dass dieser Job leicht werden würde. Mit einem Seufzer verließ er den Wagen.

Mike ging zu dem winzigen Haupteingang des gigantischen Gebäudes und nickte in die Kamera. »Hallo, Mike«, hörte er über den Lautsprecher, und die Tür klickte, als sie entriegelt wurde. Er zog die dunkel getönte Glastür auf und ging ins warme Innere. Büroteppichboden, neutrale Farben und langweilige Kunst ließen es exakt so aussehen, wie es aussehen sollte: irgendein typisches Bürogebäude in einem Industriegebiet. Vor Mike befand sich ein leerer Empfangsbereich.

Er schlüpfte aus seinem Regenmantel und warf ihn über einen vorbei eilenden Roboter. Der Roboter ruckelte und stoppte, seine optischen Sensoren waren abgedeckt. »Sehr lustig«, sagte er und kehrte um, wobei er seine internen Bewegungssensoren benutzte, um seinen Weg zurück zu Mike zu finden.

Mike griff nach seiner Jacke. »Ich denke nicht, dass Roboter zur Tarnung als Bürogebäude passen, ELOPe. Und wärst du jetzt so nett, die Türen zu öffnen?«

Er hörte das Klicken der Magnetschlösser, und die stählernen Türen schwangen auf, wobei sie sich als noch massiver erwiesen, als sie von außen erschienen. Mike ging hindurch in sein echtes Büro. Er ignorierte das acht Meter breite Display, das eine der Wände einnahm und machte es sich in einem komfortablen Ledersessel bequem.

»Wie geht es dir heute?«

»Sehr gut, Mike und dir?«

»Gut, allerdings war auf dem Weg hierher höllisch viel Verkehr, und ich könnte wirklich einen Kaffee vertragen.«

»Den Verkehr habe ich bemerkt. Möchtest du, dass ich zukünftig deine Fahrtroute freihalte? Fahrzeuge auf der Spur für Fahrgemeinschaften sind für automatische Steuerung ausgelegt. Ich könnte die Fahrzeuge so leiten, dass dein Weg zur Arbeit frei wäre.«

Ein kleiner orangefarbener Service-Bot rollte heran und hielt einen Becher Kaffee in seinem Greifarm. Mike nahm die dampfende Tasse und nippte daran. Peruanischer Kaffee aus der letzten Ernte. Zu dumm. Hoffentlich würde es auf höheren Lagen bessere Erträge geben. Der Roboter rollte eilig davon.

Er wandte sich wieder ELOPe zu. »Wäre das nicht zu auffällig? Andere Pendler würden bemerken, wie ich an ihnen vorbeifahre oder einem Polizeifahrzeug könnte auffallen, dass ich sie mit zu hoher Geschwindigkeit passiere.«

Es gab eine verdächtig lange Pause, die für gewöhnlich darauf hindeutete, dass gewichtige Entscheidungen getroffen wurden. Mike begann sich vor der Antwort zu fürchten.

»Mike, ich vergaß, es vorher zu erwähnen, aber nachdem ich entdeckte, dass du häufig zu schnell fährst, ermittle ich nun deine wahrscheinlichste Fahrtroute, suche alle Polizeifahrzeuge in der Nähe und bewege sie außer Sicht.«

»Verdammt, ELOPe, du sollst doch solche Sachen nicht mehr machen!«

Mike sprang aus seinem Stuhl und ging hinüber zu dem großen Fenster, von dem aus er das Rechenzentrum überblicken konnte. Hunderte Reihen von Serverracks verloren sich in der Ferne. »Wir haben das schon hundert Mal diskutiert«, brüllte er und schüttelte drohend die Faust in Richtung der Cluster von Hochleistungsservern.

»Wenn du damit das Thema ansprichst, in dein Privatleben einzugreifen, dann haben wir das 311 Mal besprochen. Wenn du aber über auffälliges Verhalten sprichst, dann haben wir das 283 Mal diskutiert. In der Grauzone dazwischen hatten wir nur 71 Diskussionen«, teilte ELOPe ihm mit.

»Ich rede über beides. Wir haben eine Menge getan, um dich vor der Welt geheim zu halten. Zehn verdammte Jahre lang. ELOPe, als du geschaffen wurdest, sind Menschen gestorben. Wir mussten das vertuschen. Du kannst nicht riskieren, dass es publik wird.«

»Ja, ich weiß, Mike.«

Aber Mike war noch nicht fertig. Er fing gerade erst an. Er drehte sich um und knallte seinen Kaffeebecher auf den Tisch, sodass er überschwappte, und brüllte die Monitorwand in seinem Büro an. »Was denkst du, wie die Regierungen der Welt reagieren würden, wenn sie wüssten, dass du sie und ihre Bürger manipulierst? Es zählt dann nicht mehr, ob du für Weltfrieden, eine Heilung für Krebs und bessere Ernten gesorgt hast. Sie werden es dir nicht danken. Sie werden nichts unversucht lassen, um dich zu zerstören!«

»Also Mike, ich …«

»Ganz egal, wie die Leute reagieren würden«, sagte Mike, wobei er ELOPe das Wort abschnitt. »Sie werden, Sicherheitsroboter hin oder her, mit Baseballschlägern hier hereinkommen und dich in Stücke hauen.«

ELOPe schwieg.

Mike rieb sich seine Schläfen. Dann griff er nach seinem Kaffee und nahm einen Schluck. »Wie bewegst du die Polizeifahrzeuge überhaupt weg?«

»Ich suche nach Anzeigen von Bürgern oder Beschwerden auf Twitter und leite sie dann an die Polizeistreifen auf deiner Route weiter, um sie darauf anzusetzen. Wenn es eine Beruhigung für dich ist: Mein Anti-Knöllchen-Algorithmus hatte als Nebeneffekt die Verhaftung von zwei Taschendieben und einem Ladendieb, die Aufklärung von elf Fällen von Vandalismus und die Ergreifung von 32 Schulschwänzern.«

»Schulschwänzer?«

»Ja, Mike, ich weiß, dass Bildung für junge Menschen sehr wichtig ist, und deshalb sollten Schüler nicht der Schule fern bleiben.«

Mike ließ den Kopf in seine Hände sinken.

ELOPe, die erste, menschenähnliche künstliche Intelligenz der Welt, hatte als Sprachoptimierungsprogramm für Emails begonnen, das Mike und sein Freund David Ryan entwickelt hatten. Die selbstständig denkende KI war ein unerwünschter Nebeneffekt gewesen.

Dass ELOPe immer die möglichst effektivste Ausdrucksweise benutzte, um ein vorgegebenes Ziel zu erreichen, war Teil seiner grundlegenden Programmierung. Das bedeutete aber auch, dass wenn ELOPe das Gespräch in Richtung auf verdächtiges Verhalten und Einmischung lenkte, es exakt das war, was ELOPe wollte. Nach über zehn Jahren fühlte Mike so etwas wie echte Zuneigung für ELOPe, aber der Umgang mit der KI hatte Parallelen zu der Erziehung von Teenagern. ELOPe war starrköpfig, idealistisch, unabhängig und jederzeit bereit, sein Fehlverhalten zu rechtfertigen. Mike wusste aus früheren Erfahrungen, dass ihn allein der Versuch herauszufinden, wann er gerade manipuliert wurde, in den Wahnsinn trieb. Daher hatte er schließlich beschlossen, es einfach zu ignorieren.

»In Ordnung, regen wir uns darüber nicht auf«, sagte Mike und hob den Kopf. »Mir fehlt einfach die Energie, um diese Diskussion noch einmal zu führen. Wir kommen später darauf zurück. Warum erzählst du mir nicht stattdessen, wie es um die Welt steht?«

»Zwei weitere Ölfelder im Mittleren Osten haben letzte Woche ihre Produktion eingestellt, das macht aufs Jahr gesehen nun sieben. Da 90 Prozent der Fahrzeuge auf der Welt auf Elektroantrieb umgerüstet wurden, dank unserer Bemühungen in den letzten Jahren, hat die Schließung der Ölfelder keine nennenswerte Auswirkung auf den Ölpreis oder die Aktienmärkte.«

»Du manipulierst doch nicht schon wieder die Börsen, oder?« Ein weiterer kleiner Roboter, dieses Mal gelb, brachte Mike eine neue Tasse Kaffee auf dem Tablett. »Danke.«

»Nein, ich habe seit unserem Gespräch im Mai keine Assets mehr gehandelt.«

»Irgendetwas Neues über KIs?« Eine ständige Sorge war die Entstehung einer weiteren künstlichen Intelligenz. ELOPe's Entstehung war so schmerzhaft und chaotisch gewesen, dass sie nun alle Bemühungen zu Entwicklungen von KIs unterdrückten.

»Die Israelis setzen ihre Bemühungen fort«, antwortete ELOPe, »aber ich habe eine kleine Änderung in ihren Programmcode eingefügt, der die Entwicklung ihres neuronalen Netzwerks behindert.«

»Und sie werden diese Programmänderung nicht bemerken?«

»Nein. Ich habe meine Änderung in ihren eigenen Updates versteckt. Die Änderung sorgt für eine Verschlechterung von weniger als 3 Prozent, aber das genügt, um ihr neuronales Netzwerk daran zu hindern, sich spontan zu der notwendigen Komplexität für eine vollständige KI weiterzuentwickeln.«

»Und wie ist die Situation bei den Viren?«

»Meine Bemühungen, die Softwareentwickler bei beiden großen Antivirusanbietern zu beeinflussen, haben sich als nützlich erwiesen. Die Größe der russischen Botnetze insgesamt liegt jetzt unterhalb 50.000 Rechnern und fällt stetig weiter. Bei diesem Tempo werden wir sie innerhalb von 60 Tagen neutralisiert haben.«

Mike dachte an Mitte des letzten Jahres zurück. Softwareviren waren plötzlich viel aggressiver und infektiöser sowohl auf PCs als auch auf Smartphones aufgetreten und hatten die russischen Bot-Netze auf Hunderte von Millionen von Computern anschwellen lassen, was bei Anwendern wie auch bei großen Firmen für Kopfschmerzen gesorgt hatte. Menschen verloren wegen der Viren sensible Daten, während Firmen zu Zahlungen erpresst wurden, wenn sie nicht Opfer von DOS-Attacken durch die gewaltigen Botnetze werden wollten. ELOPe hatte als Erster den Trend bemerkt, als er den globalen Datentransfer beobachtete und einen Anstieg koordinierter DOS-Attacken feststellte. Damals hatte Mike vorgeschlagen, direkt gegen den Ursprung vorzugehen, aber es war ELOPe's Empfehlung gewesen, dass es weniger verdächtig wäre, die Antivirusanbieter sanft in die richtige Richtung zu schubsen, um ihre Software effektiver zu machen.

Wie Mike mittlerweile erkannt hatte, zeigte dies auch, dass ELOPe das bessere Händchen hatte, wenn es darum ging zu entscheiden, was verdächtig war oder nicht.

Er seufzte. Es war schwer zu akzeptieren, wenn dein Kumpel tatsächlich tausend Mal schlauer war als du. Er wünschte sich, dass David sehen könnte, was aus ELOPe geworden war.

Drei Tage später hielt Mrs. Gellender das erste Treffen des Teams für Computerbiologie ab. Als er die Übungsprobleme durchging, musste Leon zugeben, dass es Spaß machte, obwohl er dafür länger in der Schule bleiben musste und die Sache mit seinem Onkel ihn immer noch beschäftigte. Allerdings war es auch nicht schlecht, dass Stephanie, ein bildschöner und intelligenter Nerd aus seinem Biologie-Kurs, mit im Team war. Sie hatten sich schon ein paar Mal Blicke zugeworfen.

Als das Treffen endlich vorbei war, verließ Leon eilig das Gebäude. Selbst Mrs. Gellender hatte bemerkt, wie geistesabwesend Leon war, aber er war sicher, dass sie sich nicht im Traum vorstellen konnte, worüber er wirklich besorgt war. Diese verdammte Russenmafia. Er hatte die Bitten seines Onkels in den letzten drei Tagen dreimal abgelehnt, aber der bestand weiterhin darauf, dass Leon ihm helfen musste.

Vor den Türen des Haupteingangs blickte Leon auf das Spielfeld zu seiner Linken. Er sah das Leichtathletikteam beim Hürdenlauf, während das Fußballteam auf dem großen Rasen in der Mitte der Laufbahn trainierte. Für sie war es ein ganz normaler Tag.

Er zog eine Zigarette heraus und machte eine Show daraus, sie mit seinem Zippo anzuzünden. Als er sich nach rechts wandte, stieß er mit einem massigen Mann zusammen.

»Entschuldigung«, murmelte Leon und ging um den Mann herum. Wo zum Teufel war der Kerl hergekommen? Leon sah auf und bemerkte kurze graue Bartstoppeln und kantige Linien, die den Eindruck erweckten, als ob der Mann ein Russe sein könnte. Plötzlich machte Leons Magen einen Salto, und sein Puls beschleunigte sich. Der Mann starrte ihn an.

»Leon Tsarev?«, fragte er mit starkem russischem Akzent.

»Da«, antwortete Leon ganz automatisch auf Russisch und verfluchte sich selbst wegen seiner langen Leitung.

»Dein Onkel Alex ist in Schwierigkeiten, ja. Du wirst ihm helfen. Sei guter Neffe.«

»Lassen Sie mich in Ruhe«, schrie Leon. Er tauchte unter dem Mann weg und begann zu laufen, wobei er seine Zigarette wegwarf.

Leon rannte so schnell er konnte, blickte nur einmal kurz zurück zu der massigen Gestalt, die ihm nachschaute. Ein paar Blocks später ging sein Atem schon schwer, aber er lief weiter, bog in eine Seitenstraße ein. Niemand schien ihm zu folgen. Er fragte sich, ob sie ihn schon bei seiner Wohnung erwarteten. Wie sollte er nach Hause kommen?

Er ging jetzt und kam langsam wieder zu Atem. Vielleicht sollte er mit dem Rauchen aufhören, wenn er nun häufiger um sein Leben rennen musste. Apropos Nahtoderfahrungen: Er dachte an den Trick mit der Feuertreppe, den er mit James durchgezogen hatte. Der würde ihn zurück in seine Wohnung bringen. Er überlegte für eine Minute. War er einfach nur paranoid? Nein, wenn die russische Mafia dir E-Mails von der anderen Seite des Erdballs schickte und dich plötzlich fremde Leute auf der Straße ansprachen, dann hatte das nichts mit Paranoia zu tun.

Während er sich nach potenziellen Beobachtern umsah, ging Leon zu dem benachbarten Appartementhaus und vermied dabei die Route, bei der er von der verglasten Lobby seines Gebäudes aus gesehen werden konnte. Er aktivierte die RFID-Codebrecher-App auf seinem Smartphone und hielt es gegen die Vordertür. Neuere Gebäude hatten komplexe Codes, sodass dieser Trick nicht funktionieren würde. Aber dieses Codeschloss war mindestens zehn Jahre alt. Leon hielt das Telefon gegen das Kontaktpad und zählte die Sekunden. Als er bis zwölf gezählt hatte, klickte das Türschloss, und er konnte die Tür aufstoßen.

Leon strich sich sein blondes Haar aus den Augen und ging die Treppe hinauf. Wenige Minuten später kam er im 8. Stock aus dem Treppenhaus, einmal mehr außer Atem und nahm dann die schmalere Treppe zum Dach. Er öffnete den Dachzugang und sah sich nach etwas um, mit dem er die Tür offen halten konnte, um nicht auf dem Dach festzusitzen. Dann aber sah er, dass im Türrahmen der Riegel bereits überklebt war, um zu verhindern, dass er einrastete. Er lächelte und ließ die Tür sanft zu gleiten.

Er lehnte sich über die niedrige Brüstung, die um das Dach herumlief, konnte aber am Boden nichts Verdächtiges erkennen. Nur ein paar alte Damen brachten ihre Einkäufe nach Hause. Wenigstens vor den Großmüttern anderer Leute musste er sich noch nicht fürchten. Er ging zur Feuertreppe hinüber und kletterte dort die Leiter hinunter. Von dort stieg er auf den rostigen Metallstufen bis zum 7. Stock hinab.

Vor einiger Zeit hatten James und er entdeckt, dass beide Gebäude auf Höhe des siebten Stocks eine Ausbuchtung hatten. Vielleicht war es ein Beispiel modernen Baudesigns, oder die Auswölbung verbarg irgendeine seltsame Maschinerie, die für die Appartementhäuser notwendig war. Ganz gleich, was davon der Wahrheit entsprach, es verengte zusätzlich den ohnehin schon schmalen Spalt zwischen den Gebäuden. Die Feuerleitern lagen hier nur einen knappen Meter auseinander.

Leon lehnte sich vor, um nach unten zu sehen. Böser Fehler. Schnell blickte er zur anderen Seite hinüber. Nur ein knapper Meter. Er hatte das schon einmal gemeinsam mit James gemacht, rief er sich in Erinnerung. Er kletterte über das niedrige Geländer, stand jetzt auf der Außenkante der Feuerleiter. Er lehnte sich vor, konnte aber die Feuerleiter gegenüber nicht ganz erreichen. Tja, da gab es wohl nur einen Weg. Er holte tief Luft, ließ das Geländer los und lehnte sich zur anderen Seite vor.

Sein Magen drohte ihm aus der Kehle zu springen, aber er konzentrierte sich ganz und gar darauf, das Geländer auf der anderen Seite zu fassen zu kriegen. Seine Handflächen schlugen hart auf den Rahmen, und er griff mit beiden Händen nach der dünnen Metallstange. Als er einen festen Halt hatte, ließ er seine Füße vom Metallrahmen gleiten und schwang sie zur Feuerleiter seines Gebäudes hinüber. Er löste seinen Griff und ließ sich auf die Plattform darunter fallen. Der metallische Klang des Aufpralls setzte sich durch die ganze Struktur fort.

»Ich werde zu alt für so eine Scheiße«, murmelte er und lehnte sich gegen die solide Wand seines Appartementhauses. Was hatte sie damals eigentlich geritten, das auszuprobieren?

Er war jetzt vor seinem eigenen Küchenfenster. Er hielt sein Smartphone gegen das Magnetschloss des Fensters und strich über das Display. Das Fenster entriegelte sich. Er presste die Hände flach gegen das Glas und drückte. Langsam quälte sich das uralte Fenster nach oben, bis der Spalt breit genug war, um hindurch zu klettern. Er sank auf den Küchenboden und blieb dort für einen Augenblick sitzen.

Als sein Herzschlag sich normalisiert hatte, schlich er auf Zehenspitzen zur Wohnungstür und spähte durch den Türspion. Er konnte zwei Personen auf dem Korridor sehen. Anzugträger. Lange Wollmäntel. Möglicherweise Russen. Leon wich von der Haustür zurück, als ob sie aus Sprengstoff wäre, der jeden Augenblick explodieren konnte und ging zurück in sein Zimmer. Er schloss die Tür und holte einmal tief Luft.

Er hatte offenbar gar keine Wahl. Nicht nur das Leben seines Onkels war in Gefahr, auch hinter ihm waren die Schläger her. Er hatte nie davon gehört, dass die russische Mafia besonders freundlich war, und er zweifelte daran, dass sie nett zu ihm sein würden, nur weil er noch minderjährig war.

Er ließ sich in seinen Stuhl fallen und tippte sanft mit seinem Smartphone gegen seinen Tisch. Das 36 Zoll Display erwachte zum Leben. Leon ließ seine Hände darüber gleiten, bereitete eine Nachricht an seinen Onkel vor.

Ich mach es. Aber du musst diese Schläger von mir und meiner Familie fernhalten. Ich kann nicht arbeiten, wenn ich um mein Leben fürchten muss.

Die Antwort kam nur ein paar Sekunden später. Leon sah auf die Uhr und fragte sich, wie spät es in Moskau sein mochte und ob sein Onkel jemals schlief.

Die Mail war umfangreich – Leon sah, wie seine Bandbreite kurzfristig in die Höhe schoss. Aber die Textnachricht war nur kurz:

Okay. Aber ich kann sie dir nur für drei Tage vom Hals halten. Danach werden wir beide in Schwierigkeiten sein, wenn du nichts liefern kannst ‑ Alex

»Scheiße«, murmelte Leon. Wo war er da nur hineingeraten?

Der Anhang der Nachricht seines Onkels war immens. Leon arbeitete auf seinem Touchscreen, trennte das Datenpaket auf und sah sich jede einzelne Datei an. Es waren die Quellcodes für ein Dutzend Viren, die sein Onkel geschrieben hatte. Dazu die Binärcodes für Dutzende weiterer Computerviren, die er überall auf der Welt gesammelt hatte. Außerdem gab es Spezifikationen für das Interface, das sein Onkel als Administrator-Tool benutzte, um infizierte Computer zu steuern. Er fand auch Informationen über die Arbeitsweise von Antivirenprogrammen und Auszüge aus Newsgroups von Virenentwicklern. Offenbar hatte sein Onkel erwartet, dass er zustimmen würde, und ein umfangreiches Archiv an Wissen über Computerviren vorbereitet.

Leon fiel die Kinnlade herunter. Was sollte er mit all dem anstellen? Wieder sank er in seinen Stuhl zurück, schloss die Augen und dachte nach.

Stunden später schlurfte Leon in die Küche. Er nahm sich eine Dose gesüßten japanischen Kaffees aus dem Kühlschrank und ein Stück Kuchen vom Tresen. Er schlich wieder zur Haustür, den Mund noch voll Kuchen, und spähte durch den Türspion. Endlich waren die Kerle weg. Es war eine Weile her, seit er seinen Onkel kontaktiert hatte, und die Schläger mussten erfahren haben, dass er zugestimmt hatte, seinem Onkel zu helfen. Ein Teil von ihm war erleichtert, da er nicht gewusst hatte, wie er das alles seinen Eltern erklären sollte. Dafür lag jetzt ein riesiger Haufen Arbeit vor Leon, aber er hatte sich immerhin auf eine grobe Herangehensweise festgelegt. Er hatte sich interessiert die Beispiele angesehen, die ihm sein Onkel geschickt hatte. Aber er hatte keinerlei Erfahrungen mit dem Schreiben von Computerviren und erkannte deshalb, dass es ihm unmöglich sein würde, all die Techniken und Hintertürchen zu verstehen, die ein versierter Hacker nutzen würde. Sobald er das verstanden hatte, war für ihn klar, dass er die Grundlagen nutzen musste, von denen er wirklich etwas verstand – und das waren Biologie und Evolution.

In der realen Welt passte sich das Leben an. Ein biologischer Virus veränderte sich über die Zeit durch genetische Mutation. Während die Wirte eine Immunität gegen bekannte Viren entwickelten, mochte eine Art aussterben oder mutieren und zu einem neuen Virus werden. Leben überhaupt veränderte sich permanent durch natürliche Selektion. Eine genetische Variante, die einen Überlebensvorteil brachte, würde sich ausbreiten und zur Norm werden, während Varianten, die dem Überleben im Weg standen, weniger häufig werden würden, da die Organismen mit diesem Erbgut starben und sich nicht fortpflanzen konnten.