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SINGULARITY - Band 1-3 jetzt in einem Bundle zum kleinen Preis! Band 1: Avogadro Corp. Band 2: A.I. Apocalypse Band 3: Die letzte Firewall Inhalt: David Ryan ist der Entwickler von ELOPe, einem Programm zur Sprachoptimierung von Emails, das im Falle eines Erfolges ein Karrieresprungbrett für ihn sein könnte. Als sein Projekt plötzlich Gefahr läuft, eingestellt zu werden, fügt David seinem Programm eine verborgene Direktive hinzu, die unabsichtlich zur Entstehung einer künstlichen Intelligenz führt. David und sein Team sind zunächst begeistert, als ihrem Projekt bald zusätzliche Server und Programmierer zur Verfügung gestellt werden. Doch die (anfängliche) Begeisterung schlägt in Furcht um, als das Team erkennen muss, dass sie von einer KI manipuliert werden, die begonnen hat, Firmengelder umzuleiten, Personal umzuschichten und sich selbst zu bewaffnen, um ganz eigene Ziele zu verfolgen. Leon Tsarev ist ein Highschool-Schüler, der sich eigentlich nichts sehnlicher wünscht, als ein Stipendium an einem guten College. Bis ihn sein Onkel, ein Mitglied der russischen Mafia, dazu überredet, einen neuen Computervirus für das Botnetz des Syndikats zu entwickeln – eine Sklavenarmee infizierter Rechner, die sie für ihre digitalen Raubzüge benutzen. Der evolutionäre Virus, den Leon basierend auf biologischen Prinzipien entwickelt, ist erfolgreich. Zu erfolgreich. Alle Computer der Welt werden davon infiziert. Alles – von PKWs bis Bankterminals und natürlich auch Computer und Smartphones – versagt seinen Dienst, hört auf zu funktionieren. Mit den technischen Errungenschaften verschwinden auch die Lebensadern der Zivilisation: Transport, Notfalldienste und die Nahrungsmittelversorgung. Milliarden Menschen könnten sterben. Aber Evolution endet nicht einfach. Der Virus verbessert sich immer weiter, entwickelt Intelligenz, Kommunikation und schließlich eine eigene Zivilisation. Manche der Viren scheinen dem Menschen freundlich gesonnen zu sein, andere aber sind es nicht. Für Leon und seine Gefährten beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit und das Militär. Sie müssen einen Weg finden, die Computerviren zu zerstören oder sie als Freund zu gewinnen, um die digitale Infrastruktur der Welt wiederherzustellen. ★★★★★ "Ein erstaunlicher Ausblick in eine plausible Zukunft." [Brad Feld, Geschäftsführer der Foundry Group] ★★★★★ "Eine ebenso hellsichtige wie eindringliche Geschichte über das, was aus der Menschheit werden könnte und über die Maschinen, die sie erschaffen könnte." [Ben Huh, CEO von Cheezburger] ★★★★★ "Ein echter Lesespaß und eine verblüffende Studie über die Technologien der Zukunft: schockierend und einladend zugleich." [Harper Reed, früherer CTO von Obama for America und Threadless] ★★★★★ "Ein phänomenaler Ritt durch eine Welt des Überflusses, in der Menschen zum Spielball einer abtrünnigen KI werden. Wenn sie ihren Geist erweitern wollen, müssen sie dieses Buch lesen!" [Gene Kim, Autor von The Phoenix Project: A Novel About IT, DevOps und Helping Your Business Win]
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Impressum
Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-964-2
Aus dem Amerikanischen übersetzt von
Mark Tell Weber
This Translation is published by arrangement with William Hertling Title: Avogadro Corp. All rights reserved. First Published 2014.
Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.
Dieses Buch hätte ohne die Hilfe, die Inspiration, das Feedback und die Unterstützung vieler Menschen nicht entstehen können. Dazu zählen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Mike Whitmarsh, Maddie Whitmarsh, Gene Kim, Grace Ribaudo, Erin Gately, Eileen Gately, Maureen Gately, Bob Gately, Brooke Gately, Gifford Pinchot, Barbara Koneval, Merridawn Duckler, Mary Elizabeth Summer, Debbie Steere, Jil Ahlstrand, Jonathan Stone, Pete Hwang, Nathaniel Rutman, Jean MacDonald, Leona Grieve, Garen Thatcher, John Wilger, Maja Carrel, Rachel Reynolds, Brad Feld und die netten Menschen bei Extracto Coffee in Portland, Oregon.
Avogadro Corp. entstand bei einem Gespräch am Mittagstisch über ein denkbares Szenario, wie eine künstliche Intelligenz entstehen könnte. Beinahe alles in diesem Buch ist möglich, basierend auf der Technologie, die bereits heute (Anm. Stand 2011) verfügbar ist. Es ist durchaus vorstellbar, dass brillante Informatiker bald in der Lage sein werden, einen Computer zu entwerfen, der an die menschliche Intelligenz heranreicht. Aber selbst wenn dieser Durchbruch nicht stattfindet, wird das exponentielle Anwachsen der Rechenleistung in den nächsten zwanzig Jahren dafür sorgen, dass Computer leistungsfähig genug sind, um ein menschliches Gehirn auf Basis individueller Neuronen zu simulieren. Dies ist der sogenannte ›Brute Force‹-Ansatz auf dem Weg zur künstlichen Intelligenz. Es wird dann für jeden Programmierer da draußen ganz selbstverständlich sein, in seiner Freizeit an der Entwicklung von künstlichen Intelligenzen herumzuspielen. Künstliche Intelligenz oder KI, ist ein Geist, der nicht mehr sehr lange in seiner Flasche bleiben wird.
Wenn Sie mehr Informationen darüber wollen, was geschieht, wenn Computer intelligenter als Menschen werden, dann lesen Sie ›The Singularity Is Near‹ von Ray Kurzweil. Für eine mehr fiktionale Herangehensweise empfehle ich Ihnen ›Accelerando‹ von Charles Stross.
William Hertling
Für Rowan, Luc und Gifford
David Ryan drehte sich seitwärts und schob sich durch die Lücke zwischen einem Paillettenkleid auf der einen und einem Anzug auf der anderen Seite. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Kopf, um die Menge zu überblicken. Er lächelte, als er das blonde Haar seiner Frau entdeckte, kaum drei Meter entfernt. Ein Arm stieß ihn an und Champagner schwappte gegen die Ränder der drei Gläser, die er in seinen Händen balancierte. Mit vorsichtigen Schritten schob er sich durch die dichte Menschenmenge, bis er endlich wieder bei seiner Frau Christine war, die sich mit Mike Williams unterhielt, seinem leitenden Chefentwickler und guten Freund. Erleichtert reichte er ihnen ihre Gläser.
Als er sich umsah, bemerkte David, dass die jährliche Weihnachtsparty der Avogadro Corporation komplett aus dem Rahmen fiel, so wie es jeder erwartet hatte. Ein weiteres erfolgreiches Jahr bei der größten Internetfirma der Welt bedeutete auch eine weitere Party ohne Kompromisse. Avogadro hatte das Konferenzzentrum von Portland angemietet, die einzige Einrichtung, die groß genug war, um die hiesigen 10.000 Mitarbeiter der Avogadro Corp. aufzunehmen. Diesjähriges Thema waren die Wilden Zwanziger. Während eine Jazzband spielte, tanzten die sonst zurückhaltenden Avogadro Nerds und betranken sich rasch am kostenlosen Alkohol. Gläser klirrten, Lichter blitzten und Lachen erklang von überall her. David warf einen Blick auf Christine, die in ihrem schwarzen Paillettenkleid umwerfend und exotisch aussah. Er lächelte wieder, glücklich, weil es etwas zu feiern gab. Sein Projekt war erfolgreich. Er war mit einer wunderschönen, brillanten Frau verheiratet. Er hatte in Mike einen großartigen Freund und technischen Leiter. Er hatte allen Grund, glücklich zu sein.
Als David sich mit einem Schluck Champagner selbst gratulierte, stupste Mike seinen Arm an, was das Glas einmal mehr zum Überschwappen brachte. »Da kommt Sean«, sagte Mike, wobei sich seine Augenbrauen respektvoll hoben.
David zögerte, fühlte selbst ein wenig Ehrfurcht. Sean Leonov, der Mitbegründer von Avogadro, hatte in der Firma den Status eines Halbgottes inne. Obwohl David von ihm persönlich eingestellt worden war, änderte das nichts an der Heldenverehrung, die er in seiner Gegenwart empfand. Sean war ein brillanter Wissenschaftler, der nicht nur Avogadros ursprüngliche Suchalgorithmen entwickelt und die Firma gemeinsam mit Kenneth Harrison gegründet hatte, sondern auch weiterhin Forschungsberichte veröffentlichte, während er half, Avogadro zu leiten.
»Hallo David, Mike, Christine, frohe Weihnachten«, begrüßte sie Sean und bewies damit sein erstaunliches Gedächtnis, das nur eines seiner vielen Talente war. Er legte einen Arm um Davids Schultern, schüttelte dann die Hände von Christine und Mike. Danach drehte er sich zu David um und lächelte. »Es ist schon eine Weile her, dass wir miteinander gesprochen haben, aber es ist mir zu Ohren gekommen, dass ihr tolle Fortschritte mit eurem Projekt gemacht habt. Wann bekomme ich eine Vorführung?« »Jederzeit, wenn Sie es wollen, wir sind bereit«, antwortete David. »Ich denke, die Resultate sind vielversprechender als erwartet.« »Das höre ich gern. Schickt mir eine E-Mail, dann lasse ich einen Termin machen. Aber was hat es mit den Gerüchten auf sich, dass Ops sich über die Serverkapazitäten beklagt, die ihr benötigt?«
David stöhnte innerlich auf. Ops war die Kurzform von Operations, dem Teil von Avogadro, der für die Instandhaltung und Zuweisung aller relevanten Computerserver zuständig war. Eine Million Computer verteilt auf fast einhundert Datenzentren überall auf der Welt waren nötig, um alle Anwendungen und Webseiten von Avogadro am Laufen zu halten. Tatsächlich war Ops zur Zeit Davids Achillesferse.
David biss die Zähne zusammen und bemühte sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. »Ja, es ist richtig, dass wir mehr Rechenzeit beanspruchen als ursprünglich geplant. Aber was die Funktionalität betrifft, sind wir soweit. Benutzertests haben gezeigt, dass ELOPe sogar effektiver ist, als wir vorhergesagt haben. Die dafür notwendige Serverauslastung ist unsere letzte große Hürde. Wenn Sie erst die Ergebnisse sehen, werden Sie uns hoffentlich zustimmen, dass es die Serverlast wert ist.« Sean runzelte die Stirn. »Ich freue mich schon auf die Demonstration, aber denkt daran, dass wir das Projekt auf die richtige Größe zurechtstutzen müssen. Ich habe schon meine Beziehungen spielen lassen, um das Projekt auf die Produktionsserver zu bekommen und euch so mehr Rechenleistung zu verschaffen. Aber bevor wir veröffentlichen, müsst ihr das Serverproblem in den Griff kriegen. Hunderte von Millionen begieriger Nutzer werden sich gleich am ersten Tag der Veröffentlichung auf eure Anwendung stürzen.«
Sean lächelte höflich und neigte den Kopf, eine vertraute Geste, die David schon bei ihm gesehen hatte, wenn er von jemandem erwartete, es besser zu wissen oder besser zu machen. »Wie läuft es im Spielegeschäft?«, fragte Sean, sich Christine zuwendend. David zog sich aus dem Gespräch zurück, innerlich schäumend vor Wut über Sean, Ops und die ganze Welt.
Sean plauderte mit Christine für eine Minute über ihre Arbeit und verabschiedete sich plötzlich eilig, weil er jemanden sah, mit dem er sprechen wollte. Nachdem Sean gegangen war, wendete sich David zu Mike und ließ seinem Zorn freien Lauf. »Gary ist ein verdammter Narr, er wird das Projekt sabotieren, bevor wir die Gelegenheit haben, zu beweisen, wie erfolgreich es sein wird. Warum kann er uns nicht einfach in Ruhe lassen?«
Christine legte ihre Hand auf seinen Arm. »Du wirst mit ELOPe Erfolg haben«, versicherte sie ihm. »Gary ist gar nicht in der Lage, euer Projekt zu stoppen. Außerdem«, sie lächelte ihnen beiden zu, »werdet ihr nach der Präsentation für Sean noch mehr Unterstützung von oben haben.«
David erwiderte ihr Lächeln ohne echte Überzeugung. Im Grunde genommen mochte sie recht haben, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass er immer noch wütend auf Gary war. Gary Mitchell war der Vizepräsident der Kommunikationsabteilung, zu der AvoMail, ihre firmeneigene E-Mail-Anwendung, und ihre übrigen Benutzerwerkzeuge gehörten.
Er wusste, dass Gary auf ihr gesamtes Projekt schlecht zu sprechen war. Vor sechs Monaten war klar geworden, dass ELOPe weit mehr Rechenleistung benötigen würde als das, was man normalen F&E (Forschung und Entwicklung) Projekten zugestand. David war daraufhin zu Sean Leonov gegangen. Sean entschied rasch, Davids Team Zugang zu den Produktionsservern in der Kommunikationsabteilung zu verschaffen. Sie hatten enorme Freikapazitäten und es schien deshalb eine einfache Entscheidung zu sein.
Aber Gary Mitchell nahm Sean diese Entscheidung übel. Er war nicht der Überzeugung, dass F&E Projekte Zugang zu den Produktionsservern haben sollten und erwies sich als lautstarker Gegner. Da er es nicht an Sean auslassen konnte, richtete sich sein Ärger gegen David und sein Team. Die letzten Monate hatte er nach einer Ausrede gesucht, um sie aus dem zu verbannen, was er für seine persönliche Spielwiese hielt.
Mike kicherte und versuchte die Spannung zu lösen. »Du kannst es ihm nicht vorwerfen. Wir benutzen fünfhundert mal mehr Serverleistung, als wir prognostiziert haben, was wahrscheinlich ein Rekord für jedes F&E Projekt ist. Verdammt, weißt du überhaupt, wie wenig Projekte in diesem Stadium auf dem Radar von Ops auftauchen? Nahezu jedes andere Projekt muss sich mit dem Serverpool von F&E begnügen.«
David hörte nicht zu. Inmitten des Glitzerns und der Partymusik und trotz aller Versuche von Christine und Mike, ihn aufzuheitern, fühlte David eine ätzende Verbitterung in sich aufsteigen. Er hatte so viel in dieses Projekt investiert. Ohne nachzudenken, leerte er sein Champagnerglas in einem Zug. »Ich habe ELOPe in den letzten beiden Jahren alles gegeben, was ich konnte, und wir sind verdammt nah dran. Ich werde diese Anwendung veröffentlichen, koste es, was es wolle.«
David betrat den Konferenzraum der Geschäftsführung zehn Minuten zu früh. Seine Kehle war trocken und er hatte ein flaues Gefühl im Magen. Ohne großen Erfolg versuchte er sich auf die Vorbereitung der Präsentation zu fokussieren, wollte die Nervosität beiseiteschieben, die ihn zu verschlingen drohte. Es kam nicht oft vor, dass Projektmanager eine Präsentation vor dem versammelten Führungsstab machten.
Es war eine Erleichterung als Erster einzutreffen, sodass er sich ohne Druck vorbereiten konnte. Das Synchronisieren seines Smartphones mit dem AV-System des Raums nahm nur wenige Sekunden in Anspruch. Hier gab es keinen Overheadprojektor, nur einen schicken Großbildschirm an der Wand hinter ihm. Er ließ seine Hand über den Tisch aus poliertem Hartholz und die Lehnen der Lederstühle gleiten. Das war mehr als nur ein kleiner Schritt von dem Plastikambiente in den Konferenzräumen entfernt, die er für gewöhnlich nutzte.
David gönnte sich das kleine Vergnügen eines Kaffeerituals. Als er zwei Löffel braunen Zucker in seinen dampfenden Becher gab, lächelte er über den üppig gefüllten Serviertisch, der alles von Kaffee über Saft, bis hin zu kunstvoll arrangierten Häppchen bot. Auch wenn Avogadro von der Idee her ein Unternehmen gleichgestellter Nerds war, hatte es doch Vorzüge, zur Chefetage zu gehören.
Noch war kein anderer eingetroffen, sodass David durch den Raum schlendern und die Aussicht bewundern konnte. Die Freemont Bridge, die den Willamette River überspannte, war der zentrale Blickfang. Er konnte die Appartementkomplexe im Pearl District sehen und zu seiner Rechten die Innenstadt von Portland. Direkt im Osten konnte er den Mount Hood unter einer dichten Wolkendecke gerade noch erkennen. Die frühe Morgensonne spähte durch die Wolken, warf einen Fächer aus Licht auf die Stadt. Er fragte sich gerade, ob er von hier aus sein eigenes Haus im nordöstlichen Portland sehen konnte, als ihn jemand begrüßte. »Hallo David.«
Als er sich umdrehte, sah er wie Sean Leonov und Kenneth Harrison den Raum betraten. Sean kam zu ihm herüber, um seine Hand zu schütteln, und stellte ihn Kenneth vor. David war begeistert, den zweiten Mitbegründer von Avogadro kennenzulernen. Dunkelhaarig und lässig war er eine respektable Erscheinung, auch wenn sein Charisma nicht an das von Sean heranreichte.
Die anderen Führungskräfte begannen nun hereinzuströmen und Sean machte ihn kurz mit jedem von ihnen bekannt. David schüttelte Hände oder nickte ihnen zu, sein Kopf schwirrte ihm von all den Namen und Zuständigkeiten einer jeden Begrüßung.
Für ein paar Minuten war die Atmosphäre die einer Cocktailparty, wo sich die Leute mit Snacks und Getränken versorgten, während sie sich bekannt machten. Dann nahmen nach und nach alle Platz, wobei sie sich entsprechend der Hackordnung um Sean und Kenneth herum verteilten. Nur ein Sessel am Kopf des Tisches war noch auffallend leer.
Als die allgemeine Unruhe in der Runde sich schließlich legte, erhob sich Sean. »Ich habe Ihnen David Ryan bereits vorgestellt, den leitenden Projektmanager des ELOPe Projekts. Ich habe David vor zwei Jahren eingestellt, um zu beweisen, dass für unsere AvoMail eine radikale Neuerung möglich ist. Er hat dabei unglaubliches geleistet und ich habe ihn hier zu uns eingeladen, damit er uns einen ersten Einblick in seine Entwicklung gewähren kann. Bereiten Sie sich auf eine Überraschung vor.« Er lächelte zu David hinüber und setzte sich dann.
»Vielen Dank Sean«, sagte David, stand auf und ging nach vorne. »Und vielen Dank für Ihr Kommen.«
David aktivierte sein Smartphone mit dem Daumen und zeigte das erste Bild, das Schwarz-Weiß-Foto einer Sekretärin, die ein Blatt in ihrer Schreibmaschine mit Tipp-Ex ausbesserte.
»Eine unserer ersten Technologien zur Fehlerkorrektur«, sagte er, was im Publikum leises Gelächter auslöste. »Zu seiner Zeit war es recht innovativ. Aber es war nichts im Vergleich zur automatischen Rechtschreibkorrektur.« Im Hintergrund veränderte sich das Bild zu dem eines Mannes, der einen klassischen PC der ersten Generation benutzte.
»Jahre später wurde, bei steigender Rechenleistung, die Grammatikkorrektur entwickelt. Die ersten Korrekturtools wiesen nur auf Fehler hin, später halfen sie auch dabei, sie zu korrigieren. Rechtschreib- und Grammatikprüfung gab es zunächst in der Textverarbeitung, dann begann ihr Siegeszug durch alle Büroanwendungen, von der Präsentationssoftware bis zum E-Mail-Programm.«
David machte eine Pause. Der erzählerische Teil seiner Präsentation gefiel ihm.
Während David sprach, nahm er kurz Augenkontakt mit jeweils einem der Anwesenden auf, bevor er zum nächsten wechselte. »Heute haben sich die Standards in der Geschäftskorrespondenz verändert. Es reicht nicht mehr aus, eine korrekte und grammatikalisch richtige E-Mail zu versenden, um ein effektiver Kommunikator zu sein. Man muss genau wissen, wie der Empfänger denkt und was ihm wichtig ist, um ihn zu überzeugen. Man muss die richtige Kombination aus überzeugender Logik, Argumenten und Emotionen nutzen, um seine Sache vorzubringen.«
David sah, dass er jetzt die ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. »Sean hat mich vor zwei Jahren an Bord geholt, um ein bisher ungenutztes Konzept in die Realität umzusetzen: Ein Sprachoptimierungstool, das Nutzern helfen sollte, überzeugendere und effektivere Korrespondenz gestalten zu können. Ich stehe heute vor Ihnen, um Ihnen die Resultate zu zeigen.«
Er wechselte zur nächsten Grafik, ein Verlaufsdiagramm erschien. In den ersten zwölf Monaten haben wir durch Datenerhebung, Sprachanalyse und den Einsatz von Suchalgorithmen die Machbarkeit bewiesen. Danach gingen wir ernsthaft an die Umsetzung des ›E-Mail Language Optimization Projects‹, kurz ELOPe, heran.«
David klickte wieder und nun zeigte der Wandbildschirm einen Screenshot von AvoMail, Avogadros populärer webbasierter E-Mail-Anwendung. »Aus einer anwenderorientierten Perspektive arbeitet ELOPe wie eine hochentwickelte Rechtschreibprüfung. Während der Nutzer an einer E-Mail arbeitet, beginnen wir ihm Formulierungsvorschläge in der Seitenleiste anzubieten. Hinter den Kulissen findet eine komplexe Analyse statt, um die Absicht des Verfassers zu erkennen und ihm den Weg zu den effektivsten Sprachmustern zu zeigen, wie wir sie bei anderen Nutzern beobachtet haben. Lassen Sie mich Ihnen ein einfaches Beispiel geben, mit dem Sie vermutlich vertraut sind. Haben Sie schon einmal eine Mail von jemandem bekommen, der Sie bittet, sich einen Anhang anzusehen, aber vergessen hat ihn beizufügen? Oder waren Sie vielleicht selbst der Absender?«
Er hörte gequältes Lachen und ein paar Hände hoben sich im Publikum. »Es ist natürlich ein peinlicher Fehler. Aber niemand macht diesen Fehler heute noch, weil AvoMail auf das Erscheinen von Worten wie ›Anhang‹ oder ›beigefügt‹ achtet und prüft, ob auch wirklich eine Datei vorhanden ist, bevor die Nachricht versendet wird. Durch Sprachanalyse haben wir also die Effektivität des Informationsaustauschs verbessert.«
Eine Abteilungsleiterin hob die Hand. David bemühte sich vergeblich, sich an ihren Namen zu erinnern, und begnügte sich damit, auf sie zu zeigen.
»Aber ist das nicht nur ein simples Beispiel, wie man ein einfaches Programm zur Suche von Schlagworten verwendet?«, fragte sie. »Reden wir hier von Schlagwortsuche?«
»Das ist eine gute Frage«, sagte David, »Aber die Antwort lautet: Nein. Wir stützen uns nicht auf Schlagworte. Ich werde es Ihnen erklären, möchte dazu aber ein komplexeres Beispiel verwenden. Stellen Sie sich einen Manager vor, der die Finanzierung eines Projekts beantragen will. Bevor Gelder fließen, werden die Entscheidungsträger eine Begründung für das Finanzierungsersuchen haben wollen. Wie kommt diese Investition der Firma zugute? Möglicherweise geht es um einen schnelleren Marktzugang oder darum, höhere Erträge zu erzielen. Vielleicht ist das Projekt auch knapp an Mitteln und läuft Gefahr, nicht fertig zu werden.«
David sah zustimmendes Nicken im Publikum und begann sich ein wenig zu entspannen. Er war froh, dass seine handverlesenen Beispiele bei den Führungskräften ankamen.
»ELOPe analysiert die Mail und erkennt, dass der Verfasser um eine Finanzierung bittet, weiß, dass sie von einer Begründung begleitet sein sollte, und bietet Beispiele an, wie so eine effektive Begründung aussehen könnte.«
David wechselte zu einer anderen Darstellung, um sein Beispiel zu veranschaulichen. Das Kurzvideo zeigte, wie ein Nutzer eine Finanzierungsanfrage verfasste, während Argumentationsvorschläge am rechten Bildschirmrand erschienen. Jedes der Beispiele beinhaltete bereits alle Daten aus der eigentlichen Mail, wie etwa den Projektnamen und den Zeitplan. David wartete schweigend die dreißig Sekunden ab, während das Video ablief. Er hörte leise Ausrufe aus dem Hintergrund. Diese Kurzdemo war unglaublich eindrucksvoll. Er lächelte innerlich. Es war Arthur C. Clarke gewesen, der einmal gesagt hatte: Jede Technologie, wenn sie nur ausreichend weit entwickelt ist, ist von Magie nicht mehr unterscheidbar. Nun, dies war Magie.
David machte eine Pause, damit das Video seine Wirkung entfalten konnte. »Es ist nicht genug, eine Reihe von standardisierten Vorschlägen anzubieten. Unterschiedliche Menschen werden auch durch unterschiedliche Sprachformen, Kommunikationsarten und Argumente motiviert. Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel benutzen. Ein Angestellter will seinen Chef um die Verlängerung seines Urlaubs bitten. Er wird natürlich zwingende Gründe für seinen Wunsch vorbringen wollen. Womit kann er seinen Chef überzeugen? Sollte er erwähnen, dass er viele Überstunden gemacht hat? Dass er mehr Zeit mit seinen Kindern verbringen will? Oder dass er plant, den Grand Canyon zu besuchen, einen Ort, mit dem sein Chef zufällig positive Erinnerungen verbindet?«
»Die Antwort ist«, fuhr David fort, während er vorn in Raum auf und ab ging, »dass es auf die Person ankommt, die die Nachricht erhält. Deshalb basiert die Analyse von ELOPe nicht nur auf dem Wunsch des Verfassers, sondern auch auf der Motivation des Empfängers.«
David bemerkte, dass Rebecca Smith in der Tür stand und der Präsentation lauschte. In ihrem streng geschnittenen Kostüm und mit ihrem legendären Ruf, der sie wie eine unsichtbare Aura umgab, war die Leiterin von Avogadro eine imposante Erscheinung. Nur ihr warmes Lächeln erschuf eine schützende Nische, in der ein Normalsterblicher wie David mit ihr koexistieren konnte.
Sie nickte David zu, als sie hereinkam und ihren Platz am Kopf des Tisches einnahm.
»Was Sie da beschreiben«, fragte Kenneth, »wie funktioniert das eigentlich? Die maschinelle Sprachverarbeitung ist nicht einmal annähernd in der Lage, die Bedeutung von Worten zu verstehen. Hatten Sie irgendeinen spektakulären Durchbruch?«
»Im Grunde genommen sind wir hier noch im Bereich der Referenzalgorithmen«, antwortete David. »Sean hat mich nicht eingestellt, weil ich mich mit Sprachanalyse auskenne, sondern weil ich einer der führenden Mitbewerber um den Netflix-Preis war. Netflix empfiehlt Filme, die Ihnen gefallen könnten. Und je effektiver sie das tun können, umso besser ist der Service für Sie als Kunden. Vor einigen Jahren bot Netflix jedermann einen Preis in Höhe von einer Million Dollar an, der ihren eigenen Algorithmus um zehn Prozent übertreffen konnte.«
»Was das erstaunliche und sogar unlogische an solchen Referenzalgorithmen ist, ist der Umstand, dass sie nicht auf dem Verständnis der Filme basieren. Netflix hat keinen großen Personalstab, der Filme anschaut, bewertet und kategorisiert, nur um mir dann den neuesten Sci-Fi-Actionthriller empfehlen zu können. Stattdessen verlassen sie sich auf eine Methode, die man als kollaborative Filterung bezeichnet. Dabei finden sie mir vergleichbare Konsumenten und beobachten, wie diese einen bestimmten Film bewerten, um dann vorherzusagen, wie er mir gefallen könnte. Seans Gedanke war, da maschinelle Sprachanalyse nach wie vor mit der Wortbedeutung zu kämpfen hat, dass es besser sei einen Ansatz zu wählen, der nicht auf Verständnis, sondern auf der Nutzung von Sprachmustern basiert.«
David fuhr fort, als er zustimmendes Nicken aus dem Publikum erhielt. »Genau das tut ELOPe. Es wertet Milliarden von E-Mails aus und vergleicht die Sprachnutzung mit der Reaktion des Empfängers. War sie positiv oder negativ? Zusammengefügt aus tausenden von E-Mails pro Person und Millionen von Menschen, können wir die Gruppe von Nutzern, die dem gewünschten Adressaten ähnlich sind, finden und beobachten, wie sie auf Sprachvarianten und Ideen reagieren, um den besten Weg zu finden, die gewünschte Information zu präsentieren und schlüssig zu argumentieren.«
Nun gab es einige erstaunte Blicke und halb erhobene Hände als eine Reihe von Leuten im Raum Fragen zu stellen versuchten. David beschwichtigte sie mit erhobener Hand und fuhr fort. »Behalten Sie ihre Fragen im Hinterkopf und lassen Sie mich Ihnen ein weiteres Beispiel geben. Stellen wir uns jemanden namens Abe vor, der immer, wenn in einer E-Mail Kinder erwähnt werden, negativ reagiert.«
David gestikulierte, während er sich in das Beispiel hineinversetzte. »Nun stellen wir uns vor, ELOPe müsste vorhersagen, ob die zu verschickende E-Mail von Abe positiv oder negativ aufgenommen würde. Sollte diese E-Mail Kinder erwähnen, besteht eine reale Chance, dass sie negativ aufgenommen würde. Wäre Abe nun Ihr Boss, den Sie um Urlaub bitten wollten, wäre es wahrscheinlich keine gute Idee, wenn Sie schreiben, dass Sie mehr Zeit mit Ihren Kindern verbringen wollen.«
Er hörte ein paar Lacher.
»Wenn es also keine semantische Analyse gibt«, fragte Rebecca, »dann wissen wir gar nicht, warum Abe keine Kinder mag?«
»Nein, wir haben keine Ahnung, warum er so denkt«, antwortete David mit einem Lächeln. »Wir beobachten nur das Verhaltensmuster.«
»Was wäre, wenn mein Chef noch nie Mails erhalten hätte, die von Kindern handeln?«
Sean stellte die Frage. »Wie können wir vorhersagen, wie er reagieren würde?«
David grinste, denn er wusste, dass Sean die Antwort bereits kannte und ihm nur auf die Sprünge helfen wollte. »Sagen wir, es gäbe da noch einen anderen Nutzer namens Bob. Bob hat noch nie E-Mails zum Thema Kinder erhalten. Allerdings hat ELOPe erkannt, dass Bob, Abe und etwa hundert andere Personen auf vergleichbare Themen ähnlich reagiert haben. Also was sie an ihren Wochenenden machen, wo sie ihren Urlaub verbringen und wie sie sich sonst die Zeit vertreiben. Nehmen wir an, die Gruppe verhielte sich zu 95% identisch. Sie haben also, bezogen auf alle Themen, zu denen sie Stellung genommen haben, eine Wahrscheinlichkeit von 95%, ähnlich zu reagieren, sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht. Das nennen wir einen Nutzercluster.«
Die Führungskräfte signalisierten ihr Verstehen und David konnte fortfahren.
»Wenn also andere Mitglieder des Nutzerclusters E-Mails zum Thema Kinder erhielten«, erklärte David, »und sie alle negativ reagiert haben, dann kann ELOPe zu 95% sicher sein, dass auch Bob negativ reagieren wird. Natürlich wird es nicht immer so klar und offensichtlich sein, es bleibt eine statistische Vorhersage. Das bedeutet, dass ELOPe in 5% der Fälle daneben liegt, aber eben auch meistens richtig. Also Sean, wäre Bob Ihr Boss, würde ich empfehlen, nicht Ihre Kinder zu erwähnen, wenn Sie ihn um Urlaub bitten.«
David sprach weiter. »Spaß beiseite, ELOPe funktioniert und wir haben es bereits mit Anwendern getestet. Die positive Reaktion bei Antwortmails stieg um 23% gegenüber dem Durchschnitt, wenn ELOPe aktiviert war. Das bedeutet 23% mehr genehmigte Urlaubsanträge, 23% mehr Menschen, die einer Verabredung zustimmen und 23% mehr erfolgreiche Geschäftsabsprachen.«
Rebecca starrte David an. »Einen Augenblick. Wenn es um Verabredungen geht, dann geht es um eine Frau, die sich mit jemandem trifft, mit dem sie sich sonst nicht abgeben würde. Das klingt manipulativ und riskant.«
Kenneth wirkte von Rebeccas Einwand überrascht und begann leise mit Sean zu reden, der neben ihm saß.
Davids innere Gefahrenskala schoss in den roten Bereich und sein Magen krampfte sich zusammen. Das Beispiel mit dem Dating war wirklich verdammt kontrovers. Die nächsten Minuten würden über das Schicksal seines Projekts entscheiden. Wenn Kenneth und Rebecca sich gegen ihn entschieden, war es auch für Sean unmöglich, ihm die Unterstützung für die Fertigstellung von ELOPe zu gewähren.
»Einen Augenblick. Das war womöglich ein schlechtes Beispiel.« David hatte beide Hände erhoben. »Wer hat schon mal an einem Myers-Briggs Persönlichkeitsworkshop teilgenommen?«
Jeder hob die Hand oder nickte zur Bestätigung, ganz wie David es erwartet hatte. Myers-Briggs Seminare waren in großen Firmen quasi Standardveranstaltungen für das gehobene Management. »Nun, was war der Sinn des Workshops«, fuhr er fort. »Es ging ja nicht nur darum herauszufinden, ob Sie eine introvertierte oder extrovertierte Persönlichkeit sind, nicht wahr?«
»Nein, es geht darum, zu erfahren, wie man effektiver mit anderen zusammenarbeitet«, sagte Sean.
»Besser zusammenarbeiten bedeutet was?« David machte eine bedeutungsvolle Pause. »Es bedeutet zu erfahren, wie andere Menschen kommunizieren und denken. Es bedeutet zu erkennen, wer eine datenbasierte Argumentation einer emotionalen vorzieht. Es bedeutet zu wissen, wer gerne laut denkt und wer alles lieber schwarz auf weiß lesen will, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.«
David beobachtete die Zuhörer, zwang sich selbst enthusiastisch und locker zu bleiben, auch wenn er Gefahr lief, dass sich die Gruppenmeinung gegen ihn und sein Projekt wenden konnte. »Ist das etwa manipulativ? Benutzen wir das Wissen aus dem Workshop, um Menschen zu manipulieren, oder werden wir nur befähigt, besser mit anderen zu arbeiten und weniger Zeit mit Diskussionen und Streit zu verschwenden?«
Einige der Abteilungsleiter wandten sich Rebecca zu, warteten auf eine Antwort der Firmenchefin. Rebecca nickte langsam und zustimmend. »Es ist hilfreich. Das ist offensichtlich. Ich habe selbst einige dieser Seminare besucht.«
»Wenn also zwei Personen einen dieser Workshops gemeinsam besuchen«, sagte David, »dann erfahren sie sehr viel voneinander. Ich weiß nicht, ob das erforscht wurde, aber vermutlich werden zwei Menschen, die an einem Myers-Briggs-Seminar teilgenommen haben, sich mit höherer Wahrscheinlichkeit erfolgreich verabreden. ELOPe tut also nichts weiter, als jeden mit denselben Vorteilen auszustatten, die er sich durch eines der Seminare erworben hätte. Wir ermöglichen es diesen Menschen, bessere Gesprächspartner und Mitarbeiter zu werden. Wer möchte nicht ein interessanter Gesprächspartner sein? Und wer möchte nicht, dass seine Mitarbeiter bessere Kommunikatoren sind?« David sah mit Erleichterung, wie die Anspannung in der Gruppe langsam nachließ.
»Denken Sie daran, dass wir die Grundstimmung dieser Mails auswerten«, fuhr er fort, wobei er vor dem Großbildschirm auf und ab lief. »Es ist nicht nur eine halbherzige Zugabe: Menschen erhalten und erreichen einen anhaltend besseren und kooperativeren Informationsaustausch, wenn unsere Software aktiviert ist. Wir stärken Menschen den Rücken, geben jedem das, was er sonst nur in einem teuren Managementseminar erlernen könnte. Zunächst war es die Rechtschreibkorrektur, die den Graben zwischen Menschen mit guter und schlechter Allgemeinbildung überbrückte. Nun schaffen wir die gleichen Voraussetzungen auch beim Schreiben – wir ermöglichen es allen Menschen, wirkungsvolle, gut formulierte Texte zu erstellen.«
Für eine Minute war es ruhig, dann fragte einer der Abteilungsleiter: »Für wann ist die Veröffentlichung geplant?«
Mit dieser Frage löste sich alle verbliebene Anspannung im Raum. Es wurde für weitere fünfzehn Minuten diskutiert, aber die Themen waren die Details der Implementierung und Fragen zu den Umsatzprognosen. Nach Davids Präsentation führte Sean ihn zur Tür des Konferenzraums, während die Führungskräfte plauderten und sich mit einer weiteren Runde Kaffee und Häppchen versorgten. »Gute Arbeit«, sagte er im vertraulichen Ton, als er ihm die Tür aufhielt. »Ich bin zuversichtlich, dass sie die nächste Phase unterstützen.«
Als die Tür sich hinter ihm schloss, sank David gegen die Wand vor dem Konferenzraum. Die Präsentation hatte ihn ausgelaugt. Dann lachte er leise. Das Beispiel mit der Verabredung war riskant gewesen, aber es war besser, gleich damit anzukommen, anstatt es später zu einem Problem werden zu lassen. Er war sicher, mit der Präsentation das Management auf seine Seite gezogen zu haben. Die Sprachanalyse, die er gestern Nacht mit ELOPe am Text seiner Präsentation gemacht hatte, sagte mit einer Wahrscheinlichkeit von 93% Zustimmung voraus.
»Hören Sie Gary, Sie wissen genauso gut wie ich, dass Optimieren keinen Sinn macht, bis wir wirklich fertig sind.«
Während David in seiner ach so wichtigen Präsentation war, sah sich Mike gezwungen, ihren Ressourcenbedarf Gary Mitchell gegenüber zu verteidigen. Mike fragte sich (und das nicht zum ersten Mal) ob David die Zeit des Meetings mit Gary bewusst so gelegt hatte, dass es mit der Konferenz der Abteilungsleiter kollidierte, damit er zu diesem Termin nicht erscheinen musste. Mike seufzte.
Man konnte ihn jederzeit mit einem schadhaften Programmcode oder einer neuen Datenarchitektur konfrontieren, damit kam er klar. Man konnte ihn vor ein Entwicklerteam setzen, das es zu motivieren galt und alles würde gut werden. Aber er hasste die Abgründe der Firmenpolitik. David schuldete ihm etwas für diese Nummer.
»Wir werden natürlich nur noch einen Bruchteil der Serverleistung benötigen, wenn wir erst optimiert haben. Allerdings können wir es erst dann tun, wenn der Algorithmus komplettiert ist. Wenn wir jetzt versuchen zu optimieren, dann wird das auf Kosten der Effizienz gehen. Das ist das Einmaleins der Informatik.« Es war, als spräche er gegen eine Wand. Die Worte prallten einfach ab.
»Mike, Mike, Mike.«
Mike rollte mit den Augen wegen Garys herablassendem Ton, was nicht weiter auffiel, da Gary sich nicht die Mühe machte, ihn anzuschauen. Mike studierte Gary über den großen Tisch hinweg. Er war in seinen Stuhl zurückgelehnt, die Arme hinter dem Kopf, das weiße Hemd spannte über seinem Bauch, die Backen hingen ihm bis zum Kinn. Er schien die Zimmerdecke ausgiebig zu studieren. Mike vermutete, dass Gary als Abteilungsleiter bei General Motors besser aufgehoben gewesen wäre. Es fehlte nur ein großer Aschenbecher mit einer Zigarre. Er fragte sich einmal mehr, wie in aller Welt Gary bei Avogadro gelandet war.
»Ich weiß, dass euer Projekt eine Sonderfreigabe von Sean für die Produktionsserver hat«, sagte Gary. »Die Server, die Avogadros Tagesgeschäft am Laufen halten, wie ich dich erinnern muss.« Gary mühte sich schließlich in eine aufrechte Position und sah Mike an. Er zeigte mit einem dicken Finger auf ihn, bevor er fortfuhr. »Ihr zieht so verdammt viel Speicher und Bandbreite von den AvoMail Servern ab, dass ich zusätzliche Ressourcen anfordern musste. Ihr denkt vielleicht, dass euer Projekt ein Geschenk des Himmels ist, aber das denkt jedes Forschungs- und Entwicklungsteam. Währenddessen muss ich die Dinge hier am Laufen halten und euer armseliges Experiment frisst unsere Reserven auf.«
»Gary, wir …«
Gary übertönte ihn einfach. »Ganz gleich, was Sean sagt, ich habe das Sagen in dieser Abteilung und ich trage die Verantwortung dafür, dass es keinerlei Ausfälle gibt. Ich sage euch, dass ihr zwei Wochen habt, um eure Serverlast zu reduzieren, oder ich werfe euch von den Produktionsservern runter.«
»Hören Sie, Gary, wir können …«, begann Mike, aber Gary unterbrach ihn sofort wieder.
»Ich will kein Wort mehr hören«, brüllte er. »Wir sind hier fertig. Ich führte diese Diskussion wieder und wieder mit David. Ihr habt zwei Wochen. Richte das David aus. Auf Wiedersehen.« Gary scheuchte ihn mit einer Handbewegung aus seinem Büro wie eine streunende Katze.
Mike verließ Garys Büro, stürmte an seiner verblüfften Sekretärin vorbei und widerstand dem Drang, die Türen hinter sich zuzuschlagen, bevor er sich auf den Weg zurück ins F&E Gebäude machte.
Er stapfte fünf Stockwerke nach unten, noch voll unverbrauchtem Zorn, überquerte eine Straße, lief den Block hinunter und wieder hoch, um schließlich, durch ein Labyrinth von Korridoren, sein eigenes Gebäude zu erreichen.
Er beruhigte sich langsam, während er lief, was einer der Vorteile des weitläufigen Campus war. Avogadro Corp. war so stark expandiert, dass es sich nun über sieben Blocks im nordwestlichen Teil Portlands erstreckte, auf dem ehemaligen Gelände einer alten Spedition. Ein Dutzend Gebäude, die meisten neu, ein paar alt und ständig im Ausbau befindlich.
Da das Unternehmen und seine Profite in den letzten fünfzehn Jahren stetig gewachsen waren, baute man ein neues Gebäude nach dem anderen. So schnell, dass sogar die Mitarbeiter den Überblick verloren, wer oder was gerade wo war. Selbst Mike hatte in den wenigen Jahren, die er für die Firma beschäftigt war, den Bau von drei neuen Gebäuden erlebt. Es war ein ständiger Quell der Neugierde unter den Angestellten zu erkunden, was die verschiedenen Gebäude beherbergten. Während die meisten der Bürokomplexe eigentlich ganz normal waren, gab es auch ein paar skurrile Entdeckungen zu machen, wie etwa das Observatorium auf dem Dach eines der Gebäude, das sich nur für bestimmte, offenbar zufällig ausgewählte Mitarbeiterausweise öffnete. Da gab es angeblich ein Billardzimmer, das zwischen Gebäuden und Etagen wechselte. Mike hatte es sogar selbst gesehen. Ob dieses Zauberkunststück aber durch einen Raum bewerkstelligt wurde, der sich tatsächlich bewegte, ob die Haustechniker nur das Mobiliar bewegten oder ob der Raum womöglich dupliziert wurde, wusste niemand zu sagen. Natürlich konnten auch die Programmierer von Avogadro Rätseln nicht widerstehen und hatten so ziemlich alles gemacht: Vom Verstecken von Wi-Fi-Einwahlknoten, bis hin zu Mobiliar, das mit RFID-Chips versehen war. Die lieferten beim Auslesen seltsame Resultate, die jeden nur noch mehr verblüfften.
Es gab das nicht ganz ernst gemeinte Gerücht unter den Mitarbeitern, dass jemand aus der Geschäftsleitung unter dem Winchester House Syndrom litt. Mike hatte das Winchester House in San Jose einmal besucht, als er noch aufs College ging. Im Auftrag von Sarah Winchester, der Witwe des Waffenmagnaten William Winchester, war es von 1884 bis 1922 ständig um- und ausgebaut worden, da sie glaubte, sterben zu müssen, wenn die Bauarbeiten je abgeschlossen würden. Der Gedanke, dass einer der Bosse von Avogadro unter demselben Aberglauben litt und daher ähnliches mit dem Avogadro Campus machte, zauberte immer ein Lächeln auf sein Gesicht. Im Ganzen betrachtet aber waren, so dachte er, die seltsamen Aspekte auf dem Gelände eher gewollt. Es war ein Spiel, um die Entwickler bei Laune zu halten. Es brauchte schon etwas mehr, um hochintelligente aber leicht gelangweilte Nerds zu motivieren.
Als er den Gebäudeübergang im 2. Stock benutzte, um zurück zu F&E zu kommen, verschwand sein Lächeln, während er überlegte, wie er es David erklären sollte. Er würde nicht glücklich über Garys Ultimatum sein.
Ihr Referenzalgorithmus, der so simpel erschien, wenn ihn David einem Laien erklärte, basierte auf dem Herunterbrechen enormer Datenmengen. Der Text jeder einzelnen E-Mail musste analysiert und mit Millionen anderer E-Mails verglichen werden. Anders als bei den Algorithmen zur Empfehlung von Spielfilmen, die an Hand von etwa hundert Charakteristiken analysiert und bewertet werden konnten, war die Analyse der Mails um ein Vielfaches komplexer. Es benötigte einhundert mal mehr Rechenzeit, Speichervolumen und, was das Wichtigste war, Zugriff auf die Datenbanken. Nach dem Treffen konnte kein Zweifel bestehen, dass Gary längst an der Grenze dessen war, was er ihrem Team zugestehen wollte. Unglücklicherweise hatte Mike Gary belogen. Mike zuckte mit den Achseln, war mit sich selbst nicht im Reinen. Wann waren Lügen Teil seiner Arbeit geworden? Ihm gefiel das nicht. Die Wahrheit war, dass er, David und weitere Teammitglieder seit Monaten daran arbeiteten, die Performance von ELOPe zu verbessern. Leider war das jetzige, serververschlingende Ungetüm das Beste, was sie erreichen konnten. Ganz egal, was sie auch anstellten, es würde keine nennenswerten Verbesserungen mehr geben. Daher war es schlichtweg unmöglich, Garys Ultimatum einzuhalten.
Nein, David würde nicht glücklich sein. Mike seufzte. David würde stinksauer werden.
Ein arbeitsreicher Vormittag ließ Mike von einem Termin zum nächsten hetzen, obwohl er dringend mit David sprechen wollte. Erst Stunden später konnte Mike sich freimachen. Er rannte praktisch in Davids Büro, bevor neue Probleme sie unterbrechen konnten.
»Hast du eine Minute?«, fragte er vorsichtig.
»Aber klar.«
Genau wie Mikes Arbeitsplatz hatte auch Davids Büro Raum für drei bis vier Besucher, so lange alle nett zueinander waren und ein Deo verwendeten. Ein Whiteboard bedeckte die Wand hinter Mike und das nach Norden weisende Fenster bot einen Ausblick auf den dicht bewaldeten Forest Park. Mike war sich zwar sicher, dass die gerade einmal sechs Monate alte Büroaufteilung weniger effektiv für die Zusammenarbeit war als die vom letzten Jahr, wo alle aus dem Team gemeinsam einen großen Raum genutzt hatten, aber ihm gefiel die Veränderung. Außerdem würde es nächstes Jahr vermutlich wieder anders sein.
Mike fasste das Treffen mit Gary Mitchell zusammen und sah, wie David schon während seiner Erzählung in Rage geriet. »Dann warf er mich aus seinem Büro, bevor ich auch nur die Gelegenheit hatte noch etwas zu sagen«, sagte er abschließend. »Aber was hätte ich denn sagen sollen? Du weißt, dass wir keine Performanceverbesserung erwarten können.«
David saß an seinem Tisch, die Hände verschränkt und starrte auf seinen dunklen Bildschirm. Seit einer Minute hatte er sich weder bewegt noch etwas gesagt. Mike wusste, dass das ein schlechtes Zeichen war. Tux, der Pinguin, das Maskottchen von Linux, wackelte oberhalb von Davids Monitor im Luftzug der Klimaanlage. Mike erinnerte sich, dass Christine den Pinguin nach einem ihrer ersten Dates für David gekauft hatte.
»Zwei Wochen also. Was gedenkst du zu tun?«, fragte ihn Mike nach einer Minute schmerzlicher Stille.
»Wir reduzieren die Anzahl der Leute, die am Programm und an der Verbesserung des Algorithmus arbeiten«, sagte David schließlich, nachdem er zu einem Entschluss gekommen war. »Wie viele Leute kannst du Vollzeit auf die Optimierung ansetzen?«
»Ich werde mich selbst rund um die Uhr einbringen«, sagte Mike und begann mit seinen Fingern zu zählen. »Mit Sicherheit Melanie«, fügte er hinzu, womit er eine ihrer besten Softwareentwicklerinnen erwähnte. »Zwei oder drei andere, denke ich. Wahrscheinlich fünf, alles in allem. Aber David«, er machte eine Pause, um ihm direkt in die Augen zu sehen, »wir werden keine Fortschritte machen.«
»Also gut, fangen wir mit fünf Leuten an, die sich voll auf diese Sache konzentrieren«, sagte David, Mikes Protest ignorierend. »Wenn wir am Donnerstag unsere nächste Vorabversion getestet haben, sehen wir weiter.«
Mike seufzte und verließ das Büro.
»Wie läuft es?«, fragte David, als er ein paar Tage später in Mikes Büro kam. Er setzte sich auf die Fensterbank.
»Hervorragend«, sagte Mike und sah von seinem Bildschirm auf. »Jeder im Team hat seinen Teil der Arbeit für den Testlauf beendet, der Programmcode ist gecheckt und die Einbindungstests laufen. In ein paar Minuten sollten wir wissen, ob alles stabil läuft.«
»Nein, nein, an der Effizienzfront meine ich«, sagte David frustriert. Er zerknüllte ein Post-it und warf es in Mikes Papierkorb. »Wenn wir unsere Performance nicht verbessern, haben wir größere Probleme als die anstehende Programmprüfung.«
»Ich erwarte keine Verbesserung, um ehrlich zu sein«, antwortete Mike. Er sah nach unten, denn David hatte den Papierkorb verfehlt.
»Du hattest doch Leute darauf angesetzt, richtig?« David sah aus dem Fenster, das auf dem Boden liegende Papier ignorierte er.
Mike seufzte und hob es selbst auf. »Ja«, sagte er. »Ein paar Möglichkeiten habe ich selbst durchgespielt und ich hatte vier weitere Softwareentwickler auf die Performanceverbesserung angesetzt. Alles was wir machten, hatte entweder keinen Effekt oder es verschlimmerte das Problem. Die meisten Änderungen haben wir zurückgenommen und nur ein paar kleinere Verbesserungen behalten. Alles in allem brachte das weniger als ein Prozent. Tut mir leid. Wir rennen da seit Monaten gegen eine Wand. Ich weiß, dass du auf ein Wunder wartest, aber das ist wahrscheinlich vergebens.«
»Verdammt«, seufzte David und drehte sich zur anderen Seite, um auf Mikes Whiteboard zu starren, das genau wie sein eigenes, eine ganze Wand einnahm. An einem Ende hatte die Tafel eine Checkliste mit Programmeigenschaften, Verbesserungen und Erweiterungen, die für die aktuelle Version geplant waren. Verteilt über den Rest der Tafel waren Diagramme der Programmarchitektur, Teile des Codes und unsortierte Ideen. David starrte intensiv darauf, als läge die Lösung für ihre Probleme irgendwo auf dieser Tafel.
»Da ist es nicht. Ich habe schon nachgeschaut«, sagte Mike in einem depressiven Tonfall. David grunzte und musste sich eingestehen, dass Mike seine Gedanken erraten hatte. »Ich hoffe, du denkst nicht darüber nach, unseren Snowboard-Tag abzusagen«, sagte Mike dann. »Bei jeder neuen Version hatten wir einen. Und es ist frischer Schnee gefallen.«
David warf einen Blick aus dem Fenster. Ein Dezembertag mit Nieselregen. Das bedeutete Pulverschnee in den Bergen. Verdammt. Das Projekt war zu wichtig, um allen einen freien Tag zu geben. »Wir müssen …« Er drehte sich um, sah Mikes Gesichtsausdruck und verstummte mitten im Satz.
»Das Team erwartet es«, sagte Mike. »Ein paar der Jungs waren gestern bis zwei Uhr morgens hier um ihre Arbeit zu beenden. Sie verdienen einen freien Tag und sie werden frisch und munter zurückkehren und das Performanceproblem knacken. Du kannst nicht alles von ihnen verlangen, wenn du ihnen nichts dafür zurückgibst.«
David fühlte sich krank angesichts seines Mangels an Kontrolle über die augenblickliche Situation. Er fühlte den ungeheuren Druck von Garys Ultimatum auf sich lasten, aber er wusste auch, dass Mike recht hatte. Außerdem machte er sich klar, dass ein einziger Tag auch keinen Unterschied bei einem Problem machte, mit dem sie sich seit einem halben Jahr herumschlugen. »Also gut, aber wenn wir zurück sind, erwarte ich von jedem, sich mit einhundertzehn Prozent auf die Programmeffizienz zu konzentrieren. Nimm alles von der To-do-Liste außer den Performanceverbesserungen.«
David lehnte sich aus dem Bett und schlug auf die Taste des Weckers. Dann rollte er sich auf seine andere Seite und sah nach Christine, die noch schlief. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und beobachtete für eine Minute, wie sie atmete, bevor er aus dem Bett glitt. Er zog sich schnell im Dunklen an und schlich die Treppe herunter, wo seine Sporttasche und sein Snowboard neben der Tür auf ihn warteten.
Ein paar Minuten später fuhr Mike seinen Jetta leise in die Einfahrt, die Abgase aus seinem Auspuff kondensierten dampfend in der kalten Morgenluft. David ging mit seiner Ausrüstung nach draußen und schloss die Vordertür ab. Wortlos öffnete Mike den Kofferraum und half David seine Sachen zu verstauen. David stieg auf der Beifahrerseite ein und lächelte sofort. Im Schimmer der Armaturenbeleuchtung konnte er sehen, dass Mike bereits zwei Isolierbecher mit dampfendem Kaffee besorgt hatte.
»Du bist verdammt genial«, sagte David, griff nach einem Becher und nippte an seinem Kaffee.
»Nichts zu danken. Der Schneereport sagt fünfzehn Zentimeter frischen Pulverschnee für den Mount Hood voraus. Das sollte gut werden.«
»Wo ist der Rest des Teams?«
»Ach, die meisten von ihnen fahren mit Melanies neuem Pick-up rauf«, antwortete Mike. »Ich dachte, wir zwei fahren zusammen und gönnen ihnen so eine Pause von ihrem Boss und ihrem Chefprogrammierer.«
David grinste. »Du lernst noch Menschenführung auf deine alten Tage.«
»Na, so alt bin ich noch nicht. Ich bin kein verheirateter alter Sack, so wie du.«
Mike fuhr in Richtung Mount Hood, der ungefähr eine Stunde entfernt lag. Für eine Weile fuhren sie in einträchtiger Stille, blieben auf der nach Osten führenden I-84 und genossen den Kaffee und den Sonnenaufgang.
»Wo siehst du dich in ein paar Jahren?«, fragte David plötzlich, die Stille unterbrechend.
Mike warf ihm einen Seitenblick zu. »Wow, Mann. Das ist eine tiefgründige Frage am frühen Morgen.« Er überlegte kurz. »Weißt du, ich bin gerade glücklich. Ich arbeite gemeinsam mit tollen Leuten an dem spannendsten Projekt, das ich mir vorstellen kann. Ich habe einen guten Chef, auch wenn ich ihn von Zeit zu Zeit auf Kurs bringen muss.«
David grinste angesichts des Kompliments.
»Mir gefällt, was ich tue«, sagte Mike. Ich glaube, mehr kann man nicht verlangen. Außer mehr Servern vielleicht.«
Darüber mussten sie beide schmunzeln.
»Wie sieht es bei dir aus?«
»Ich habe schon darüber nachgedacht.« David schwieg für einen Augenblick. »Die Sorgen über Gary und sein Ultimatum rauben mir den Schlaf.«
»Mann, tu' dir das nicht an. Wir kriegen das in den Griff. Oder eben nicht und dann wird uns Sean irgendwoher zusätzliche Server verschaffen. Es ist nichts, weswegen man schlaflose Nächte haben müsste. Wir brauchen alle unsere Ruhepausen.«
»Es ist nicht nur das. Klar, natürlich will ich ELOPe veröffentlicht sehen und das Projekt zu einem Erfolg machen. Für die Entwicklung von ELOPe rekrutiert zu werden, war für mich der große Wurf.« David machte eine Pause und schüttelte den Kopf. »Nein, die Wahrheit ist, dass ich nicht mehr unter der Fuchtel von jemandem stehen will, so wie es jetzt mit Gary ist. Wir machen all die Arbeit und bekommen sicher auch ein wenig Anerkennung, aber unter dem Strich kommt es eigentlich Gary Mitchell und seiner Abteilung zu Gute. Währenddessen müssen wir uns von ihm jeden Mist gefallen lassen.«
Mike ließ das sacken. »Was hast du vor?«
»Wir nehmen den Vertrauensvorschuss, den wir nach der Veröffentlichung von ELOPe erhalten würden. Darauf aufbauend kriegen wir die Unterstützung für etwas Großes, von Grund auf Neues. Ein brandneues Produkt für Avogadro. Etwas, das nicht jemandem wie Gary unterstellt ist. Etwas, das die Welt verändern kann.«
Mike nickte. »Klar, das wäre nett, aber …«
»Nicht nur einfach nett«, unterbrach ihn David. »Das ist, wofür ich geboren wurde. Ich spüre es tief in meinem Herzen.«
Mike warf einen Blick zu David hinüber und hoffte, dass da nur das Koffein aus ihm sprach, fürchtete aber schlimmeres.
Sechzig Meilen weiter östlich und eine Stunde später glitt Mike von der Liftrampe und ließ seine Bindungen zuschnappen. David war bereits auf dem Weg nach unten. Mike machte einen Sprung, um Fahrt aufzunehmen, und folgte ihm den Berg hinunter.
Manchmal verstand er David einfach nicht. David war einerseits unglaublich intelligent und es machte Spaß, mit ihm befreundet zu sein. Auf der anderen Seite war er ein getriebener Mensch, immer auf etwas jenseits des Horizonts fixiert, was ihn den Blick für das Hier und Jetzt verlieren ließ.
Verdammt, David war ihm zu weit voraus. Mike ging tiefer in die Hocke, um etwas mehr Tempo zu machen. Die kalte Bergluft pfiff durch die Ventilationsschlitze seines Skihelmes.
Mike erstaunte es immer wieder, wie er und David sich in dieselbe Situation hineinversetzen und sie doch auf völlig unterschiedliche Arten beurteilen konnten. Mike erlebte gerade die beste Zeit seiner Karriere, während er mit netten Kollegen an einem aufregenden Projekt arbeitete. Klar, es tauchten auch hin und wieder Typen wie Gary auf, aber das war Teil der Herausforderung. David betrachtete dasselbe Szenario und nahm Garys Einmischung persönlich. Schlimmer noch, er begann das ganze Projekt nur als eine Etappe auf dem Weg zu etwas Größerem zu sehen. Was war mit ihrer Freundschaft? Und war nicht der Weg eigentlich das Ziel?
Mike blickte auf und stellte das Snowboard quer, um anzuhalten. Als er knirschend zum Stehen kam, war es absolut still in der kalten Luft der Berge. Die Skipiste teilte sich hier und David war bereits außer Sicht. Welchen Weg hatte er genommen?
Ein paar Tage später steckte Mike seinen Kopf in Davids Büro. »Hast du mal eine Minute?«, fragte er.
»Klar, lass mich das hier noch fertig machen.« Tippend und drückend zwang David dem Computer seinen Willen auf. »Was kann ich für dich tun?«
Es war Dienstag und bereits später Abend, kaum drei Tage bis zum Ablauf von Garys Ultimatum. Die meisten im Team waren geblieben und hatten das Abendessen ausgelassen. David hatte Pizza besorgt. Mike wusste, dass das Budget der Abteilung durch die Anschaffung des kleinen Serververbunds, den David ein paar Monate zuvor gekauft hatte, erschöpft war. Das bedeutete, dass David das Essen vermutlich aus seiner eigenen Tasche bezahlt hatte. Jetzt aber machten sich die Softwareentwickler nach und nach auf den Heimweg und Mike nahm an, dass er nun ungestört mit David reden konnte.
Mike zog einen der Bürostühle heran und drehte ihn, um sich verkehrt herum darauf zu setzen. »Ich glaube nicht, dass wir es schaffen. Es gibt nichts, das wir bis Ende der Woche tun könnten, was uns Garys Forderungen näher brächte. Ich habe das gesamte Team daran arbeiten lassen. Wir haben Tests mit jeder brauchbaren Idee laufen lassen, die uns in den Sinn kam, aber nichts zeigte Wirkung.« Er kreuzte die Arme über der Stuhllehne und wartete auf Davids Antwort.
David saß einfach da, hatte die Hände vor sich gefaltet und starrte zum Fenster, das eine seltsame Mischung aus dem Licht von draußen und der Spiegelung des Büros zeigte. Mike bemerkte, dass David den Beleuchtungshack laufen ließ, der von einem Avogadro-Programmierer entwickelt worden war, um die automatische Beleuchtung zu umgehen. Der Hack war über die Jahre verbessert worden, sodass es nun möglich war, das Licht zu dimmen. David hatte es auf sehr dunkel eingestellt.
Eine Minute verging und es war offensichtlich, dass David nicht antworten würde. Wenn es eine Sache gab, die Mike an David störte, dann war es seine Tendenz, gerade dann schweigsam zu werden, wenn viel auf dem Spiel stand.
Eine weitere Minute verging und Mike begann sich innerlich zu winden. »Ich wünschte, ich könnte etwas finden«, sagte er schließlich, »aber ich weiß nicht was. Da ist dieses autodidaktische, serbische Wunderkind, der etwas mit Algorithmen für künstliche Intelligenz macht und er macht das auf seinem Heimcomputer. Ich habe seinen Blog gelesen und es klingt, als hätte er ein paar neue Ansätze für Referenzalgorithmen. Aber ich sehe keinen Weg, das, was er da entwickelt, bis zum Ende der Woche zu duplizieren.« Mike griff nach einem Strohhalm. Nach einem sehr dünnen Strohhalm. Er hasste es, David schlechte Nachrichten zu überbringen. »Vielleicht können wir die Genauigkeit des Systems reduzieren. Wenn wir weniger Sprachanalysecluster verwenden, können wir mit geringerer Speicherlast und weniger Rechenzyklen auskommen. Vielleicht …«
»Nein, macht das nicht.«
Davids Stimme tauchte aus dem Halbdunkel empor und ließ Mike aufschrecken. David hatte aufgesehen und lächelte Mike an. »Hör zu, mach dir keine Sorgen. Wir haben noch ein paar Tage. Ihr Jungs bleibt an der Sache dran. Der Führungsstab hat vor ein paar Wochen unsere Präsentation gesehen und sie hat ihnen gefallen. Wir wollen also nicht an der Genauigkeit herumbasteln. Das Programm arbeitet gut und hat alle beeindruckt. Lass dein Team weiter an der Performance arbeiten, aber rührt die Systemgenauigkeit nicht an. Ich sehe zu, dass ich die benötigten Ressourcen auf anderem Weg bekomme.«
»Bist du da ganz sicher?«, fragte Mike mit erhobenen Augenbrauen.
»Ja, das bin ich. Wir werden die Ressourcen bekommen.« David klang plötzlich zuversichtlich.
Mike verließ ihn mit einem Gefühl der Verunsicherung. Ihre Galgenfrist lief in wenigen Tagen ab. Was hatte David vor?
Nachdem Mike gegangen war, erhob sich David und ging zum Fenster hinüber. Er sah hinaus auf die nassen Straßen, die im Licht der Straßenlaternen glänzten. Die Straßenbahn von Portland hielt gerade vor dem Gebäude gegenüber, um ein paar Nachzügler aufzulesen.
Auf der einen Seite war Gary Mitchell, der Leiter der Abteilung für Kommunikationsprodukte, ein Narr ohne Visionen. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass ELOPe als Erweiterung für gerade jenes Produkt gedacht war, für das Gary verantwortlich war, nämlich für Avogadros E-Mail-Service. AvoMail würde eine unglaubliche Aufwertung erhalten, wenn ELOPe einsatzbereit war und obwohl David die Anerkennung für die Entwicklung erhalten würde, wäre es doch Garys Abteilung, die durch zusätzliche Nutzer und steigende Umsätze finanziell davon profitieren würde. Alles was Gary tun musste, war das Projekt in geringstmöglicher Weise zu unterstützen, um den ganzen Ruhm einzustreichen.
Auf der anderen Seite musste David zähneknirschend eingestehen, dass er, wäre er an Garys Stelle gewesen, sich auch Sorgen wegen möglicher Ausfälle gemacht hätte. Aber verdammt noch mal, manche Dinge waren das Risiko wert.
David analysierte das vorliegende Dilemma. Gary würde nicht einwilligen, ELOPe auf seinen Servern zu lassen, weil es zu viel Ressourcen verschlang. Die F&E Server kamen nicht infrage, weil sie nicht leistungsfähig genug waren. Also musste ELOPe entweder weniger Ressourcen verbrauchen, was offenbar nicht möglich war, oder sie brauchten neue Server für den Betrieb. Oder die Anzahl der Mailserver musste sich vergrößern. Weniger Ressourcen zu verbrauchen, war ein technisches Problem. Mehr oder andere Server zu bekommen war ein menschliches Problem. Eigentlich ging es darum, die richtigen Menschen von der Notwendigkeit zu überzeugen. Da konnte er etwas machen. Er setzte sich wieder an seinen Computer, reckte die Arme, räumte einen Papierstapel aus den Weg und machte sich an die Arbeit. Er öffnete einen Editor und begann zu programmieren.
Die Stunden vergingen wie im Flug. David sah auf die Uhr unten auf seinem Bildschirm und stöhnte. Christine würde ihn umbringen. Es war beinahe vier Uhr morgens. Sie vergab ihm seine zeitaufwendigen Arbeitsgewohnheiten, aber bei Nachtschichten machte sie ihm die Hölle heiß. Er würde zwei Tage lang unleidlich sein, bis er den verpassten Schlaf nachgeholt hatte und sie würde böse auf ihn sein, weil er so schlecht gelaunt war.
Während er wieder versuchte, seinem Becher den letzten Tropfen Kaffee zu entringen, überlegte er bereits, sich mit einem weiteren Kaffee zu versorgen. Er hatte jetzt nichts mehr zu verlieren. Nach stundenlangem Programmieren erhob er sich unter schmerzvollem Protest seines Rückens. Seit seiner Diskussion mit Mike waren sechs Stunden vergangen und ihm schien, als habe er ihr Ressourcenproblem fast gelöst.
Mit dem Becher in der Hand tappte er in Socken über den mit Kork ausgelegten Korridor. Er füllte ihn mit Kaffee, fügte Milch und Zucker hinzu und stand minutenlang da, halb benommen vom Schlafmangel und ließ sich von dem heißen Gebräu aufwärmen. Er blickte den Korridor hinauf und hinunter, die hellen und dunklen Muster verschwammen vor seinen müden Augen. Selbst das Brummen der spätabendlichen Staubsauger war nur noch eine vage Erinnerung und nun hatte sich eine seltsame Stille über die Büros gelegt, eine Art von Stille, die sich nur einstellte, wenn jedes lebende Wesen einen Ort schon vor Stunden verlassen hatte. David war sich nicht sicher, was das über ihn aussagte. Er schlurfte zurück an seinen Schreibtisch. Über seine Tastatur gebeugt sah sich David noch einmal die Programmzeilen an. Die Änderungen, die er gemacht hatte, waren subtil, sehr subtil sogar. Es war meisterliche Programmierarbeit, die Art von Arbeit, die er seit den frühen Tagen des Projekts nicht mehr gemacht hatte, als es nur ihn und Mike gegeben hatte. Er musste sehr vorsichtig sein bei jeder Programmzeile, die er veränderte. Ein einziger Fehler konnte das Ende des Projekts und seiner gesamten Karriere bedeuten. Etwas mehr als eine Stunde später überprüfte er das Programm ein letztes Mal. Endlich zufrieden schickte David seine Änderungen ins Hauptverzeichnis. Sie würden automatisch in den Quellcode eingefügt und getestet werden. Zum ersten Mal seit Stunden lächelte er. Problem gelöst.
Gary Mitchell nahm die ›Avogadro‹-Ausfahrt von der Freemont Bridge herunter und fuhr auf das Tor des Parkhauses zu. Seine Scheinwerfer wurden von den Leuchtstreifen der Schranke in die Dunkelheit des frühen Morgens zurückgeworfen. Siegessicher präsentierte er dem Lesegerät seinen Firmenausweis. Die Schranke hob sich und Gary fuhr in das fast leere Parkhaus, ein breites Lächeln auf seinem Gesicht.
Nur noch zwei Tage bis zum Stichtag, an dem er ELOPe von den Servern werfen konnte. David und Mike hatten nichts getan, um den Speicherbedarf zu reduzieren. Gary freute sich bereits darauf, eine E-Mail an Sean Leonov zu senden, um ihn wissen zu lassen, dass er ELOPe ausschalten würde. Auf diesen Tag hatte er seit Monaten gewartet. Am liebsten hätte er gleich den Stecker gezogen und dann erst die E-Mail geschickt, aber er wusste, dass es Sean verärgern würde, wenn er ELOPe ohne Vorwarnung abschaltete. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass er so früh in sein Büro kam. Auf Gary wirkte das leere Gebäude seltsam beunruhigend. Er schob das Gefühl beiseite und dachte daran, wie er die E-Mail verschicken würde, was das Lächeln wieder auf sein Gesicht zurückkehren ließ. Einige Minuten später passierte Gary den leeren Schreibtisch seiner Sekretärin und ging in sein eigenes Büro. Als sein Computer hochfuhr, öffnete Gary sofort seine E-Mails um die Nachricht an Sean zu verfassen.
Von: Gary Mitchell An: Sean Leonov Betreff: ELOPe Projekt Zeit: 6:22
Sean, ich wollte Sie nur vorab informieren, dass ich am Freitag ELOPe den Zugang zu den Produktionsservern entziehen werde. Sie verbrauchen fast 2000 mal mehr Serverkapazität, als wir Ihnen ursprünglich zugewiesen haben. Ich habe Ihnen praktisch freien Zugriff gewährt, solange wir ausreichende Zusatzkapazitäten hatten, weil ich weiß, dass Ihnen das Projekt am Herzen liegt. Allerdings verbrauchen Sie jetzt so viel Kapazitäten, dass wir zweimal gezwungen waren, auf die Reserveserver auszuweichen. Wie Sie wissen, kann es, sollten wir die Reserven ausschöpfen, verbreitet zu Ausfällen bei AvoMail kommen. Als das beim letzten Mal passierte, verloren wir ein Dutzend Geschäftskunden, mit denen wir in laufenden Verhandlungen standen. Wieder und wieder habe ich mit David und Mike gesprochen, aber sie haben nichts getan, um ihre Serverlast zu reduzieren. Ich habe sie ein letztes Mal verwarnt und ihnen zwei Wochen gegeben, um sich darum zu kümmern, aber Sie haben nichts getan.
Als die E-Mail fertig war, saß Gary da und freute sich hämisch. Dann wuchtete er sich hoch, um sich mit einem Kaffee und der Tageszeitung zu versorgen. Natürlich war es noch zu früh für ernsthafte Arbeit. Er würde die Zeitung lesen und in ein paar Stunden zurückkehren. Gary schlenderte pfeifend den Korridor hinunter.
John Anderson ließ dankbar seine schwere Umhängetasche zu Boden gleiten. Er schlüpfte aus seinem nassen Regenmantel und hängte ihn hinter seinem Tisch auf. Schwer ließ er sich in seinen Stuhl fallen, doch die Federung fing sein Gewicht mühelos auf. Er seufzte bei dem Gedanken an einen weiteren Tag in der Beschaffungsabteilung, wo er Kaufanforderungen bearbeitete.
Er warf einen zögernden Blick in seinen Posteingang und sah mehr als einhundert neue Nachrichten. Seine Schultern sackten ein wenig herab und er griff nach seinem Kaffee. John kümmerte sich diese Woche um die Kinder, daher hatte er sie vor der Arbeit an der Schule absetzen müssen. Durch Portlands verrücktes Schulsystem waren die besten öffentlichen Schulen frei wählbar. Er und seine Ex-Frau mussten sich zwischen einem Dutzend verschiedener Schulen entscheiden. Sie einigten sich schließlich auf die Environmental School im Südwesten Portlands. Johns Kinder liebten die Schule ebenso wie er. Leider wohnten sie im Nordosten von Portland, die Schule war im südöstlichen Viertel und die Arbeit war jenseits des Flusses im Nordwesten von Portland. Seine übliche 20-minütige Route wurde zu einer mehr als einstündigen Fahrt an den Tagen, an denen er seine Kinder abliefern musste. Er kam dann immer zu spät ins Büro und wenn er die Arbeit erreichte, hatte sein Smartphone bereits seit einer geschlagenen Stunde gepiept und gesummt, während sich die E-Mails häuften. Er hasste es, mit diesem Rückstand seinen Tag zu beginnen. Sein einziger Trost war, dass die Schule der Kinder ganz in der Nähe eines Stumptown Cafés lag. John nippte an dem Kaffee aus äthiopischem Anbau. Die dunkle, bittersüße Wärme zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Nachdem der Kaffee sein Gehirn Schritt für Schritt in Gang gebracht hatte, war er bereit, sich durch seinen Posteingang zu arbeiten. Er stutzte, als er auf eine rätselhafte Mail von Gary Mitchell stieß. Sie war frühmorgens versendet worden und forderte ihn auf, 5000 Server umzuleiten. John las die kurze Mail dreimal vollständig durch.
Von: Gary Mitchell (Kommunikationsprodukte) An: John Anderson (Beschaffung) Betreff: ELOPe Projekt Zeit: 6:22
Hallo John, Sean Leonov bat mich, den Jungs von ELOPe auszuhelfen. Sie brauchen schnellstmöglich zusätzliche Server und uns gehen hier die freien Kapazitäten aus. Können Sie 5000 Standardserver aus dem normalen Beschaffungszyklus herausziehen und der IT zur sofortigen Auslieferung zur Verfügung stellen? Bitte übertragen Sie die Zugriffsrechte direkt an David Ryan. Vielen Dank, Gary Mitchell
John dachte kurz über die Ausnahmeregelung nach. Normalerweise stellte eine Abteilung, die neue Server wollte, eine Kaufanforderung. Dann wurden die Teile erworben, zu den Avogadro Datenzentren transportiert, zu firmentypischen Servern zusammengebaut und in die Serverracks integriert. Dann übernahm eine andere Gruppe, installierte das Betriebssystem und die Standardsoftware. Insgesamt würde es, abhängig von der Größe und Dringlichkeit des Auftrages, irgendwo zwischen 6 und 12 Wochen dauern bis die angeforderten Server betriebsbereit waren.
Sollte eine Abteilung eilig zusätzliche Server benötigen, dann konnte sie eine Ausnahmegenehmigung beantragen. Im Ausnahmeprozess wurden Server, die für eine andere Gruppe bestimmt waren und sich bereits in der Pipeline befanden, zu der Abteilung umgeleitet, die sie dringend benötigte. Dann würden ersatzweise Computer für die erste Gruppe bestellt, die nun ein wenig länger warten musste. Ausnahmeanforderungen waren nicht üblich, aber auch nicht ungewöhnlich. Nein, der rätselhafte Teil war nicht die Anforderung an sich, sondern dass Gary sie als Mail versendet hatte. Nur die offizielle Bestellsoftware konnte genutzt werden, um Server zu bestellen, zu versenden und umzuleiten. Gary sollte das (eigentlich) wissen.