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"Ein erstaunlicher Ausblick in eine plausible Zukunft." [Brad Feld, Geschäftsführer der Foundry Group] Inhalt: Im Jahr 2035 sind Roboter, Künstliche Intelligenzen und Neuralimplantate zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Das Institut für Angewandte Ethik sorgt durch ein soziales Reputationssystem für Ausgleich, um sicherzustellen, dass Menschen und Roboter nicht der Gesellschaft oder sich gegenseitig Schaden zufügen. Doch eine mächtige KI namens Adam hat eine Methode entwickelt, diese Beschränkungen zu umgehen. Die neunzehnjährige Catherine Matthews hat eine einzigartige Fähigkeit: Sie kann das globale Netz mit ihrem Neuralimplantat manipulieren. Unvermittelt aus ihrem normalen Alltagsleben gerissen muss sie zur letzten Firewall zwischen Adam und seinen Plänen zur Weltherrschaft werden. -------------------------------- "Eine ebenso hellsichtige wie eindringliche Geschichte über das, was aus der Menschheit werden könnte und über die Maschinen, die sie erschaffen könnte." [Ben Huh, CEO von Cheezburger] "Ein echter Lesespaß und eine verblüffende Studie über die Technologien der Zukunft: schockierend und einladend zugleich." [Harper Reed, früherer CTO von Obama for America und Threadless] "Ein faszinierender und hellsichtiger Blick auf unsere Welt und wie sie aussehen könnte, wenn die Computer intelligenter als die Menschen werden. Sehr zu empfehlen." [Mat Ellis, Gründer und CEO von Cloudability] "Ein phänomenaler Ritt durch eine Welt des Überflusses, in der Menschen zum Spielball einer abtrünnigen KI werden. Wenn sie ihren Geist erweitern wollen, müssen sie dieses Buch lesen!" [Gene Kim, Autor von The Phoenix Project: A Novel About IT, DevOps und Helping Your Business Win]
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Seitenzahl: 486
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This Translation is published by arrangement with William Hertling Title: The Last Firewall All rights reserved. First Published 2013.
Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.
überarbeitete Ausgabe Originaltitel: THE LAST FIREWALL Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert Übersetzung: Mark Tell Weber
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-312-1
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Sie würfelte die Zwiebeln, bis sie ein ordentliches Häufchen hatte, machte sich dann an die Chilischoten und summte leise vor sich hin, während sie arbeitete. Ein blaues Tischtuch, Kerzen und eine Flasche von ihrem bevorzugten Roten schmückten bereits den Tisch. Sie sah auf die Uhr; in zwanzig Minuten würde er eintreffen.
Ein reißender Schmerz fuhr durch ihren Kopf, die Welt vor ihren Augen wurde blendend weiß, bevor sie sich verdunkelte. Erschrocken ließ sie das Messer fallen und presste die Hände fest gegen ihre Schläfen, aus Angst, dass ihr Implantat eine Fehlfunktion haben könnte.
Der Schmerz verdoppelte sich, dann vervierfachte er sich binnen Augenblicken. Sie schnappte nach Luft und hielt sich an der Küchentheke fest, weil ihre Knie nachgaben.
Eine alte Erinnerung stieg plötzlich in ihr auf: ihre Mutter und ihr Vater, beide wieder jung und lächelnd. Ihre Mutter klatschte in die Hände. Mit kristalliner Klarheit überwand diese Vision vierzig Jahre. So schnell wie sie gekommen war, wurde sie ihr wieder entrissen, nur um durch eine andere ersetzt zu werden.
Oh, Gott, nein. Sie würde sterben.
Die nächste Erinnerung schien ihr ebenso real wie das klein geschnittene Gemüse vor ihr. Sie kämpfte mit der Knüppelschaltung im Auto ihres Vaters, der ihr das Fahren beigebracht hatte. Als sie zur Seite blickte, sah sie ihn ruhig neben sich sitzen und seine Mundwinkel zu einem Lächeln erhoben.
Sie sank wimmernd zu Boden, als weitere Erinnerungen sie überwältigten, kamen und gingen, schneller und immer schneller. Ihr Ehemann, lächelnd, stattlich in dem Anzug, den sie für ihn gekauft hatte, an jenem Tag, an dem er die Wahl für den Sitz im Kongress gewonnen hatte. Sie hatte ihn in seinem Büro besucht; sie wollten zusammen zu Mittag essen. Sein Kollege, der Kongressabgeordnete Lonnie Watson, kam herein. Die Männer sprachen miteinander und ignorierten sie. Sie konnte nicht verstehen, worum es ging.
Dann die ersten Schritte ihres Sohnes im Museum, ein Ausdruck reiner Freude auf seinem Gesicht, während er vor Begeisterung quietschte. Sie streckte die Hand nach ihm aus, aber die Erinnerung schwand, bevor sie ihn berühren konnte.
Sie wurde panisch, als sie erkannte, dass sie alle diese Menschen nie wieder sehen würde. Sie würde nicht die Chance haben, ihren Sohn aufwachsen zu sehen. Sie umklammerte ihre Knie, während sie auf dem Küchenboden saß.
Noch eine Erinnerung: Sie kam mit ihrem Sohn von einem Baseballspiel nach Hause. Lonnie Watson war wieder bei ihnen, sprach im Büro mit ihrem Mann. Ihre Aufmerksamkeit aber galt dem Ausdruck auf dem Gesicht ihres Sohnes. Sie sah seine Enttäuschung, weil er von seinem Vater nicht beachtet wurde. Sie fühlte, wie die Erinnerung intensiver wurde: Das Gespräch zwischen den Kongressabgeordneten wurde verlangsamt abgespielt und dann wiederholt, ihre Lippen bewegten sich in Zeitlupe hinter der Glastür des Büros. Sie arbeiteten an Gesetzen zur Regulierung von künstlicher Intelligenz.
Ihre letzte Erinnerung handelte von ihrem Sohn. Das Gefühl seines Haares unter ihren Fingerspitzen, als sie sich, gerade erst vor ein paar Stunden, von ihm verabschiedet hatte. Ein brennender Schmerz bohrte sich durch ihren Kopf. Sie schrie ein letztes Mal auf, bevor sie still wurde. Ihr Mund stand offen und fror ein. Sie versuchte aufzustehen, kippte aber zur Seite und war schon tot, noch bevor sie auf den Boden aufschlug.
Catherine streifte sich ihr Shirt über und blickte zum Bett zurück, in dem Nick noch schlief. Sie sah zu, wie er atmete, und blickte stirnrunzelnd auf seinen Dreitagebart. Niedlich, aber nicht wirklich smart. Sie band ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, während sie die Spiegelschrift ihres T-Shirt-Aufdruckes las: Ein Leben ohne Geometrie ist sinnlos. Lächelnd trat sie auf den Korridor.
Leise tappte sie die Treppe hinunter. Da sie immer als Erste auf war, hatte sie nicht lange gebraucht, um zu bemerken, dass ihre Mitbewohner keine Frühaufsteher mochten. Im Erdgeschoss schlief ihr Katze-Hund-Hybrid Einstein, ein Welpum, auf der nach Osten liegenden Fensterbank, um die ersten Strahlen der Morgensonne einzufangen. Catherine krabbelte ihn hinter den Ohren, bis er schnurrte. Der feline Anteil bei Einsteins Genen überwog, auf den ersten Blick sah man nur eine große Katze. Aber wenn man Einstein mit in den Park nahm, dann holte er Stöckchen wie ein richtiger Hund.
Catherine schlüpfte durch die Schiebetür der Küche in den Innenhof, wo Pflanzen wild um die Terrasse aus recycelten Ofenziegeln wucherten. Sie wandte sich nach Osten dem Haus zu und begann das Ba Duan Jin oder ›Die Acht Brokate‹ aus dem Qigong. Sie bewegte sich langsam, brachte ihren Körper mit der uralten chinesischen Form des Chi-Flusses oder der Lebenskraft in Einklang. Ihre Augen blickten ins Leere, während sie die vorgegebenen Schrittfolgen ausführte, wobei ihre Arme kunstvolle Bögen in die Luft zeichneten. Wie aus weiter Ferne spürte sie den Wind, der durch die Blätter der kleinen Bäume strich, hörte nur das Windspiel eines Nachbarn und ihren eigenen Atem. Sie wiederholte die Übung zweimal, pausierte dann für ein paar meditative Atemübungen und begann mit der ›Jadeprinzessin‹. Als sie die Übung beendete, verbeugte sie sich einmal. Die friedvollen Bewegungen des Qigong wurden durch die kurzen, harten Schläge des Naihanchi ersetzt, ihrer ersten Karate-Kata. Vierzig Minuten später beendete sie ihr Training mit Kusanku und verbeugte sich wieder. Ihr Körper sank dankbar in eine sitzende Meditationshaltung, die Beine überkreuzt, die Hände auf den Knien liegend. Ein dünner Schweißfilm bedeckte ihre Haut und ihre Muskeln waren warm und locker. Die Geräusche der Kaffeemaschine, Gelächter und das Spülen einer Toilette waren aus dem Haus zu hören. Sie ließ die Gedanken fließen. Leere deinen Geist. Leere deinen Geist.
Neunzig Minuten später öffnete sie die Augen und betrachtete die Welt von Neuem. Sie beobachtete das Spiel des Sonnenlichts auf den Blättern und streckte Arme und Beine weit von sich.
Manche Menschen sagten, dass Meditation ihnen schwerfiele, dass ihr Verstand immer auf Wanderschaft sei und in seinen Gedanken gefangen. Das konnte sie nicht verstehen. Wenn sie eigentlich meditieren wollten, warum dachten sie dann noch über andere Dinge nach?
Sie ging barfuß die Treppe zum Haus hinauf und schob die Tür auf. Nach der kühlen Morgenluft erschien ihr das Innere des Hauses stickig. Ihre Mitbewohner waren jetzt in der Küche.
»Hallo, Karate Kid«, sagte Tom in liebevollem Ton. Er winkte mit einer Kaffeetasse in ihre Richtung, sein abgelenkter Blick sagte ihr, dass er tief im Cyberspace versunken war.
Catherine konzentrierte sich und schaltete ihr Neuralimplantat ein. Einen Augenblick später flackerte ihre visuelle Wahrnehmung, als ihr Implantat online ging. Nachdem es sich mit dem Netz synchronisiert hatte, zeigte es über Toms Kopf seine Statusblase: ›beschäftigt‹.
»Wie war letzte Nacht?«, fragte Maggie, die selbst ernannte Mutter ihrer kleinen Wohngemeinschaft. Jeder, der bei gesundem Verstand bleiben wollte, musste sich neu erfinden, weil die künstlichen Intelligenzen, die KIs, alle Jobs übernommen hatten.
»Ich habe einen Typ kennengelernt«, sagte Catherine. Sie lächelte. »Nick. Er ist oben.« Sie hielt eine Hand über ihre Tasse, um Maggie davon abzuhalten, ihr Kaffee einzuschenken. »Nein, Kaffee und Meditieren passt nicht zusammen. Rieche ich da Eier?«
»Die Quiche ist in fünf Minuten fertig«, sagte Maggie und versuchte nicht länger, ihr Kaffee aufzunötigen.
»Lecker.« Es war angenehm ruhig in der Küche. Aber plötzlich hatte Catherine einen hässlichen Verdacht. »Wo ist Sarah?«, fragte sie.
»Ich glaube, ich habe sie oben gehört.« Maggie drehte sich weg und hatte es plötzlich sehr eilig, nach dem Ofen zu sehen.
Catherine sah zur Zimmerdecke, drehte sich auf dem Absatz um und schlich durch das Wohnzimmer. Sie lief die Treppe hinauf. Der alte Teppichboden dämpfte das Geräusch ihrer Schritte.
Vom Treppenabsatz aus konnte sie Nick und Sarah im Korridor zwischen den Schlafräumen sehen. Sarah saß in BH und Unterwäsche gegen die Wand gelehnt. Nick stand kaum eine Handbreit über sie gebeugt, beide Hände an die Wand über ihrem Kopf gestützt. Wegen des Ausdrucks auf ihren Gesichtern hatte Cat keinerlei Zweifel: Die beiden waren verlinkt. Im Netz konnte sie eine Verbindung mit hoher Bandbreite zwischen ihnen sehen: einen dicken, blauen Strom, der ihre Köpfe miteinander verband und über den sie ihre Sinneseindrücke austauschten.
Catherines Fingernägel gruben sich in ihre Hände, als sie sie zu Fäusten ballte. Sie drückte fester, spürte aber kaum den Schmerz. Sie wartete einen Augenblick, doch Nick und Sarah waren zu tief im virtuellen Sex versunken, um ihre Anwesenheit überhaupt zu bemerken.
Sie konzentrierte sich auf ihr Implantat, tastete sich durch das Netz, um Sarahs und Nicks Verbindung zu finden, und trennte sie. Der blaue Datenstrom zwischen den beiden verschwand. Nick flog quer über den Korridor, schrie auf und hielt sich den Kopf. Sarah schaukelte vor und zurück und presste zwei Finger gegen ihre Schläfen, während sie die Wand anstarrte. »Oh Mann, Cat, so was kannst du doch nicht machen.«
»Dann schlaf du nicht mit Kerlen, die ich nach Hause bringe.« Cats Stimme brach und sie kämpfte gegen die Tränen an.
Sarah stand auf und starrte sie an. »Du hast doch selbst erzählt, wie dumm er sich in der letzten Nacht in der Bar angestellt hat. Ich verstehe nicht, warum er dich überhaupt interessiert.«
»Weil …«
»Bleib raus aus meinem Kopf«, sagte Sarah wütend, während sie zum Badezimmer ging. »Spiel nicht mit meinem Implantat herum. Nur weil du es kannst, hast du noch lange nicht das Recht dazu.«
Nick sah Sarah nach, wie sie den Korridor hinunterging, und wandte sich Catherine zu.
»Was hast du gerade mit meinem Kopf angestellt? Hör doch, ich …«
Cat hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Halt die Klappe und hau ab.« Sie war nicht in der Stimmung, um ihm eine Erklärung zu geben. Weder über ihre Fähigkeit, das Netz zu manipulieren, noch über sonst irgendetwas.
Catherine drehte ihm den Rücken zu, ging wieder nach unten und fand sich ein paar Sekunden später heulend in Maggies mütterlicher Umarmung wieder. Verdammte, dämliche Männer. Bescheuertes Implantat. Sie war, so schien es, die einzige Person auf der ganzen weiten Welt, die sich nicht mit einem anderen Menschen verlinken konnte.
Sie hob ihren Kopf von Maggies Schulter und trocknete ihre Tränen mit dem Ärmel.
Tom saß immer noch da und bekam nichts von dem Drama mit, da er nach wie vor im Netz verschollen war.
Maggie zwang sie, am Küchentresen auf einem der Barhocker Platz zu nehmen. Ein dampfendes Stück Quiche lag auf einem Teller, der Geruch von Ziegenkäse und Lauch war verlockend. Maggie hielt ihr eine Gabel hin. Catherine stieß sie in die Quiche.
»Lass es nicht am Essen aus, Kleines. Iss einfach.«
Sie nahm ein paar Bissen, aber sie blieben ihr im Hals stecken. Das Knallen der Vordertür verkündete, dass Nick gegangen war. Nachdem sie ihr Essen lange genug auf dem Teller herum geschoben hatte, um nicht unhöflich zu erscheinen, stand sie auf.
»Ich gehe jetzt zur Schule«, sagte sie in den Raum hinein.
»Tut mir leid für dich, Schatz«, sagte Maggie und kam, um sie zu umarmen.
Sarah wählte genau diesen Moment, um wieder in Erscheinung zu treten, dieses Mal angezogen.
»Wozu die Mühe? Keiner von uns wird jemals einen Job kriegen.«
Catherine starrte Sarah an und versuchte, ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen.
»Mein Schulstipendium zahlt unsere Miete. Du könntest zumindest dafür ein wenig Dankbarkeit zeigen.«
Catherine stapfte an Sarah vorbei und ging zur Haustür.
Catherine lief eilig die Straße hinunter, um möglichst viel Abstand zwischen sich und das Haus zu bringen. Sie konnte nicht wirklich wütend auf Sarah sein. Sie hatten sich schon vorher Kerle geteilt. Das eigentliche Problem war, dass alle ihr Neuralimplantat für Sex benutzen konnten – alle außer Cat. Sie hatte wegen irgendeines Defekts an ihrem Implantat immer ein schmerzhaftes Feedback wie die Rückkopplung eines Lautsprechers beim Rockkonzert.
Der enttäuschte Gesichtsausdruck von Nick sprach Bände, als sie ihm letzte Nacht gesagt hatte, dass sie sich nicht verlinken konnten. Selbst wenn das am Morgen nicht passiert wäre, dann hätte er sie doch bald vergessen. Ihr gesamtes Liebesleben war eine Abfolge enttäuschender One-Night-Stands.
Das war nicht fair. Sie war doch für jeden Spaß zu haben, sie konnte sich einfach nur nicht verlinken.
Die Straße hinter der nächsten Kreuzung war von großblättrigen Ahornbäumen gesäumt und sie tauchte in das gesprenkelte Sonnenlicht ein. Ein kleiner roter Roboter von der Größe eines Kindes wühlte sich durch den Müll der Nachbarn. Der Bot entdeckte eine Handvoll Elektronikschrott und legte seinen Fund vorsichtig in einen rostigen, grünen Karren. Catherine schickte ein reflexartiges ›Guten Morgen‹ über das Netz zum Bot. Er wich zurück, als Cat näher kam und antwortete nicht. Als sie an ihm vorbeiging, stutzte sie. Jemand hatte ihn angegriffen. Die rechte Seite seines Kopfes war eingedrückt und die optischen Sensoren hingen herunter. Sie blieb stehen. »Alles in Ordnung?«, fragte sie.
Der Roboter antwortete nicht, griff nur nach der Deichsel des Karrens und hinkte davon. Das laute Winseln eines Servos zeugte von weiteren Schäden. Catherine stand nur da und schaute dem Bot verblüfft nach, als er die Straße hinunter humpelte. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen.
Verdammt. Mitbewohnerinnen, die mit deinen Freunden schliefen. Freunde, die mit deinen Mitbewohnerinnen schliefen. Roboter, die misshandelt wurden. Die ganze Welt ging zum Teufel. Sie setzte ihren Weg fort, während sie immer noch verständnislos den Kopf schüttelte.
An der Hauptstraße blieb sie stehen. Der dichte Verkehr bestand hauptsächlich aus Bodenfahrzeugen, wenn auch gelegentlich ein neumodisches Hovercraft etwa fünfzehn Zentimeter über dem Asphalt an ihr vorbeischwebte. Ein einsames Lufttaxi kam aus einer Höhe von etwa dreihundert Metern herunter und reihte sich in den Verkehr am Boden ein.
Normalerweise wäre sie einfach auf die Straße marschiert, in der sicheren Überzeugung, dass die autonomen Fahrzeuge ihr ausweichen würden. Aber Freitag vor zwei Wochen war hier ein Fußgänger gestorben: Abenteuerlustige hatten die KI ihres Fahrzeugs abgeschaltet und ein illegales Rennen durch die Innenstadt veranstaltet.
Sie sah sich die Wegzeitberechnungen der fahrenden KIs in ihrer Nähe an und feixte. Sarah hasste Cats einzigartige Fähigkeit, das Netz zu manipulieren. Cat hatte es sonst noch niemandem erzählt. Sie befürchtete, dass sie mit dieser Fähigkeit zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnte.
Links und rechts legte ihr Implantat weiß leuchtende Linien über ihr Gesichtsfeld, die die möglichen Wege der heranfahrenden Fahrzeuge zeigten. Die Farbe der Linien wurde grauer, je weiter die Vorhersage in der Zukunft lag. Aus einem Impuls heraus erweiterte sie den Scan und dehnte den Bereich über ihre visuelle Wahrnehmung hinaus aus, bis die ganze Stadt Portland vor ihrem geistigen Auge erschien. In der Innenstadt waren die weißen Linien pink unterlegt, was auf eine gewisse Vorhersage-Unsicherheit der KIs in dichtem Verkehr hinwies. Auf den Schnellstraßen zeigten Ansammlungen von roten Punkten, dass KIs mit beinahe Lichtgeschwindigkeit reagierten, um sich den wenigen, noch manuell gesteuerten Fahrzeugen anzupassen. In ihrer Nähe war alles in Ordnung.
Deshalb ignorierte sie die Autos, konzentrierte sich stattdessen auf die Radfahrer und überquerte vorsichtig die Straße.
Auf der anderen Seite sprühte eine Gruppe Teenager Graffiti an eine Ladenfront. Sie hatten ihre Kapuzen so weit ins Gesicht gezogen, dass Kameras sie nicht identifizieren konnten. Der Inhaber, ein zierlicher Android in Menschenkleidung, protestierte, aber die Jugendlichen schrien ihn an und verspotteten ihn, drohten damit, auch ihn anzusprühen.
Im Netz sah Catherine, wie der Android die Polizei zu Hilfe rief. Sie spürte eine Veränderung ein paar Straßen weiter, wo sich ein Polizeibot, der auf den Notruf reagierte, durch den Verkehr schlängelte.
Die drei Teenager mussten ihre Neuralimplantate verlinkt haben, weil sie die Ankunft der Polizei ebenfalls vorausahnten und in die entgegengesetzte Richtung flohen - durch den Park, auf den Catherine gerade zulief. Der Ladenbesitzer inspizierte seine verunstaltete Ladenfront, sah sich um und ging in sein Geschäft zurück. Cat spürte die Verzweiflung ihr in den Magen fahren.
Künstliche Intelligenzen, oder kurz KIs, nahmen die Form von Robotern an oder lebten als körperloses Bewusstsein im Netz. Vor etwa zehn Jahren erstmalig erschaffen, hatten sie mittlerweile fast alle wichtigen Tätigkeiten übernommen. Mit den KIs war auch die Wirtschaft gewachsen, bis die Einkommenssteuer erst abgeschafft und dann umgekehrt worden war: Jetzt erhielt jeder ein garantiertes Basiseinkommen, auch Stipendium genannt.
Sie schüttelte den Kopf. Diese Protestbewegung der KIs war dumm und sinnlos. Es mochte nicht mehr viele Jobs geben, aber durch die niedrigen Kosten der von Robotern produzierten Waren plus das Stipendium gab es keine echte materielle Armut mehr. Das Stipendium deckte Unterkunft, Nahrung und den Grundbedarf ab. Der Besuch einer Schule oder eine gemeinnützige Tätigkeit führten zu einer Erhöhung des Stipendiums. Echte Karrieremenschen stürzten sich immer noch in die Arbeit oder produzierten handgearbeitete Waren für den Verkauf. Eigentlich konnte man viel mehr machen als je zuvor: sich künstlerisch betätigen, weite Reisen unternehmen und viele neue Lebenserfahrungen sammeln. Trotzdem hatten die Protestler, die jahrelang nur eine Randgruppe gewesen waren, in letzter Zeit an Einfluss gewonnen. Das Schlimmste an diesem neuen Trend waren die Gewalt und der Vandalismus. Zuzusehen, wie hilflose Bots angegriffen wurden, die durch ethische Sperren nicht in der Lage waren, sich selbst zu verteidigen, machte sie krank.
Mit einem letzten Seufzer wandte Catherine sich ab und ging in den ausgedehnten Park hinein. Ihren Mitbewohnern war die Protestbewegung egal. Maggie und Tom waren Kiffer, fröhlich und friedlich. Tom regte sich manchmal auf, aber meistens war er ein Verfechter der ›Zurück-zur-Natur-Bewegung‹. Und Sarah war zu sehr in ihren VR-Sims versunken, um sich um irgendetwas anderes zu scheren.
Die Sonne schien warm auf ihre Schultern und es gelang ihr, sich ein wenig zu entspannen. Der Duft von Gras strömte mit einer sanften Brise zu ihr herüber. Hunderte von Menschen kamen in den Park, um zu arbeiten oder zu lernen. Ein paar ältere Leute bewegten sich, weil sie noch Gestiksteuerung benutzten, aber die meisten saßen einfach reglos da und ihre Aktivitäten waren nach außen hin unsichtbar.
Sie fand eine sonnige kleine Rasenfläche, setzte sich im Schneidersitz hin und startete ihre Schul-App.
Leon hängte sich seine Tasche über die Schulter und nahm die Treppe im Laufschritt. Aus der U-Bahn trat er in den Sonnenschein eines späten Frühlingstages, jener Zeit in DC, in der es warm war, ohne schwül zu sein. Er ging die fünf Blocks bis zum Institut für Angewandte Ethik, Teil der George-Washington-Universität, zu Fuß.
Seine schmucklose Ziegelfassade täuschte über die Wichtigkeit der Arbeit hinweg, die hier geleistet wurde.
An der Tür standen Menschen und Roboter Wache. Leon spürte, wie die KI sein Neuralimplantat abfragte, um seine ID zu überprüfen, und gewährte ihr Zugang.
»Guten Morgen, Leon«, sagte ein Mann und streckte ihm die Hand hin.
»Morgen, Henry. Wie geht es Ihrer Frau?« Leon gab Henry seine Tasche.
»Oh, der geht es gut.« Er lehnte sich dichter herüber und fuhr mit gedämpfter Stimme fort. »Sie ist für eine Woche weg, um ihre Schwester zu besuchen.« Mit einem Augenzwinkern richtete er sich auf und schob Leons Tasche in den Scanner, wartete einige Sekunden und gab sie ihm dann zurück. »Einen schönen Tag noch, Leon!«
»Ihnen auch, Henry.«
Nachdem das Eingangsritual beendet war, nahm Leon die Marmortreppe mit schnellen Schritten. Im ersten Stock legte er seine Hand auf den biometrischen Scanner, der seinen Handabdruck mit der Datenbank abglich, bevor er die Tür entriegelte. Leon trat ein und blieb stehen, um wie jeden Morgen einen Blick auf die weite, offene Bürofläche zu werfen. In kleinen Gruppen unterteilt, arbeiteten die Wissenschaftler des Instituts miteinander, gestikulierten und kommunizierten mit den KIs, ihren Computern oder über das Netz. Es war der ewig gleiche Anblick, der ihn jeden Morgen begrüßte, aber er zauberte trotzdem immer ein Lächeln auf sein Gesicht.
Leon ging zu seinem Gemeinschaftsbüro auf der anderen Seite. Die Mitarbeiter bemerkten seine Anwesenheit, einige wenige visuell, die meisten jedoch durch digitale Hinweise. Einige nickten ihm zu oder riefen »Guten Morgen«. Aber die meisten kommunizierten über ihr Implantat: Sprechblasen, die aus Richtung der Absender kommend in seinem Gesichtsfeld erschienen und dann in seine Infoleiste sickerten. Durch einen Gedankenimpuls antwortete er allen mit ›Hallo zusammen!‹ und betrat sein Büro.
Die von KIs entwickelten Neuralimplantate waren seit acht Jahren für die breite Masse zugänglich. Sie verbanden Menschen mit dem Netz, dienten als Computer, Smartphone und Display in einem. Ein knapp ein Quadratzentimeter großer, graphenbasierter Computerchip wurde implantiert, stimulierte die Neuronen und ließ sowohl Text als auch Grafik in der visuellen Wahrnehmung erscheinen.
In seinem Büro angekommen, stapelten sich die nachträglich eingegangenen Grußworte am Rande seines Gesichtsfeldes. Als er zur Tür sah, vibrierten diese Mitteilungen, um so seine Aufmerksamkeit zu erregen. Mit einem Gedankenbefehl versenkte er sie im Papierkorb und antwortete mit einem letzten ›Guten Morgen zusammen!‹, dann setzte er seinen Status auf ›Arbeit‹, um weitere Ablenkungen auszublenden.
»Guten Morgen!«, rief er Mike zu und ging sich einen Kaffee holen. Ein kleiner Bot eilte los und traf ihn auf halbem Weg mit einem vollen Becher.
»Danke«, sagte er geistesabwesend und der Bot piepte freundlich, bevor er wieder in der Wand verschwand. Mike hatte nicht geantwortet. Leon sah auf Mikes Statusmeldung: Er führte noch ein Telefonat. Leon setzte sich, nippte an seinem Kaffee, legte die Füße auf seinen Tisch und wartete darauf, dass Mike sein Gespräch beendete.
Mikes Statusanzeige verschwand mit einem hörbaren ›Plopp‹ etwa eine Minute später. Er sah sich im Raum um und grinste Leon an. »Morgen. Tut mir leid, ich war beschäftigt.«
»Keine Ursache«, antwortete Leon. »Wir erwarten heute noch Gäste.«
»Wen?« Ohne auf Leons Antwort zu warten, zog sich Mike den Terminkalender aus dem Netz. »Die Gewinner des ›Von Neumann-Preises‹?«
»Genau die. Die hundert Besten aus den Mathematik- und Wissenschaftsteams der Highschools. Unser alljährlicher Flohzirkus.«
Mit dem Kaffee in der Hand gingen sie nach unten ins Auditorium. Schüler strömten durch die Haupteingänge hinein und wurden von ihren Lehrern zu den Sitzen geführt.
Leon und Mike betraten den Raum nicht direkt, sondern gingen von hinten zur Bühne und schüttelten Rebecca Smith die Hand. Die ehemalige Präsidentin der Vereinigten Staaten hatte ihre zweite Amtszeit beendet. Danach hatte man ihr den Chefsessel des Instituts angeboten, das zuvor auf ihre eigene präsidiale Order hin gegründet worden war. Es war die Kontrollbehörde für alle künstlichen Intelligenzen. Da die KIs achtzig Prozent der globalen Wirtschaft ausmachten, galt das Institut als eine der einflussreichsten Organisationen der Welt.
»Bereit, ein paar Kids zu begeistern?«, fragte Rebecca. Ihr verkniffenes Gesicht wollte nicht zum lockeren Ton ihrer Stimme passen.
»Klar«, antwortete Mike. »Alles in Ordnung?« Er kannte Rebecca und ihre Launen seit zwanzig Jahren.
»Ärger mit dem Budget. Interne Querelen.« Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. »Diese verdammte Menschenrechtspartei macht uns im Kongress zu schaffen.«
»Ich dachte, die Menschenrechtspartei wäre der politische Ableger der Anti-KI-Extremisten«, sagte Leon.
»Genau das ist sie«, bellte Rebecca.
Leon trat unwillkürlich einen halben Schritt zurück.
»Oder sie war es. Die haben mittlerweile ziemlichen Einfluss im Kongress. Senator Watson sammelt täglich mehr Stimmen ein.« Sie hob die Hände. »Schon gut, es ist mein Problem. Ich werde mich darum kümmern.«
Währenddessen war Rebeccas Assistent auf die Bühne getreten und wartete, bis die Unruhe sich gelegt hatte. »Herzlich willkommen! Erlaubt mir, euch unsere Direktorin und Vorsitzende Rebecca Smith, die ehemalige Präsidentin der Vereinigten Staaten, vorzustellen.«
Rebecca betrat unter stehenden Ovationen die Bühne, während Mike und Leon auf der Seite warteten.
»Guten Morgen, alle zusammen! Willkommen im Institut für Angewandte Ethik. Ihr seid die Besten, außergewöhnliche Denker, die Gewinner von nationalen und internationalen Wettbewerben. Hier an unserem Institut beschäftigen wir viele Gewinner früherer Jahre.«
Mit ihren 65 Jahren war die ehemalige Präsidentin so schneidig, wie sie es immer gewesen war – eine mitreißende Rednerin und eine charismatische Anführerin. Leon kannte sie eigentlich nur in maßgeschneiderter Kleidung und mit perfekter Frisur. Im Privaten konnte sie freundlich und gesellig sein, aber wenn sie wütend wurde, dann konnte sie auch ziemlich furchteinflößend wirken. Wenn sie über eine neue politische Strömung besorgt war, dann war es etwas Ernstes.
»Wir stellen nur die Allerbesten ein«, beendete Rebecca ihre Einleitung. »Um euch mehr über unsere Arbeit zu erzählen, begrüßen wir den geschäftsführenden Direktor Mike Williams und Leon Tsarev, den Leiter des Bereichs Programmarchitektur.«
»Danke, Frau Vorsitzende«, sagte Mike und betrat das Podium. Er schüttelte Rebecca die Hand und sie verließ die Bühne. Mike legte beide Hände aufs Rednerpult und blickte in den Saal.
»Während der letzten zehn Jahre haben wir eine Explosion des technischen Fortschritts erlebt, eine solche Flut an Erfindungen, dass sie die letzten einhundert Jahre, im Vergleich dazu fast belanglos erscheinen lässt. Von der Nanotechnologie über die Robotik bis hin zur KI haben wir diesen Fortschritt erzielt, weil wir technologische Singularität erreicht haben: KIs denken schneller, sagen zukünftige Ereignisse präziser voraus und sind kreativer bei der Entwicklung neuer Ideen. Ihre Intelligenz wächst nach wie vor exponentiell.« Mike trank einen Schluck Wasser.
»Dies ist nur möglich, weil KIs sich ethisch korrekt verhalten und menschliche Grundrechte anerkennen. Ohne diese ethische Basis würde eine superintelligente KI die Menschheit als dominante Spezies ablösen, sie möglicherweise sogar auslöschen.« Er machte eine bedeutsame Pause.
»Heute möchte ich mit euch die Gruppenreputation besprechen, die Grundlage dieser ethischen Basis. Indem wir uns gegenseitig in Bereichen wie Mitwirkung, Vertrauenswürdigkeit und anderen wünschenswerten Attributen bewerten, steuern wir das Wohlverhalten sowohl der Menschen als auch der KIs. Leon wird euch dann erklären , wie das System implementiert und durchgesetzt werden kann. Die Reputation der Peergroup ermöglicht uns erst die Welt, wie wir sie heute haben. Sie ist ein sicherer und ethischer Verhaltenskodex für KIs und Menschen, eine Balance zwischen freiem Willen und Gemeinwohl.«
Mike unterbrach sich kurz. »Bevor ich beginne noch eine Frage: Ist irgendjemand unter euch noch nicht implantiert? Wenn ihr wollt, dass ich den Bildschirm benutze, dann hebt bitte die Hand.« Mike wartete ab, aber keine Hand hob sich.
Er zeigte das erste Diagramm im Netz, das nun virtuell über seinem Kopf schwebte. »Lasst mich mit dem Krieg der KIs von 2025 beginnen. Viele von euch werden sich daran als das ›Jahr ohne Internet‹ erinnern.«
Catherine kam die Treppe herunter und bemerkte den Duft von frischem Popcorn. Sie traf auf Maggie und klaute sich eine Handvoll. Seit Tom vor einigen Monaten etwas über Filmabende gelesen hatte, waren sie bei ihnen zu einem wöchentlichen Ritual geworden.
»Gut so«, rief Sarah von der Couch. »Nein, noch mal zurück.« Das Bild zeigte nacheinander alle Komplementärfarben. »Nein, nein! So wird es noch schlechter.«
»Verdammtes Ding«, fluchte Tom hinter dem uralten Flachbildschirm und fummelte an einem Verbindungskabel zu einem noch älteren DVD-Player herum.
»Du hast unser Gras für diesen Haufen Schrott verkauft«, sagte Maggie zu ihm. »Was hast du erwartet?«
»Wir könnten uns den Film immer noch synchron über die Implantate anschauen«, schlug Catherine vor. »Dann sehen wir ihn immer noch gemeinsam an.«
»Das ist doch nicht dasselbe«, sagte Sarah. »Der Sinn der Sache ist, es sich auf einem Fernseher anzuschauen.«
Plötzlich wurde das Bild grün.
»Sieht übel aus«, rief Sarah.
»Bist du sicher? Ich glaube, dass es so …« Tom kam hinter dem Fernseher hervor und sah auf den Bildschirm. »Nein, das soll so sein. Schau doch.« Er hielt die DVD-Hülle hoch.
»Die Matrix«, las Maggie. »Ich erinnere mich, wie meine Eltern über diesen Film gesprochen haben.«
»Ja, ist ein Klassiker über Leute, die Sklaven von Maschinen sind«, sagte Tom. »Kam in meinem Geburtsjahr raus.«
»Dann ist er ja echt alt«, sagte Sarah. »Ist er grün, weil es damals noch keine Farbe gab?«
»Schhhh«, sagte Catherine. »Reich mir mal das Popcorn.«
Die Eröffnungsszene begann und Catherine zog sich ein paar Fakten zum Film aus dem Netz. Schnell fügte sie einen Spoilerfilter hinzu und synchronisierte ihn mit dem Film.
Catherine zuckte zusammen, als das Klopfen Neo aufweckte und ein Schauder kroch ihren Rücken hinunter, als das Mädchen sich umdrehte und das Kaninchentattoo sichtbar wurde. Plötzlich versperrte ihr ein dicker, vielfarbiger Datenstrom die Sicht und ließ den Film fast verschwinden. Sie seufzte entnervt, als sie erkannte, dass der Datenstrom aus Sarahs Implantat kam.
Oft tauchte der Netztransfer anderer Menschen in ihrem Gesichtsfeld auf, einer der Nachteile ihrer Fähigkeit, das Netz wahrnehmen und manipulieren zu können. Wieso konnte Sarah nicht ein einziges Mal bei der Sache bleiben? Sie hatte doch darauf bestanden, sich den Film auf dem Fernseher anzuschauen!
Catherine versuchte, sich wieder auf den Film zu konzentrieren. Doch je mehr sie sich bemühte, desto lästiger wurde der dicke Datenstrom. Sie schüttelte den Kopf, als könne sie die Bilder damit vertreiben. Dass sie noch sauer war wegen des Kerls vor zwei Nächten, machte es auch nicht leichter.
Die Minuten vergingen und sie widerstand der Versuchung , sich Sarahs Daten anzusehen. Dann aber gab sie auf. Die verschlüsselten Passagen konnte sie nicht einsehen, aber es gelangten genug Informationen zu ihr, um zu erkennen, dass Sarah ein neues japanisches VR-Game spielte. Mit aller Willenskraft versuchte sie ein letztes Mal, sich auf den Film zu konzentrieren. Auf dem Bildschirm war Neo gerade dabei, sich zwischen zwei Pillen zu entscheiden. Sarahs Datenstrom hing immer noch in ihrem Sichtfeld. Verdammt noch mal. Catherine verpasste ihm einen heftigen, mentalen Stoß und kappte die Netzverbindung. Hoffentlich hielt Sarah es für einen Netzausfall.
»Was zur Hölle …«, schrie Sarah und fuhr hoch. Sie sah sich um.
»Was ist jetzt wieder, Schätzchen?«, fragte Maggie. Sie sah auf und hielt ihr die Schale hin. »Popcorn?«
Catherine feixte und hoffte, dass im abgedunkelten Raum niemand etwas bemerken würde.
»Du warst das, du Miststück!«, schrie Sarah und sprang auf.
Auch Tom erhob sich. Er fummelte an der altmodischen Fernbedienung herum, bis er den Film pausieren konnte. »Immer mit der Ruhe. Was ist denn los?«
»Sie hat meinen Datenstrom gekappt, das ist los!« Sarah zeigte auf Catherine. »Hör auf, in meinem Kopf herumzupfuschen!« Sie sah so aus, als würde sie gleich mit dem Fuß aufstampfen.
Tom legte seine Hände auf Sarahs Schultern. »Komm schon, sie kann nichts an deiner Verbindung machen. Das ist gar nicht möglich.«
»Sie kann! So was passiert eben, wenn du schon als Baby ein Implantat bekommst – es verwandelt dich in einen kybernetischen Freak.«
Catherine zuckte zurück. »Das ist eine Lüge.« Sie war kein Freak. Sie war nie gefragt worden, ob sie das Implantat haben wollte.
»Ach ja?«, höhnte Sarah und breitete die Arme aus. »Du kannst dich doch nicht einmal mit jemandem beim Sex verlinken.«
Jetzt lagen alle Blicke auf Catherine. Auf die eine oder andere Weise wussten alle, dass sie sich wegen der Gefahr eines Biofeedbacks nicht verlinken konnte. Tom und Sarah hatten beide Erfahrungen aus erster Hand. Und Maggie trug ihren Teil durch ihre trostreichen Am-Morgen-danach-Worte bei.
»Es ist nicht meine Schuld«, sagte Catherine mit dünner Stimme.
»Deshalb bleibt auch keiner ihrer Freunde lange bei ihr«, fuhr Sarah fort, obwohl ihr Maggie schon böse Blicke zuwarf. »Wer will denn schon immer nur Blümchensex? Sie ist ein Freak.«
Catherine zitterte, eine schamvolle Wut kochte in ihr hoch, verengte ihr Gesichtsfeld und brachte ihr Herz zum Rasen. Sie war kein Freak. »Du kannst mich mal. Deine eigenen Eltern haben dich aus dem Haus geworfen, weil du VR-süchtig bist. Wo würdest du wohl leben, wenn ich nicht wäre?«
Noch bevor Catherine es ausgesprochen hatte, wurde ihr klar, dass sie sich noch kindischer als Sarah verhielt. Aber obwohl sie wusste, dass Sarah sie absichtlich provozierte, konnte sie sich nicht mehr beherrschen.
»Kommt schon, Kinder«, beschwichtigte Maggie.
»Fick dich doch«, schrie Sarah und ignorierte Maggie. »Als deine Mutter starb, hast du bei uns gewohnt. Du schuldest mir was.«
»Ich schulde dir was?« Catherine stiegen Tränen in die Augen. »Ich werde für immer und ewig die Miete zahlen, während dein Hirn im VR verrottet. Man kann doch nicht immer in den Tag hinein leben.«
»Es waren doch nur Spiele.« Auch Sarah wischte sich Tränen weg. »Zur Hölle mit dir und deiner verdammten Lebensplanung.« Sie spuckte das letzte Wort regelrecht aus.
»Ich will etwas aus meinem Leben machen«, entgegnete Catherine.
»Da gibt es nichts zu machen«, schrie Sarah. »Gar nichts. Du lebst in der Traumwelt deiner toten Mutter.«
Die Erinnerung an ihre Mutter überkam Catherine und machte den Raum plötzlich klaustrophobisch eng. Sie musste hier raus. Sie schüttelte stumm den Kopf und marschierte auf die Haustür zu.
»Ach, Cat«, sagte Maggie und holte sie an der Tür ein, »nimm dir das mit Sarah nicht so zu Herzen.«
»Du bist nicht meine Mutter«, sagte Catherine mit gebrochener Stimme, ließ Maggies Hand von ihrer Schulter gleiten und stürmte aus dem Haus.
Beim Treffen der Abteilungsleiter nahm Leon seinen Platz ein. Sobald Mike und er sich gesetzt hatten, füllten sich acht weitere Sitze mit Menschen und zwei mit Androiden, sodass sechs Plätze für die Visualisierungen von KIs frei blieben.
»Vielen Dank für Ihr Kommen«, sagte Mike. Die Tagesordnung tauchte in dem gemeinsam von der Gruppe geteilten Netzaccount auf und schwebte über der Mitte des Tisches. »Wir haben jetzt vierzig Minuten Zeit für einen ›Runden Tisch‹ mit den Abteilungen. Ich weiß, dass Sonja uns etwas Wichtiges mitzuteilen hat. Ich beende die Runde dann mit den neuesten Infos bezüglich des Budgets.« Mike wandte sich nach links und machte eine einladende Geste zum ersten Redner.
Vaiveahtoish, ein Androide oder menschenähnlicher Roboter, war Leiter der Abteilung für Naniten-Forschung. Sein bronzefarbenes Visier blitzte auf, als er in geschliffenem Englisch mit leicht ausländischem Akzent zu sprechen begann. »Wir haben damit begonnen, die Version 2.1 unserer Naniten-Richtlinien und Verhaltensregeln zu veröffentlichen.« Während der Android das Konzept vorstellte, zeigte er im Netz Schaubilder mit Änderungen und ihren Auswirkungen. Köpfe drehten sich, um die Daten anzusehen.
Naniten, mikroskopisch kleine Roboter, waren seit einem Jahrzehnt ein Innovationsprojekt, das von sich ständig weiter entwickelnden Generationen der KIs fortgeführt wurde. Bis zum jetzigen Zeitpunkt war der Einsatz immer streng kontrolliert worden und sie waren nur wenigen, von KIs geführten Forschungslabors zugänglich. Es gab lediglich ein paar experimentelle Freisetzungen und eine einzige kommerzielle Anwendung. Wie die Technologie mussten auch die Verhaltensregeln ständig auf den neuesten Stand gebracht werden.
Leon, der schon am Vortag mit Vaiveahtoish gesprochen hatte, wusste bereits, was sein Kollege zu sagen hatte und sah sich an dem ovalen Tisch um, der ein notwendiger Kompromiss zwischen dem runden Gleichheitsprinzip und dem verfügbaren Platz war. Das Institut war innerhalb von zehn Jahren von zwei auf acht Abteilungen gewachsen.
Leon erinnerte sich an den Tag zurück, als er vor mittlerweile zehn Jahren das Institut zum ersten Mal betreten hatte. Er war neunzehn gewesen und hatte seinen ersten Anzug getragen.
Beschwingt war er über freiliegende Kabel und Bauschutt hinweg geklettert. Zu seiner Linken zogen zwei Frauen mit Schutzhelmen und gelben Westen ein dickes Kabel durch ein neues Loch in der Wand. Vor ihm stand ein Mann auf der vorletzten Stufe einer sehr hohen Leiter und verlegte orangefarbene CAT-10 Glasfaserkabel an der Decke.
»Bitte, hier entlang«, sagte eine Frau, die ein graues Kostüm und eine verspiegelte Sonnenbrille trug. Sie hatte eine harte Stimme und ihr Jackett beulte sich über der linken Hüfte.
Leon folgte ihr. Noch vor ein paar Monaten hatte er sich vor den Agenten des Secret Service gefürchtet. Jetzt starrte er ihr nur noch auf den Hintern.
»Konzentrier dich, Junge. Konzentrier dich«, sagte Mike leise zu ihm.
Leon zwinkerte dem älteren Mann zu und beobachtete stattdessen die Bewegung ihres Haares.
Als sie den Korridor hinuntergingen, wurde der Baulärm leiser. Die Agentin führte sie durch eine Tür. Dahinter befand sich ein noch nicht renovierter Konferenzraum: kühle Marmorwände, eine altmodische Wandtafel und keine Fenster. Leon ließ seine Finger neugierig über die alte Tafel gleiten. Danach waren sie weiß. Er wischte die Finger an der neuen, schwarzen Anzugjacke ab und bemerkte zu spät den Schaden, den er damit angerichtet hatte.
Als er die Kreide hastig abklopfte, rief einer der Agenten laut: »Die Präsidentin der Vereinigten Staaten, Rebecca Smith!«
Präsidentin Rebecca Smith betrat den Raum, gefolgt von ihrem Tross.
»Setzen Sie sich doch bitte, meine Herren«, sagte sie, als sie am Kopf des Tisches Platz nahm.
Mike und Leon nahmen nebeneinander Platz.
»Mike Williams, Leon Tsarev, das ist Forschungsminister Feld. Brad, darf ich dir Mr. Williams und Mr. Tsarev vorstellen, die Abteilungsleiter des Instituts für Angewandte Ethik.«
Sie nickten einander höflich zu.
»Ich habe mir Ihre Vorschläge angesehen, Mr. Williams«, sagte Feld. »Wie ich sehe, haben Sie zwei Abteilungen vorgesehen. Da wäre zum einen die Ethik-Abteilung, die die Grundlagen, die Regeln und die Anreize für die Steuerung ethischen Verhaltens entwickeln soll.«
»Das ist korrekt«, sagte Mike.
»Und zum anderen die Abteilung für Programmarchitektur, die sich auf die Umsetzung des Reputationssystems konzentrieren wird. Sie wollen erreichen, dass die KIs sich gegenseitig überwachen. Diesem Team wird Mr. Tsarev vorstehen.«
Leon sagte zunächst nichts, aber Mike sah ihn bedeutsam an. »Ja, das stimmt«, sagte Leon und versuchte, seine Stimme fest klingen zu lassen.
Feld sah Leon über den Rand seiner Brille hinweg an.
»Mr. Tsarev, wie alt sind Sie?«
»Neunzehn, Sir«, antwortete Leon.
»Hmm … und Sie sind in der Lage, eine Abteilung zu leiten, weil …?«
»Weil ich die erste virenbasierte KI erschaffen habe. Ich bin vertraut mit ihrem Design und habe ihre Methode, Entscheidungen zu treffen, die Reputation zu bewerten und ihre Form der Organisationsstruktur studiert.«
»Ja, ja. Ich zweifle nicht an ihren technischen Fähigkeiten. Aber können Sie eine ganze Abteilung voller Wissenschaftler leiten, von denen jeder älter als Sie sein wird?«
Leon versuchte sich an einer Antwort, schrumpfte aber unter den Blicken des Mannes zusammen.
»Brad, es ist bereits entschieden«, ging Präsidentin Smith dazwischen. »Quäl den Jungen nicht.«
»Also schön«, fuhr Feld fort, »ich werde der Interimsdirektor des Instituts sein, bis ein ständiger Leiter gewählt worden ist. Wir werden von jetzt an zusammenarbeiten.«
PING. PING. PING.
Leon kehrte in die Gegenwart zurück, als Mike ihm als ›dringlich‹ gekennzeichnete Nachrichten über das Netz schickte. Verblüfft sah er in die Runde. Sonja Metcalfe, die Leiterin der Abteilung für Sonderermittlungen sprach gerade.
»Der Fall ist eskaliert und wir werden uns deshalb persönlich damit befassen.«
Sie wandte sich Mike zu. Leon blinzelte und ging im Netz noch einmal im Schnelldurchgang die letzten Posts durch, wobei er nachdenklich auszusehen versuchte. Er konnte sich auf diese Dinge keinen Reim machen. Unfälle und Morde?
»Tut mir leid, aber wären Sie so freundlich, das zu wiederholen?«, bat Leon.
Sonja starrte ihn an. »Passen Sie dieses Mal besser auf«, schickte sie ihm als private Nachricht, die in seinem Gesichtsfeld schwebte und sich auch dann nicht löschen ließ, als er sie über sein Implantat beiseiteschieben wollte.
Nach einem kleinen Schnaufen sprach sie mit lauter Stimme weiter: »Wir haben hier eine Reihe scheinbar zusammenhangloser Todesfälle.« Sie verstummte und blickte Leon direkt an.
Mit einer Handbewegung deutete er an, dass sie fortfahren konnte. Er hörte ihr zu. Verdammt. Sie hatte ihm nie wirklich vertraut. Gleich als sie eingestellt worden war, hatte sie sich bei Feld beschwert und gesagt, dass sie nicht glaube, dass ein 24-jähriger in der Lage sei, eine ganze Abteilung zu leiten. Fünf Jahre später war sie immer noch in diesem Denkmuster gefangen.
»Die Todesfälle ereigneten sich über ganz Nordamerika verteilt, von Boston bis San Diego, von Vancouver bis Guadalajara. Einige scheinen natürliche Ursachen zu haben, wie zum Beispiel Herzanfälle oder Aneurysmen. Andere sind scheinbar Unfälle.«
Sonja schob einen Todesfall in den Vordergrund und er tauchte im Netz vor ihnen auf.
»Hier stürzte eine Frau in ihrer Küche und zog sich Kopfverletzungen zu. Andere jedoch sind definitiv Morde.«
»Wo ist die Verbindung?«, fragte Leon. Trotz der Informationen von Sonja und den Terabytes an Daten vor seiner Nase konnte er das große Ganze nicht erkennen.
»Wie ich schon erwähnte«, presste Sonja langsam zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »schien es zunächst keine Verbindung zu geben. Aber ein Techniker für Internetdatentransfer wies uns auf einige Übereinstimmungen hin. Er heißt Shizoko Reynolds. Er entdeckte, dass bei allen Opfern extreme Breitbandtransfers über ihre Implantate stattfanden, jeweils im Zeitraum von fünf bis fünfzehn Minuten vor ihrem Tod.«
Leon fühlte, wie sein Magen sich zusammenzog. Er sah zur Seite und bemerkte , dass auch Mike aschfahl geworden war. Mord durch Gehirnimplantate? So etwas war noch nie geschehen. Mehr als drei Viertel der Weltbevölkerung besaß ein Neuralimplantat. Wenn sie wirklich alle angreifbar waren …
»Wie hoch ist der Anteil der Fälle, die offensichtlich Morde waren?«
»Achtzehn Prozent«, sagte Sonja und wartete auf seine Reaktion.
»Also sind diese Morde nicht über das Implantat verübt worden? Warum sollte jemand physisch töten, wenn er es auf elektronischem Weg tun könnte?«
»Nein, sind sie nicht«, sagte Sonja. »Die Opfer hatten …«
»Moment«, sagte Leon, der eine Idee zu entwickeln begann. »Waren das wichtige Persönlichkeiten? Senatoren, Geschäftsmänner ? Man würde doch einen Plan B haben wollen, wenn es mit der einen Methode nicht klappt.«
»Nein!«, rief Sonja. »Was ich zu sagen versuche, ist Folgendes: Wir haben von einigen der Opfer die medizinische Telemetrie. Ihre Kortisolwerte waren deutlich über der Norm, was nahe legt, dass ihrem Tod ein qualvolles oder traumatisches Ereignis vorausging.«
»Was ist daran so ungewöhnlich?«
»Bei einem Autounfall zum Beispiel kann der Körper die Stresshormone erst gar nicht produzieren. Es geht einfach zu schnell.«
»Über wie viele Todesfälle sprechen wir hier?«, fragte Leon.
»Sechshundertdreiundachtzig, in weniger als einem Jahr.«
Leon hielt sich an der Tischkante fest. Das war nicht einfach nur eine Reihe von Todesfällen, das war Krieg im kleinen Maßstab. Gab es eine amoklaufende KI? Oder Menschen, die Gehirnimplantate hackten? Es hatte innerhalb der letzten zehn Jahre keinen Präzedenzfall gegeben. Man würde das Institut verantwortlich machen, weil sie die Bauweise der Implantate abgesegnet hatten. »Und es kann sich dabei unmöglich um Zufälle handeln?«
»Ja … nein … ich weiß es nicht.« Jetzt war es an Sonja, peinlich berührt zu sein. »Alle Beweise legen allerdings nahe, dass es sich um nicht zusammenhängende, zufällige Todesfälle handelt. Alter, ethnische Herkunft, sozialer Status, Wohnort, alles liegt innerhalb des statistischen Durchschnitts.« Sonja zeigte auf die Daten. »Nur die Mordrate liegt ein wenig über der Norm. Aber ohne den Tipp mit den hohen Bandbreiten hätten wir nie eine Verbindung zwischen den Fällen hergestellt.«
Leon spürte, wie eine Migräneattacke sich anbahnte. Er sah Mike an, der seinem Blick standhielt und wandte sich dann Sonja zu. »Dieser Netzwerktechniker, Shizoko Reynolds, wer ist das eigentlich?«
»KI der Klasse IV, irregulär körperlich, japanische Staatsbürgerschaft. Lebt in den USA, im alten Austin Convention Center, das ihm gehört.«
Leon übersetzte im Kopf die Abkürzungen: KIs der Klasse I waren ungefähr so intelligent wie Menschen. Jede weitere Klasse war um eine Zehnerpotenz intelligenter. Klasse IV waren die intelligentesten, tausendmal schlauer als ein Mensch. Was die Körperlichkeit anging, so waren manche KIs Vollzeitroboter, während andere eine komplett virtuelle Existenz führten. Ein paar wenige, so wie Shizoko, benutzten gelegentlich mechanische Körper.
Leon klopfte auf den Tisch. »Gibt es Gründe, Shizoko selbst zu verdächtigen? Wie hoch ist seine Reputation?«
»Etwa 81 Prozent«, antwortete Sonja und holte Reynolds Profil aus dem Netz in den Vordergrund. »Er ist ein Einzelgänger, sonst wäre sie vermutlich höher.«
Leon ging die Daten durch. »Wer ist an dem Fall dran?«
»Shizoko teilte seine Erkenntnisse mit dem FBI, die uns wegen des offensichtlichen KI-Aspektes mit einbezogen haben. Seit gestern ist mein gesamtes Team an dem Fall dran. Wir werden weiterhin mit dem FBI zusammenarbeiten.«
Mike sah Sonja nachdenklich an. »Schicken Sie mir ein tägliches Update.«
Catherine verlangsamte ihre Schritte nicht, bis sie ein paar Straßen vom Haus entfernt war. Sie fühlte, wie ihr heiße Tränen über das Gesicht liefen und schlang die Arme um sich. Was nützten ihr die ganze Meditation und die vielen Stunden Kampfsporttraining, wenn sie trotzdem jedes Mal ausrastete, sobald Sarah sie provozierte?
Sie sah zu dem fast vollen Mond auf. Er ließ sie an ihre Mutter denken, die bei den ersten Anzeichen von freiem Himmel und Vollmond immer auf einem Spaziergang bestanden hatte. Cat konnte einfach nicht mehr wütend sein, wenn sie an ihre Mutter dachte. Dafür waren ihr diese Erinnerungen zu kostbar.
Sie konzentrierte sich darauf, langsamer zu atmen, und begann eine Laufmeditation, bis sie spürte, dass sie ruhiger wurde. Ganz bewusst atmete sie weiter und versuchte ihren Geist zu leeren.
Als sich ihre Gedanken beruhigt hatten, dachte sie über das nach, was Sarah gesagt hatte. Menschen sollten eigentlich nicht in der Lage sein, das zu tun, was Cat mit ihrem Implantat machen konnte. Sie war bis jetzt noch nie an ihre Grenzen gegangen, aber sie konnte die Datenströme anderer Personen sehen und diese auch trennen. Sie wusste, wohin eine KI als Nächstes fahren würden. Vielleicht machte sie das wirklich zu einem Freak.
Sie überquerte die Straße und ging in den Park auf der anderen Seite. Ihr Zufluchtsort. Der Duft von nachtblühenden Pflanzen lag in der Luft. Mit ihrem Implantat führte sie eine Geruchsanalyse durch. Dem Ergebnis nach waren es Zitronenlilien. Seltsam, dass ihr das noch nie aufgefallen war.
Zunächst waren Neuralimplantate in den Vereinigten Staaten nur bei Erwachsenen erlaubt gewesen. Doch als die Vorteile innerhalb eines Jahres nach ihrer Einführung offensichtlich wurden, nahmen die Eltern, die es sich leisten konnten, ihre Kinder mit nach Übersee, um die Implantierung dort durchführen zu lassen. So aufgerüstet, hängten die wenigen Privilegierten ihre Schulkameraden schnell ab. Nachdem es dann zu einem öffentlichen Aufschrei gekommen war, hatte die Legislative es plötzlich eilig, die Gesetze zu ändern. Heute wurden die meisten Implantationen im Alter von vierzehn Jahren durchgeführt, dem offiziellen Mindestalter.
Aber Catherine hatte als Baby epileptische Anfälle gehabt. Innerhalb eines Jahres waren sie immer häufiger und schlimmer geworden, schließlich lebensbedrohlich. Keine Behandlung schien zu helfen.
Nachdem ein Arzt ihre Eltern von einer experimentellen Behandlung erzählt hatte, nahm die ganze Familie sofort ein Flugzeug nach Portland, Oregon. Obwohl damals Neuralimplantate praktisch noch unbekannt waren, erhielt Cat nur wenige Tage später eine komplette Gehirnumhüllung, die womöglich erste und einzige OP dieser Art. Das Hauptziel dieses Implantats war, Anfälle zu entdecken und sie zu unterdrücken. Aber als sie vier Jahre alt war, hatte Catherine bereits gelernt, ihr Implantat zu nutzen, um damit online zu gehen.
Sie hatte damals einen imaginären Freund namens ELOPe, der behauptete, ihr das Implantat verschafft zu haben. Als sie acht Jahre alt war, war der KI-Krieg gekommen, gefolgt vom JOI, dem ›Jahr ohne Internet‹. Als das Netz endlich wieder funktionierte, suchte Cat sofort nach ELOPe, aber er war verschwunden. Cat glaubte, dass sie die einzige Person war, die so früh ein Implantat erhalten hatte, da aber fast alle Unterlagen der Jahre vor JOI verloren gegangen waren, konnte man das nicht mit Sicherheit sagen.
Tief in Gedanken versunken, kam Catherine an ihrem Lieblingsort im Park an, einer Wiese, die von alten Douglastannen umgeben war. Ein Schrei und ein dumpfer Schlag rissen sie aus ihren Erinnerungen.
Eine Gruppe von Menschen stand in den Schatten der Bäume auf der anderen Seite der Wiese. Das schrille Kreischen ließ sie zunächst an ein Kind denken, aber das Geräusch war zu verzerrt. Gelächter war über den Rasen hinweg zu hören, das Lachen eines Mannes. Cat sah sich um und empfand plötzlich Angst. Abgesehen von ihr und der Gruppe war der Park leer. Ein neuerlicher Schrei fuhr ihr durch den Kopf, ließ ihre Nervenenden vibrieren, bevor es wieder abbrach. In der Stille danach konnte sie den Pulsschlag ihres Herzens laut in ihren Ohren hören. Sie zögerte nur einen Lidschlag, bevor sie auf die Gruppe zu rannte. Als sie näher kam, erkannte sie denselben kleinen Bot, der ihr schon vor zwei Tagen begegnet war. Vier Männern umzingelten ihn.
Zwei hielten den zappelnden Roboter fest, während einer ein langes Messer unter seinen verbliebenen optischen Sensor hielt. Der kleine Bot versuchte sich zu befreien, das Pfeifen seiner Servos war deutlich hörbar, aber die Männer waren stärker. Ein dünner Arm war im falschen Winkel weggebogen. Der kleine, grüne Wagen lag umgekippt daneben, ein Haufen Elektronikschrott verteilte sich auf dem Boden.
»Ihr verdammten Roboter nehmt uns die Arbeit weg!«
»Schneid dem kleinen Mistkerl das Auge raus!«
Der Roboter versuchte wieder, sich mit seinem verbliebenen intakten Arm zu befreien.
Cat spürte, wie das Blut in ihr zu kochen begann und ihre Wut brach sich Bahn. Ihre Wut auf Sarah, über den Tod ihrer Mutter und über eine hoffnungslose Welt ohne sinnvolle Beschäftigung. Es gab Menschen, die daraus das Beste machten, gute Seelen wie Maggie und ihre Mutter. Manchmal schaffte sie es sogar selbst. Aber es gab leider auch andere Menschen. Menschen, die es genossen, zu quälen und zu zerstören. Aber nicht heute Nacht.
Sie nahm Verbindung mit dem Netz auf, um die Polizei zu rufen, aber der Zugang war gestört. Sie spähte hinein: Die lokalen Knoten waren grau, irgendwie überlastet. Die Männer mussten einen illegalen Störsender verwenden.
Der Bot stieß einen weiteren Schrei aus, als der vierte Mann seinen verbogenen Arm verdrehte. Das Metall gab nach und der Arm hing nutzlos herab.
Cat wusste, dass sie es mit den Männern aufnehmen konnte. Obwohl sie noch nie außerhalb des Dojos gekämpft hatte, war es das, auf was sie sich vorbereitet hatte. Sie lief lautlos über den Rasen, ihre Schritte waren leicht. Sie tauchte hinter dem vierten Mann auf, der die anderen anstachelte, ein großer Kerl im roten Sweatshirt.
Sie griff nach seinem Arm und verdrehte ihn seitlich, eine Technik aus dem Naihanchi Sandan, gefolgt von einer Beinbewegung, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie drehte sich und nahm dabei seinen Arm mit sich, sodass Rotes Sweatshirt auf die Wiese krachte und sein Kopf mehrfach auf dem Boden aufschlug.
Der zweite Angreifer wandte sich Cat zu. Sie hatte gerade genug Zeit um zu erkennen, dass er in den Zwanzigern war, unrasiert, eine Lederjacke trug und ein Messer in der linken Hand hielt. Er wirbelte geschmeidig herum, senkte seinen Schwerpunkt und stand stabil. An der Art, wie er sich bewegte, konnte sie erkennen, dass er trainierte oder zumindest Kampferfahrung hatte. Er blickte hinüber zu dem Mann, den sie zu Boden gebracht hatte und starrte sie dann abschätzend an.
Von der Seite hörte sie wieder das Kreischen von Metall. Einer der Männer, die den Bot festgehalten hatten, ließ los, worauf er sich seinen Angreifern entwand. Massig und bärtig packte der Mann Cat von hinten, seine Arme umfassten ihre Schultern. Sie spürte, wie sein Bart an ihrem Hals kratzte. Mit einer geübten Bewegung senkte sie ihren Schwerpunkt, nutzte ihre geringere Größe zu ihrem Vorteil und hob die Arme. Die Bewegung lockerte seinen Griff. Sie rotierte um 90 Grad und sammelte ihr Chi für zwei knappe Schläge in seine Magengegend. Er klappte zusammen und sie nutzte den Bewegungsimpuls seines Oberkörpers, brachte ihre Arme nach unten und ihr Knie nach oben. Sein Gesicht krachte gegen ihr Knie. Er sank in sich zusammen.
Der Angreifer mit dem Messer kam auf sie zu, ganz auf sie konzentriert. Er verschwendete keine Energie aufs Reden oder auf überflüssige Bewegungen, aber sie konnte sehen, dass er in Vorfreude grinste. Sie behielt die Klinge im Blick, konzentrierte sich aber auf seine Augen.
Zweimal stieß er nach ihrem Gesicht, beim dritten Mal zielte er auf ihren Bauch, verriet seine Absicht aber durch einen Blick nach unten. Sie drehte sich geschmeidig und ließ die Klinge passieren. Ihre Rechte griff nach seinem linken Handgelenk. Doch ihr Griff war zu locker und das Leder der Jacke zu unnachgiebig, um einen festen Halt zu bekommen. Sie versuchte mit seinem Bewegungsimpuls zu arbeiten und verwandelte ihn in einen Schlag in sein Gesicht, aber er war stark und schnell, traf sie stattdessen mit dem Ellenbogen in den Magen. Sie taumelte zurück und schnappte nach Luft.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie der Mann im roten Sweatshirt sich wieder aufrichtete. Und der letzte Mann, der immer noch den Bot festhielt, schwang ihn herum wie ein Spielzeug. Der Bot krachte gegen einen Baum und fiel zu Boden. Von ihm war keine Hilfe zu erwarten. Der Kämpfer mit dem Messer drehte sich und stach wieder nach ihr. Cat wich rückwärts aus, doch nur um in den Griff des vierten Mannes zu laufen. Er packte ihren Arm mit beiden Händen. Sie machte einen Schritt zur Seite, tauchte unter seinem Arm hindurch, eine Bewegung, die seinen Griff gelockert hätte, wenn ihr der Mann im roten Sweatshirt nicht ins Gesicht geschlagen hätte.
Taumelnd dachte sie an die Grundregeln zurück, die ihr Sensei Flores eingebläut hatte. Die meisten Menschen konnten zwei bis drei Treffer einstecken, bevor ihr Nervensystem herunterfuhr. Sie hatte sich schon zwei Treffer eingefangen, was bedeutete, dass sie langsamer wurde. Und es waren immer noch drei Gegner. Sie war eine bessere Kämpferin als jeder einzelne von ihnen, aber wenn sie einen weiteren Schlag einsteckte, würde sich der Kampf zu deren Gunsten entwickeln.
Sie hatte eine verzweifelte Idee und trat zwei schnelle Schritte zurück. Wenn Menschen schon unter normalen Umständen nicht mit der Rückkopplung ihres Implantats klar kamen, was geschah dann wohl, wenn sie es absichtlich synchron schaltete und versuchte, ihre Implantate zu überladen?
Sie sammelte ihre Kraft und legte einen Schalter in ihrem Implantat um. Danach schickte sie einen mentalen Schrei in Richtung der drei durch das Netz. Zwei der Männer griffen wortlos mit den Händen nach ihren Köpfen, brachen dann zusammen und blieben bewusstlos neben dem ersten Mann liegen, den sie zuvor ausgeschaltet hatte. Aber der Messerkämpfer wankte nicht. Er wandte sich ihr wieder zu. Er sah jetzt ängstlich aus, aber die Angst machte ihn nur noch entschlossener. Seine Zähne blitzten im Mondlicht auf.
Cat wich zurück und zwang sich, ruhiger zu atmen. Er hatte wohl kein Implantat und sie würde gegen ihn kämpfen müssen. So wie er sein Messer schwang, war es ihm egal, wie schwer er sie dabei verletzen würde. Aber das ging für sie in Ordnung. Okinawa Kenpo war ein Karate-Stil, der auf der bitteren Wahrheit einer jeden echten Kampfsituation basierte: Es gibt keine Regeln. Sie kämpfte um ihr Leben.
Sie beobachtete ihn und ihre Blicke folgten seinen Augen. Sie fühlte ihre Füße auf dem Boden, zog ihr Chi daraus, als er sich wie in Zeitlupe näherte. Sie glitt eine Handbreit nach links, um seinen Waffenarm abgleiten zu lassen, ohne dass er Schaden anrichtete, ähnlich wie bei seiner ersten Attacke. Doch sie drehte sich, als er sie passierte und traf ihn mit der Hand hart am Ohr und beendete ihre Halbdrehung, bewegte sich leichtfüßig, als er an ihr vorbei stolperte.
Betäubt wie er war, drehte er sich nur langsam und bevor er sein Messer wieder nach oben bringen konnte, kam Cat heran und traf ihn mit einem Kick ans Knie. Sie spürte, wie es knirschend nachgab, und schnellte dann zurück, heraus aus der Reichweite seines Messers. Er stürzte schwer und schrie auf, als er auf sein verletztes Bein fiel, das jetzt direkt am Knie nach hinten gebogen war.
Trotz des Adrenalins, das durch ihre Adern jagte, wurde ihr beim Anblick des Beines in dieser unnatürlichen Position übel. Sie drehte sich um, die Fäuste immer noch erhoben und sah nach jedem der vier Männer. Weil das Blut in ihren Ohren rauschte, konnte sie nichts hören. Die Schreie des Messerkämpfers schienen wie aus großer Entfernung zu kommen. Jenseits der Wiese sah sie zwischen den Bäumen einen Schimmer aus Silber und Rot. Der Bot, das Opfer der Männer, hatte sich aufgerichtet und lief davon.
Cat kämpfte mit ihren Gefühlen, wollte ihm hinterher und sicherstellen, dass er in Ordnung war, wollte Dank für ihre Rettungsaktion. Aber der Bot wollte offensichtlich nur weg.
Sie stand immer noch unentschlossen da, als das Geräusch von Polizeisirenen durch die Bäume zu ihr drang. War die Polizei hierher unterwegs? Hatte der Bot sie gerufen, sobald er außerhalb der Reichweite des Störsenders war? Würde sie Ärger bekommen, weil sie mit den Männern gekämpft hatte?
Plötzlich bemerkte sie, dass sich keiner der Männer, die sie mit ihrem Implantat angegriffen hatte, noch bewegte. Sie ignorierte den Mann mit dem gebrochenen Bein, denn seine Schreie bewiesen, dass er noch unter den Lebenden weilte. Sie lief zu einem der anderen hinüber und prüfte sein Implantat, während sie nach seinem Puls fühlte. Er hatte keinen und sein Chip zeigte keine Resonanz. Sie lief zu dem Mann im roten Sweatshirt und fand ihn im selben Zustand.
So eine Scheiße. Sie hatte die Männer getötet.
Der Klang der Sirenen wurde jetzt lauter.
Sie trennte sich vom Netz, sodass sie nicht geortet werden konnte, wandte sich um und rannte.
Leon sah zu Rebecca Smith hinüber, die ihm gegenüber am Konferenztisch saß. Die frühere Präsidentin sah grau und hart aus, nicht so sehr wie ein Schatten ihres früheren Selbst, eher schon wie ein Baum, der unter extremen klimatischen Bedingungen gewachsen war. Sie wirkte fest und sturmerprobt. Widerstandsfähig.
»Mike, du verstehst die politischen Realitäten nicht«, sagte sie. »Die Menschenrechtspartei will nicht, dass es KIs überhaupt gibt.«
»Was denken die eigentlich, wie wir das anstellen sollen?«, fragte Mike und seine Stimme hob sich dabei. »Denken die, es genügt, ein paar Computer abzuschalten und die KIs verschwinden von allein? Warum kocht das gerade jetzt hoch?«