A Love Letter To Whiskey - Kandi Steiner - E-Book

A Love Letter To Whiskey E-Book

Kandi Steiner

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Beschreibung

*Ein ergreifender und internationaler Bestseller über zwei Liebende, die gegen den Fluch des schlechten Timings kämpfen.* Jamie macht süchtiger, als es Whiskey jemals könnte. Und jetzt stand er auf meiner Türschwelle, genau wie ein Jahr zuvor. Nur gab es diesmal keinen Regen, keine Wut, keine Hochzeitseinladung - es gab nur uns. Aber wir können hier nicht anfangen. Nein, um die Geschichte von Jamie und mir richtig zu erzählen, müssen wir zurückgehen. Zurück zum Anfang. Zurück zum allerersten gemeinsamen Tropfen. Zum allerersten Zusammenprall. Dies ist meine Liebeserklärung an Whiskey. Ich hoffe, er liest sie. Ich hoffe, Jamie liest sie.

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Prolog
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Epilog
Danksagung

Kandi Steiner

 

A Love Letter to Whiskey

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Aus dem Englischen übersetzt von Hannah Koinig

 

 

 

 

Dieser Artikel ist auch als Taschenbuch und Hörbuch erschienen.

 

 

 

A Love Letter to Whiskey

 

 

 

Copyright

© 2023 VAJONA Verlag

Alle Rechte vorbehalten.

[email protected]

 

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

 

Übersetzung: Hannah Koinig

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

»A Love Letter to Whiskey«.

Korrektorat: Désirée Kläschen

Satz: VAJONA Verlag, Oelsnitz

 

 

 

 

ISBN: 978-3-98718-050-7

 

VAJONA Verlag

 

 

Für Sasha Whittington,

meine allerbeste Freundin und die einzige Frau,

die das Brennen von Whiskey so sehr liebt wie ich.

Das ist für dich.

 

 

 

 

Hinweis

 

Dieses Buch beinhaltet Themen wie Missbrauch.

 

 

Prolog

Rückfall

 

Wahnsinn, wie schnell der Rausch zurückkommt, wenn man so lange nüchtern war.

Ich öffnete meine Tür und fühlte mich schon bei seinem Anblick beschwipst, die Sicht verschwamm und die Beine zitterten. Früher brauchte ich mindestens einen Shot, um an diesen Punkt zu gelangen, aber meine Toleranzschwelle war durch die Entfernung und die Zeit geschwächt worden und allein sein Anblick erhitzte mein Blut. Ich drückte den Türknauf noch fester, als ob das helfen würde. Es war, als würde ich versuchen, Wasser zu schlucken, nachdem ich den Punkt ohne Wiederkehr überschritten hatte.

Whiskey stand auf meiner Türschwelle, genau wie ein Jahr zuvor. Nur gab es diesmal keinen Regen, keine Wut, keine Hochzeitseinladung – es gab nur uns.

Es war nur er – der alte Freund, das leichte Lächeln, der verdrehte Trost in einer glitzernden Flasche verpackt.

Es gab nur mich – die Alkoholikerin, die so tat, als ob sie ihn nicht schmecken wollte, und die zu schnell merkte, dass sie sich nicht weniger nach ihm sehnte, nur weil sie seit Monaten clean war.

Aber wir können hier nicht anfangen.

Nein, um diese Geschichte richtig zu erzählen, müssen wir zurückgehen.

Zurück zum Anfang.

Zurück zum allerersten Tropfen.

1

Erste Kostprobe

 

Das erste Mal, als ich Whiskey probiert habe, bin ich auf die Nase gefallen.

Wortwörtlich.

Ich war vom ersten Schluck an betrunken und ich schätze, das hätte ein Warnzeichen sein sollen, mich von ihm fernzuhalten.

Jenna und ich liefen die Strecke um den See in der Nähe ihres Hauses und der Schweiß tropfte uns wegen der großen Hitze in Südflorida in die Augen. Es war Anfang September, aber in Südflorida hätte es genauso gut Juli sein können. Es gab keine Stiefel-und-Schal-Saison, es sei denn, man zählte die etwa sechs Wochen im Januar und Februar, in denen die Temperatur unter siebenundzwanzig Grad fiel.

So kämpften wir mit über dreißig Grad, während ich versuchte, die Angeberin zu spielen und zu beweisen, dass ich mit Jennas Cheerleader-Trainingsprogramm mithalten konnte. Sie hatte es endlich in die Mannschaft geschafft und mit diesem Privileg kamen lächerliche Anforderungen, die sie erfüllen musste. Ich hasste das Laufen – ich hasste es absolut. Ich wäre an diesem Tag viel lieber auf meinem Surfbrett gewesen. Aber zum Glück hatte Jenna eine ehrgeizige beste Freundin, die nie eine Herausforderung ablehnte. Als sie mich also fragte, ob ich mit ihr trainieren wolle, sagte ich eifrig zu, obwohl ich wusste, dass ich am Ende des Tages brennende Rippen und Waden haben würde.

Ich sah ihn zuerst.

Ich war nur ein paar Schritte vor Jenna und starrte auf meine pinkfarbenen Turnschuhe, die auf dem Asphalt aufschlugen. Als ich aufblickte, war er etwa fünfzehn Meter entfernt, und selbst aus dieser Entfernung konnte ich erkennen, dass er mich in Schwierigkeiten bringen würde. Zuerst wirkte er ziemlich durchschnittlich – braunes Haar, schlanke Statur, durchnässtes weißes Lauf-shirt –, aber je näher er kam, desto klarer wurde mir, wie sehr er zum Anbeißen war. Ich bemerkte, wie sich die Muskeln seiner Beine beim Laufen bewegten, wie sein Haar leicht wippte und wie er seine Lippen konzentriert aufeinanderpresste, als er sich uns näherte.

Ich schaute über meine Schulter und versuchte, Jenna mit den Augenbrauen etwas anzudeuten und ihr den Beste-Freunde-Geheimcode für ›heißer Typ da vorne‹ zu geben, aber sie hatte angehalten, um ihre Schuhe zu binden. Und als ich mich wieder umdrehte, war es zu spät.

Ich stieß mit ihm zusammen – hart – und fiel auf den Gehsteig, wobei ich mich ein wenig abrollte, um den Sturz abzufedern. Er fluchte und ich stöhnte, mehr aus Verlegenheit als vor Schmerz. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich mich anmutig aufrichtete, strahlend lächelte und ihn nach seiner Nummer fragte, aber die Wahrheit ist, dass ich in dem Moment, in dem ich ihn ansah, die Fähigkeit verlor, irgendetwas zu tun.

Es war ein ungewohnter, warmer Schmerz, der sich in meiner Brust ausbreitete, als ich meine Augen vor der Sonne abschirmte, die hinter seiner Silhouette einfiel, so wie man es von einem ersten Schluck Whiskey erwartet. Er beugte sich vor, streckte die Hand aus und sagte etwas, das ich nicht wahrnahm, weil ich es irgendwie geschafft hatte, meine Hand in seine zu legen, und allein diese eine Berührung hatte meine Haut in Flammen gesetzt.

Gut aussehend war nicht das richtige Wort, um ihn zu beschreiben, aber es war alles, woran ich dachte, als ich seine Gesichtszüge musterte. Sein Haar war mokkafarben, feucht an den Wurzeln und fiel ihm leicht in die Stirn. Seine Augen waren groß – fast zu rund – und eine Mischung aus Gold, Grün und intensivem Braun. Den Spitznamen Whiskey habe ich erst viel später gewählt, aber in diesem Moment habe ich es zum ersten Mal gesehen – das waren Whiskey-Augen.

Die Art von Augen, in denen man sich verliert. Die Art, die einen in sich versinken lässt. Er hatte sehr lange Wimpern und einen festen, kantigen Kiefer. Das Kinn war so hart, die Kanten so klar, dass ich geschworen hätte, er sei wütend auf mich, wäre da nicht das Lächeln auf seinem Gesicht gewesen. Er sprach immer noch, als mein Blick über seine breite Brust wanderte, bevor er wieder zu seinem Grinsen zurückkehrte.

»O mein Gott, bist du blind, verdammt?!« Jennas Stimme riss mich aus meinem Dämmerzustand, als sie Whiskey aus dem Weg schob, meine Hand ergriff und mich zurück in den Stand riss. Kaum hatte ich mein Gleichgewicht wiedergefunden, drehte sie sich um und schimpfte weiter. »Wie wär’s, wenn du dir dein langes Haar aus den Augen streichst und aufpasst, wo du hingehst, Sportsfreund?«

O nein.

Ich hatte nicht einmal Zeit, etwas zu sagen, ich konnte das Wort nicht einmal denken, geschweige denn aussprechen, bevor es zu spät war. Ich sah zu, wie Whiskey sich in Zeitlupe in meine beste Freundin verliebte, bevor ich auch nur ein Wort zu ihm sagen konnte.

Jenna stand aufrecht, die Arme verschränkt, eine Hüfte in ihrer üblichen Art und Weise vorgestreckt, während sie darauf wartete, dass er sich verteidigte.

Das war ihre Standardprozedur – einer der Gründe, aus denen wir uns gut verstanden.

Wir waren beide das, was man als ›Hitzköpfe‹ bezeichnen würde, aber Jenna hatte den eindeutigen Vorteil, dass sie nicht nur umwerfend hübsch war, sondern auch eine gewisse Ausstrahlung hatte. Sie drehte ihren langen, gewellten blonden Pferdeschwanz nach hinten und zog eine Braue hoch.

Und dann tat er es auch.

Sein Lächeln wurde breiter, als er ihr in die Augen sah, und es war derselbe Blick, den ich schon bei unzähligen Männern beobachtet hatte.

Jenna war ein Einhorn und die Männer waren von ihr begeistert. Und das zu Recht – sie hatte platinblondes Haar, kristallblaue Augen, endlos lange Beine und dazu noch eine starke Persönlichkeit. Bevor du jetzt denkst, dass ich die unsichere beste Freundin war – ich hatte es auch drauf. Ich arbeitete hart, ich war talentiert – nur nicht in den Dingen, auf die High-School-Jungs für gewöhnlich Wert legten.

Aber dazu kommen wir noch.

»Hi«, sagte Whiskey schließlich und reichte diesmal Jenna die Hand. Seine Augen waren warm, sein Lächeln einladend – wenn ich das richtige Wort für ihn wählen müsste, nur eines, würde ich sagen: charmant. Er sprühte nur so vor Charme. »Ich bin Jamie.«

»Nun, Jamie, vielleicht solltest du einen Termin beim Augenarzt machen, bevor du noch einen unschuldigen Jogger über den Haufen rennst. Und du schuldest Brecks eine Entschuldigung.« Sie nickte mir zu und ich erschauderte bei meinem Namen und fragte mich, warum sie das Bedürfnis hatte, ihn überhaupt auszusprechen.

Sie nannte mich immer B – alle taten das – warum also wählte sie in dem Moment, in dem ich dem ersten Jungen gegenüberstand, der mein Herz zum Rasen brachte, meinen vollen Namen?

Jamie grinste immer noch, musterte Jenna und versuchte, sie zu durchschauen, aber nach einem Moment wandte er sich mit demselben verschmitzten Lächeln an mich.

»Es tut mir leid, ich hätte aufpassen müssen, wo ich hinlaufe.« Er sagte die Worte mit Überzeugung, hob aber bei der letzten Passage die Brauen, denn er und ich wussten beide, wer nicht auf den Weg geachtet hatte, und er war nicht der Schuldige.

»Es ist in Ordnung«, murmelte ich, denn aus irgendeinem Grund fiel es mir immer noch schwer, meine Stimme zu finden. Jamie neigte seinen Kopf nur ein wenig, seine Augen waren diesmal ganz auf mich gerichtet und ich fühlte mich nackt unter seinem Blick. Noch nie hatte mich jemand auf diese Weise angesehen – völlig konzentriert. Es war beunruhigend und aufregend zugleich.

Doch bevor ich mich an diesem Gefühl festhalten konnte, drehte er sich wieder zu Jenna um und ihre Blicke trafen sich, während sich auf ihren Gesichtern ein langsames Lächeln ausbreitete. Ich hatte es schon eine Million Mal gesehen, aber es war das erste Mal, dass mir schlecht wurde, als ich es sah.

Ich hatte ihn zuerst gesehen, aber das spielte keine Rolle.

Denn er hat sie gesehen.

 

 

 

 

 

Erst über eine Woche später gaben Jenna und Jamie ihrem Flirt, den sie schon seit acht Tagen hatten, einen offiziellen Titel. So war es, als wir in der High School waren – es gab keine Spielchen, kein ›Lass uns einfach abhängen und sehen, wo das hinführt‹. Man war entweder mit jemandem zusammen oder nicht, und sie waren eindeutig zusammen.

Ich hatte das Privileg, sie beim Knutschen zwischen den Unterrichtsstunden zu beobachten, und so sehr ich sie auch hassen wollte, ich tat es einfach nicht. Ich hatte sogar fast vergessen, dass ich Jamie zuerst gesehen hatte, weil sie so ekelhaft süß zusammen waren. Jenna war größer als ich, aber sie war gerade klein genug, um perfekt unter Jamies Arm zu passen. Sie war Cheerleaderin, er war Basketballspieler – unterschiedliche Jahrgänge, aber trotzdem beliebt und geachtet. Seine dunklen Gesichtszüge passten gut zu ihren hellen, und sie hatten einen ähnlichen Sinn für Humor. Sie klangen sogar gut zusammen – Jenna und Jamie. Ich meine, ganz ehrlich, wie könnte ich da wütend sein?

Also ließ ich es sein, ließ den Gedanken an ihn fallen und wechselte einfach in die Position des dritten Rades, die ich von Jenna und ihrer langen Liste von Freunden gewohnt war. Jamie war der Erste von ihnen, der mich zu schätzen schien. Er unterhielt sich ständig mit mir, machte Witze und überbrückte die Kluft zwischen unangenehmer und einfacher Freundschaft. Das war schön, und ich freute mich aufrichtig für sie.

Trotzdem hatte ich mich an diesem Nachmittag nach der Schule gegen das Dasein als drittes Rad entschieden. Stattdessen warf ich meinen Jansport Rucksack auf mein Bett und begann sofort, in meiner obersten Schublade nach meiner Badehose zu kramen, weil ich unbedingt noch vor Sonnenuntergang ins Wasser wollte. Die Winterzeit hatte noch nicht begonnen, aber die Tage wurden langsam kürzer und erinnerten mich daran, dass der Sommer noch weit entfernt war.

»Hey, Süße«, sagte meine Mutter und klopfte mit den Fingerknöcheln sachte an meinen Türrahmen. »Hast du Hunger? Ich dachte, wir könnten heute Abend essen gehen, vielleicht in diese Sushi-Bar, die du so sehr liebst?«

»Ich bin noch nicht wirklich hungrig. Werde gleich die Wellen abchecken«, antwortete ich mit einem breiten Lächeln. Ich blickte nicht einmal von meiner Schublade auf, sondern zog nur mein weißes, trägerloses Lieblingstop heraus und wich ihrem Blick aus. Es war nicht so, dass ich ein dramatischer Teenager war, der seine Mutter hasste, das war ich nicht – ich liebte sie, aber die Dinge zwischen uns waren anders als noch vor zwei Jahren. Okay, an dieser Stelle muss ich euch warnen: Ich hatte Vaterprobleme. Ich schätze, in gewisser Weise auch Mamaprobleme.

Aber lasst es mich erklären.

Alles in meinem Leben war perfekt, zumindest in meinen Augen, bis zu dem Sommer vor meinem zweiten Jahr an der High School. Das war der Sommer, in dem ich meine hübschen grauen Augen öffnete, mein Leben betrachtete und feststellte, dass es überhaupt nicht so war, wie es schien.

Ich dachte, ich hätte alles. Meine Eltern waren nicht verheiratet oder gar zusammen, aber das waren sie auch nie gewesen. Daran war ich gewöhnt. Es war unsere Normalität. Mama war nie mit jemandem ausgegangen, Papa war mit jemandem ausgegangen, hatte aber nie wieder geheiratet, und irgendwie waren wir trotzdem immer zusammen – nur wir drei – jedes Weihnachten. Ich hatte immer im Haus meiner Mutter gelebt, aber genauso viel Zeit bei meinem Vater verbracht. Meine Eltern haben sich nie gestritten, aber sie haben auch nie wirklich gelacht. Ich nahm an, dass sie das für mich machten, und dafür war ich dankbar.

Wir waren unkonventionell, ich pendelte zwischen den Häusern hin und her, und sie tolerierten sich meinetwegen gegenseitig, aber es funktionierte. Papas Haut war weiß, so blass wie nur möglich, mit Sommersprossen und einem Hauch von Rosa, während Mamas Haut den schönsten und elegantesten Farbton von Schwarz hatte. Ebenholz und Elfenbein – und ich die perfekte, unvollkommene Mischung aus beidem.

Sie verdienten in ihren jeweiligen Berufen vielleicht nicht genug, um mich mit Geburtstagsgeschenken zu überhäufen oder mir zu meinem sechzehnten Geburtstag ein glänzendes neues Auto zu kaufen, aber sie arbeiteten hart, bezahlten die Rechnungen, und diese Einstellung brachten sie auch mir bei. Wir Kennedys waren vielleicht nicht reich an Geld, aber wir waren reich an Charakter.

Trotzdem ist nicht alles so, wie es scheint.

Ich habe dieses Sprichwort nie verstanden – nicht wirklich – bis zu jenem Sommer vor der zehnten Klasse, als alles, was ich über mein Leben zu wissen glaubte, durch eine Seelenauskotzung ausgelöscht wurde. Meine Mutter hatte eines Abends zu viel getrunken, wie sie es oft tat, und ich hatte sie bei Laune gehalten, indem ich ihr die Haare zurückhielt, während sie mir erzählte, wie stolz sie auf mich war, und ihren Magen in unsere blütenweiße Toilette entleerte. »Du bist so viel mehr, als ich mir je hätte wünschen können«, wiederholte sie immer und immer wieder. Aber dann wurde aus dem buchstäblichen Erbrechen ein Wortkotzen, und sie enthüllte eine Wahrheit, auf die ich nicht vorbereitet war.

Mein ganzes Leben lang hatte man mir erzählt, dass meine Mutter und mein Vater die besten Freunde waren, als sie aufwuchsen. Sie waren unzertrennlich, und nachdem alle um sie herum jahrelang Witze darüber gemacht hatten, dass sie ein Paar wären, gaben sie es schließlich zu und es stellte sich heraus, dass sie perfekt zueinander passten. Sie führten mehrere Jahre lang eine glückliche Beziehung, hatten eine kleine Tochter, die sie beide sehr liebten, aber es klappte einfach nicht und so wurden sie wieder Freunde. Ende. Klingt süß, oder? Aber es war eine Lüge.

Die Wahrheit war viel hässlicher, wie so oft, und deshalb haben sie sie vor mir versteckt. Aber Mutter war an diesem Abend tequilabetrunken und hatte offenbar vergessen, warum es ihr so wichtig war, mich anzulügen. Also erzählte sie mir die Wahrheit.

Sie waren beste Freunde gewesen, das stimmte, aber sie hatten sich nie verabredet. Stattdessen war mein Vater eifersüchtig gewesen und hatte jeden Kerl, der es wagte, mit meiner Mutter zu reden, aus ihrem Leben gejagt. Aber das war nicht alles. Eines Abends, als sie über den letzten Kerl, der sie verlassen hatte, weinte, hatte mein Vater sie bedrängt. Und er akzeptierte kein Nein als Antwort. Nicht das erste Mal, als sie es sagte.

Nicht das elfte Mal.

Sie hatte übrigens mitgezählt.

Mama war damals siebzehn und ich war das Produkt dieser Nacht – ein Baby, das nicht geboren werden sollte, nach einem Horror, der nicht erlebt werden sollte.

An dieser Stelle muss ich wohl sagen, dass ich meinen Vater sofort gehasst habe, und in gewisser Weise tat ich das wirklich, aber auf eine andere Weise liebte ich ihn trotzdem. Er war immer noch mein Vater, der Mann, der mich kleines Mädchen nannte und mir Shakes spendierte, wenn ich einen schlechten Tag hatte. Ich fragte mich, wie der sanftmütige, fürsorgliche Mann, an dessen Seite ich aufgewachsen war, eine solche Tat begehen konnte.

Eine Zeit lang lebte ich in einer Art Schwebezustand zwischen diesen beiden Gefühlen – Liebe und Hass –, aber als ich endlich den Mut hatte, ihn danach zu fragen, ihm zu eröffnen, dass ich wusste, was passiert war, hatte er nichts zu sagen. Er entschuldigte sich nicht, er versuchte nicht, sich zu verteidigen, und er schien keine andere Emotion als die Wut darüber zu empfinden, dass meine Mutter es mir überhaupt erzählt hatte. Danach rutschte ich immer weiter in den Hass ab und hörte knapp fünf Monate nach der Nacht, in der meine Mutter mir die Wahrheit gesagt hatte, auf, mit ihm zu sprechen. Und obwohl ich es meiner Mutter nicht übel nehmen sollte, dass sie es mir nicht früher gesagt hatte, tat ich es. Sie hatte es nicht verdient, dass ich ihr die Schuld dafür gab, dass sie mich glauben ließ, mein Vater sei ein guter Mensch, aber ich tat es. Und so war mein Leben nie wieder dasselbe.

Wie gesagt, es war nicht so, dass ich meine Mutter hasste, denn das tat ich nicht. Aber nach dieser Nacht lag ein dicker Keil zwischen uns, eine unverrückbare Kraft, und ich spürte jedes Mal, wenn ich sie ansah, wie die Splitter davon an meiner Brust kratzten. Also ließ ich sie meistens abblitzen.

»Okay«, antwortete sie niedergeschlagen. »Nun, ich hoffe, du hast Spaß.« Ich kramte noch immer nach meiner Badehose, und sie wandte sich zum Gehen, hielt aber lange genug inne, um mir über ihre Schulter zuzurufen: »Ich liebe dich.«

Ich erstarrte, schloss die Augen und holte einmal tief Luft. »Ich hab dich auch lieb, Mama.«

Niemals würde ich diese Worte nicht sagen. Ich liebte sie von ganzem Herzen, auch wenn sich unsere Beziehung verändert hatte.

Als ich meinen Badeanzug fand, mich umzog, mein Brett auf das Dach meines klapprigen Geländewagens schnallte und zum Strand fuhr, drohte mich die Last des Tages zu erdrücken. Aber sobald ich mein Brett ins Wasser setzte und darauf glitt, fanden meine Arme ihren Rhythmus in dem vertrauten Brennen, das mit dem Rauspaddeln kam, und ich begann leichter zu atmen.

Die Brandung in Südflorida war alles andere als glorreich, aber für meine Zwecke war sie geeignet.

Es war eine meiner liebsten Arten, den Tag zu verbringen, verbunden mit dem Wasser, mit mir selbst. Es war meine Zeit allein, Zeit zum Nachdenken, Zeit zum Verarbeiten. Ich nutzte das Surfen wie die meisten Menschen Fitness oder Essen – zur Bewältigung, zur Heilung, um meine Probleme zu verarbeiten oder sie zu ignorieren, je nach meiner Stimmung. Es war mein Trost.

Deshalb fiel ich auch fast von meinem Brett, als Jamie neben mir her paddelte.

»Schön, dich hier zu treffen«, meinte er mit tiefer, kehliger Stimme. Er kicherte über meine Gleichgewichtsstörung und ich kniff die Augen zusammen, lächelte aber trotzdem. Alles, was ich über seinen Körper zu wissen glaubte, wurde in diesem Moment ausgelöscht und ich schluckte, als ich den Schnitten an seinen Armen folgte, die mich unweigerlich zu seinem Unterleib führten. Dort befand sich eine Narbe, direkt über seiner rechten Hüfte, und ich starrte sie nur eine Sekunde zu lange an, bevor ich mich räusperte und mich wieder dem Wasser zuwandte.

»Ich dachte, du hättest Pläne mit Jenna.«

Er zuckte mit den Schultern. »Das hatte ich. Aber anscheinend gab es eine Cheerleader-Krise.«

Wir sahen uns in die Augen und unterdrückten beide ein Lachen, ehe wir es rausließen.

»Ich werde den organisierten Sport nie verstehen«, sagte ich und schüttelte den Kopf.

Jamie blinzelte gegen die Sonne, als wir über eine kleine Welle ritten, die Beine baumelten auf beiden Seiten unserer Bretter. »Was? Du wirst nie verstehen, wie es ist, ein Team zu haben, das auf ein gemeinsames Ziel hinarbeitet?«

Ich spottete. »Tu doch nicht so. Du weißt, was ich meinte.«

»Oh, du hasst also Spaß?«

»Nein, aber ich hasse organisierten Spaß.« Ich warf ihm einen Seitenblick zu und grinste ein wenig, und ich musste noch breiter grinsen, als die rechte Seite seines Mundes sich ebenfalls nach oben bewegte. »Ich wusste gar nicht, dass du surfst.«

»Klar«, antwortete er leichthin. »Ob du es glaubst oder nicht, wir organisierten Spaßmenschen machen auch gerne Solosportarten.«

»Du willst es wirklich nicht dabei belassen, oder?« Er lachte und ich entspannte mich ein wenig. Was machte es schon, dass Jamie unglaublich gut aussah und die Bauchmuskeln des jungen Brad Pitt hatte? Ich konnte das tun, mit ihm befreundet sein, das kleine Kribbeln in meinem Magen ignorieren, wenn er mich anlächelte. Es war schön, einen anderen Freund als Jenna zu haben. Während sie leicht Freunde fand, neigte ich dazu, Leute wegzustoßen – ob freiwillig oder ungewollt. Vielleicht war das Dreiergespann Jamie-B-Jenna ja doch nicht so schlecht.

Aber als ich wirklich über die Möglichkeit nachdachte, einen Mann als Freund zu haben, drehte sich mein Magen aus einem ganz anderen Grund um. Ein Gedankenblitz – Mama, die über unsere Toilette gebeugt war – traf mich schnell, ihre Augen blutunterlaufen und ihre ehrlichen Worte wie Eispickel in meiner Kehle. Ich schluckte und schloss für einen Moment die Augen, bevor ich auf die wasserdichte Uhr an meinem Handgelenk schaute.

»Wir sollten versuchen, die nächste Welle zu erwischen.« Ich wartete nicht auf seine Antwort, bevor ich hinauspaddelte.

Wir surften, so gut wir konnten, aber die Wellen waren an diesem Tag nicht der Rede wert und hatten kaum genug Kraft, um unsere Bretter zurück ans Ufer zu schieben. Schließlich landeten wir wieder dort, wo wir angefangen hatten, die Beine schwangen im Salzwasser unter uns, während wir auf das Wasser hinausstarrten. Die Sonne versank langsam hinter uns, ging an der Westküste unter und tauchte den Strand in ein dunstiges gelbes Licht.

»Wo gehst du hin, wenn du das machst?«

»Wenn ich was mache?«, fragte ich.

»Du hast manchmal diesen Blick, diesen fernen Blick. Es ist, als wärst du hier, aber nicht wirklich.« Er beobachtete mich, genau wie am ersten Tag unserer Begegnung. Ich strich mit dem Daumen über eines der schwarzen Muster auf meinem Brett und zuckte mit den Schultern.

»Ich denke nur nach, schätze ich.«

»Klingt gefährlich.«

Er grinste und ich spürte, wie sich meine Wangen erhitzten, obwohl das niemand außer mir bemerken würde. Meine Haut wurde nicht so rot wie die von Jenna. »Wahrscheinlich schon. Du solltest Abstand davon halten.«

Jamie kaute auf der Innenseite seiner Lippe, starrte mich immer noch an und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, tat es aber nicht. Er drehte sich um und starrte einige Augenblicke lang in die gleiche Richtung wie ich, bevor er wieder sprach.

»Woran denkst du jetzt gerade?«

Ich stieß einen langen, langsamen Atemzug aus. »Ich denke, dass ich es kaum erwarten kann, hier wegzukommen, nach Kalifornien zu ziehen und endlich eine richtige Welle zu surfen.«

»Du ziehst um?«

»Noch nicht. Aber hoffentlich fürs College.«

»Ah«, sinnierte er. »Ich nehme an, du hast kein Interesse daran, auf die Palm South University zu gehen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, zu viel Drama. Ich will eine entspannte Schule an der Westküste. Irgendwo, wo die Wellen nicht so ätzend sind.«

Jamie tauchte seine Hand ins Meer, zog sie wieder hoch und ließ das Wasser von seinen Fingerspitzen auf die heiße Haut an seinen Schultern tropfen. »Ich auch, Brecks. Ich auch.«

Ich erschauderte bei der Verwendung meines Namens. »Einfach nur B.«

»Nur B, hm?«

Ich nickte. »Du willst auch in Kalifornien zur Uni gehen?«

»Das ist der Plan. Ich habe einen Onkel da, der ein paar Verbindungen zu einigen Universitäten hat. Hast du schon eine bestimmte im Auge?«

»Noch nicht. Nur irgendwo weit weg von hier.«

Er nickte einmal und drängte mich zum Glück nicht, diese kleine dramatische Aussage zu vertiefen. Wir saßen noch eine Weile schweigend da, bevor wir zurückpaddelten und unsere Bretter unter die Arme klemmten, um zu den Autos zu gehen. Der Sand war ein bisschen rutschig unter unseren Füßen, aber ich liebte das Gefühl. Ich liebte alles am Strand, vor allem das Surfen, und ich schaute zu Jamie hinüber, dankbarer, als ich bei einem zufälligen Treffen angenommen hätte.

Er half mir beim Beladen, nachdem wir die Bretter abgespült hatten, und schnallte mein altes lindgrünes Board auf das Dach des alten, nicht mehr so treuen Wagens. Und wie nicht anders zu erwarten, ließ sich der 1998er Kia Sportage nicht anwerfen, als ich versuchte, ihn zu starten.

»Toll«, murmelte ich und schlug mit dem Kopf gegen das Lenkrad. Jamie war gerade mit dem Beladen seines eigenen Wagens ein paar Autos weiter fertig geworden und machte sich auf den Weg zurück.

»Springt er nicht an?«

»Scheint mein Glückstag zu sein.«

Er lächelte und zerrte am Griff meiner Tür, um sie zu öffnen. »Komm, ich fahre dich nach Hause.«

Damals wusste ich es noch nicht, aber diese eine kleine Geste, diese sechs kleinen Worte sollten alles zwischen mir und Jamie Shaw verändern.

 

2

Summen

 

So sehr ich den Strand auch liebte, so sehr hasste ich, was er mit meinem Haar anstellte.

Ich war ein Produkt meiner Eltern und hatte von beiden gleich viele Merkmale. Ich hatte die Augen meines Vaters, das Haar meiner Mutter, eine sanfte Mischung ihrer Hautfarben. Da mein Vater weiß und meine Mutter schwarz war, lag ich genau dazwischen, mit einer hellbraunen Haut. Ich war klein wie meine Mutter und dickköpfig wie mein Vater, und irgendwie habe ich die heftigste Kombination ihrer Arbeitsmoral geerbt. Ehrgeiz. Meine Mutter war zierlich und hatte so gut wie keine nennenswerten Kurven, in dieser Hinsicht war ich ihr sehr ähnlich. Ich liebte meinen athletischen Körperbau, auch wenn er die Aufmerksamkeit der Jungs nicht so erregte wie Jennas Hüften.

Allerdings mischte sich Salzwasser mit meinem Haar ungefähr so gut wie Wasser mit Öl. Nämlich gar nicht. Ich tat mein Bestes, es im kleinen Spiegel in der Sonnenblende über dem Beifahrersitz von Jamies Jeep zu bändigen. Indem ich mit den Fingern versuchte, den dichten Spirallocken wieder Leben einzuhauchen. Als Nächstes wischte ich mir über die Wangen und rieb das restliche Salz weg. Meine graublauen Augen sahen an diesem Tag müde aus und ich ließ sie nur für eine kurze Sekunde zu den Sommersprossen auf meinen Wangenknochen gleiten, bevor ich die Sonnenblende wieder hochklappte und mich in den Ledersitz zurückfallen ließ.

Ich hatte noch nie einen so schönen Jeep gesehen, geschweige denn darin gesessen. Er war brandneu, kirschrot, mit schwarzen Ledersitzen und einem aufgemotzten Armaturenbrett. Das kam mir ein bisschen viel vor, vor allem für einen High-School-Schüler. Brauchte ein Siebzehnjähriger wirklich ein so teures Auto?

Die Antwort war: absolut nicht.

Aber ich hatte in den acht Tagen, seit wir uns zum ersten Mal getroffen hatten, dank ein wenig Social-Media-Stalking eine Menge über Jamie erfahren. Unsere Schule war riesig, es gab mehr als sechshundert Jugendliche allein in meiner und Jennas Jahrgangsstufe. Aber ich war nicht zu stolz, im Internet zu surfen, um mehr über den neuen Freund meiner besten Freundin herauszufinden, und ich erfuhr eine ganze Menge. Genug, um zu wissen, dass seinem Vater eine der führenden privaten Wirtschaftsprüfungsfirmen in Fort Lauderdale gehörte und es Jamie für den Rest seines Lebens an nichts fehlen würde. Ich hoffte, dass ich in Kalifornien aufs College gehen würde, aber ich hatte keinen Zweifel daran, dass er es dorthin schaffen würde, wenn es das war, was er wollte. Ich fragte mich ein wenig, wie das wohl sein würde, mit dem Wissen aufzuwachsen, dass die Finanzen einen nie von etwas abhalten würden, aber größtenteils war es mir egal. Ich wurde mit der Einstellung erzogen, dass man im Leben hart für das arbeiten muss, was man will, und das hatte ich auch vor. Ich war bereits auf einem guten Weg, konzentrierte mich auf meine Noten und beteiligte mich an allen möglichen Schulaktivitäten, um meinen Lebenslauf für die College-Bewerbungen zu verbessern.

Ich erfuhr auch, dass er einen Hund namens Brutus und zwei Schwestern hatte, die beide jünger und genauso hübsch waren wie er.

An diesem Punkt beendete ich mein Stalking, bevor ich nicht mehr behaupten konnte, dass es nicht unheimlich war.

»Also einfach bis zum Scenic Drive?«, fragte Jamie und bog in die Cherry Street ein.

»Ja. Bieg links in den Scenic ein und mein Haus ist das vierte auf der rechten Seite. Es ist leuchtend gelb, man kann es nicht übersehen.«

Ein angenehmes Schweigen brach über uns herein. Ich fuhr mir mit den Händen über die Haare, um sie zu glätten, und fragte mich, ob es Jamie überhaupt interessierte, wie es aussah.

»Das ist ein wirklich schönes Auto«, sagte ich dümmlich und brach das Schweigen. Jamies Augen leuchteten ein wenig auf und er wechselte die Position seiner Hände am Lenkrad.

»Danke. Ich musste mir drei Sommer lang den Arsch aufreißen, um es zu verdienen, also weiß ich es zu schätzen.«

Ich zog eine Braue hoch. »Du hast das selbst bezahlt?«

»Na ja, irgendwie schon. Ich habe drei Sommer lang für meinen Vater in seiner Firma gearbeitet, ohne dafür bezahlt zu werden. Ich habe ihm einfach gesagt, dass ich einen Jeep haben möchte, einen schönen, in dem ich mein Brett transportieren kann, in dem ich mich aber auch auf einer langen Fahrt wohlfühle.« Dann drehte er sich zu mir. »Er hat ihn mir schließlich nach dem letzten Sommer gekauft.«

»Cool. Und warum genau muss dein Auto roadtrip-tauglich sein?«

Jamie bemerkte, wie ich die Arme verschränkte und sich eine Gänsehaut auf meiner Haut bildete, weil das Salzwasser trocknete.

Er lehnte sich vor, um die Luft zu regulieren. »Ich weiß nicht, für alle Fälle, denke ich. Ich liebe es, zu fahren. Das hilft mir, einen klaren Kopf zu bekommen.«

Ich nickte. »Ja, das verstehe ich.«

»Es ist auch die einzige Zeit, in der ich die Musik hören kann, die ich hören will. Du weißt schon, wenn niemand sonst im Auto ist, der etwas dazu sagen könnte.«

»Okay, jetzt bin ich neugierig«, sagte ich, verschränkte die Arme und zog die Beine an. »Was genau hörst du dir hier an?«

Jamie presste seine Lippen zu einem festen Strich zusammen. »Versprichst du mir, nicht zu lachen?«

»Nein.«

Er lachte. »Dann kann ich es dir nicht zeigen.«

»Gut, gut. Ich werde nicht lachen.« Er sah mich an und überlegte, ob er mir trauen sollte oder nicht. »Zumindest nicht so laut, dass du es hören könntest.«

»Na gut.« Er lächelte, aber das Lächeln verschwand schnell, als er sein Handy ansteckte und seine Musik durchstöberte. Jedes Mal, wenn er den Daumen nach oben bewegte, um durch die Wiedergabelisten zu scrollen, bildete sich eine lange gekerbte Linie auf seinem Unterarm, wo die Muskeln arbeiteten. Ich ließ meinen Blick dort verweilen und beobachtete diesen Muskel, bis die erste Note erklang, als wir an einer Ampel hielten.

Sie war sanft, beruhigend, vertraut. Wirklich vertraut. Als ich begriff, um welches Lied es sich handelte, konnte ich meine Reaktion nicht zurückhalten.

»Verdammt, das gibt’s doch nicht.«

»Ja, ich weiß, es ist nerdig.« Jamie griff nach dem Lautstärkeregler, aber ich schlug seine Hand weg.

»Nein, nein, es ist fantastisch. Ich kann nur nicht glauben, dass du klassische Musik hörst. Das ist Brian Crain, stimmt’s?«

Jetzt war er es an ihm, zu erröten. »Ja.«

»Ich liebe ihn«, sagte ich aufgeregt und setzte mich aufrechter hin. Vielleicht wippte ich sogar ein wenig. »Er ist unglaublich. Bitte sag mir, dass du dir auch The Piano Guys anhörst.«

Sein Mund blieb offen stehen. »Ich liebe The Piano Guys, verdammt.«

Wir lachten beide, unsere Augen leuchteten und musterten einander, als ob der andere nicht wirklich existierte. »Das ist verrückt! Ich habe noch nie jemanden getroffen, der diese Art von Musik liebt. Also ... noch nie.«

»Dann sind wir schon zu zweit«, sagte er, als die Ampel grün wurde. Er fuhr nicht sofort los, sondern beobachtete mich weiter, starrte mich so an, dass ich mich fragte, was er wohl gerade dachte. Es war, als wäre ich ein Gemälde und er ein Kurator. Ich spürte, wie er abwägte, seine Gedanken kreisen ließ und sich fragte, ob er mich einsammeln oder weitergehen sollte.

Ich betete für die erste Möglichkeit, auch wenn ich wusste, dass ich es nicht tun sollte.

Der Mazda hinter uns hupte und Jamie blinzelte, der Bann war gebrochen. Für den Rest der Heimfahrt sagten wir kein Wort mehr, genossen einfach seine Playlist und den Wind in unseren Haaren. Es war seltsam angenehm, mit Jamie in der Stille zu sitzen, als ob wir keine Worte bräuchten, vor allem, da er uns während der Fahrt mit einer Klavierversion von Bring Him Home aus Les Misérables beschallte.

Als er vor meinem Haus anhielt, lächelte ich, den Kopf immer noch an die Kopfstütze gelehnt, und drehte mich zu ihm um. »Das kann ich spielen.«

»Du spielst es?«

Ich nickte. »Mm-hmm, auf der Geige.«

»Du spielst Geige?«

»Nein.«

Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und lachte dann. »Okay, ich bin etwas verwirrt.«

Mein Lächeln wurde breiter. »Ich spiele keine Geige. Aber eines Tages saß ich in der Mittagspause neben einem Jungen aus der Band und er hörte, wie ich mir das hier anhörte. Er riss mir die Ohrstöpsel aus der Hand und fand es so süß, mir ins Ohr zu flüstern, dass er dieses Lied auf der Geige spielen könne. Er fand sein Spiel toll.« Ich zuckte mit den Schultern. »Aber ich war nicht beeindruckt, sagte ihm, dass jeder das Spielen lernen kann. Da hat er das Flirten aufgegeben und war beleidigt, sagte mir, dass ich das auf keinen Fall lernen könne, und wir schlossen eine Wette ab. Und fünf Wochen später ging ich zu dem Tisch, an dem er saß, nahm seine Geige aus dem Koffer, der neben ihm stand, und spielte darauf.«

»Das hast du nicht getan.« Ich verzog meine Lippen zu einem Lächeln. »Das habe ich. Ich bin ein sehr wettbewerbsorientierter Mensch, Jamie Shaw. Und ich schlage nie eine Herausforderung aus.«

Seine Augen schimmerten im Restlicht des Tages goldgrün, als die Dämmerung über uns hereinbrach, und seine Lippe kräuselte sich an den Rändern, als er den Kopf zurücklehnte und meinen Blick spiegelte. »Ich werde daran denken, Br–« Er hielt inne. »B.«

Eine Sekunde lang starrte ich ihn an, dann löste ich meinen Sicherheitsgurt, griff nach meiner Strandtasche und schulterte sie. »Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast.« Ich seufzte und schüttelte den Kopf. »Jenna wird mich umbringen, wenn sie erfährt, dass ich morgen nicht zum Spiel kommen kann.«

»Was meinst du?«

»Nun, ich werde meinen Dad anrufen und fragen, ob er mein Auto abholen und in die Werkstatt seines Freundes bringen kann, aber bis morgen Abend wird es auf keinen Fall repariert sein. Jenna ist Cheerleaderin bei unserem ersten Heimspiel. Ich habe ihr versprochen, dass ich mitkomme, aber wenn meine Mutter nicht früher Feierabend macht, wird das wohl nicht passieren.«

»Ich nehme dich mit«, bot Jamie schnell an.

»Nein, nein, ist schon okay. Du musst nicht ...«

»Ich möchte es aber. Ganz im Ernst. Ich gehe sowieso hin, und es wäre schön, jemanden zum Zusammensitzen zu haben.« Er lächelte dieses schiefe Lächeln, das meine Beine kribbeln ließ.

»Passt.«

Er grinste noch breiter. »Passt.«

Mama war schon in ihrem Zimmer, als ich mein Brett in der Garage aufhängte, also machte ich mir einen Käsetoast und aß allein in meinem Zimmer. Ich schaltete den Fernseher nicht ein und sah auch nicht die Benachrichtigungen auf meinem Handy durch. Ich aß einfach langsam, einen Bissen nach dem anderen, starrte auf meine Schranktür und ließ jeden Moment des Abends Revue passieren. Dann, nachdem ich mir so viel Zeit wie möglich zum Essen genommen hatte, rief ich meinen Vater an. Als er abnahm, wusste er wohl, dass ich etwas brauchte – ich rief nur noch in solchen Fällen an – und ich kam gleich zur Sache. Er sagte mir, er würde sich darum kümmern, denn so war er nun einmal. Aber er war auch die Art von Mann, die meine Mutter vergewaltigt hatte, und manchmal musste ich mich zwingen, mich daran zu erinnern. Besonders in den Nächten, in denen er mich kleines Mädchen nannte und mein Herz von der Liebe, die ich immer für ihn empfunden hatte, übersprudelte.

Meine Sicht war verschwommen, wahrscheinlich durch das Salzwasser, also ließ ich mir ein Bad ein, sobald ich unser Gespräch beendet hatte. Ich hatte Bäder schon immer geliebt und nur geduscht, wenn ich es eilig hatte, irgendwo hinzukommen. Es war schön, im heißen Wasser zu baden und sich Zeit zum Nachdenken zu nehmen. Wenn ich nur diese dreißig Minuten am Tag für mich hatte, war das genug.

Aber in dieser Nacht, als ich mit den Zehen unter dem Wasserhahn wackelte und die Wanne sich langsam füllte, fühlte ich mich anders. Es war ein bisschen heißer, die Lichter waren ein wenig heller und meine Sicht war immer noch nicht ganz klar. Ich dachte ein wenig zu viel an die eine Person, von der ich wusste, dass ich nicht an sie denken sollte, und ein neuer Rausch, den ich noch nie erlebt hatte, überkam mich, als ich ihn in mein Bewusstsein eindringen ließ. Ich hätte meinen Kopf freibekommen müssen. Ich hätte Jamie anrufen und ihm sagen sollen, dass er mich nicht zu dem Spiel abholen solle. Ich hätte mir ein Bild von ihm und Jenna ansehen sollen, um mich daran zu erinnern, wo mein Platz in diesem Dreiergespann war.

Aber ich habe nichts von alledem getan.

Und ich wünschte mir nur, ich würde mich deswegen schuldig fühlen.

 

 

 

 

 

So sehr ich den Sportsgeist der Schule auch verabscheute, die Energie eines High-School-Heimspiels in Südflorida hatte etwas für sich. Die Schüler waren in unseren blaugrünen und weißen Farben gekleidet, jubelten laut und bliesen in ihre Nebelhörner. Die Band spielte schwungvolle Musik, zu der es schwer war, nicht zu tanzen, und alle klatschten sich ab, wenn unsere Mannschaft etwas richtig gemacht hatte, was ein Gemeinschaftsgefühl auf die Tribüne brachte, das ich nicht erwartet hatte.

Die South Springs High School hatte in der Saison zuvor kein einziges Spiel gewonnen, aber in diesem Jahr hatten wir eine halbwegs anständige Mannschaft, was für mich großartig war, da ich wahrscheinlich bei jedem Spiel dabei sein und Jenna beim Anfeuern zusehen würde.

Jenna Kamp war die Art von Freundin, an der man sich festhielt und die man nie wieder losließ. Sie war unheimlich loyal, witzig und zielstrebig – genau die Art von Mensch, mit der ich mich umgeben wollte. Sie arbeitete immerzu an ihren Träumen und spornte mich an, es ihr gleichzutun. Abgesehen davon war sie die einzige Person in meinem Leben, die mich so nahm, wie ich war – genau so, wie ich war –, und die mich vollkommen liebte. Sie wusste über meine Eltern Bescheid, über meinen Namen, über mein nicht ganz so tolles Auto. Es war ihr egal, dass meine Mutter im Haus Zigaretten rauchte und meine Klamotten deshalb nach Rauch rochen oder dass ich erst in der achten Klasse gelernt hatte, wie man sich die Haare machte. Sie liebte mich in den peinlichen Phasen und ich wusste, dass sie mich auch in viel schlimmeren Zeiten lieben würde. Sie war meine lebenslange Freundin. Deshalb fühlte ich mich so beschissen, dass ich mich auf die Stelle konzentrierte, an der mein Knie das ihres Freundes berührte, während wir ihr von der Tribüne aus beim Anfeuern zusahen.

Die Tribüne war voll, also hatten Jamie und ich uns in einen kleinen freien Platz in der dritten Reihe gezwängt. Entweder ich berührte den mir vollkommen unbekannten Schulneuling auf der anderen Seite von mir oder ich berührte Jamie, und ich entschied mich für Jamie.

Aus reiner Vertrautheit, natürlich.

»Kommst du da drüben zurecht?«, fragte er und nippte an dem roten Slushy, den er in der Halbzeitpause gekauft hatte. »Ich weiß, dieser ganze organisierte Spaß kann quälend sein.«

»Du verurteilst mich total für meinen mangelnden Sportsgeist, stimmt’s?«

»Nur ein kleines bisschen.«

Ich seufzte. »Und das alles, nachdem ich versprochen habe, dich nicht für deinen Musikgeschmack zu verurteilen. Du spielst nicht fair, Jamie Shaw.«

Er bewegte seinen Strohhalm hin und her, ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen. »Du hast ja keine Ahnung.« Ich kniff die Augen zusammen und wollte gerade fragen, was zum Teufel das zu bedeuten hatte, als die Cheerleader einen neuen Anfeuerungsruf anstimmten. Jamies Augen fanden Jennas und er fixierte sie mit einem sexy Lächeln. Ihre Blicke blieben die ganze Zeit verbunden, während sie sich bewegte. Ich beobachtete sie auch, fasziniert von ihrer Makellosigkeit. Im Ernst, ich hatte noch nie einen schöneren Menschen als sie getroffen – Jamie eingeschlossen. Sie war einfach umwerfend.

Als der Jubel endete, warf Jenna Jamie einen Kuss zu und er grinste, als sie sich wieder dem Spielfeld zuwandte, wobei ihr kurzer Rock mit ihr wirbelte.

Und dann drehte er sich wieder zu mir um. »Bist du in irgendeinem Club oder so?«

Meine Wangen wurden heiß. »Okay, im Ernst, lach nicht, denn das, was mich interessiert, und das, was Jenna interessiert, ist völlig unterschiedlich.«

»Ich will euch nicht vergleichen.«

Ich knabberte an meiner Wange und bemerkte die Aufrichtigkeit in seinen Augen. »Ich bin im Debattierclub. Und im Interact.«

Er stieß ein lautes Lachen aus. »Natürlich bist du im Debattierklub.«

»Was soll das denn heißen?!«

Jamie lachte noch lauter und legte seine Hand auf mein Knie, während er sich vor Lachen überschlug. Ich versuchte, das Brennen durch meine Jeans nicht zu spüren. »Nichts, es ergibt nur Sinn. Du und dein Mundwerk.« Er nahm seine Hand weg, aber jetzt lag sein Blick auf meinem Mund, den er gerade erwähnt hatte, und ich konnte kaum atmen.

Er schnaubte und blickte wieder auf das Feld hinaus.

»Was ist Interact?«

»Im Grunde ein gemeinnütziger Club. Ich will meinen Lebenslauf vor dem Abschlussjahr aufpeppen, weißt du?«

Unsere Mannschaft erzielte ein Tor. Alle sprangen auf und jubelten laut, Jamie und ich etwas verspätet. Wir gaben ein paar Leuten um uns herum ein High five und sahen zu, wie Jenna einen Sprung machte, bevor wir uns wieder auf der Tribüne niederließen.

»Ja, du hast mir erzählt, dass du in Kalifornien zur Uni gehen willst, aber was genau willst du dort studieren?«

Ich klaute ihm seinen Slushy und richtete den Strohhalm auf ihn, bevor ich einen Schluck nahm. »Für die Antwort auf diese Frage musst du dich in die Schlange stellen, direkt hinter meine Mutter.«

Jamie schnappte sich den Slushy zurück und nahm sofort einen Schluck, woraufhin mir klar wurde, dass wir uns einen Strohhalm geteilt hatten. Ich konnte mir nicht erklären, warum sich mein Magen dabei zusammenzog. »Kannst du wenigstens den hinteren Teil der Schlange ein wenig einweihen?«

»Ich weiß es einfach noch nicht. Ich werde wahrscheinlich unentschlossen hingehen, meine General-Education-Kurse absolvieren und dann entscheiden, wie es weitergeht. Ich liebe es zu schreiben, aber ich genieße auch die Objektivität beim Lösen eines mathematischen Problems. Öffentliche Auftritte reizen mich, aber ich finde auch Gefallen an den ruhigen Stunden, die ich mit einem Einzelprojekt verbringe.« Ich seufzte. »Ich finde es einfach dumm, meine Möglichkeiten einzuschränken. Ist es so schlimm, sich für mehr als eine Sache zu begeistern?«

Er legte den Kopf schief. »Ganz und gar nicht. Ich glaube, das macht dich zu etwas Seltenem.«

»Toll. Selten. Wie ein perfekt gerilltes Steak. Klingt wie damals, als meine Mutter mir sagte, ich sei etwas Besonderes.«

Jamie lachte. »Das bist du. Du bist besonders, B. Das mag ich an dir.«

Mein Atem blieb irgendwo im Brustkorb stecken und ich holte Luft, schob meine Hände unter meine Oberschenkel und zog mein Knie von seinem weg. Es war plötzlich zu viel und ich konzentrierte mich stattdessen auf die Stelle, an der das kühle Metall der Tribüne meine Haut berührte.

»Was ist mit dir? Du hast alles geplant, nicht wahr?«

»Irgendwie schon. Ich meine, für mich war es immer ziemlich einfach. Ich will das, was mein Vater hat, verstehst du?« Seine Augen leuchteten lebhaft. »Ich weiß nicht, ob ich dir das schon erzählt habe, aber er ist Buchhalter und hat eine eigene Firma in Fort Lauderdale.«

»Was du nicht sagst?« Ich tat überrascht.

Jamie setzte sich ein wenig aufrechter hin und gestikulierte mit seinen Händen. »Er hat diese Firma gegründet, als er sechsundzwanzig war, B. Sechsundzwanzig. Kannst du dir das vorstellen?« Er schüttelte den Kopf. »Zweimal wäre sie fast bankrottgegangen, aber er hat dafür gekämpft, und jetzt ist sie eine der erfolgreichsten Firmen der Stadt. Ich will das fortsetzen, für ihn arbeiten, bis er sie mir übergibt, und noch härter arbeiten, wenn sie mir gehört, um den Ruf zu bewahren, den er sich so hart erarbeitet hat. Ich möchte die Liebe meines Lebens treffen, sie heiraten, unser Haus mit Kindern füllen und alles tun, was ich tun muss, um ihnen alles zu geben, was sie brauchen.«

»Willst du diese Dinge? Oder will er sie für dich?« Die gegnerische Mannschaft erzielte einen Touchdown und die Menge um uns herum buhte, was das Gespräch für einen Moment unterbrach. Als sich der Lärm gelegt hatte, fuhr Jamie fort.

»Ich will sie«, sagte er freimütig. »Ich liebe das, was mein Vater mit meiner Mutter aufgebaut hat, was sie beide für mich und meine Schwestern – Sylvia und Santana – getan haben.« Er zuckte mit den Schultern und ich beobachtete, wie ihm eine Haarsträhne in die Stirn fiel, die nicht mehr an ihrem Platz war. »Ich arbeite jetzt seit drei Sommern in der Firma und ich liebe es. Ich bin gut darin. Ich weiß nicht, es ergibt einfach Sinn für mich, denke ich.«

»Es muss so beruhigend sein, zu wissen, was man will, so wie du.«

Er schluckte, seine Augen richteten sich auf das Spiel und nicht mehr auf mich. »Manchmal ist es schwieriger, als man denkt. Ich habe immer Angst, dass ich, obwohl ich weiß, was ich will, es vielleicht nie in die Tat umsetzen kann.« Dann sah Jamie mich an. »Manchmal ist es komplizierter, als nur etwas zu wollen und es zu verwirklichen.«

Ich nickte, zumindest glaubte ich, dass ich es tat. Er sah mich auf seine Art an, und wenn das geschah, konnte ich nicht sicher sein, dass ich mich tatsächlich so bewegte, wie ich es meinem Körper befahl.

»Ich denke, du wirst einen Weg finden.«

Er lächelte, ein leichtes Lächeln, das die Anspannung dieses Moments auslöschte. »Danke, B. Ich glaube, das wirst du auch.«

Am Ende gewannen wir das Spiel mit vierundzwanzig zu vierzehn und Jenna sprintete nach dem Schlusspfiff vom Spielfeld und in Jamies Arme. Er hob sie mühelos hoch, wirbelte sie herum und küsste sie unter dem kollektiven Gejohle der Zuschauer auf der Tribüne, die diesen filmreifen Moment miterlebten. Es war dieser Kuss, der mich in die Realität zurückholte, in die Realität, in der Jamie der Freund meiner besten Freundin war. Jenna drehte sich als Nächstes zu mir um und ich setzte so schnell wie möglich ein Lächeln auf, bevor sie ihre Arme um mich schlang.

»Ich bin so froh, dass du gekommen bist! Ich weiß, das ist nicht gerade deine Welt.«

Ich zuckte mit den Schultern. »So schlimm war es auch nicht.« Mein Blick huschte zu Jamie und er grinste, aber ich sah schnell weg, zurück zu Jenna, meiner besten Freundin, die ich liebte, die mir vertraute. »Willst du immer noch über Nacht bei mir bleiben?«

»Klar! Wir brauchen eine Bestie-Nacht. Bitte sag mir, dass du Gummibärchen und Mountain Dew zum Verzehr dahast.«

Ich spottete. »Komm schon, wie kannst du das nur fragen?«

Sie lächelte strahlend, ihre blauen Augen leuchteten unter den Stadionlichtern. »Ich muss hier nur noch fertig werden, dann komme ich rüber. Wir sehen uns in einer Stunde oder so?«

»Perfekt.«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um Jamie noch einmal zu küssen, bevor sie davonlief, und Jamie brauchte länger als nötig, bis er sich wieder zu mir umdrehte. Unsere Blicke trafen sich und sagten mehr, als Worte es könnten. Ich drehte mich vor ihm um und machte mich auf den Weg zum Parkplatz, während er nicht weit hinter mir war.

 

 

 

 

 

Es war still in Jamies Jeep auf dem Weg zu mir nach Hause – völlig still – wir waren beide in unsere eigenen Gedanken versunken. Bis mein Telefon klingelte.

»Hey, Dad.«

»Hey, mein kleines Mädchen. Wie war das Spiel?«

»Gut«, antwortete ich knapp. Zu sagen, dass mein Verhältnis zu meinem Vater nach Mamas Geständnis angespannt war, wäre eine Untertreibung. Wahrscheinlich hatte er schon ein Schleudertrauma. Denn einmal vergaß ich für eine Weile alles und ließ alles so sein, wie es war, und ein anderes Mal konnte ich kaum mit ihm reden, ohne dass mir schlecht wurde. Ich wusste nicht, wie ich einfach mit den Fingern schnippen und meinen Vater plötzlich hassen konnte, obwohl ich es oft genug versuchte. Ich schätzte, es gab keinen ›richtigen Weg‹, damit umzugehen, zumindest hatte ich ihn noch nicht gefunden.

»Das ist gut, ich bin froh, dass du aus dem Haus gekommen bist.« Sein Ton hatte sich geändert, wahrscheinlich weil er meinen aufgeschnappt hatte. Er wusste, was für einen Tag ich hatte. »Hör zu, ich habe Neuigkeiten zu deinem Auto.«

»Und?«

»Und ... wir können nicht herausfinden, was los ist. Jedenfalls noch nicht. Wir haben die Batterie, die Lichtmaschine und den Zahnriemen überprüft – Nick meint, es könnte etwas Elektrisches sein.«

Ich seufzte, zog meine Beine auf Jamies Beifahrersitz und stützte das Kinn auf meine Knie. »Und was bedeutet das?«

»Das bedeutet, dass wir mehr Zeit brauchen, um herauszufinden, was da los ist. Nick wird die Stadt für ein paar Wochen verlassen, aber wenn er zurückkommt, wird er es zu seiner obersten Priorität machen.«

»Ein paar Wochen?!« Ich schrie etwas lauter, als ich beabsichtigt hatte, und Jamie zog die Stirn in Falten und fragte, ob es mir gut ginge. Ich schüttelte nur den Kopf. »Tja, das ist scheiße.«

»Ich weiß. Aber in der Zwischenzeit können wir beide anfangen zu sparen.«

Ich schluckte. »Was denkst du, wie viel es kosten wird?« Papa war einen Moment lang still und ich stellte mir vor, wie er sich mit der Hand über seinen roten Bart fuhr. Das tat er immer, wenn er schlechte Nachrichten hatte. »Ich bin mir nicht sicher, aber ich würde auf mindestens einen Tausender wetten.«

»Scheißleben.«

»Achte auf deine Wortwahl, Brecks.«

Meine Wangen glühten vor Wut. »Nenn mich nicht Brecks.«

Er seufzte. »Das ist dein Name, kleines Mädchen.«

»Nein. Mein Name ist B. Und das weißt du inzwischen, also hör auf, so zu tun, als ob du es nicht wüsstest.«

»Ich versuche nur zu helfen.«

Er klang niedergeschlagen. Ich biss die Zähne zusammen und ballte meine Faust um das Telefon, bevor ich lange ausatmete. »Ich weiß, Dad. Ich muss los, aber danke. Ich rufe dich morgen an.«

»Okay. Ich hab dich lieb.«

Ich hielt inne. »Ich dich auch.«

Die Stille war zu viel, als das Telefonat endete, und Jamie schien das zu bemerken, denn er schloss sein Smartphone an und begann, The Piano Guys zu spielen, ohne ein einziges Wort zu sagen. Ich war dankbar, als ihre Version von With or Without You langsam aus den Lautsprechern ertönte, aber ich sagte es nicht. Stattdessen dachte ich darüber nach, wie ich das Geld für die Reparatur meines Autos auftreiben konnte. Ich hatte den Sommer über in einer Lebensmittelkette gearbeitet und vorgehabt, mir das Schuljahr freizunehmen, um mich aufs Lernen zu konzentrieren und vielleicht ein bisschen Spaß zu haben.

So viel dazu.

Ich schickte meiner alten Managerin eine SMS, und sie antwortete fast sofort und sagte mir, ich könne am Montag nach der Schule wiederkommen.

Diesmal fuhr Jamie in meine Einfahrt, stellte seinen Motor komplett ab und starrte mich an, bis ich seinen Blick erwiderte.

»Warum hasst du deinen Namen, B?«

Eine Last senkte sich auf meinen Nacken und ich überlegte, was ich ihm sagen sollte. Sollte ich ihm die Wahrheit sagen? Oder sollte ich ihm sagen, dass es ihn nichts anging?

Ich war zu erschöpft, um zu lügen, also atmete ich zittrig ein und ließ meinen Kopf wie schon am Abend zuvor gegen die Stütze sinken. »Mein Vater hat sich meiner Mutter in der Nacht, als sie mit mir schwanger wurde, aufgezwungen.«

»Mein Gott«, flüsterte Jamie, aber ich fuhr fort.

»Ich habe es erst vor etwas mehr als einem Jahr herausgefunden. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich meinen Namen geliebt. Er war kurz, süß, lustig. Aber eines Abends hat sich meine Mutter besoffen und beschlossen, mir zu sagen, dass alles, was ich über mein Leben zu wissen glaubte, eine Lüge war.« Ich lachte, eine Art manisches Lachen. Ich hatte keine Ahnung, warum ich Jamie das erzählte, aber zum ersten Mal seit der Nacht, in der meine Mutter es mir erzählt hatte, begann ich etwas zu fühlen. Es begann als Druck in meiner Brust und mit jedem Wort, das ich sprach, wuchs er und füllte den Raum, der für die Luft gedacht war, mit einem unangenehmen Stechen. »Weißt du, dass er nicht da war, als sie mich bekam? Keiner war da. Weder meine Großmutter noch die Freunde meiner Mutter – es gab nur sie und mich. Die Krankenschwester legte mich in ihre Arme und Mama sagte, sie habe geweint.«

Jamie sagte nichts, sondern legte nur seine Hand auf meinen Oberschenkel.

»Mein Vater ist Ire und er hat überall im Gesicht diese Sommersprossen. Als Mama mich ansah und sich vorstellte, dass ich auch irgendwann Sommersprossen auf meinen Wangen haben könnte, dachte sie dabei an ihn. An diese Nacht, an die Sommersprossen, die sie zählte, um die acht Minuten zu überstehen, in denen er sie vergewaltigte.« Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich kämpfte hastig gegen sie an. Ich konnte nicht glauben, dass ich weinte, dass ich endlich etwas fühlte, nachdem ich so lange fast taub dafür gewesen war. »Sie hat mich Brecks genannt, weil das irisch für ›sommersprossig‹ ist. Ich weiß nicht, warum sie das tat.« Er drückte mein Bein fester und ich kämpfte gegen den Drang an, seine Hand mit meiner eigenen zu ergreifen.

»Als ich es herausfand, konnte ich meinen Namen nicht mehr ertragen. Ich hasste ihn. Ich hasste die Bedeutung des Namens. Ich hasste, was mein Vater meiner Mutter angetan hatte, und ich hasste, was sie mir angetan hatte, indem sie mich nach etwas so Ungeheuerlichem benannt hat.« Ich lachte wieder, schüttelte den Kopf und wischte mir die Tränen aus den Augen, die nicht aufhören wollten. Jamie Shaw hatte eine Wunde entdeckt, von der nicht einmal ich wusste, dass ich sie hatte, und es war, als hätte ich erst die Erlaubnis bekommen, zu bluten, als ich ihm davon erzählte. »Gott, es tut mir leid. Ich weiß nicht, warum ich dir das erzähle.«

»Weil ich gefragt habe.«

Ich schniefte und schaute ihn an. »Das heißt aber nicht, dass ich antworten muss.«

Jamie hob seine Hand von meinem Oberschenkel, sein Daumen wischte eine Träne weg, die ich übersehen hatte, als sie an meinem Kiefer entlanglief. Ich lehnte mich gegen seine Berührung, schloss meine Augen und atmete zittrig aus.

»Ich bin froh, dass du es getan hast.«

Ich kaute auf meiner Unterlippe, seine Hand lag noch immer auf meinem Gesicht, und ich versuchte, mich nicht schuldig zu fühlen. Aber dieses Mal tat ich es.

»Danke fürs Mitnehmen, Jamie«, sagte ich leise, drehte meinen Kopf weg und zog am Türgriff.

»Hey«, hielt er mich auf, als ich ausstieg. Ich schloss die Tür, lehnte mich aber abwartend durch das Fenster. »Mein Beifahrersitz gehört dir, bis dein Auto repariert ist. Wenn du ihn willst.«

Er beobachtete mich genau – zu genau – und ich ließ meinen Blick sinken. »Ich glaube, wir wissen beide, dass das eine schlechte Idee ist.«

Jamie begann zu sprechen, aber es war zu leise, als dass ich es hören konnte, und er brach ab, ohne seinen Gedanken zu Ende zu führen. Ich wischte mir mit dem Handgelenk über die Nase und schenkte ihm ein schwaches Lächeln.

»Wir sehen uns in der Schule.«

Jenna tauchte dreißig Minuten später auf, was gerade genug Zeit war, um mir das Gesicht zu waschen und ein übergroßes T-Shirt sowie eine elastische Hose anzuziehen. Wir aßen Gummibärchen und schauten MTV, während sie davon schwärmte, wie unglaublich Jamie war. Ich nickte, lächelte und kommentierte, wo es angebracht war, denn ich wusste nur zu gut, was sie meinte.

Sie war gerade eingeschlafen, als mein Telefon mit einer SMS von ihm vibrierte.

 

Ich habe das ernst gemeint, was ich vorhin gesagt habe. Lass mich dich fahren, bis dein Auto repariert ist. Wir können Freunde sein, B.

 

Ich antwortete nicht, sondern nahm mein Handy mit in die Küche, um mir ein Glas Wasser einzuschenken. Ich trank es in einem Zug aus und dann leuchtete mein Display wieder auf.

 

Bitte. Lass mich dein Freund sein.

 

Ich wusste, dass es eine schlechte Idee war. Es gab nicht nur eine Red Flag, sondern auch Warnglocken, Alarme, Pfeifen und Neonlichter mit der Aufschrift Tu’s nicht in Großbuchstaben. Aber manchmal, selbst wenn wir wissen, dass etwas schlecht für uns ist, tun wir es trotzdem. Vielleicht wegen des Nervenkitzels, vielleicht, um unsere Neugier zu stillen, oder vielleicht auch nur, um uns noch ein bisschen länger selbst zu belügen.

Ich würde euch gerne erzählen, dass ich Nein gesagt habe, dass ich seine Nummer gelöscht und mein Telefon ausgeschaltet habe und mit meiner besten Freundin, die mit ihm zusammen war, ins Bett gekrochen bin. Aber stattdessen habe ich mich auf unserer alten Couch zusammengerollt, lag dort stundenlang allein und habe schließlich mit nur einem Wort geantwortet.

 

Okay.

3

Nur ein Shot

 

Der Herbst ging langsam in den Winter über, wobei sich das Wetter kaum änderte und die Jahreszeiten in meinem Kopf miteinander verschmolzen. Jamie fuhr mich jeden Tag zur Schule und wieder nach Hause, auch wenn das Basketballtraining wieder losging, und er beschwerte sich nie, wenn ich ihm wieder einmal ein schlechtes Update über den Zustand meines Autos gab.

Es funktionierte sogar, denn er blieb zum Training, während ich mich freiwillig bei Interact meldete oder dem Debattierclub half. Wir trafen uns auf dem Parkplatz, er triefend vor Schweiß, was ihn irgendwie attraktiver statt weniger attraktiv machte, und ich triefend vor sarkastischen Bemerkungen, die sich auf das Drama in seinem Team bezogen.

Manchmal, wenn er konnte, fuhr er mich zur Arbeit oder holte mich nach einer Spätschicht im Lebensmittelladen ab. Er fuhr mich auch zu den Footballspielen und wir saßen Seite an Seite, tranken Slushies und sahen Jenna beim Anfeuern zu. Wir redeten mehr und starrten uns weniger an, was mein Gewissen beruhigte. Wenn wir beide Zeit hatten, fuhr er uns sogar an den Strand, um zu surfen, wobei unsere beiden Bretter problemlos auf seinen Jeep passten.

Als sich die Jahreszeiten änderten, wurden wir zur Routine. Und er und Jenna verliebten sich immer mehr.

Ich konnte das aus nächster Nähe miterleben und freute mich aufrichtig für die beiden. Jamie war zweifellos der beste Mann, den ich kannte, und Jenna war meine beste Freundin. Ich hätte mir kein besseres Paar vorstellen können. Zumindest hatte ich mir das eingeredet.

Am vierten Dezember wurde mein Auto endlich repariert, satte drei Monate nachdem mein Vater es in die Werkstatt gebracht hatte. Als ich Jamie davon erzählte, schien er glücklich zu sein – nicht unbedingt erleichtert, aber glücklich –, und das ärgerte mich. Ein Teil von mir hatte gehofft, dass er enttäuscht sein würde, dass er unsere Fahrten, bei denen wir uns unterhielten und Musik hörten, auch vermissen würde.

Und als mir klar wurde, dass ich so empfand, ärgerte ich mich noch mehr. Denn ich hatte nicht das Recht, mir diese Dinge zu wünschen, genauso wenig wie er das Recht hatte, sie zu fühlen.

Als das Semester zu Ende ging, verließ Jenna die Stadt, um mit ihrer Familie zum jährlichen Skiurlaub nach Colorado zu fahren. Ich hatte nicht erwartet, in den Ferien von Jamie zu hören, da Jenna nicht in der Stadt war, und ich ebenso nicht – bis zum Weihnachtsabend.