Trust in HAIL MARY (Red Zone Rivals 4) - Kandi Steiner - E-Book

Trust in HAIL MARY (Red Zone Rivals 4) E-Book

Kandi Steiner

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Beschreibung

*Leo F*cking Hernandez. Der Star-Runningback der North Boston University. Ewiger Junggeselle. Und Nummer eins auf meiner Liste von Leuten, die ich töten würde, wenn ich damit durchkäme.* Ich dachte immer, ich würde ihn lieben. Aber das war, bevor ich erkannte, dass ich ihn hasse. Und dennoch tut es weh, ihm dabei zuzusehen, wie er einen One-Night-Stand nach dem anderen zelebriert. Noch mehr schmerzt es, dass er sich nicht an mich erinnert oder daran, dass er mir das Leben vor Jahren zur Hölle gemacht hat. Dann bietet er mir diesen absurden Deal an. Nachdem mich eine Wasser- und Schimmelkatastrophe dazu zwingt, mein Haus zu räumen, soll ich mietfrei bei ihm und seinen Jungs wohnen. Ich hätte nicht Ja sagen sollen …

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Kandi Steiner

 

 

Trust in HAIL MARY

(RED ZONE RIVALS 4)

Mary & Leo

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Trust in HAIL MARY

 

 

 

© 2025 VAJONA Verlag GmbH

 

 

Übersetzung: Ronja Waehnke

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel

»HAIL MARY«.

 

Korrektorat: Désirée Kläschen und Madlen Müller

Umschlaggestaltung: Julia Gröchel unter Verwendung von selbst

gezeichneten Motiven

Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz

 

VAJONA Verlag GmbH

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für die Mädchen, die Tattoos, Videospiele, Scheiße bauen und heiße, eingebildete,

nervtötende Playboys lieben.

 

Das hier ist für euch.

 

 

Prolog

Mary

 

Damals

 

Der Wunsch, Halo 5 zu meinem fünfzehnten Geburtstag zu bekommen, war der größte Fehler meines jugendlichen Lebens.

Zunächst einmal ist meine Mutter fast in Ohnmacht gefallen, als es so weit war. Es war schon schwer genug, sie dazu zu bringen, mir eine Xbox mit ein paar Einzelspieler–Fantasy–Spielen zu erlauben, und das klappte auch nur, weil sie dachte, es sei eine Phase, aus der ich herauswachsen würde. Aber um ein Xbox-Live–Abonnement und ein Spiel zu bitten, das ich mit Leuten auf der ganzen Welt spielen konnte, bei dem unser Hauptziel darin bestand, uns gegenseitig zu töten?

Meine arme Mutter wusste nicht, was sie damit anfangen sollte.

»Was ist mit Cheerleading? Was ist mit dem Abhängen mit deinen Freunden, demEinkaufen im Einkaufszentrum, den Jungs?« Sie stellte eine Frage hektischer als die andere, und die Hoffnung in ihren Augen schwand.

Zum Glück hatte ich meinen Vater, der, wie ich glaube, schon in jungen Jahren wusste, dass ich nicht so werden würde, wie er und meine Mutter es sich vorgestellt hatten.

Meine Mom wollte eine Cheerleaderin und Debütantin wie sie selbst. Sie wollte, dass ihre Tochter in die gleiche Studentenverbindung eintrat wie sie selbst, und träumte von einer großen Hochzeit in einem weißen Kleid.

Dad wollte, dass ich in der Akquise tätig werde, genau wie er und mein älterer Bruder Matthew, der auf dem College war und in seine Fußstapfen treten sollte. Fairerweise muss man sagen, dass ich meinen Sturkopf von meinem Vater geerbt habe und dass ich mir nichts gefallen lasse. Aber diese Fähigkeiten zu nutzen, um bei einer Unternehmensfusion rücksichtslos und zielstrebig zu sein, stand nicht gerade auf meinem Plan. Nein, was sie stattdessen bekamen, war ein Emo–Kind mit einer Vorliebe für Kritzeleien und dem Traum, Tätowiererin zu werden.

Aber das ist nicht einmal der Grund, warum Halo 5 derAnfang meines Untergangs war. Denn so sehr Mom es auch hasste, Dad ermutigte sie, dass es in Ordnung sei, wenn ich es spiele. Gut für die Gehirnmuskeln, sagte er scherzhaft beim Abendessen, während Mom wütend auf einem Spargelstängel herumkaute.

Und so öffnete ich an meinem fünfzehnten Geburtstag als Erstes das Geschenk in Form eines Videospiels, quietschte vor Freude, ließ alle anderen Geschenke liegen und rannte zurück in mein Zimmer, um sofort zu spielen.

Ich brauchte eine Weile, um das Spiel zu verstehen, aber nicht zu lange, um festzustellen, dass ich den meisten Leuten, mit denen ich live spielte, um Jahre hinterherhinkte. Das hat mich aber nicht abgeschreckt. Ich war ein Teenager in den Sommerferien und hatte alle Zeit der Welt. Und wenn es etwas gab, das ich mehr liebte als Zeichnen oder Spielen, dann war es eine Herausforderung.

In den ersten Wochen der Sommerferien spielte ich so viel wie möglich, stieg auf und verfeinerte meine Fähigkeiten. Es war nicht ungewöhnlich, dass ich noch wach war, wenn Dads Wecker klingelte, weil er in die Stadt fahren musste. Er kam dann in mein Zimmer, lächelte und ermahnte mich, wenigstens so zu tun, als ob ich schliefe, wenn Mom aufstand.

Ich habe diesen Sommer geliebt. Ich liebte das Gefühl einer Glückssträhne, aufzubleiben, bis die Sonne aufging, mein Team zu überraschen, wenn ich in mein Headset sprach und sie erkannten, dass ich ein Mädchen war. In der Schule war ich ein Niemand, eine Verliererin, nur eine weitere übergewichtige Teenagerin mit Akne, schlechten Zähnen und Schlabberklamotten, die immer mehr Freunde verlor, als sie ihre wahren Interessen entdeckte.

Aber online? Ich war ein knallharter Typ.

Ich war fast ein Gott – oder eine Göttin – als ich Halo gespielt habe. Ich hatte die Kontrolle darüber, wie ich aussah, mit wem ich spielte und welchen großen Anteil ich am Sieg unseres Teams hatte. Die Leute wollten mich in ihrem Team haben. Sie wollten mit mir spielen. Sie wollten ich sein.

Alles lief großartig.

Und dann, anderthalb Monate nach meinem Geburtstag, als der Sommer in vollem Gange war, aber die Schule am Ende dieser wunderbaren Zeit drohte, wurde ich in ein Spiel mit der absolut letzten Person hineingeworfen, die ich jemals erwartet hatte.

Leo Hernandez. 

Jeder, der auf meine Highschool ging, wusste, wer Leo war. Jedes Mädchen kannte seine zerzausten Haare, sein schiefes Lächeln, seinen schlanken, muskulösen Körper, seine goldene Haut und sein ansteckendes Lachen. Jeder Junge kannte seine Schnelligkeit und Beweglichkeit, die Leichtigkeit, mit der er auf dem Footballfeld und auch außerhalb davon brillierte. Er war ein Spitzensportler mit einem Vater, der früher in der NFL gespielt hatte. Er war beliebt. Er war lustig. Er war reich.

Er war die Art von Junge, die einen anlächelte und einem das Gefühl gab, das einzige Mädchen auf der Welt zu sein.

Ich wusste nicht, dass er auch der Junge war, der mein Leben ruinieren würde.

Ich wusste sofort, dass er es war, als sein Benutzername auftauchte: leohernandez13. Sicher, es musste noch andere Leo Hernandez’ auf der Welt geben, aber die 13 verriet ihn. Es war seine Trikotnummer, seit er in der Kindermannschaft gespielt hatte, und wenn es noch irgendeinen Zweifel daran gab, dass er es war, wurde er ausgelöscht, als seine vertraute Stimme im Chat ertönte.

»Wer ist bereit, ein paar Neulinge zu verprügeln?«

Ich blieb das ganze Spiel über ruhig, weil ich mich innerlich darüber aufregte, dass ich mit Leo spielte, obwohl ich mir mehr als alles andere wünschte, von ihm unbeeinflusst zu sein. Ich konnte es nicht ändern. Ich war ein Teenager, und das erste Mal, als ich gesehen hatte, wie er sich nach einem Footballspiel das Trikot vom Leib riss, war mein sexuelles Erwachen gewesen.

Natürlich hatte er, wie die meisten anderen Schüler auch, keine Ahnung, wer ich war.

Am Ende des Spiels beschimpfte Leo alle in unserem Team als »Arschlöcher«.

Außer mich.

Und dann hat er mit drei Worten meine Welt verändert.

»Octostigma, willst du mitmachen?«

Octostigma war mein Benutzername, für den ich mir selbst auf die Schulter klopfte, weil er so cool und kreativ und schwer zu fassen war und niemand auch nur annähernd den gleichen Namen hatte. Er kombinierte zwei Dinge, die ich liebte – Tintenfisch, das coolste Tier auf dem Planeten und Stigma, der altgriechische Begriff für Tätowierung.

Leo Hernandez diesen Benutzernamen sagen zu hören, zu hören, wie er mich bittet, mit ihm zu spielen?

Ein weiteres böses Erwachen.

Danach ging alles ganz schnell. Er fügte mich als Freund hinzu, lachte überrascht auf, als er herausfand, dass ich ein Mädchen war, und dann spielten wir mehrere Runden im selben Team, bevor er ins Bett musste.

Aber am nächsten Abend, als er sich einloggte, wurde ich sofort eingeladen, wieder mit ihm zu spielen. So ging es etwa eine Woche lang, bis er eines Abends erklärte: »Mir ist das zu langweilig. Hast du das neue Resident Evil?«

»Nein.«

»Kannst du es besorgen?«

»Vielleicht.«

»Sag mir Bescheid, wenn du’s hast.«

Damit beendete er Halo, und ich sah die Benachrichtigung, die mir mitteilte, dass er Resident Evil: Revelations 2 spielte.

Am nächsten Morgen habe ich meine Mutter am Frühstückstisch angefleht. Ich bin sogar buchstäblich auf die Knie gefallen.

»Spiele sind teuer und du hast gerade eins zum Geburtstag bekommen«, sagte sie.

Mein Vater warf ihr einen Blick über seine Sonntagmorgenzeitung zu, der ihr ohne Worte sagte, dass es komisch sei, wenn sie mir sage, ein Spiel sei teuer, wenn man bedenke, was sie wöchentlich für ein Paar Schuhe ausgab.

»Bitte, Mom. Ich werde alles tun.«

»Alles?«

»Alles«, sagte ich ernsthaft.

Mom sah meinen Vater an und dann wieder mich. »In der nächsten Saison wirst du in die Gesellschaft eingeführt.«

Und was soll ich sagen, ich habe nicht einmal gestöhnt oder mit den Augen gerollt. »Ist gebongt.«

Es war so einfach. Ich stimmte zu, eine Debütantin zu sein, und bekam das Ticket zu meinem Schwarm. Zwei Tage später hatte ich Resident Evil: Revelations 2, und als ich mich anmeldete, war Leo schon da.

»Stig! Du hast das Spiel«, verkündete er, als unsere Headsets verbunden waren.

Ich versuchte zu ignorieren, dass sich mein Magen wegen des Spitznamens, den er mir gegeben hatte, umdrehte, und dass er froh zu sein schien, dass ich online war. »Freu dich nicht zu sehr«, sagte ich ihm. »Ich habe noch nie zuvor gespielt, was bedeutet, dass ich zweifellos eine Niete sein werde.«

Er lachte mich aus, als er seine Worte benutzte. »Ich werde es dir beibringen.«

Und das war es dann auch für eine Weile, er brachte mir die Grundlagen des Spiels im Raid–Modus bei und die einzige Unterhaltung zwischen uns bestand darin, dass ich Fragen stellte oder er mir Tipps gab. Aber irgendwann, als ich den Dreh raushatte, wurde mir klar, wie intim es ist, ein Spiel nur mit Leo zu spielen und nicht mit einem Team voller Fremder. Und als wir nicht mehr darüber reden mussten, wie man das Spiel spielte, haben wir angefangen, über andere Dinge zu reden.

»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte er mich eines Sonntagabends bei einer Razzia.

»Fünfzehn. Und du?«

»Sechzehn«, log er. Ich wusste, dass es eine Lüge war, weil sein Geburtstag erst im Oktober war, aber ich ließ ihn lügen, weil ich die Vorstellung mochte, dass er lügt, um mich zu beeindrucken.

»Cool.«

»Du bist also im zweiten Jahr an der Highschool?«

»In ein paar Wochen, wenn die Schule anfängt«, sagte ich und hielt inne, als wir auf eine Gruppe von Zombies stießen, auf die man sich konzentrieren musste. Als wir sie hinter uns gelassen hatten, fuhr ich fort. »Darauf freue ich mich nicht wirklich, um ehrlich zu sein.«

»Warum?«

»Schule ist scheiße.«

Er gluckste. »Ja.« Eine Pause, dann: »Hast du einen Freund?«

Meine Haut brannte so heftig, dass ich eine meiner kalten Hände von meinem Controller nahm und sie an meine Wange presste. »Nein.«

»Nein?«Leo lachte. »Das ist verrückt. Wie kannst du keinen Freund haben?«

Ich schnaubte. »Die Jungs an meiner Schule stehen nicht auf Mädchen wie mich.«

»Machst du Witze?« Er machte ein schnalzendes Geräusch mit seiner Zunge. »Dann sind sie Idioten. Wenn es an meiner Schule ein Mädchen gäbe, das Videospiele spielt? Da wäre ich voll dabei.«

»Du hast keine Ahnung, wie ich aussehe.«

»Und?«

Dabei drang die Hitze voll und ganz in meinen Körper ein, als hätte ich ein unentrinnbares Fieber.

»Machst du mich an, LeoHernandez13?«

»Vielleicht tue ich das, Stig.«

Mein Magen machte einen Rückwärtssalto. »Das sagst du nur, weil du nicht weißt, wer ich bin.«

Das Gespräch kam ins Stocken, als wir das Ende eines Schlachtzugs erreichten und uns ganz auf das Töten von Zombies und anderen Kreaturen konzentrierten. Als wir wieder in der Lobby waren, fragte Leo: »Was machst du eigentlich, wenn du nicht spielst?«

»Zeichnen.«

»Was zeichnen?«

»Ich weiß es nicht. Tiere, Blumen, Tattoomotive, einfach …«

»Moment. Tattoodesigns?«

Ich biss mir auf die Lippe und verkniff mir ein Lächeln. »Ja.«

»Hast du welche? Tätowierungen, meine ich?«

»Ich bin fünfzehn.«

»Schön. Ich dachte, du hättest vielleicht coole Eltern.«

Ich schnaubte. »Weit gefehlt, es sei denn, du hältst einen Vater, der in der Akquise arbeitet, und eine Mutter, deren Job es ist, sich über den neuesten Klatsch und Tratsch im Countryclub zu informieren, für cool.«

»Ich habe schon Schlimmeres gehört. Also, du spielst und du zeichnest. Was sollte ich sonst noch über dich wissen?« Er hielt inne. »Vielleicht … deinen Namen?«

Ich schluckte und die Angst lief mir über den Rücken. Ich wusste, dass er mich nicht erkennen würde, selbst wenn ich ihm meinen vollen Namen und ein Foto geben würde, denn Leo gehörte zu den obersten zwei Prozent der Beliebtheitsskala an unserer Schule und ich war der letzte Dreck. Aber trotzdem hatte die Anonymität etwas Gewaltiges an sich. Als Octostigma war ich cool, geheimnisvoll – das lustige Mädchen, das Videospiele spielt. Vielleicht war meine Stimme heiß. Vielleicht gehörte die Unnahbarkeit einfach dazu.

Aber als Mary Silver war ich eine Verliererin.

»Du kannst mich einfach Stig nennen.«

So ging es den Rest des Sommers weiter. Ich konnte es nicht erwarten, mich einzuloggen, konnte es nicht erwarten, die Benachrichtigung zu sehen, dass LeoHernandez13 mich einlud, mit ihm zu spielen. Wir töteten Zombies, lachten und stritten uns über Upgrades und darüber, wer welche Fähigkeit besser beherrschte. In der Lobby zwischen den Schlachtzügen unterhielten wir uns, und je mehr wir das taten, desto tiefer wurden die Gespräche.

Ich erzählte ihm von der furchtbaren Abmachung, die ich mit meiner Mutter getroffen hatte, um dieses Spiel zu bekommen, und er lachte und fragte mich, was für ein Kleid ich für den Debütantinnenball besorgen würde und ob ich genauso gut tanzen wie Zombies erschlagen könnte.

Aber seine Stimme wurde weicher, als er mir von dem Druck erzählte, den er von seinen eigenen Eltern, insbesondere seinem Vater, verspürte.

»Er möchte, dass ich in seine Fußstapfen trete und in Southern Alabama spiele, aber ich liebe New England. Ich liebe Boston. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wegzugehen.«

»Das musst du nicht.«

Er lachte. »Du kennst meinen Vater nicht. Ich bin sein ganzer Stolz. Es würde ihn zermalmen, wenn ich nicht auf seine Alma Mater gehen würde.«

»Aber es ist dein Leben«, erinnerte ich ihn. »Er kann nicht gleichzeitig sein Leben und deines leben. Außerdem wäre er doch stolz auf dich, egal, wo du Football spielen würdest.«

»Bei dir klingt das so einfach.«

»Jahrelang habe ich meine Eltern enttäuscht und sie haben mich trotzdem geliebt.«

Ein leises Lachen ertönte durch das Headset, dann war es still. »Hey … ich weiß, dass das irgendwie gegen alle Regeln verstößt, die unsere Eltern für uns aufgestellt haben, als wir anfingen, live Videospiele zu spielen, aber … meinst du, ich könnte deine Nummer haben?«

Schmetterlinge.

Überall Schmetterlinge.

»Sicher.«

Als ich sie ihm gab, flippte er aus.

»Warte, 781 … das ist Weston! Da wohne ich!«

Das ist Scheiße.

Panik schoss durch mich hindurch. Ich hatte nicht daran gedacht, dass er eins und eins zusammenzählen würde, als ich ihm meine Nummer gab.

Ich biss mir auf die Lippe, um nicht zu antworten.

»Warum hast du mir das nie gesagt?«

»Du hast nicht gefragt.«

»Nun, das liegt daran, dass ich annahm, du wärst in, ich weiß nicht, Kanada oder so.«

»Kanada?« Ich lachte.

»Auf welche Schule gehst du?«

Das brachte mich zum Lachen. »Äh … es ist eine kleine Privatschule, die kennt man gar nicht.«

»Ich gehe auch auf eine Privatschule.«

Schweiß kribbelte in meinem Nacken. »Ich muss gehen. Mom schreit mich an, ich soll schlafen gehen. Sie will, dass ich einen ordentlichen Schlafrhythmus habe, bevor die Schule anfängt. Bye!«

Ich loggte mich aus, bevor er antworten konnte, mein Herz hämmerte in meiner Brust. Ich ließ mich zurück auf mein Bett fallen und schloss die Augen. Dämlich, dämlich, dämlich!

Doch dann surrte mein Telefon, und eine SMS von einer neuen Nummer kam an.

 

Unbekannt: Süße Träume, Stig.

 

Ich dachte, das war’s, aber nachdem ich mir die Zähne geputzt hatte und ins Bett gekrochen war, wartete noch eine auf mich.

 

Leo: Ich bin wirklich froh, dass ich dich getroffen habe.

 

Am nächsten Morgen klingelte mein Telefon um sieben Uhr. Ich nahm ab, ohne zu prüfen, wer es war, denn ich wurde nie angerufen, schon gar nicht so früh.

»Raus aus den Federn«, sagte Leo.

Ich richtete mich auf.

Er hatte mich angerufen?!

»Ähm … Hallo?«

»Ich dachte, ich helfe deiner Mutter dabei, dich für den Schulalltag fit zu machen«, sagte er. Seine Stimme klang über das Telefon noch wärmer, klarer als über das Headset, mit dem ich ihn sonst hörte. »Außerdem habe ich Footballtraining, und es ist nur fair, dass du zur gleichen Zeit aufstehen musst wie ich, weil du mich so lange wach gehalten hast.«

»Ich habe dich wachgehalten?«

»Den ganzen Sommer lang. Du bist wirklich ein schlechter Einfluss.«

»Sagt derjenige, der online nach der Telefonnummer einer Fremden gefragt hat.«

»Und ich bereue nichts.«

Ich errötete, ließ mich auf mein Bett zurückfallen und deckte das Telefon ab, damit er mein lächerliches Gequietsche nicht hören konnte.

»Hey, Stig?«

»Ja?«

»Zeichnest du mir etwas.«

»Was soll ich zeichnen?«

»Alles«, antwortete er schnell. »Zeig mir einen Teil von dem, was du bist.«

»Warum?«

Eine Pause. »Weil ich dich mag.«

Meine Augen weiteten sich und mein Herz hämmerte so laut, dass ich mich selbst nicht hören konnte, als ich mit einem schwachen »Okay« antwortete.

»Okay«, sagte er.

Und auch wenn ich ihn nicht sehen konnte, wusste ich, dass er lächelte.

 

1

Mary

 

In den nächsten zwei Wochen sprachen wir jeden Tag und jede Nacht miteinander.

Ich wachte auf, weil ich SMS bekam, die mich zum Kreischen brachten, und wälzte mich in der Bettdecke, so glücklich machte mich das. Nachts schienen wir immer weniger Zeit mit Spielen zu verbringen und mehr Zeit am Telefon, wo wir stundenlang redeten, bis unsere Kehlen heiser waren.

Als er mir das erste Mal ein Bild schickte, ließ ich mein Handy fallen. Buchstäblich. Es war nur ein Selfie von ihm nach dem Sommertraining, sein Haar war verschwitzt und verfilzt, seine Lippen rissig und seine Haut rot. Aber sein Lächeln war breit und strahlend, und das alles nur für mich.

Ich habe kein Bild zurückgeschickt und er hat mich nicht gedrängt.

Ich liebte es, mit ihm Xbox zu spielen. Ich liebte es, wenn er mir ein dummes Meme schickte oder mir eine lustige Geschichte über seine Familie erzählte. Ich liebte es, wenn er mich fragte, ob wir jemals im echten Leben abhängen würden, und mich dann das Thema wechseln ließ.

Aber meine Lieblingsnächte waren die, in denen er mich anrief und wir einfach dalagen und redeten. Die meiste Zeit haben wir gelacht. Manchmal waren wir so tiefgründig, dass ich ihm Dinge gestand, die ich sonst nie jemandem erzählt hatte, und er tat dasselbe. Wie in der Nacht, in der ich zugab, dass ich Angst hatte, meiner Mutter nie genug zu sein, oder in der Nacht, in der er mir sagte, dass er sich ein Leben ohne Football nicht vorstellen konnte und dass seine größte Angst war, sich zu verletzen.

Trotz alledem habe ich für ihn gezeichnet.

»Wirst du mir jemals zeigen, was du zeichnest?«, neckte er mich bei jeder Gelegenheit. »Ich fange an zu glauben, dass du eine Lügnerin bist und überhaupt nicht zeichnest.«

Damals schickte ich ihm zum ersten Mal ein Bild – eine Rückansicht einer Seite mit Kritzeleien in meinem Skizzenbuch. Er schwärmte tagelang davon und überredete mich, ihm noch mehr von dem zu zeigen, was ich für ihn gemacht hatte.

»Ich zeige es dir, wenn es fertig ist«, versprach ich immer wieder.

Die Wahrheit war, dass ich den Mut aufbringen wollte, es ihm persönlich zu zeigen.

Die Schule begann, und alle Hoffnungen, die ich hatte, dass dieses Jahr vielleicht anders werden würde, nachdem sich der Sommer wie ein Wendepunkt im Leben angefühlt hatte, zerplatzten sofort, als ich es nicht einmal durch den ersten Tag schaffte, ohne mehrfach beleidigt und in der Cafeteria gestoßen zu werden. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre der unsichtbare Verlierertyp, derjenige, der dem ganzen Mobbing entkommen könnte.

Ich hatte kein Glück.

Die Worte taten mir nicht weh – zumindest nicht mehr. Nachdem ich sie jahrelang ertragen hatte, war es, als würde man mir mit Hunderten von Nadeln durch die Haut stechen, bis ich mich so sehr an das Gefühl gewöhnt hatte, dass es sich normal anfühlte. Ich war gefühllos geworden gegenüber all ihren Beleidigungen – Grufti, Loser, Streber, Fettsack, Kratergesicht – was auch immer sie mir an den Kopf warfen, es war einfach, mit den Augen zu rollen.

Aber wenn sie mich schubsten, über mich stolperten, ihr Essen in den Müll warfen und lachten, als es auf mich spritzte … Diese Dinge waren schwieriger abzustreifen.

Ich spürte, wie jeder Angriff mein ohnehin schon geringes Selbstvertrauen traf und ich mich am liebsten wie eine Schildkröte im Panzer versteckt hätte. In der Highschool war Aufregung das Gegenteil von dem, was ich empfand.

Ich wollte nur überleben.

Ich wusste nicht, wann es passierte, wann ich von einem normalen Kind mit einem kleinen, aber feinen Freundeskreis zu jemandem wurde, der ein Leben im Abseits führte. Ich schätze, als meine Freundinnen sich mehr für Jungs als für Spiele interessierten, als sie anfingen, zarten Lidschatten und rosa Lipgloss zu tragen, während ich mich für dramatische Katzenaugen entschied und mein Lächeln burgunderrot anmalte, als sie alle abnahmen und ich zunahm – an jeder Kurve.

Irgendwie, irgendwann habe ich mich selbst geächtet.

Aber dieses Jahr würde es anders sein. Denn dieses Jahr würde ich Leo haben.

Als ich ihn das erste Mal in der Schule sah, alberte er vor der ersten Stunde in der Cafeteria mit einigen anderen Spielern des Footballteams herum. Ich beobachtete ihn mit einem Lächeln, bevor mir eine meiner wenigen Freundinnen, Naya, mit dem Ellbogen in die Rippen stieß.

»Warum lächelst du diese Arschlöcher an?«

Ich wies sie ab und runzelte die Stirn, während ich wieder in mein Notizbuch kritzelte. »Habe ich nicht.«

Naya liebte Anime und Cosplay, so wie ich Videospiele und Zeichnen liebte. Sie hatte auch eine Bartagame als Haustier und eine Intoleranz gegenüber Sportlern oder anderen, die in unserer Schule als beliebt galten. »Doch, das hast du.«

»Halt die Klappe«, murmelte ich, ignorierte sie und konzentrierte mich auf mein Notizblock, bis eine SMS auf meinem Handy aufleuchtete.

 

Leo: Du hast recht, Schule ist scheiße. Ich vermisse die Sommertage mit dir.

Jeder Nerv in meinem Körper glühte, als ich den Text wieder und wieder las und mein Blick wanderte zu Leo auf der anderen Seite der Cafeteria. Er lachte über etwas, das der Quarterback gesagt hatte, und dann rannte Lila White herüber und ließ sich auf seinen Schoß fallen.

Er legte seine Arme leicht um sie, aber nicht so, dass ich mich auch nur ein bisschen eifersüchtig fühlte. Es war die Art und Weise, die ohne Worte sagte, dass er sich unwohl fühlte, dass er sie nur dort sitzen ließ, weil er keine Fragen beantworten wollte, wenn er sie von sich stieß.

Ich lächelte, mochte es, dass ich ihn so kannte, dass ich durch seine Fassade hindurchsehen konnte.

 

Ich: Ruf mich heute Abend an und wir können so tun, als würde der Sommer nie enden.

 

Sobald ich sie abgeschickt hatte, sah ich, wie er eilig sein Telefon aus der Tasche kramte. Er lächelte, als er die SMS las, und dann tippte er mit dem Daumen eine Antwort, bevor er es wegsteckte.

Später am Abend fragte ich ihn, wie sein Tag war.

»Erschöpfend.«

»Training?«

»Nein, Football ist meine Befreiung. Der Rest ist es, der mich auslaugt.«

»Der Unterricht?«

»Irgendwie schon. Ich weiß nicht so recht. Es ist wie …« Er hielt inne, und ich wünschte, ich könnte ihn sehen, könnte seine Körperbewegungen in diesem Moment beobachten. »Manchmal hänge ich mit all diesen Leuten ab, all meinen Freunden, und ich sehe mich um und stelle fest, dass ich eigentlich keinen von ihnen kenne und sie mich nicht kennen. Abgesehen vom Football, meine ich.«

»Du könntest ihnen mehr über dich erzählen«, schlug ich vor. »Bitte sie, auch dir gegenüber ehrlich zu sein.«

Er lachte. »Ja, klar. So wie sie mich an meiner Schule sehen, bin ich einfach der Klassenclown, weißt du? Der Sportler, der die Leute zum Lachen bringt und vor dessen Spind die Mädchen Schlange stehen.«

Ich schluckte. »Eine ganze Reihe, was?«

»Sei nicht neidisch, Stig«, sagte er mit Humor in der Stimme. »Keine von ihnen ist mit dir zu vergleichen.«

»Oh, verpiss dich.«

»Ich meine es ernst! Das sind sie nicht.«

»Wie auch immer«, sagte ich spielerisch, aber hauptsächlich, weil ich das Thema wechseln musste, bevor ich zu einer Pfütze auf dem Boden zerlief. »Du hast also das Gefühl, dass du eine Rolle zu spielen hast?«

»Ich denke schon. Oder vielleicht ist es so anstrengend, die Rolle zu spielen, dass es sich noch anstrengender anfühlt, sie ändern zu wollen.«

»Wenn du mich fragst, mag ich dich am liebsten, wenn du echt bist, wenn du offen bist. Du bist lustig, ja, aber … du bist mehr als das.«

Leo schwieg einen langen Moment lang. »Ich wünschte, du würdest mir sagen, wer du bist«, sagte er leise.

Ich schluckte. »Bald.«

Eine weitere Woche verging, in der ich am Rande von Leos Leben lebte, in seiner Peripherie – da, aber nie wirklich gesehen. Am glücklichsten war ich, wenn er mir eine SMS schrieb oder mich anrief. Am unglücklichsten war ich, wenn ich nah genug war, um ihn zu berühren, und doch irgendwie unsichtbar. Und in dieser Zeit fand ich irgendwie den Mut, nach dem ich gesucht hatte. Angst und Furcht nagten immer noch in meinem Hinterkopf, aber sie wurden von der glühenden Kugel der Hoffnung übertönt, die mir ständig drei Worte ins Ohr flüsterte.

Was wäre wenn?

Und so trug ich an einem kühlen Herbstnachmittag ein Notizbuch voller Zeichnungen unter dem Arm, als ich über den Campus in Richtung Footballfeld ging.

In zwanzig Minuten würde das Training zu Ende sein, und ich beschloss, Leo endlich zu sagen, wer ich war.

2

Mary

 

Meine Achselhöhlen waren sumpfig, als ich auf der Bahn stand, die um das Footballfeld herumführte, mein Notizbuch an die Brust drückte und zusah, wie Leo das Training mit seiner Mannschaft beendete. Alles in mir schrie danach, mich umzudrehen und abzuhauen, aber ich kämpfte gegen meinen Instinkt an.

Mein armer Körper hat versucht, mich zu retten, aber ich wollte nicht auf ihn hören.

Stattdessen stand ich so aufrecht da, wie ich konnte, mit zitternden Fingern und Herzrasen. Und als Leo mit einigen seiner Mannschaftskameraden an mir vorbei joggte, rief ich mit schwacher, brüchiger Stimme seinen Namen.

Er wurde langsamer, sein Kopf peitschte in meine Richtung, sein feuchtes, unordentliches Haar flog wie in einem Zeitlupenwerbespot, als er das tat. Es raubte mir den Atem, ihn so nah zu sehen, nach all den Nächten, die wir zusammen am Telefon verbracht hatten. Seine Augen waren goldener, als ich es je bemerkt hatte, sein Kiefer definierter, sein Körper glitzerte vor Schweiß.

Ich wartete auf diesen Moment, den Moment, in dem er mir in die Augen sah und einfach wusste, dass ich es war, dass ich das Mädchen war, mit dem er den ganzen Sommer lang jeden Tag und jede Nacht gesprochen hatte. Ich wartete darauf, dass sein Lächeln breiter wurde, dass er auf mich zuging und mich in seine Arme schloss, so wie all die dummen Filme mich darauf vorbereitet hatten.

Stattdessen runzelte er die Stirn, Verwirrung zeichnete sich auf seinen Brauen ab, als er langsam zum Stehen kam und ein paar zögerliche Schritte auf mich zuging. »Ja?«

Ich versuchte zu ignorieren, dass mir das Herz in die Hose rutschte und meine Nervosität sich verdoppelte, als ein paar seiner Teamkollegen ebenfalls stehen blieben und erst Leo, dann mich und dann einander mit diesem Blick ansahen, der sagte: Oh, das kann ja heiter werden.

»H–hi«, hauchte ich, schluckte und erinnerte mich daran, ein Ausatmen zu erzwingen.

Leo sah immer noch verwirrt aus, aber er schenkte mir ein kleines, mitleidiges Lächeln. »Hallo.«

»Es tut mir leid, dass ich störe, ich wollte nur …« Jedes Wort, das ich sagen wollte, flog in meiner Panik über Bord, aber ich wusste, dass ich keine Worte brauchte. Er würde wissen, wer ich war, ohne dass ich es ihm sagen musste.

Weil ich es ihm zeigen wollte.

»Das habe ich für dich gezeichnet«, sagte ich und hielt ihm das Skizzenbuch hin.

Mein Lächeln war zuversichtlich, breit und strahlend, denn ich wusste einfach, dass er es bekommen würde. Wer sonst sollte ihm etwas zeichnen? Außerdem kannte er meine Stimme. Er kannte mich.

Leo schaute zu seinen Freunden, die sich das Lachen verkneifen mussten, und zog die Brauen zusammen, als er sich wieder zu mir umdrehte. »Ähm … okay?«

Er nahm mir das Skizzenbuch ab und ein Teamkollege hinter ihm sagte: »Na los, was ist es, Hernandez?«

Leo schaute mich an, bevor er das Buch zögernd auf der ersten Seite aufschlug. Es war die einfachste der Zeichnungen, die ich seit der Nacht, in der er mich darum gebeten hatte, für ihn angefertigt hatte: eine feine Skizze von Dingen, die mich an den Sommer denken ließen – Wildblumen, Hummeln, ein rauschender Fluss.

Als es ihm nicht auffiel, als er nur das Gesicht verzog und mich anschaute, bevor er die Seite umblätterte, sank mein Herz in sich zusammen.

Seine Freunde schauten ihm über die Schulter zu, und als die Seite umgeschlagen wurde, fingen sie an zu lachen, zu schreien und sich gegenseitig zu schlagen, bevor einer von ihnen ihm das Heft aus der Hand riss.

»Was zum Teufel? Hat dieser Freak mit den schiefen Zähnen Pornos für dich gezeichnet?«

Meine Wangen erröteten vor Hitze, und ich machte mir eine Notiz, nie wieder zu lächeln. »Das ist kein Porno«, entgegnete ich.

Einer der Jungs drehte das Buch zu mir um und zeigte das kurvige Mädchen, das mir meiner Meinung nach ähnlich sah. Sie trug einen Kapuzenpulli und Leggings, das, was ich normalerweise trug, wenn ich spielte, und ein Junge in einem Footballtrikot hielt sie in seinen Armen, während sie zu den Sternen hinaufschauten.

Der Junge sollte Leo sein.

Wenn man genau hinsah, hatten wir einen einzigen Xbox–Controller in der Hand, den wir gemeinsam hielten.

Aber Leo sah nicht genau hin. Tatsächlich schaute er kaum hin, bevor er das Buch seinen gackernden Freunden entriss und es mir wieder an die Brust schob.

»Hör zu, ich weiß nicht, was das sein soll, aber ich will es nicht.«

Seine Augen fixierten die meinen.

Und was ich in ihnen sah, zerriss mir das Herz.

Er wusste es.

Er wusste, dass ich es war. Man sah es ihm an – das Mitleid in seinen Augen, die gerunzelten Augenbrauen, seine starre Haltung und sein schwerer Brustkorb. Und genau in diesem Moment erkannte ich die Wahrheit.

Er wusste, dass ich es war, und ihm gefiel nicht, was er sah.

»Du hast keine Ahnung, wie ich aussehe.«

»Und?«

Wie dumm von mir, dass ich geglaubt hatte, dass er das ernst meint.

Er schaffte es nicht einmal, den Blickkontakt länger als einen Moment zu halten, bevor er auf den Boden zwischen uns blickte, das Buch immer noch auf mich gerichtet.

Meine Kehle brannte, als ich es ihm aus den Händen riss, und ich wollte, dass die Tränen, die meine Augen überfluteten, an Ort und Stelle blieben und nicht über meine Wangen liefen. »Du bist ein Lügner und ein Idiot und ich hoffe, dass dich eines Tages jemand so sehr verletzt, wie du mich gerade verletzt hast.«

Seine Freunde brachen in schallendes Gelächter aus und einer von ihnen sagte: »Ohhh, hast du das gehört, Hernandez? Dieser fette, pickelgesichtige Freak hat dich einen großen, bösen Idioten genannt!«

Bei diesen letzten Worten klang die Stimme des Jungen wie die eines kleinen Kindes, was alle wieder zum Lachen brachte.

Und Leo hat kein Wort gesagt.

Er hat sie nicht aufgehalten, hat ihnen nicht gesagt, sie sollen die Klappe halten und mich in Ruhe lassen, hat mich nicht verteidigt oder auch nur einen Funken Mitleid gezeigt. Und als sein Freund einen Arm um ihn legte, um ihn und den Rest des Rudels von mir wegzuführen, blickte Leo nur einmal zurück.

Ich dachte, ich hätte gesehen, wie er sagte, dass es ihm leidtut.

Das brachte mich nur noch mehr in Rage.

Ein Blinzeln setzte die Tränen frei, die ich zurückgehalten hatte, und sie brannten die Erinnerung für immer in mein Gehirn, während sie über meine Wangen liefen.

Ich wartete, bis ich zu Hause war, bis ich hinter meiner Schlafzimmertür stand, die ich vehement zuschlug. Dann schrie ich und riss die Seiten des Notizbuches heraus.

»Ich hasse dich, Leo Hernandez«, zischte ich und riss eine Seite nach der anderen ab. »Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich.«

Es reichte nicht, die Seiten aus dem Heft zu reißen. Als sie meinen Fußboden übersäten, hob ich sie alle auf und zerkleinerte sie in winzige Fetzen, bis mein Schlafzimmerboden mit Papierschnee bedeckt war. Als ich fertig war, hob sich meine Brust und ich brach mitten auf dem Stapel zusammen.

Und ich weinte.

Nein, ich schluchzte, bis meine Lunge versagte und keine Tränen mehr in meinem Körper waren. Mom klopfte zögernd an meine Tür, aber ich sagte ihr, sie solle weggehen, und das Gleiche sagte ich Dad, als er von der Arbeit nach Hause kam. Ich aß nicht mit ihnen zu Abend. Es fühlte sich an, als würde ich nie wieder essen, nie wieder schlafen, nie wieder der Mensch sein, der ich war, bevor Leo mich zerstörte.

Ich versuchte, Vernunft walten zu lassen und mich daran zu erinnern, dass ich ein Highschool-Mädchen war und diese Gefühle vorübergehen würden. Das hat mir meine Mutter immer gesagt, wenn ich dramatisch war. Aber nichts konnte den Schmerz, die Wut aus meinem Herzen verschwinden lassen – nicht dieses Mal.

Dieser Tag hat mein Leben grundlegend verändert.

Der schwache Käfig, in dem ich zu leben versucht hatte, um meinen Eltern zu gefallen, um so zu sein, wie sie und alle anderen in meinem Leben mich haben wollten, war völlig zerstört. Ich krallte mich an den Stäben fest, verbog und verformte sie, bis ich hindurchtreten konnte. Und auf der anderen Seite war ich ungezähmt, unbeeindruckt, unaufhaltsam.

In diesem Moment beschloss ich, dass mich nichts und niemand jemals wieder verletzen würde. Als Leo sich an diesem Abend einloggte und mich auffordern wollte, mit ihm zu spielen, habe ich ihn entfreundet. Gleich danach rief er mich an, und als ich nicht antwortete, schickte er mir eine SMS, die ich nicht einmal las. Ich habe ihn überall blockiert.

Ich habe meine Xbox ausgesteckt und den Plan gefasst, sie zusammen mit all meinen Spielen zu GameStop zu bringen und sie gegen eine PlayStation einzutauschen.

Ich schloss die Welt aus.

Ich schloss die Person aus, die ich einmal war.

Und in dieser Nacht, als ich nicht einschlafen konnte, wusste ich vieles noch nicht.

Ich wusste nicht, wie viel schlimmer es am nächsten Tag in der Schule werden würde. Ich wusste nicht, dass es möglich war, dass ein bereits gebrochenes Herz noch weiter bricht. Ich wusste nicht, dass diese Arschloch-Freunde von Leo ein Foto von meiner Zeichnung gemacht hatten, als ich damit beschäftigt war, Leo anzuschauen. Ich wusste nicht, dass sie Kopien machen und es zusammen mit meinem hässlichen Schulanfangsfoto in der ganzen Schule verteilen würden, dass der pickelgesichtige Pornofreak zu einem Spitznamen werden würde, dem ich in all meinen Highschool-Jahren nie entkommen würde. Ich wusste nicht, dass Leo mit ihnen lachen würde, dass er mich nie wieder auch nur ansehen würde, dass er so tun würde, als würde ich gar nicht existieren.

Die größte Überraschung von allen?

Ich wusste nicht, dass Leo Hernandez sechs Jahre später, als ich nicht einmal mehr ein Anflug des Mädchens war, das ich in dem Sommer war, als ich fünfzehn wurde, mein Nachbar sein würde.

Und ein Jahr später … mein Mitbewohner.

 

3

Leo

 

Jetzt … Sieben Jahre später

 

»Coach! Coach!«

Ich drehte mich um und stellte meinen Becher mit Gatorade gerade noch rechtzeitig auf dem Klapptisch ab, um ihn zu retten, bevor ich von drei achtjährigen Kindern in voller Montur umgerannt wurde. Ich klemmte mir eines unter den Arm, während die beiden anderen mit ihren kleinen Händen um meine Taille mit meinen Beinen kollidierten.

»Hast du das gesehen?!«, sagte Keon und deutete zurück auf das Feld. Sein Helm war ein bisschen zu groß für ihn und sein Kopf wackelte unter dem Gewicht, als er wieder zu mir aufsah. »Ich habe ihn mit meinem Stiff Arm getroffen, genau wie du gesagt hast!«

»Hast du nicht!«, kämpfte Jordan und löste seinen Griff um meine Taille nur lange genug, um Keon ein Stück zurückzuschieben.

»Habe ich wohl!«

»Ich bin gestolpert.«

»Ja, weil ich dich geschubst habe. Mit meinem Stiff Arm.«

»Ja, aber ich habe dich angegriffen, Keon«, sagte der kleine Kerl unter meinem Arm und wackelte, bis ich ihn wieder absetzte. »Der Stiff Arm macht also nichts aus.«

»Ich habe zwanzig Yards!«, meckerte Keon.

Die anderen beiden sagten unisono: »Nein!« Dann kämpften sie alle, ich kicherte und beugte mich vor, bis ich auf einem Knie und auf ihrer Höhe war.

»Schon gut, schon gut«, sagte ich und packte zwei von ihnen an den Schultern. Ich warf ihnen einen Blick zu, bis sie sich beruhigten. »Keon, das war ein verdammt guter Lauf. Du kannst stolz darauf sein.«

Keon strahlte.

»Aber«, fügte ich schnell hinzu. »Es gibt einen Unterschied zwischen jemandem, der sich für gut hält, und jemandem, der es weiß – der wichtigste ist, dass man, wenn man es weiß, nicht damit angeben muss.«

»Ja, Keon«, sagte Jordan und verschränkte die Arme.

»Und, Jordan, das war eine tolle Verteidigung da draußen, aber sei nicht zu stolz, um zuzugeben, wenn du es besser hättest machen können. Was glaubst du, warum Keon dich mit seinem Stiff Arm so leicht wegstoßen konnte?«

Jordan sah auf seine Stollenschuhe hinunter. »Weil ich ihn nicht eingewickelt habe.«

»Du hast ihn nicht eingewickelt«, wiederholte ich.

»Aber ich habe es getan!« Mason strahlte.

Ich drehte mich, bis ich ihn im Blick hatte. »Zwanzig Yards später.«

Das brachte alle zum Schweigen, obwohl Keon schmunzelte.

»Seht mal«, sagte ich und zog sie alle ein bisschen näher heran. »Das habt ihr alle gut gemacht. Aber ihr hättet es besser machen können. Und ich sage es euch nur ungern, aber das ist Football. Genau genommen ist das Football an einem guten Tag. Die meiste Zeit macht man Fehler, von denen man weiß, dass man sie nicht machen sollte, und dann muss man sich wieder aufrappeln und beim nächsten Spielzug wieder an die Linie gehen.«

Ich drückte meinen Finger in Keons Brust.

»Das Wichtigste ist, dass ihr bescheiden bleibt, euch daran erinnert, warum ihr dieses Spiel liebt, und euer Team über eure persönlichen Statistiken stellt. Anstatt euch gegenseitig anzufeinden, solltet ihr euch gegenseitig anfeuern. Jordan, das war ein toller Lauf von Keon, nicht wahr?«

Jordan lächelte und stupste Keon an der Schulter an. »Ja.«

»Ja. Und, Mason, du hättest Keon nicht zu Fall bringen können, wenn Jordan ihn nicht mit diesem versuchten Tackling aufgehalten hätte, oder?«

»Wahrscheinlich nicht. Er ist so schnell«, sagte Mason.

»Und es war ein großartiges Tackling«, sagte Keon zu Mason, bevor ich ihn auffordern konnte. »Du hast mich wirklich eingewickelt, ich konnte mich nicht losreißen, selbst wenn ich es gewollt hätte.«

»Siehst du?«, sagte ich und gab jedem von ihnen einen spielerischen Schlag. »Das ist es, was euch als Spieler und Team stärker macht.«

Der Schatten von Coach Henderson überflutete uns vier und ich stand auf, um mich ihm anzuschließen, als er in Richtung Spielfeld nickte. »Also gut, ihr drei, zurück aufs Feld.«

»Ja, Coach!«, sagten sie unisono und dann joggten sie zurück zum Spiel, wobei sie sich gegenseitig anlachten, anstatt sich zu streiten.

Coach Henderson war der Chef-Coach des PeeWee-Teams, das ich seit meinem zweiten Studienjahr an der North Boston University betreute. Es begann eigentlich zufällig – ich saß den Sommer über auf dem Campus fest, langweilte mich und suchte nach einer Beschäftigung, die nichts mit Ausdauertraining zu tun hatte. Das war so ziemlich alles, was wir im Sommer tun konnten, ohne gegen die Regeln des College-Balls zu verstoßen. Bis zum Herbstcamp gab es kein richtiges Training.

Henderson hatte gesehen, wie unruhig ich war, und bot mir diesen unbezahlten Job an, den ich ohne zu überlegen annahm.

»Nächstes Jahr werden sie dich vermissen«, sagte er, als sich die Kinder für ein weiteres Spiel aufstellten.

»Ach, die meisten von ihnen werden sowieso in die nächste Stufe aufsteigen«, sagte ich. »Und die, die es nicht tun, werden nicht an mich denken.«

»Du wärst überrascht. Du hast bei diesen Kindern wirklich etwas bewirkt.« Er hielt inne und schüttelte den Kopf. »Obwohl ich es ziemlich komisch finde, dass du ihnen Ratschläge gibst, in denen es ums Bescheidensein geht.«

»Hey, ich bin so bescheiden wie nur möglich«, sagte ich abwehrend.

»Richtig. Was hast du in dem Interview nach dem Meisterschaftsspiel letztes Jahr gesagt?« Er tippte sich ans Kinn. »Oh, stimmt. Ich habe in meinen drei Jahren hier zwei Schulrekorde gebrochen, und wenn ich gehe, werde ich sie alle brechen.«

Ich blinzelte. »Was? Das sind nur Fakten. Die NBU hatte noch nie einen Runningback wie mich, und das weißt du.«

Er schmunzelte, schüttelte den Kopf und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Vielleicht solltest du das, was du predigst, einfach ein bisschen praktizieren, was, Kleiner?«

Ich wies ihn ab, lächelte aber, denn vielleicht hatte er ja recht. Vielleicht könnte ich ab und zu ein Stückchen Demut auf meinem Teller gebrauchen. Aber das war einfach nicht meine Art. Für mich war der Schlüssel zum Erfolg immer die Überheblichkeit gewesen.

Spiel wie der Teufel. Reibe es jedem Verteidiger unter die Nase, wenn er mich nicht aufhalten kann. Und erinnere jeden, der fragt, dass ich der Beste bin, den es je gab.

Es spielte keine Rolle, ob es wahr war oder nicht. Wenn man etwas oft genug sagt, glaubt man es irgendwann. Und wenn man es glaubte, wurde man es.

Das waren die Worte meines Vaters und ich hielt sie in Ehren wie ein Glaubensbekenntnis.

Mein Vater, Nick Parkinson, war und ist immer noch der beste Receiver, der jemals an der Southern Alabama University gespielt hat. Er war auch in der NFL eine Bestie, bis eine Verletzung seine Karriere beendete, aber nicht, bevor er genug Geld und Verbindungen aufgebaut hatte, um sich für immer einen Platz in diesem Sport zu sichern. Während er nun die meiste Zeit als Kommentator im Fernsehen oder als Berater für junge Spieler verbrachte, lebte er den Rest seines Traums durch mich aus.

Als der Coach das Training abpfiff, half ich beim Einpacken, bevor ich in die Turnhalle auf dem Campus ging. Einige meiner Mannschaftskameraden haben den Sommer über geschwänzt und nur das Nötigste getan, was von ihnen verlangt wurde. Aber ich würde mich nicht dabei erwischen lassen, dass ich das auch tue.

Der Sommer war es, der die Guten von den Großen trennte, die College-Sportler von denen, die Profis werden wollten. Ich habe jedes bisschen meiner Zeit genutzt, um auf mein ultimatives Ziel hinzuarbeiten.

Ich möchte in der NFL spielen, genau wie mein Vater.

Ich war schweißgebadet, als ich in mein Auto stieg, um zu meinem Haus auf dem Campus zu fahren, das liebevoll ›The Snake Pit‹ genannt wurde. Es war das Mannschaftshaus, das in den 80er-Jahren gekauft und von Generation zu Generation an die Spieler weitergegeben wurde. Es war unser Zuhause, das Haus, in dem wir feierten, wenn wir gewannen, und in dem wir Strategien entwickelten, wenn wir verloren. Es war alt und baufällig und jetzt, da unser verantwortungsbewusster, sauberer und organisierter Quarterback seinen Abschluss gemacht hatte und Profi geworden war, viel unordentlicher als früher.

Aber es war ein Zuhause.

Während ich fuhr, eine Hand auf dem Lenkrad und den anderen Arm aus dem Fenster auf der Fahrerseite, saugte ich die Wärme des Sommers in mich auf, das Gefühl, das mir dieser Sommer gab. Es war der letzte in meiner Schullaufbahn, ein letzter Sommer vor dem Abschlussjahr an der North Boston University.

Vor meinem letzten Jahr auf dem College.

Wir waren jetzt Meister und hatten eine der besten Saisons in unserer Geschichte hinter uns. Mit diesem ersten Platz in die Saison zu gehen, wäre toll, aber es würde auch bedeuten, dass wir eine Zielscheibe auf dem Rücken hatten – eine, die zu treffen ich mir fest vorgenommen hatte, unmöglich zu machen.

Neben dem glücklichen, aufregenden Gefühl, das mir dieser Sommer bescherte, gab es einen dunklen Rand, einen bodenlosen Abgrund, der mich gerne verschlingen würde, wenn ich nur lange genug aufhörte zu laufen, um ihn zuzulassen. Es war ein Abgrund, der von einem Mädchen vor Jahren geschaffen wurde, ein endloses Loch, das im Zentrum dessen, was ich war, zurückgelassen wurde, nachdem die einzige Person, zu der ich jemals in meinem Leben eine echte Verbindung gespürt hatte, mich verlassen hatte.

Und ich kannte nicht einmal ihren Namen.

Ich schluckte, rutschte auf dem Fahrersitz hin und her und legte meine andere Hand ans Lenkrad. Der Gedanke an diesen Sommer ließ mich immer zusammenzucken. Ich konnte mich nicht einmal mehr daran erinnern, wer ich damals war, und doch wusste ich, dass ich in jenem Sommer mit niemandem so wirklich zusammen gewesen war, zu keinem Zeitpunkt in meinem Leben.

Mit einer Fremden, die ich beim Spielen von Videospielen im Internet kennengelernt hatte.

Es war so klischeehaft und peinlich, dass ich es noch nie jemandem erzählt hatte. Ich konnte es nicht. Ich hatte den Ruf, ein Playboy zu sein, ein Klugscheißer, ein Clown, ein Kraftpaket, ein verdammter Star. Ich liebte diese Rolle. Ich habe diese Rolle für mich geschaffen. Und ich wusste, wenn ich jemals zugeben würde, was in jenem Sommer in der Highschool passiert war, würde ich selbst zum Witzbold werden, anstatt der Witzbold zu sein.

Nein, ich würde es mit ins Grab nehmen.

Und wenn ich nicht lerne, es verdammt noch mal loszulassen, könnte es das sein, was mich ins besagte Grab bringt.

Wann immer sich diese Dunkelheit in meinen Geist schlich, war ich versucht, ihr nachzugeben. Ein Teil von mir dachte, dass es Erleichterung bringen würde, einfach in die nicht enden wollende Spirale von Fragen zu gleiten, die mich vor sieben Jahren überfielen und seitdem jeden Tag darum bettelten, dass ich sie wieder hereinlasse.

Ich könnte mir ewig den Kopf zerbrechen und mich fragen, was schiefgelaufen war, was ich getan hatte, was passiert war. Ich könnte mich kopfüber in die Angst stürzen, dass ihr etwas Schlimmes zugestoßen war, dass sie entführt oder von ihren Eltern in ein Internat geschickt worden war oder, was am schlimmsten wäre, dass sie tot war.

Ich kannte ihren Namen nicht, aber ich kannte sie.

Ich wusste, wie sie lachte, wenn sie erschöpft war, weil sie die ganze Nacht mit mir wach geblieben war. Ich wusste, dass sie nie vor einer Herausforderung zurückschreckte. Ich wusste, dass sie unverblümt und furchtlos sie selbst war, egal, was ihre Eltern oder Freunde oder sonst jemand dachte. Ich wusste, dass sie witzig und liebenswert und supercool war. Sie spielte Videospiele, verdammt noch mal.

Und ich wusste, dass sie mich kannte, auf der verletzlichsten und ehrlichsten Ebene, und dass sie mich mochte. Sie sorgte sich um mich.

Vielleicht hat sie es aber auch nicht getan.

Vielleicht hat sie das nie getan.

Vielleicht war sie gar nicht so ein Kind wie ich. Vielleicht war sie ein komischer Kauz, der im Alter von dreißig Jahren im Keller seiner Eltern lebte und sich als Teenager ausgab, um sich an junge Männer heranzumachen.

Selbst als ich es dachte, wusste ich, dass es nicht wahr war. Aber manchmal fühlte ich mich besser, wenn ich so tat, als wäre das der Fall, denn die Alternative wäre gewesen, dass sie mich einfach … verlassen hätte.

Und ich würde nie erfahren, warum.

Mit einem kurzen Kopfschütteln verscheuchte ich die Schatten all dieser Gedanken, als ich in meine Straße einbog. Ich stieß einen schweren Seufzer aus, als ich in die Einfahrt einfuhr, sprang heraus und holte meine Reisetasche aus dem Kofferraum. Ich warf sie mir über die Schulter, schloss mein Auto mit einem Klicken des Schlüsselanhängers ab und war bereit, ins Haus zu gehen und zu duschen, bevor ich mich zu einer Runde Videospiele mit meinen Mitbewohnern setzte.

Doch ein Blick auf die andere Straßenseite ließ mich innehalten.

Mary Silver stand in ihrem Garten, die Hände auf die volle, verführerische Hüfte gestemmt, den Blick auf ihr Haus gerichtet, während ein stämmiger älterer Mann in einem schmuddeligen T-Shirt und abgewetzten Jeans neben ihr ratterte. Ich konnte nur ihr Profil sehen, aber ich bemerkte, dass ihre Augenbrauen gerunzelt waren und sie an den Ecken ihrer prallen Unterlippe knabberte.

Mary war letztes Jahr in das alte Haus gegenüber von uns eingezogen – zusammen mit Julep Lee, der Tochter unseres Trainers und jetzt Verlobten unseres früheren Quarterbacks. Holden und Julep, die so getan hatten, als würden sie sich nicht mögen, sorgten für viele Nächte, in denen Mary mit ihrer Mitbewohnerin hier im Snake Pit Partys feierte, und jedes Mal, wenn sie durch unsere Eingangstür kam, verspürte ich das Bedürfnis, sie zu berühren.

Ich konnte es nicht verhindern.

Esa gata se vé riquísima.

Dieses Mädchen war heiß.

Ich war es gewohnt, von einer bestimmten Art von Frauen umgeben zu sein – Cheerleaderinnen, Sportlerinnen, Studentinnen. Aber keine von ihnen sah aus wie Mary. Wo sie normalerweise schlank und durchtrainiert waren, war Mary kurvig und weich, mit Schenkeln und Hüfte und Brüsten, die mich anzogen, als wäre sie die wiedergeborene Aphrodite. Sie war mit Tattoos übersät, deren Tinte ihre Haut vom Hals bis zu den Knöcheln bedeckte, und sie hatte mehr Piercings als ich in der letzten Saison Touchdowns.

Ich war von dem Moment an, als ich sie zum ersten Mal sah, sofort von ihr fasziniert.

Ich wurde auch sofort gedämpft.

Sie war immun gegen meinen Charme, gegen die großspurigen Sprüche, die ich mit Leichtigkeit vortrug und die dazu führten, dass mir die Mädchen zu Füßen lagen und mich meistens ins nächste Schlafzimmer zerrten.

Nein, Mary schien von meiner bloßen Existenz genervt zu sein.

Das hat mich natürlich noch mehr zu ihr hingezogen.

Ich sah zu, wie sie den Kopf schüttelte, wobei ihr langes, goldenes Haar im Sonnenlicht glänzte. Was auch immer mit Bob dem Baumeister an ihrer Seite geschah, es war nicht gut.

Es ging mich auch nichts an.

Aber das hielt mich nicht davon ab, meinen Seesack neben meinem Auto auf den Boden zu werfen und über die Straße zu gehen.

 

4

Mary

 

»Monate?!«

Ich wiederholte das Wort gegenüber dem stämmigen, fast schon zu muskulösen Mann, der mich mit einem Gesichtsausdruck anstarrte, als wäre er von meinem Anliegen gelangweilt. Er kaute auf einer Art Samen und spuckte eine Schale aus, bevor er nickte und mit einer Hand an der Hüfte und dem Klemmbrett in der anderen zum Haus zurückblickte.

»Das ist gut möglich«, sagte er mit einem dicken Neuengland-Akzent. »Ich weiß, das ist nicht die Nachricht, die Sie oder Ihr Vermieter hören wollen, aber … die Rohre sind ein Chaos.«

»Offensichtlich«, sagte ich und kniff mir in die Nase, als ich mich an die Überschwemmung im Haus erinnerte. Ich war nach einer langen Nacht im Tattoostudio nach Hause gekommen und hatte den größten Teil der frühen Morgenstunden damit verbracht, mit jedem Handtuch im Haus aufzuwischen, was ich konnte.

»Es wird eine Weile dauern, bis wir den Schaden vollständig erfasst haben, genug aufgeräumt haben, um den Problemen auf den Grund zu gehen, und diese dann beheben können. Natürlich brauchen Sie neue Böden und dann sind da noch die Wände, die Decke …«

Er muss bemerkt haben, wie sich mein Gesicht immer mehr verzog, während er sprach, denn er wurde leiser und räusperte sich.

»Die gute Nachricht ist, dass es reparabel ist«, bot er pathetisch an.

»Richtig. Man muss nur das ganze System entkernen.«

Der Mann schenkte mir ein entschuldigendes Lächeln. »Ach, machen Sie sich nichts draus. Das passiert bei alten Häusern wie diesem ständig, vor allem, wenn die Sommer immer heißer werden. Die Rohre halten die Ausdehnung des Wassers einfach nicht aus, wenn es nach einem ohnehin schon brutalen Winter so heiß wird.«

Ich wollte meinen Kopf gegen die nächstgelegene Backsteinmauer schlagen.

»Ich habe mit Ihrer Vermieterin gesprochen und sie will die Sache genauso schnell klären wie Sie.«

»Mm-hmm«, sagte ich flach und versuchte, nicht zu lachen, als ich mir vorstellte, wie Miss Margie etwas schnell machte. Sie war eine Puppe und eine absolute Heilige, weil sie mir das Haus zu dem niedrigen Preis vermietet hatte. Aber sie war auch eine Verrückte und bewegte sich so schnell wie eine Schnecke im Urlaub.

Es war schwierig geworden, seit Julep ausgezogen war. Diese Verräterin von einer Mitbewohnerin hatte den ersten Flug nach Charlotte gebucht, nachdem ihr Freund – äh, Verlobter – im April bei den Panthers unter Vertrag genommen worden war. Nicht, dass ich nicht gewusst hätte, dass es so kommen würde, und nicht, dass sie kein Engel war, weil sie ihre Hälfte bis zum Ende unseres Mietvertrags noch bezahlte, aber seitdem war ich ganz auf mich allein gestellt.

Ich habe es getan. Ich war fähig. Aber es war nicht einfach und ich suchte schon seit einigen Wochen aktiv nach einem Mitbewohner, der mir die Sache erleichtern sollte. So viel dazu.

Jetzt war ich obdachlos, hatte kein Geld gespart und einen Gehaltsscheck, mit dem ich mich gerade so durchschlagen konnte. Und im Gegensatz zu vielen anderen Studenten, die in diesem alten Viertel lebten, konnte ich nicht einfach meine Mutter oder meinen Vater anrufen und um Geld bitten.

Ich meine, ich könnte. Aber ich würde es nicht tun.

Mein Stolz und andere Dinge würden das nicht zulassen.

Ich stand immer noch mit verschränkten Armen da und drückte die Innenseite meines Brustkorbs zusammen, nur für den Fall, dass dies ein Albtraum war, aus dem ich aufwachen konnte, als sich jemand neben mich schlich und mich fast aus der Haut fahren ließ.

»Was ist das Problem?«

Ich drückte mir vor Schreck die Hand aufs Herz, die Augen weit aufgerissen, bis ich mich umdrehte und Leo Hernandez mit besorgter Miene neben mir stehen sah.

Leo fucking Hernandez – der Star-Runningback der North Boston University, der unerreichbarste Junggeselle und die Nummer eins auf meiner Liste der Leute, die ich umbringen würde, wenn ich damit durchkäme.

Auch mein Nachbar.

Das war eine komisch ironische Entdeckung gewesen, nachdem ich letztes Jahr den Mietvertrag mit Julep unterschrieben hatte. Hätte ich das vor derUnterzeichnung gewusst, hätte ich dieses Haus, diese Straße, ja die ganze Gegend gemieden.

Er sah aus, als käme er frisch vom Sommertraining, der Schweiß durchnässte die Ränder seines Haaransatzes und ließ sein graues NBU-Football-Shirt an seiner Brust kleben. Seine Haare hatten eine jungenhafte Länge, waren unordentlich und standen dort, wo sie nicht an seiner Stirn klebten, auf tausend verschiedene Arten ab. Seine haselnussbraunen Augen und seine warme braune Haut waren zu viel für die meisten, die sich zu Männern hingezogen fühlten, um ihnen zu widerstehen, und wenn man das mit einem Körper kombinierte, der durch jahrelanges Footballtraining geformt worden war, war das leider eine unwiderstehliche Kombination.

Ich dachte immer, ich würde ihn lieben.

Aber das war, bevor ich ihn hasste.

Er verschränkte die Arme vor seiner muskulösen Brust, und da bemerkte ich, dass er die Ärmel seines Hemdes abgerissen hatte, sodass sein oberer äußerer Brustkorb und jeder Zentimeter seiner Arme zu sehen war. Ich blickte nur kurz auf seinen prallen Bizeps, bevor ich spöttisch mit den Augen rollte.

»Nichts, was dich betrifft.«

»Als dein Nachbar bin ich anderer Meinung.«

»Ist das Ihr Freund?«, fragte der Mann mit dem Klemmbrett und deutete auf Leo. »Ich kann es ihm erklären, wenn Sie möchten.«

Ich knirschte mit den Zähnen bei der Unterstellung, dass ich zum einen jemals mit einem starrköpfigen Arschloch wie Leo Hernandez ausgehen würde und zum anderen als Frau einen Mann bräuchte, dem der Bauunternehmer die Sache mit den Rohren erklären konnte, damit ich es richtig verstand.

»Er ist niemand«, brummte ich und drehte mich so, dass Leo aus dem Kreis, der sich irgendwie gebildet hatte, herausgeschnitten wurde. »Ich werde mit Margie über die nächsten Schritte sprechen. Ich danke Ihnen für Ihre Zeit.«

Der Mann sah ein paar Mal zwischen mir und Leo hin und her, bevor er mit den Schultern zuckte, dann riss er eine Kopie der Beurteilung von seinem Klemmbrett ab und reichte sie mir. »Ich empfehle Ihnen alles, was Ihnen wichtig ist, da rauszuholen.«

»Richtig«, sagte ich und ärgerte mich erneut darüber, dass er es überhaupt für nötig hielt, das zu sagen, als ob es nicht selbstverständlich wäre.

Er ging zusammen mit der kleinen Mannschaft, die er mitgebracht hatte.

Leo stand jedoch immer noch hinter mir, als der Lkw wegfuhr. »Ist ein Rohr geplatzt oder so?«

»Hau ab«, sagte ich knapp, bevor ich mich auf den Weg zum Haus machte.

Er war mir auf den Fersen. »Das klingt ziemlich ernst.«

Ich ignorierte ihn, öffnete die Haustür und versuchte, sie ihm vor der Nase zuzuschlagen. Aber er fing sie auf, tauchte seinen Kopf hindurch und pfiff bei dem, was er sah.

Es war ein verdammtes Chaos.

Nicht nur ein Rohr war geplatzt. Es war, als hätte eines den Geist aufgegeben und der Rest der Rohre beschlossen, dass sie auch müde waren, also warfen sie das Handtuch und schlossen sich dem ersten an. In der Decke war ein riesiges Loch, das Wasser hatte sie zum Einsturz gebracht, und wenn das alles gewesen wäre, hätte ich vielleicht bleiben können. Aber das ganze System war kaputt. Überall waren Wasser und Schutt und ich starrte einfach nur mit Leo an meiner Seite auf das Ganze.

»Du kannst hier nicht bleiben«, sagte er und begutachtete den Schaden mit zusammengezogenen Brauen. Sein dunkles, unordentliches Haar war immer noch halb an die Stirn geklebt, seine Lippen waren von der Sonne etwas rissig, als er sich umsah. Wie ich Schweiß und Sonnenschäden bei ihm so anziehend finden konnte, war mir ein Rätsel und ich verbuchte es als einen weiteren Grund, ihn zu hassen.

Und ich hatte schon genug.

»Wow, wo wäre ich nur ohne dich, der mich auf das Offensichtliche hinweist?«

Er schüttelte den Kopf. »Kannst du irgendwo hin? Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit oder so?«

Ich stieß ein verärgertes Geräusch aus und ging hinein, ohne mich darum zu kümmern, dass er immer noch in meiner Tür stand. »Mein Auto hat kein Problem, du Idiot. Und mir geht es gut. Du kannst jetzt gehen. Danke für die nachbarschaftliche Anteilnahme.«

Ich schoss jedes Wort wie Kugeln aus einer Gewehrkammer, überblickte das Haus und versuchte zu entscheiden, wo ich anfangen sollte, was ich wegschaffen musste und was möglicherweise zurückbleiben konnte. Die Tatsache, dass ich nichts davon wegschaffen konnte, war ein Problem, um das ich mich kümmern würde, sobald Leo mir aus dem Weg ging.

»Du kannst bei uns bleiben.«

Ich lachte – und das war kein amüsiertes Lachen, sondern eines, das von bitterer Wut und Verbitterung durchzogen war.

»Ich meine es ernst«, sagte Leo, schob sich hinein und wich vorsichtig der eingestürzten Decke aus. »Du müsstest nicht einmal Miete zahlen. Holdens Zimmer ist jetzt frei, seit er und Julep nach Charlotte gezogen sind.«

Ich drehte mich auf den Fersen. »Du erwartest wirklich, dass ich mit dir und zwei anderen Footballspielern zusammenziehe?«

Er zuckte mit den Schultern, ein freches Grinsen umspielte seine Lippen. »Ich erwarte, dass du nicht so viele Möglichkeiten hast, wie du vorgibst.«

Ich klappte meinen Mund zu und mein Kiefer schmerzte, weil ich die Zähne zusammenbiss. Er hatte recht. Ich hatte keine andere Wahl, als ein paar Nächte in einem Hotel zu verbringen und zu versuchen, eine billige Zwischenunterkunft auf Craigslist zu finden. Und selbst diese Optionen bedeuteten, dass ich nur begrenzte Mittel für Dinge wie Essen und Benzin zur Verfügung haben würde, wenn es so weit war. Ich habe versucht, etwas zusparen, aber als Studentin und Verkäuferin hatte ich nicht viel, um über die Runden zu kommen, geschweige denn, um etwas für schlechte Zeiten zurückzulegen.

Ich glaubte nicht, dass Margie mir Miete berechnen würde, während sie die Wohnung reparieren ließ, aber ich glaubte auch nicht, dass sie mich aus dem Mietvertrag, den ich gerade neu unterschrieben hatte, komplett herauslassen würde.

Und selbst wenn, konnte ich nirgendwo hingehen. Und da der Herbst vor der Tür stand, würde ich gegen den Ansturm der NBU-Studenten ankämpfen müssen, die ebenfalls einen Platz suchten. Mit diesem Albtraum hatte ich schon oft zu tun gehabt. Der Gedanke daran, ihn jetzt wieder erleben zu müssen, brachte mich fast dazu, mich auf den Boden zu werfen und zu weinen.