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Früher betrachtete ich meine Hände mit Stolz. Jetzt kann ich nur noch denken: Das sind die Hände, die meine Mutter begraben haben. Ning hat nur ein Ziel: Sie muss das Leben ihrer kleinen Schwester retten, denn nach dem Tod ihrer Mutter könnte sie nicht noch einen Verlust ertragen. Und so nimmt sie die Einladung zum Wettkampf der mächtigsten Tee-Magier des Reiches an, obwohl sie gar nicht für sie bestimmt ist. Denn wer diesen Wettkampf gewinnt, hat einen Wunsch frei. Ning reist in die kaiserliche Stadt, deren Reichtum und Extravaganz ein Schock für sie sind, und betritt eine völlig neue Welt. Hier ist sie umgeben von Feinden, jede Runde ist ein Kampf auf Leben und Tod, und nichts als ein paar getrocknete Kräuter sind Nings Waffe. Nur ein Fremder scheint in ihr mehr zu sehen als sie selbst. Wird er ihr helfen, den Wettkampf zu gewinnen, oder ist er für sie die größte Gefahr? »Golden Key« enthüllt die dunkelsten Geheimnisse. »Silver Needle« kann die Wahrheit von der Lüge trennen. »Hidden Autum« erlaubt dir, deine verborgene innere Stärke zu entfalten. Ning ist nur ein ganz normales Mädchen, ein Lehrling in der Kunst der Tee-Magie - Wie kann sie den größten magischen Wettkampf des Reiches gewinnen? Judy I Lin braut ihren Leser*innen in diesem Zweiteiler eine berauschende Mischung aus chinesischer Mythologie und Fantasy mit einer kräftigen Prise Wettkampf um Leben, Liebe und Tod. Die Lektüre ist ein Fest für die Sinne, der zweite Band heißt »A Venom Dark and Sweet - Was wir verloren haben«. - USA Today-Bestseller - Publishers Weekly Bestseller - Indie-Bestseller - Indies Next Pick - PEOPLE »Eines der besten Bücher des Sommers 2022«"Herzzerreißend schön geschrieben, vom Setting bis zum Magie-System, wird A Magic Steeped in Poison sowohl Fantasy- als auch C-Drama-Fans verzaubern. Ich werde alles inhalieren, was Judy I. Lin als Nächstes ausbrütet." - Joan He, New York Times-Bestsellerautorin von »The Ones We're Meant to Find« "Nings unvergessliche Stimme und die üppigen, atmosphärischen Schauplätze werden die Leser*innen in dieser hochspannenden Geschichte über tödliche Magie verzaubern. Lin mixt chinesische Mythologie mit einem romantischen Krimi. Das perfekte Rezept für epische Fantasy." -Booklist
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Seitenzahl: 510
Judy I. Lin
Was uns verwundbar macht
Früher betrachtete ich meine Hände mit Stolz. Jetzt kann ich nur noch denken: Das sind die Hände, die meine Mutter begraben haben.
Ning hat nur ein Ziel: Sie muss das Leben ihrer kleinen Schwester retten, denn nach dem Tod ihrer Mutter könnte sie nicht noch einen Verlust ertragen. Und so nimmt sie die Einladung zum Wettkampf der mächtigsten Tee-Magier des Reiches an, obwohl sie gar nicht für sie bestimmt ist. Denn wer diesen Wettkampf gewinnt, hat einen Wunsch frei.
Alle Bände der Tee-Magie-Dilogie:
Band 1: A Magic Steeped in Poison
Band 2: A Venom Dark and Sweet (erscheint im Herbst 2023)
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch
Judy I. Lin wurde in Taiwan geboren und wanderte als junges Mädchen mit ihrer Familie nach Kanada aus, wo sie noch heute mit ihrem Mann und ihren Töchtern lebt. Tagsüber arbeitet sie als Ergotherapeutin und nachts denkt sie sich Geschichten aus, die von den Legenden und Mythen inspiriert sind, mit denen sie aufgewachsen ist.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de
[Widmung]
[Anmerkung der Autorin]
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Danksagung
Wichtige Begriffe
Personen
Orte
Chinesische Medizin
Für Lyra.
Du bist der Anfang von allem.
Anmerkung der Autorin
Die in diesem Buch verwendeten chinesischen Heilmittel sind sowohl modernen als auch historischen Texten der traditionellen chinesischen Medizin entlehnt. Für die Geschichte habe ich mir Freiheiten im Umgang mit den Inhaltsstoffen erlaubt, und es gibt keine Verbindung zur traditionellen chinesischen Medizin, wie sie heutzutage praktiziert wird.
Die philosophische Frage (人之初, rén zhī chū) bildet den Anfang von »Three Character Classic« (三字經), einem klassischen chinesischen Text aus der Song-Dynastie. Die Antwort in der aktuellen »Three Character Classic« lautet, dass Menschen grundsätzlich gut zur Welt kommen. Im Reich Dàxī steht dies aber in Frage.
Die Sätze aus Shus Stickerei stammen vom Dichter Jia Dao (779–843), einem Tang-Dynastie-Poeten. Das vollständige Gedicht lautet wie folgt:
海底有明月, Heller Mond im Meer gespiegelt
圓於天上輪。 rund wie das Himmelsrad.
得之一寸光, Fang das wenige Licht
可買千里春。 und mach daraus ewigen Frühling.
Man sagt, wahre Shénnóng-shī könne man an ihren Händen erkennen – an den vom Schmutz der Erde verfärbten Handflächen, den von Dornen vernarbten Fingerspitzen, an den von einer bleibenden Kruste aus Erde und Blut gebräunten Halbmonden der Nägel.
Früher habe ich meine Hände immer mit Stolz betrachtet.
Jetzt kann ich nur noch denken: Diese Hände haben meine Mutter begraben.
Unser Haus ist dämmerig und still. Wie eine Diebin bewege ich mich durch die Zimmer, durchwühle Kisten und Schubladen, betaste Dinge, die mein Vater versteckt hält, damit sie ihn nicht an seinen Schmerz erinnern. Ich schlängele mich zwischen Stühlen und Körben, Trockengestellen und Tonkrügen hindurch, meine Schritte sind sacht. Gedämpft kann ich Shu durch die Wände husten und sich in ihrem Bett herumwerfen hören. In den letzten Tagen ist es schlimmer geworden mit ihr.
Bald wird das Gift sie besiegen, wie es schon unsere Mutter besiegt hat.
Deshalb muss ich noch heute Nacht fort, bevor mein Vater versucht, mich aufzuhalten, und bevor Schuld und Angst mich hier fesseln. Bevor es zu spät ist. Ich berühre die Schriftrolle in den Falten meiner Tunika, um mich zu vergewissern, dass sie noch da ist.
Im hinteren Teil des Vorratsraums finde ich, wonach ich gesucht habe: die Shénnóng-shī-Truhe meiner Mutter, in einem Eckschrank vor Blicken geschützt. Ich öffne sie, und mit einem Seufzer schlüpfen Erinnerungen unter dem Deckel hervor, als hätten sie dort, in der nach Tee duftenden Dunkelheit, auf mich gewartet. Ich fahre mit den Fingern über jede Kerbe im Holz, berühre jedes Fach und erinnere mich, wie wir die Namen der hier aufbewahrten Dinge immer und immer wieder aufsagten. Diese Truhe ist eine Landkarte meiner Mutter, ihrer Lehre, ihrer Geschichten, ihrer Magie.
Doch der Anblick bringt auch andere Erinnerungen zurück.
Eine zerbrochene Tasse. Ein dunkler Fleck auf dem Boden.
Schnell schließe ich den Deckel.
Hinten im Schrank finde ich weitere Tongefäße, akkurat von meiner Mutter beschriftet. Als ich das Gefäß mit den Teeblättern des vergangenen Sommers öffne, zittern meine Hände leicht. Die letzte Ernte, bei der ich ihr half: wie wir die Gartenwege entlanglaufen, die Blätter von den bereitwilligen Zweigen pflücken.
Während ich den Geruch der gerösteten Blätter einatme, verwandelt sich das Aroma auf meiner Zunge in etwas Bitteres. Ich erinnere mich, wie meine letzten Versuche, die Magie zu beherrschen, zu Tränen und Scheitern führten und wie ich mir schwor, diese Utensilien nie wieder zu berühren. Aber das war, bevor die Schriftrolle auf unserer Türschwelle auftauchte. Scheitern kommt jetzt nicht mehr in Frage.
Leute, die es nicht besser wissen, reduzieren die Shénnóng-shī oft auf die Rolle eines begabten Entertainers, der zu nicht mehr in der Lage ist, als ein gewöhnliches Getränk kunstvoll einzuschenken und darzubieten.
Ausgebildete Shénnóng-shī sind natürlich in diesen Grundlagen bewandert – die geeigneten Teesorten zu unterschiedlichen Anlässen zu finden, die korrekte Form der jeweils passenden Tasse auszuwählen. Doch wahre Meister der Shénnóng-Magie haben einzigartige Begabungen. Einige brühen Tees, um Gefühle zu erwecken – Leidenschaft, Hoffnung, Liebe. Andere können den Körper stärker machen oder den Trinkenden dazu bringen, sich an etwas längst verloren Geglaubtes zu erinnern. Sie durchbrechen die Grenzen des Körperlichen und treten direkt mit der Seele in Verbindung.
Ich nutze das flackernde Licht der Feuerschale als Wegweiser und ziehe das Tablett mit den dazugehörigen Schalen hervor, dazu eine Kanne zum Aufbrühen des Tees, eine zum Ruhenlassen. Über das Geräusch des blubbernden Wassers hinweg höre ich ein Ächzen im Nebenraum. Ich erstarre, fürchte den langen, dunklen Schatten an der Wand und den Zorn meines Vaters.
Doch es ist nur Vaters grollendes Schnarchen. Ich atme aus und wende mich wieder meinen Utensilien zu. Mit der Holzzange greife ich den zu Kugeln gepressten Tee und gebe ihn in die Kanne. Dann lasse ich mit einer vorsichtigen Drehung des Handgelenks das heiße Wasser über die Blätter fließen. Sie entrollen sich zögerlich, geben nach und nach ihre Geheimnisse preis.
Die größten Shénnóng-shī können im wabernden Dampf über einer frisch aufgebrühten Tasse Tee sehen, was die Zukunft bringt. Mutter brühte einmal fu pen zi – die getrockneten Blätter des Himbeerbusches – für eine Schwangere im Dorf. Der Dampf erhob sich blau in der Morgenluft und nahm die Form von vier glänzenden Nadeln an. Daraus las sie ab, dass das Kind tot geboren werden würde. Und sie hatte recht.
Ich höre ihre Stimme, während sich die Blätter weiter im Wasser entfalten. Wie sie uns immer wieder erzählte, der Abendnebel folge den weißen Flügelspitzen der Bergwächterin, der Göttin, die sich in der Dämmerung in einen Vogel verwandelt. Sie ist die Herrin des Südens, die ein einzelnes Blatt aus ihrem Schnabel in die Tasse des Ersten Kaisers fallen ließ und damit den Menschen den Teegenuss schenkte.
Als ich klein war, liefen Shu und ich hinter unseren Eltern durch die Gärten und die Obstplantagen, mit Körben an unseren Hüften. Oft glaubte ich, das Streifen dieser Flügelspitzen auf meiner Haut zu spüren. Manchmal blieben wir stehen, um der Göttin zu lauschen, und sie führte uns zu einem Nest voll junger zwitschernder Vögel oder warnte uns vor heftigen Regenfällen, die die Wurzeln der Bäume verfaulen lassen konnten, wenn wir das Land nicht gewissenhaft umgruben.
Ich gieße die goldene Flüssigkeit aus der Kanne zum Aufbrühen in die Kanne zum Ruhenlassen. Mutter erlaubte uns nicht, die sehr, sehr alten Gebräuche zu vergessen, Gebräuche aus der Zeit, bevor die Clans besiegt wurden, vor dem Aufstieg und dem Fall der Reiche. Sie steckten in jeder Tasse Tee, die sie aufbrühte – ein mit Erfurcht ausgeführtes Ritual. Sie steckten in der Art, wie sie jede noch so kleine Komponente kannte, die ihren Tee ausmachte: den Ursprung des Wassers, das Aroma des Holzes, mit dem das Feuer geschürt, der Kessel, in dem das Wasser erhitzt wurde. Bis hin zu den von ihren Fingern gepflückten Blättern, aufgegossen in einer von ihren Händen geformten und in ihrem eigenen Ofen gebrannten Tasse. Zu Flüssigkeit destilliert, zwischen beiden Handflächen gehalten, dargeboten als Geschenk.
Hier bin ich. Trink und werde gesund.
Ich beuge mich vor und atme den süßen Duft von Äpfeln ein. Ich höre das schläfrige Summen von Bienen inmitten der Wildblumen. Ein Gefühl von Geborgenheit umfängt mich, hüllt mich warm ein. Meine Augenlider werden schwer, doch der Moment zersplittert, als ich aus den Augenwinkeln etwas vorbeihuschen sehe.
Mein Körper kribbelt alarmiert.
Das Flattern schwarzer Flügel zu meiner Rechten. Eine Krähe, die durch die rauchige Dunkelheit gleitet, bevor sie wieder verschwindet.
Es dauert ein Leben lang, um den Tee lesen zu können wie einer der großen Meister. Vor einem Jahr wurde entschieden, dass ich stattdessen den Beruf der Ärztin erlerne. Weil meine Schwester den Anblick von Blut nicht ertragen kann und weil mein Vater ein weiteres Paar zuverlässiger Hände braucht.
Der Zweifel kriecht über meine Haut, als meine Finger erneut die Schriftrolle umklammern. Eine Einladung, die für jemand anderen bestimmt war – die wahre Schülerin meiner Mutter.
Aber Mutter ist tot. Und nur eine von uns hat jetzt genug Kraft für eine Reise.
Ich zwinge mich, mich zu konzentrieren. Tief einatmen, loslassen. Der Dampf wabert im Strom meines Ausatmens.
Keine neuen Visionen.
Ich gieße ein Rinnsal Tee in eine kleine Trinkschale um, ein winziger Schluck. Das Getränk rinnt meine Kehle hinab mit dem Honiggeschmack der Zuversicht, dem Versprechen, dass der Sommer ewig dauern wird.
Hell und stark brennt Mut in meiner Brust auf, heiß wie ein von der Sonne erhitzter Flussfelsen. Selbstvertrauen breitet sich in mir aus. Meine Schultern straffen sich, und ich finde mein inneres Gleichgewicht. Ich fühle mich wie eine Katze, die zum Sprung bereit ist. Die Anspannung in meiner Magengrube löst sich ein wenig. Die Magie ist noch da. Die Götter haben sie mir nicht genommen, trotz meines Fehlers.
Das Geräusch heftigen Hustens unterbricht meine Konzentration. Versehentlich stoße ich eine der Kannen um, und der Tee ergießt sich über das Tablett. Ich laufe ins Nebenzimmer.
Meine Schwester versucht, sich mit zitternden Armen aufzurichten, der Husten schüttelt ihre magere Gestalt. Sie tastet nach der Schüssel, die wir neben ihrem Bett bereitgestellt haben, und ich reiche sie ihr. Blut spritzt gegen das Holz, viel zu viel davon, wieder und wieder. Nach einer Ewigkeit ebben die Wogen endlich ab, und sie lehnt sich zitternd gegen mich.
»Kalt«, flüstert sie.
Ich klettere neben sie ins Bett und ziehe die Decken um uns. Sie klammert sich an meine Tunika und holt rasselnd Luft. Bis ihre Atmung sich beruhigt hat, halte ich sie fest, und die angestrengten Linien um ihren Mund glätten sich wieder.
Wir haben wirklich alles versucht, Vater und ich, um Shu ohne Mutters Hilfe zu behandeln. Ich, in dem mühseligen Versuch, mich an die Lektionen meiner Kindheit zu erinnern, und mein Vater, ein geschulter Arzt, ausgebildet an der kaiserlichen Akademie. Er weiß, wie man Knochen richtet und Schnittwunden heilt, wie man äußerliche Gebrechen behandelt. Doch obwohl er auch mit einigen Methoden der inneren Medizin vertraut ist, nahm er sich bei komplexeren Problemen stets zurück und ließ meiner Mutter den Vortritt. Ihre Partnerschaft funktionierte auch deshalb so gut.
Mein Vater hat jeden Funken seines Wissens angewendet, sogar seinen Stolz hat er heruntergeschluckt und einen Brief an die Akademie geschickt. Alle möglichen Gegenmittel, die ihm zur Verfügung standen, hat er ausprobiert.
Aber ich kenne die dunkle Wahrheit, um die wir kreisen.
Meine Schwester stirbt.
Die Essenzen und Tinkturen wirken wie ein Damm, der das Gift in Schach hält, aber eines Tages wird er brechen, und wir können nichts dagegen tun.
Und ich bin diejenige, die schuld daran wäre.
In der Dunkelheit ringe ich mit meinen Gedanken und mit meiner Sorge. Ich will Shu nicht allein lassen, aber es gibt keinen anderen Weg. In der Schriftrolle liegt die Rettung. Überbracht von einer kaiserlichen Prozession an alle Shénnóng-shī in Dàxī. Shu war als Einzige zu Hause, als wir sie erhielten. Ich war mit Vater im Dorf, um einen seiner Patienten zu pflegen.
Später an jenem Abend, in der Zurückgezogenheit unseres Schlafzimmers, entrollte sie sie. Das Material schimmerte, es war von Goldfäden durchzogen, und auf der Rückseite schlängelte sich der Drache. Die Stickerei war so fein, dass es aussah, als könne er jederzeit zum Leben erwachen und um uns herumtanzen, Flammen im Windschatten.
»Das kam heute für uns an«, sagte sie in einer kaum je an meiner sanftmütigen Schwester gesehenen Heftigkeit zu mir. »Ein kaiserliches Geleit mit einem Erlass der Prinzessin.«
Die Worte, die ich fast auswendig gelernt habe:
Auf Erlass des Reiches lädt Prinzessin Li Ying-Zhen Euch ein zu einem Wettbewerb, mit dem wir die Kaiserinwitwe feiern und ihrer gedenken wollen. Alle Shénnóng-tú des Reiches sind zur Teilnahme an diesem Wettkampf eingeladen. Der erste Platz wird mit der Position der oder des zukünftigen Hof-Shénnóng-shī belohnt und ihr oder ihm wird von der Prinzessin höchstselbst eine Gunst gewährt.
Die Worte klingen in mir, hallen lange nach.
In dieser Generation wurde noch kein Shénnóng-shī am Hof zugelassen, und diejenige zu sein, die auserwählt wird, wäre die höchste Ehre. Ich würde ohne den Umweg über die sonst nötigen Prüfungen als Meisterin unserer Kunst anerkannt. Reichtümer würden meiner Familie zuteil, in unserer Provinz würde man mich feiern. Doch am meisten lockt mich die Hoffnung auf die in der Einladung erwähnte Gunst. Ich könnte erbitten, dass meine Schwester von den besten Ärzten des Reiches behandelt würde, von Ärzten, die schon den Puls des Kaisers persönlich gelesen haben.
Jetzt schaue ich auf meine Schwester hinunter, die fest neben mir schläft, und es schnürt mir die Kehle zu. Wenn ich das Gift aus ihrem Körper herausholen könnte, ich täte es mit Freuden, und wenn ich es selbst schlucken müsste. Alles würde ich tun, um ihre Qualen zu lindern.
Ich habe diese schicksalhafte Tasse Tee für Mutter und für Shu gebraut – aus dem Teeziegel, der wie gewöhnlich an alle Untertanen des Kaisers zum Mittherbstfest verteilt worden war. Während das kochend heiße Wasser in das Stück drang, das ich vom Ziegel abgeschnitten hatte, glaubte ich einen Moment lang, eine sich in der Luft windende Schlange zu sehen – weiß und schimmernd. Als ich den Dampf fortfächelte, verschwand sie.
Ich hätte es nicht abtun dürfen, hätte es einfach besser wissen müssen.
Es dauerte nicht lang, und die Lippen meiner Mutter färbten sich schwarz. Die Schlange war ein Omen gewesen, eine Warnung der Göttin. Ich hatte nicht hingehört. Und obwohl Mutter unermessliche Schmerzen gehabt haben muss, obschon das Gift ihren Körper zerriss, bereitete sie eine Essenz zu, die meine Schwester zum Erbrechen zwang und ihr somit das Leben rettete.
Zumindest bis jetzt.
Ich klettere aus dem Bett und achte darauf, Shu nicht zu wecken. Den Rest meiner Habseligkeiten zu packen dauert nicht lange. Die Kleider stopfe ich in einen Sack, zusammen mit dem einzig Wertvollen, das ich besitze: eine Halskette, die ich zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt bekam. Ich werde sie verkaufen, um ein paar Münzen für die Reise in die Hauptstadt zu verdienen.
»Ning!« Shus Flüstern durchschneidet die Nacht.
Ich glaube, sie hat überhaupt nicht geschlafen. Das Herz tut mir bei ihrem Anblick weh, ihr Gesicht ist weiß wie Milch. Sie sieht aus wie ein ungezähmtes Wesen aus einer von Mutters Geschichten – wild glänzende Augen, ein Wirrwarr von Haaren um ihren Kopf, ein Reh in menschlicher Haut.
Ich knie mich neben sie, und ihre Hände legen etwas Kleines, in Stoff Gewickeltes in meine. Das spitze Ende einer Nadel sticht in meine Handfläche. Ich wickele ihr Taschentuch auf und hebe das, was darin ist, gegen das Mondlicht. Es ist eine mit Edelsteinen besetzte Haarnadel. Sie stammt von einem Patienten meiner Mutter, der sie ihr aus Dankbarkeit überließ, eine kostbare Erinnerung an die Hauptstadt. Diesen Schatz hatte sie für Shu vorgesehen, so wie sie die Halskette für mich bestimmt hatte.
»Nimm das mit«, sagt meine Schwester, »damit du dich im Palast schön fühlen kannst. So schön, wie sie es war.«
Ich öffne den Mund, um zu sprechen, doch mit einem Kopfschütteln erstickt sie meinen Protest.
»Heute Nacht noch musst du gehen.« Ihre Stimme nimmt einen ernsten Ton an, und es klingt, als sei sie die ältere und ich die jüngere Schwester. »Und stopf dich dort nicht mit zu viel Kastanienkuchen voll.«
Ich lache zu laut, schlucke und halte im selben Atemzug die Tränen nur mühsam zurück. Was, wenn ich zurückkehre und sie nicht mehr da ist?
»Ich glaube an dich«, presst sie mit derselben Heftigkeit hervor wie letzte Nacht, als sie mir sagte, dass ich in die Hauptstadt reisen und sie hier zurücklassen solle. »Ich werde Vater am Morgen erzählen, dass du unsere Tante besuchst. Das gibt dir einen Vorsprung, bis er merkt, dass du weg bist.«
Ich drücke ihre Hand ganz fest, unsicher, ob ich sprechen kann. Unsicher, was ich überhaupt sagen soll.
»Und lass dich im Dunkeln nicht vom Verbannten Prinzen fangen«, flüstert sie.
Ein Kindermärchen, eine Gutenachtgeschichte, mit der wir alle aufgewachsen sind. Der Verbannte Prinz und seine Insel voller Schurken und Banditen. Was sie eigentlich sagen will, ist: Pass auf dich auf.
Ich drücke meine Lippen auf die Stirn meiner Schwester und schlüpfe aus der Tür.
Mit dem Mut-Tee, der noch immer durch meinen Körper fließt, bewege ich mich rascher als sonst durch die neblige Nacht. Als blasse Scheibe erhellt der Mond meinen Weg und führt mich zur Hauptstraße.
Mutter erzählte gern, dass eine wunderschöne Frau auf dem Mond lebt, entführt von ihrem Ehemann, einem Gott, der ihre irdische Schönheit begehrte. Er baute ihr einen Kristallpalast und gab ihr zur Gesellschaft ein Kaninchen, in der Hoffnung, dass die Einsamkeit sie dazu bringen würde, sich nach seiner Anwesenheit zu sehnen. Doch sie war klug und stahl die Essenz der Unsterblichkeit, die er für sich selbst gebraut hatte. Die Götter boten ihr einen Platz in ihren Reihen an, sie aber entschied sich dafür, in ihrem Palast zu bleiben, an dessen Stille sie sich gewöhnt hatte.
Sie ernannten sie zur Mondgöttin und gaben ihr den Namen Ning –, das bedeutet Stille.
Ich erinnere mich noch an Mutters weiche Stimme, die mir Geschichten erzählte, während sie mein Haar streichelte. Das Gefühl der Liebe, das mich umhüllte, als sie mir die Herkunft meines Namens erklärte.
Ihre Stimme lenkt meine Schritte zu einem schmalen Hain aus Pomelobäumen am Rand unserer Obstplantagen. Dort angekommen, berühre ich die wachsartigen Blätter. Diese Bäume wurden von meiner Mutter mühevoll aus Samen gezogen. Als sie endlich blühten und Früchte trugen, nahm sie Shu und mich mit und wirbelte uns umher, ihre Freude schloss uns ein und brachte uns zum Lachen. Sie liegt hier begraben, zwischen den Bäumen.
Ich bemerke einen weißen Schimmer unter den grünen Knospen, und mir stockt der Atem. Die erste Knospe des Jahres, kurz vor dem Aufbrechen.
Ihre Lieblingsblüte. Ein Zeichen dafür, dass ihre Seele noch immer hier ist und über uns wacht.
Plötzlich kommt Wind auf und lässt die Blätter rascheln. Sie wehen an mein Haar, als spürten sie meine Traurigkeit und wollten mir Trost spenden. Ich streiche mit dem Daumen über die Kette, die ich um den Hals trage – über die Erhebungen und Rillen des Symbols für Ewigkeit, für kosmisches Gleichgewicht. Drei Seelen, die jeder Mensch in sich trägt, trennen sich vom Körper, wenn wir sterben. Eine kehrt zur Erde zurück, eine in die Luft, und die letzte steigt in das Rad des Lebens hinab. Ich presse meine Lippen an die harte, glatte Perle in der Mitte des Symbols.
Trauer hat einen Geschmack, bitter und schwelend, doch so sanft, dass sie manchmal als etwas Süßes erscheint.
Mutter, hier vermisse ich dich am meisten.
Flüsternd verspreche ich ihr, mit einem Heilmittel für Shus Krankheit zurückzukehren.
Ich verschränke die Hände über dem Herzen und verbeuge mich –, ein Versprechen gegenüber den Toten und den Lebenden, dann lasse ich das Haus meiner Kindheit hinter mir.
Ich erreiche die Hauptstraße, die mich in die Nähe des schlafenden Dorfes führt. Ich drehe mich nur einmal um und lasse den Blick über unsere Gärten gleiten, sanft eingehüllt von der Nacht. Sogar in der Dunkelheit kräuselt sich der Nebel um die Teebaumspitzen und dämpft ihre Farben. Verwandelt alles in einen See aus sich wiegendem Grün und Weiß.
Da höre ich etwas – ein merkwürdiges Rascheln, wie von einem Vogel. Ich rühre mich nicht. Etwas bewegt sich über das schiefergedeckte Dach eines nahen Gebäudes, dann den schrägen First hinab. Ich erkenne die Form der Dachsparren – es ist das Teelager am Rande der Stadt. Ich halte den Atem an, lausche. Das ist kein Vogel. Es ist das Geräusch von Schuhen, die über die Dächer gleiten.
Ein Schatten fällt auf die Erde vor mir, er duckt sich verstohlen. Ein Eindringling.
Es gibt wirklich keinen Grund, um das Warenlager des Gouverneurs herumzuschleichen. Es sei denn, man will von vier Pferden in Stücke gerissen werden. Es sei denn … man ist so stark wie drei Männer zusammen, kann mit einem einzigen Satz auf das Dach eines Gebäudes springen und sich mit einem durch eine ganze Horde von Soldaten fliegenden Schwert einen Ausweg bahnen.
Der Schatten.
Die Leute warnen einander immer wieder vor dem Schatten – er wird mit den Teevergiftungen im ganzen Reich in Verbindung gebracht. Es ist bekannt, dass Banditen an den Grenzen von Dàxī lauern, Karawanen ausrauben und jedem Gewalt antun, der ihnen in die Quere kommt. Doch es gibt einen Banditen, der nicht auf der Liste der Bandenmitglieder steht, die dem Justizministerium bekannt sind. Ein Gesetzloser, dem es gelingt, verborgene Schätze zu finden und Geheimnisse zu lüften, und der dabei über Leichen geht.
Der Flügelschlag der Krähe, den ich vorhin im Dampf über der Teetasse sah … er war also ein Omen.
Etwas fliegt an meinem Kopf vorbei und fällt mit einem dumpfen Aufprall vor meine Füße. Ein Fluchen ertönt über mir, und die Schritte beschleunigen sich, hasten davon. Das Fluchen ist es, das mein Interesse weckt: Wenn es der berühmte Schatten wäre, dann klingt er unheimlich menschlich. Die Neugierde siegt über mein Misstrauen, und das sehr schnell – Funke, Flamme.
Ich hebe das Ding auf, das heruntergefallen ist. Meine Nägel durchstoßen das dünne Papier, in das es gewickelt ist. Darunter fühle ich etwas Vertrautes – feine Fasern, zu einem festen Block gepresst, der einen erdigen Geruch verströmt. Ein Teeziegel. Ich drehe das Paket um, und das rote Wachssiegel springt mir warnend ins Auge.
Der Gouverneur hatte uns versprochen, dass alle vergifteten Ziegel beschlagnahmt und für die Vernichtung gekennzeichnet worden seien.
Ich folge dem Geräusch der Schritte auf dem Dach. Das Grauen in meinem Magen wächst mit jedem Schritt und verwandelt sich schließlich in Zorn. Zorn über den Tod meiner Mutter, über Shus anhaltendes Leid.
Ich rolle meine Schultern nach hinten, und ein Knurren steigt in meiner Kehle auf, während die Kraft des Tees durch meinen Körper strömt und mich kühner macht, als ich bin. Ich befreie mich von meinem Gepäck und lehne es an die Außenseite des Warenlagers. Den Teeziegel zerdrücke ich in meinen Händen. Die Stücke zerfallen zu Staub und hinterlassen eine Spur hinter mir, während ich anfange zu rennen. Die Wut fühlt sich gut an. Sie fühlt sich echt an, eine willkommene Abwechslung zu meiner üblichen Hilflosigkeit. Mein Geist konzentriert sich auf einen einzigen winzigen Punkt: Er darf nicht mit dem Gift entkommen. Denn das würde bedeuten, dass vielleicht noch ein Mädchen seine Mutter begraben muss.
Ich fliege förmlich um die Ecke und verzichte auf jede Tarnung. Nur Schnelligkeit ist es jetzt, die zählt.
Mein Blick erfasst den dunklen Schatten, der sich durch die Luft bewegt und dann genau vor mir landet, keine zwanzig Schritte entfernt. Er steht mit dem Rücken zu mir, und ich denke nicht nach. In zwei Atemzügen überwinde ich die Entfernung und werfe mich wie eine Furie auf ihn.
Der Schatten verliert die Balance, wir fallen zu Boden. Meine Hände greifen nach allem, was sie finden können, obwohl die Wucht des Aufpralls eine Welle von Schmerz durch meine Schulter schickt. Der Dieb bewegt sich, dreht sich unter meinem Griff. Ich stoße ihn mit meinem Ellbogen unter die Rippen, und er atmet zischend aus. Ein Griff, den ich von meinem Vater gelernt habe, als ich ihm dabei half, die Knochen von erwachsenen Männern wieder zusammenzusetzen.
Dumm nur, dass der Dieb keiner von Vaters Patienten ist, die in der Regel geschwächt sind von der Krankheit oder wahnsinnig vor Schmerzen.
Der Schatten reagiert prompt, greift nach meinem rechten Handgelenk und dreht es in eine Richtung, in die es nicht gehört. Ich heule auf und lasse los. Noch ehe ich mich versehe, steht er mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung wieder auf beiden Füßen, bevor ich mir auch nur die Haare aus dem Gesicht streichen kann.
Auch ich komme, weniger elegant, wieder auf die Beine, und wir schätzen einander ab. Der Mond scheint hell über unseren Köpfen, beleuchtet uns beide. Sein Körper ist schlank, er ist einen Kopf größer als ich. Die Dunkelheit verschleiert seine Gestalt, ein Wesen wie aus einem Albtraum – etwas aus Holz bedeckt die obere Hälfte des Gesichts. Hörner wölben sich aus schmalen wütenden Brauen hervor. Wie der Gott der Dämonen, der lästigen Geistern mit einem einzigen Hieb den Kopf abschlägt.
Eine Maske, die das Gesicht des Terrors verbirgt, der Dàxī verfolgt.
Der Schatten hebt einen Sack auf, der bei unserem Gerangel heruntergefallen ist, und bindet ihn mit einem Knoten an die Schulter. Sein Blick brennt durch die Maske hindurch, der Mund ein harter Strich.
Hinter mir wartet die Freiheit auf ihn, am Hafen, wo die Lagerarbeiter ihre Lieferungen entgegennehmen. Er könnte eines der Boote stehlen oder durch eine enge Gasse verschwinden. Der andere Weg führt zum Dorf, wo er mit größter Wahrscheinlichkeit von den Wächtern gefasst würde.
Er rennt auf mich zu, versucht, mich mit brutaler Gewalt beiseitezustoßen. Aber ich ducke mich, rolle zwischen seine Beine und versuche, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er weicht aus und drängt mich aus dem Weg, aber ich schnappe beim Vorübergehen nach dem Sack und bringe ihn damit ins Straucheln. Er wirbelt herum und tritt gegen mein Knie. Mein Bein knickt ein, und ich stürze auf meinen Arm, ein Schmerz schneidet durch meine linke Seite. Noch ein Tritt stößt mich in den Dreck. Dieser Dieb weiß ganz genau, wo er angreifen muss. Mit mir hat er leichtes Spiel.
Wieder versucht er zu entkommen, aber ich lasse mich auf den Bauch fallen, umklammere seine Beine und zwinge ihn dazu, mich hinter sich herzuschleifen. Auf keinen Fall darf er mit dem Gift entkommen. Ich hole tief Luft, um zu schreien, doch bevor auch nur ein Ton herauskommt, trifft ein Faustschlag meine Schläfe. Schmerz explodiert wie ein Feuerwerkskörper in meinem Kopf.
Taumelnd versuche ich, ihm zu folgen, aber ich bekomme einfach keine Luft mehr. Mein Blick wankt, die Gebäude wogen wie Bäume im Wind. Während ich mich an der Wand abstütze, schaue ich gerade noch rechtzeitig nach oben und sehe die dunkle Gestalt von ein paar gestapelten Fässern aus auf ein Häuserdach springen.
Der Dieb verschwindet in der Nacht, als wäre er nie hier gewesen. Nur das Blut, das zwischen meinen Haaren hervorsickert, und das Klingeln in meinen Ohren zeugen von ihm.
Hinkend und mit vor Schmerz pochendem Knöchel und Gesicht laufe ich, bis der Morgen am Horizont aufzudämmern beginnt und ein Bauer mich mit seinem Wagen überholt. Er mustert mich kurz und bietet mir einen Platz auf der Ladefläche an. Dort döse ich zwischen Säcken voller Hirse und Reis vor mich hin, eine quakende Ente leistet mir Gesellschaft. Die Ente bleibt empört, bis wir die Stadt Nánjiāng erreichen, die am Südufer des Jadeflusses liegt, mit dem Pferdewagen ein paar Stunden von Sù entfernt. Wäre ich gelaufen, hätte es mich fast den ganzen Tag gekostet.
Ich verkaufe meine Halskette in einem Pfandhaus, um die Fähre zur Hauptstadt zu bezahlen. Eine weitere Erinnerung an meine Mutter, die verloren ist. Doch erst, als ich am Nachmittag von einer Menschenmenge an Bord gedrängelt werde, durchfährt mich plötzlich eine schmerzliche Einsamkeit. In meinem Winkel der Provinz Sù kenne ich alle Dorfbewohner vom Sehen, die meisten sogar mit Namen, und sie kennen mich. Hier bin ich nun nicht mehr Dr. Zhangs eigenwillige Tochter. Es ist, als hätte ich das Gesicht einer anderen aufgesetzt.
Ich ziehe mich in den hinteren Teil der Fähre zurück, setze mich hin und drücke meine Habseligkeiten an mich. Um mich herum lachen die Leute laut und gesellen sich zueinander. Die Luft ist von der Musik fahrender Musikanten erfüllt, die für eine Münze aufspielen. Doch mir ist noch immer bang zumute, denn ich fürchte, dass Shus Lügen nicht funktioniert haben und ich entdeckt werden könnte, bevor die Fähre den Hafen verlässt.
Vaters unvermeidliche Missbilligung – ich spüre sie wie ein Gewicht um meinen Hals. Er hat mich nie verstanden, obwohl wir unter demselben Dach wohnten. Er hätte mir nie erlaubt, zum Wettkampf zu fahren, hätte Gründe dafür gefunden, mich von diesem dummen Unterfangen abzuhalten –, dass ich zu jung bin, um allein zu reisen, dass Shu zu krank ist, dass wir sie nicht in die Obhut von jemand anderem geben können und dass er aus Pflichtgefühl gegenüber seinen Patienten das Dorf nicht verlassen kann …
Direkt vor mir fängt ein Mädchen an zu tanzen, sie lenkt mich ab von meinen Sorgen. Die elegant ausholenden Bewegungen ihrer Arme werden begleitet vom süßen Klang ihrer Stimme, und die Menge beginnt entzückt zu klatschen, als sie »Das Lied des Bettlermädchens« erkennen.
Es ist eine Geschichte über das Trauern. Ein Waisenmädchen ohne Namen. Eine im Krieg verlorene Stadt. Sie geht durch die Straßen, hungernd und allein.
Die Gesichter meiner Mitreisenden sind ergriffen, während die Klänge der Musik sie umspielen. Die wiegenden Bewegungen der Tänzerin, das sanfte Schaukeln des Bootes, die Sehnsucht in ihren Worten, all das vermischt sich zu einem bitteren Geschmack in meiner Kehle.
Meine Schwester war schon immer die Warmherzige von uns, von Geburt an stets ein Lächeln auf den Lippen, während ich, kratzbürstig und zappelig, lieber zu Hause bei meinen Pflanzen blieb, als unter Menschen zu gehen. Die Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner duldeten mich, aber Shu liebten sie.
Von so viel Bewunderung umgeben, hätte sie mich leicht abhängen können, doch sie vergaß mich nie. Sie teilte mit mir, was man ihr gab, verteidigte mich gegen harsche Worte.
Jetzt ist es an mir, sie zu beschützen.
Ich lege den Kopf auf meine Arme. Die Stimme des Mädchens erhebt sich über die Menge: »Ich bin so weit weg von zu Hause …«
»Hier.«
Etwas wird mir in die Hand gedrückt. Ich schlage die Augen auf und sehe in das besorgte Gesicht einer Frau. Sie hält ein zufriedenes, in dicken Stoff gewickeltes Baby an sich gedrückt. Die großen, dunklen Augen der Frau sind freundlich.
»Dein Magen beruhigt sich vielleicht, wenn du etwas isst«, sagt sie.
Ich schaue an, was sie mir gegeben hat. Ein Stück getrocknetes Schweinefleisch, rot und fettig. Ich schnuppere daran, und der Geruch lässt mir sofort das Wasser im Munde zusammenlaufen. Zaghaft beiße ich hinein. Das Fleisch ist süß und salzig zugleich, von wunderbarer Konsistenz. Ich knabbere Bissen für Bissen, das lenkt mich von dem klagenden Lied ab und gibt mir etwas, auf das ich mich konzentrieren kann, bis sich mein Kopf wieder etwas klarer anfühlt.
»Danke schön«, murmele ich und wische das Fett am Ärmel meiner Tunika ab. »Es war köstlich.«
»Bist du zum ersten Mal auf der Fähre?«, fragt sie, während sie dem Baby rhythmisch auf den Rücken klopft. Ohne meine Antwort abzuwarten, fährt sie fort: »Ich weiß noch, als ich das erste Mal nach Jia gereist bin. Wie überwältigend das war. Allein die vielen Leute! Ich schämte mich, weil ich mich so oft über die Reling übergeben musste, dass ich kaum mehr stehen konnte.«
»Und jetzt sind Sie eine geübte Reisende, wie es scheint«, sage ich zu ihr. Irgendetwas an ihr erinnert mich an meine Mutter. Auch sie hätte ohne Zögern einer Fremden geholfen.
Die Frau lächelt. »Ich war ein frisch verheiratetes Mädchen. Und ohne es zu wissen, rührte, was ich für Seekrankheit hielt, eigentlich von der Schwangerschaft mit dem Bruder von der Kleinen hier her.« Ihr Blick fällt liebevoll auf zwei Menschen, die ein paar Schritte entfernt stehen, ein großer, ein kleiner – ein Mann und ein Junge, der etwa sechs Jahre alt sein muss.
»Jetzt werden auch Ihre Kinder zu geübten Reisenden heranwachsen«, sage ich.
Sie lacht. »Im Frühling reisen wir immer nach Jia, um die Gruft der Vorfahren meines Mannes auszufegen und diejenigen zu besuchen, die in die Hauptstadt gezogen sind. Aber ich bin ganz froh darüber, dass mein Mann einen Posten in einer Provinzstadt bekommen hat, weg von Jias politischen Machenschaften. Es ist ein einfacheres Leben. So wünsche ich es mir auch für meinen Sohn und meine Tochter.«
In der Hauptstadt sind sich meine Eltern vor langer Zeit zum ersten Mal begegnet. Meine Mutter kehrte hochschwanger in unser Dorf zurück, mit einem Fremden an ihrer Seite, der ihr Ehemann werden würde. Über die Jahre erwähnte sie die Hauptstadt beiläufig immer wieder. Eine wehmütige Äußerung über den Klang der Zither, eine leichthin gesagte Bemerkung über den Duft der Glyzinien, die an der Ostmauer des Palastes emporkletterten.
Shu und ich fragten sie dann: Warum können wir nicht dahin zurückgehen, Mama? Wir saßen auf ihrem Schoß und bettelten um weitere Geschichten über die Hauptstadt.
Sie meinte, es gäbe nichts, was sie dorthinziehe, im Gegensatz zu ihrer Familie hier. Doch ohne sie zerfällt unsere Familie, und ich gehe nun fort, um zu retten, was davon übrig ist.
Die Mutter küsst das flaumige Haar auf dem Kopf ihres Babys mit einem Ausdruck von Zufriedenheit. Das Baby öffnet seinen kleinen Mund zu einem Gähnen und kuschelt sich dann näher an die Brust seiner Mutter. Diese Frau lebt das Leben, das mein Vater für mich erträumt: etwas zu essen auf dem Tisch und ein bequemes Zuhause, dazu einen Ehemann als Versorger. Damit könnte ich doch zufrieden sein. Doch meine Eltern hatten vorher Jias Wunder gesehen und in den quirligen Tiefen der Stadt gelebt und sich dann nichts sehnlicher gewünscht als das, was sie bei uns zu Hause erwartete.
Ich hingegen kenne nur unser Dorf und das umliegende Land.
Die Zeit auf der Fähre vergeht wie ein seltsamer Traum. Meine Weggefährtin, Lifen, nimmt mich in den Schoß ihrer Familie auf. Ich wippe ihr Baby auf dem Knie und ziehe den Jungen von der Reling fort, wenn er sich allzu weit darüberbeugt. Jegliche Bezahlung für das Essen und die Getränke, die sie mit mir teilen, lehnen sie ab, und mein Herz ist beschämt von all ihrer Freundlichkeit.
Auf unserer Route passieren wir ein paar Städte, lassen neue Passagiere an Bord, andere steigen aus. Die Reise ist eine ausgelassene Angelegenheit, weil die Musikanten die ganze Zeit über spielen und Verkäufer ihre Waren feilbieten, die sie in Körben auf ihren Köpfen oder auf dem Rücken tragen.
In der Nacht lehne ich mich an die Reling und betrachte die Wirbel aus Sternen über mir.
Lass dich nicht täuschen, sagte meine Mutter einmal zu mir. Die Sterne sind nicht so friedlich, wie sie aussehen. Astronomen haben den Auftrag, ihre himmlischen Bahnen zu enträtseln und in Prophezeiungen Aufstieg und Fall von Adelsfamilien und Königreichen vorherzusagen. Die Sterne brennen mit derselben Heftigkeit wie unsere Sonne.
»Ich wollte immer Astrologe werden«, unterbricht eine Stimme meine Gedanken. Lifens Mann, Amtsträger Yao, setzt sich schwerfällig neben mich und reicht mir einen Tonbecher Hirsewein.
Ich schlürfe ihn, und die erdige Flüssigkeit durchläuft mich heiß und wärmt mich von innen.
»Aber ich hatte kein Talent dafür. Dann wollte ich Dichter werden. Ich schrieb schmachtende Verse über den Verbannten Prinzen auf seiner entlegenen Insel.«
Ich lache und stelle ihn mir jünger und ernster vor, einen Tuschepinsel in der Hand. »Und dann?«
»Das Leben kann einem manchmal ganz schön den Wind aus den Segeln der Träume nehmen«, sagt er und schaut dabei nicht mich, sondern die flackernden Lichtspiegelungen auf dem Wasser an.
Erhitzt durch den Wein, verkünde ich: »Ich werde das niemals zulassen.«
Er lacht, entspannt und aus vollem Herzen, als würde er mir nicht glauben. Als Lifen erwähnte, dass ihr Mann für die Regierung arbeitet, war ich ihm gegenüber zuerst misstrauisch. Doch bei unseren kurzen Unterhaltungen wurde mir schnell klar, dass er ganz anders ist als der Gouverneur unseres Dorfes.
Mich schaudert beim bloßen Gedanken an Gouverneur Wang. Dieser schreckliche Mann, dessen schwarzer Umhang sich immer wie eine dunkle Wolke um ihn bauscht. Der niemals um etwas bittet, sondern einfach nimmt, was er will. Der immer mehr fordert, bis auch der letzte Rest aus den Menschen in seiner Provinz herausgewrungen ist. Sie sagen, er habe den Jagdhund eines Mannes auf die Straße gezerrt und zu Tode geprügelt, vor aller Augen. Sie sagen, er habe über das Heulen des Tieres gelacht, und das alles nur, weil der Mann seine monatlichen Steuern nicht zahlen konnte.
Meinen Vater nahm Gouverneur Wang über die Jahre besonders ins Visier, er betrachtete ihn als seinen persönlichen Erzfeind. Die Dorfbewohner setzten in harten Zeiten oft vertrauensvoll auf meinen Vater, damit er an offizieller Stelle darum bat, ihnen gegenüber Milde walten zu lassen. Er sieht das Leiden der Menschen aus nächster Nähe, und dennoch ist er immer gehorsam, was die Launen des Gouverneurs betrifft. Wahrscheinlich fällt es mir deshalb so schwer, meinen Vater zu verstehen. Es ist die unverzeihlichste Art von Treue. Besonders weil ich tief in mir weiß, dass Gouverneur Wang mehr gegen die Vergiftungen hätte unternehmen können, und noch tiefer in mir habe ich manchmal den Verdacht, dass er selbst dahintersteckt.
Ich sitze da mit Amtsträger Yao in kameradschaftlichem Schweigen, wir teilen den Hirsewein, bis meine Hände und Wangen warm geworden sind.
Nachdem der letzte Tropfen ausgeschenkt ist, stoßen wir mit unseren Bechern an und leeren sie.
Er seufzt auf. »Das Schöne am Älterwerden ist, dass du merkst, dass alles wiederkehrt«, sagt er in einem verträumten Singsang. »Die Dinge ändern sich, aber sie kehren auch zurück. Die Sterne halten ihren Kurs, der Kuhhirte kommt am Ende immer mit der Magd zusammen. Das ist irgendwie tröstlich. Man fühlt sich weniger einsam.«
Er klopft mir auf die Schulter, erhebt sich und überlässt mich meinen eigenen Gedanken.
Ich starre aufs Wasser. Bis jetzt hatte ich nie darüber nachgedacht, aber er hat recht. Ich habe nicht bloß Heimweh, ich bin einsam.
Schon immer habe ich mich so gefühlt, als gehörte ich nicht ins Dorf. Manchmal, wenn Shu spät in der Nacht friedlich ruht, der Schlaf sich aber weigert, zu mir zu kommen, verwirren sich meine Gedanken. Sie schlagen einfach Wurzeln in meinem Kopf und lassen mich nicht wieder los. Sie flüstern mir schreckliche Dinge zu –, dass sich mein Vater wünscht, ich wäre anstelle von Shu krank geworden. Dass es meiner Familie besser ginge, wenn ich weg wäre.
Vater lebt in seiner eigenen Vorstellung davon, welche Rolle wir alle zu spielen, wie sich ein guter Arzt und seine guten Töchter zu benehmen haben. Er hat immer geglaubt, dass ich nicht andauernd Schwierigkeiten über unsere Familie bringen würde, wenn ich nur die richtigen Worte sagen und die richtigen Dinge tun würde.
Sogar, als Mutter noch lebte, wenn ich in unseren Gärten mit meiner Familie glücklich war, hatte ich immer das Gefühl, als würde ich sie umkreisen, als bewohnte ich zwar denselben Raum, jedoch auf einem eigenen unsichtbaren Kurs, ohne zu wissen, wohin er mich führt.
Vielleicht finde ich es bald heraus.
Mit Mutters Shénnóng-shī-Truhe auf dem Rücken und von der schlaflosen Nacht an Bord der Fähre steifen Beinen komme ich am nächsten Morgen am Westtor des Palastes im Chaos an. Nach dem Anlegen und einem eiligen Abschied von Lifen und ihrer Familie bin ich sofort hergehetzt, ohne mehr als einen flüchtigen Blick auf die Stadt zu werfen. Ich muss zu der Zeit, die auf der Schriftrolle angegeben ist, da sein. Sonst wird sich das Tor vor mir für immer schließen.
Viele Menschen drängen sich auf der Straße unweit des Tors und recken die Hälse, um besser sehen zu können. Die Erwartungsangst schnürt mir die Kehle zu, während die Menge mich näher und näher zum Eingang schiebt.
Mit dem gequälten Ausdruck niederer Beamter, die sich fragen, warum ausgerechnet sie diese Aufgabe erfüllen müssen, warten Wächter am Tor. Sie lassen nur diejenigen durch, die eine Einladung vorweisen können.
Einige der Shénnóng-shī sind in der Hauptstadt bekannte Persönlichkeiten: Sie müssen nicht warten, sondern begleiten ihre Schützlinge bis zum Tor, und sogar die Beamten verneigen sich und erlauben ihnen den Zutritt, ohne überhaupt einen Blick auf ihre Schriftrollen zu werfen. Die Menge ruft ihre Namen und jubelt.
Meiner Mutter wurde im Dorf nie eine solche Aufmerksamkeit zuteil. Es schmerzt mich zu sehen, wie sehr sie hätte verehrt werden können, statt für selbstverständlich gehalten zu werden.
»Veränderung braucht Zeit«, sagte sie immer. Die Kaiserinwitwe wusste das. Sie war es, die die Kunst des Shénnóng am Hof einführte und sie als Heilmethode neben der Schulmedizin anerkannte. Sie ermutigte alle dazu, von Shénnóng zu lernen: von der Dorfapothekerin bis zum kaiserlichen Arzt höchsten Ranges. Sie war für das Verschmelzen von Traditionen – alten und neuen. Doch in unserer Provinz wird die Shénnóng-Magie noch immer misstrauisch beäugt – besonders dann, wenn sie von einer Frau ausgeübt wird.
Der Beamte wirft nur einen flüchtigen Blick auf meine Schriftrolle und winkt mich durch.
Drinnen werden wir in einem kleinen Innenhof zusammengepfercht, und durch einen Türspalt erhasche ich einen Blick auf den Palast: viel Grün am Eingang, hübsche Büsche und Bäume. Der polierte Glanz einer Brüstung führt einen Weg hinab. Ich kann kaum glauben, dass ich so weit gekommen bin und eingelassen wurde.
»Ich bitte um Aufmerksamkeit!« Ein Hofbeamter steigt auf ein behelfsmäßiges Podium in der Mitte des Innenhofs. »Einhundertzehn Shénnóng-shī sind im Buch des Tees aufgeführt. Um sicherzustellen, dass alle Shénnóng-tú tatsächlich einem dieser Meister unterstehen, werden wir eure Fähigkeiten einem einfachen Test unterziehen. Erst dann dürft ihr den Palast betreten.«
Ein Murmeln durchläuft die Menschenmenge, und wir schauen einander verunsichert an.
»Bitte bildet eine Reihe«, ruft der Beamte, »damit wir anfangen können.«
Es ist durchaus sinnvoll zu prüfen, ob jemand auf illegalem Weg an die Schriftrolle gelangt ist – so wie ich. Meine Handflächen werden feucht. Verstohlen wische ich sie an meiner Tunika ab.
Ein Mädchen rempelt mich an. Sie ist nicht sehr groß und trägt ihren langen geflochtenen Zopf aufgesteckt. Leise entschuldigt sie sich und fragt: »Was glaubst du, was sie von uns verlangen?«
»Keine Ahnung.« Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und versuche, etwas zu sehen.
Die anderen stellen sich an einem zweiten Tor neben einem Zelt an, aber was sich drinnen abspielt, entzieht sich allen Blicken.
»Platz da!« Der Junge wirft uns einen verächtlichen Blick zu, als er an uns vorbeirauscht.
»Ah, zwei tŭ bāo zi!«
Ich starre ihn an und schäume innerlich vor Wut über die Beleidigung. Über die Andeutung, dass wir so arm sind, dass wir Dreck essen müssen.
Das Mädchen neben mir schnaubt stattdessen laut und zischt: »Was hast du gesagt?«
Er lacht nur. »Das Kätzchen aus Yún glaubt also, dass es Krallen hat.«
Ein schneller Blick zu den Wachen am Zaun hält mich davon ab, einen Streit anzuzetteln, auch wenn ich nichts lieber täte, als ihn in den Dreck zu stoßen, in den er gehört. Mit gesenktem Kopf schiebe ich mich näher an das Mädchen heran.
»Du bist aus der Provinz Yún?«, murmele ich und mache nur deshalb Konversation, um meine Faust nicht in das arrogante Gesicht dieses Angebers zu schlagen. Ich weiß nicht viel über Yún, abgesehen davon, dass die Frauen dort ihr Haar üblicherweise in einem langen Zopf geflochten tragen, entweder über die Schulter gelegt oder mit einer dicken Nadel auf dem Kopf befestigt.
Sie schüttelt den Kopf und verdreht die Augen. »Eigentlich komme ich aus den ›dreckigen und ärmlichen‹ Hochebenen von Kallah.«
Sie hat einen warmen kupferfarbenen Teint, ein Zeichen dafür, dass sie mehr Zeit in der Sonne verbringt als im Schatten.
»Ich bin Ning. Aus der hinterwäldlerischen Provinz Sù.«
»Ich bin Lian, Tigerin des Nordens.« Sie fletscht die Zähne, dann kichert sie.
Ich lache mit, froh darüber, nicht die Einzige zu sein, die für den Wettkampf von so weit her angereist ist. Kurz darauf befinden wir uns schon am Anfang der Schlange, und ich ducke mich als Erste unter der hochgehobenen Zelttür hindurch.
Drinnen sitzt ein Mann in offizieller Robe hinter einem Tisch, gesäumt von zwei Wächtern. An der Wand über seinem Kopf breitet sich das Banner von Dàxī mit dem beeindruckend langen kaiserlichen Drachen aus.
»Zeig uns deine Habe.« Der Beamte macht eine Geste, und die Wächter treten vor.
»Moment mal!« Ich versuche zu protestieren, doch sie heben die Truhe von meinem Rücken und nehmen mir den Beutel mit den wenigen Dingen, die ich besitze, weg.
»Wir tun dies, um die Sicherheit der kaiserlichen Familie zu gewährleisten«, fährt der Beamte mit unbewegter Stimme fort.
»Nun, das scheint mir etwas übertrieben.« Ich raffe meine Kleidung zusammen, während die Männer weiter in meinen Sachen wühlen. Mit glühenden Wangen stopfe ich endlich alles hastig zurück in den Beutel. »Ist jeder hier in der Hauptstadt so paranoid?«
Der jüngere Wächter sieht mich neugierig an. »Hast du denn das Neueste noch nicht gehört? Im letzten Monat hat es mehrere Attentatsversuche gegeben. Jemand hat es sogar gewagt, die Prinzessin am helllichten Tag auf dem Frühlingsfest anzugreifen!«
»Du da!«, donnert die Stimme des Beamten. »Wir sprechen nicht mit den Wettkämpferinnen.«
»Verzeihung.« Der Wächter senkt den Kopf und fällt auf ein Knie.
Der Beamte grummelt etwas nicht allzu Freundliches und bedeutet dem anderen Wächter, die Shénnóng-shī-Truhe meiner Mutter zu öffnen.
Mein Magen dreht sich um bei dem Gedanken, dass eine fremde Person diese für mich überaus wertvollen Dinge berührt, doch ich kann mich einem Repräsentanten des Kaisers nicht widersetzen.
Die wunderschön geschnitzte Rotholztruhe ist glänzend lackiert und schimmert sogar hier, im fahlen Licht des Zeltes. Der Deckel wird von einem Ledergurt gehalten und öffnet sich hin zu neun Fächern. Jeweils drei kleinere zu beiden Seiten des größten Fachs in der Mitte, dann zwei lange Fächer davor und dahinter. Die langen Fächer beherbergen die Porzellanteetassen und Bambusutensilien meiner Mutter, die kleineren eine Auswahl an Zutaten.
»Wo hast du deine Kunst erlernt?«, fragt der Beamte und prüft eine Schriftrolle, die wahrscheinlich weitere Angaben zu den Namen enthält, die im Buch des Tees festgehalten sind.
»Ich bin die Schülerin meiner Mutter, Wu Yiting. Sie ist die Shénnóng-shī des Dorfes Xīnyì in der Provinz Sù.«
Das Einzige, was mich davor retten kann, enttarnt zu werden, ist die Tatsache, dass mein Dorf so weit von Jia entfernt ist und dass meine Schwester noch zu jung ist, um schon offiziell als Shénnóng-tú unserer Mutter eingetragen zu sein.
»Wir werden sehen, ob das wahr ist«, erwidert der Beamte, während er eine der Teetassen kritisch unter die Lupe nimmt. »Wir haben schon so einige Hochstapler in die städtischen Kerker geworfen, die vorgaben, Shénnóng-tú zu sein. Das ist ein ernstes Vergehen.«
Ich knete meine Hände und warte förmlich darauf, dass mein Betrug auffliegt.
Der Beamte öffnet eines der Tontöpfchen und späht hinein, zerreibt ein paar Blütenblätter daraus und beschnuppert den Rückstand auf seinen Fingerspitzen. »Sag mir, was das ist.«
»Geißblatt«, antworte ich.
Und so beginnt eine genaue Untersuchung aller Dinge, die sich in der Truhe befinden. Ich antworte, so gut ich kann, benenne jede Zutat, ob Blume oder Gewürz. Sù ist eine bäuerliche Provinz mit fruchtbarem Land, auf dem Reis angebaut werden kann, doch unser Klima ist nicht gerade ideal für wertvollere Teesorten, die besser auf den Hochebenen gedeihen. Stattdessen hat meine Mutter unterschiedliche Blumensorten gezogen, um dem Tee mehr Geschmack zu geben, und sie nutzte auch deren Heilkräfte, um saisonale Krankheiten zu behandeln.
Der Beamte runzelt die Stirn, holt etwas Grünes hervor und rollt es zwischen den Fingern. Eine frische Blüte. Eine Traube weißer Knospen.
Fast schnappe ich nach Luft, beiße mir aber gerade noch auf die Zunge.
»Und das hier?« Er hält es sich vor die Augen und untersucht es.
»Das ist eine Pomeloblüte.« Ich hoffe, dass er das Zittern in meiner Stimme nicht bemerkt. »Bekannt für ihren durchdringenden Geruch.«
Schon die wenigen Blüten in seinen Fingern erfüllen den Raum zwischen uns mit einem fast überwältigenden Duft. Ich habe keine Ahnung, wie die Blüte, die ich doch in Sù gelassen hatte, hierhergekommen ist, aber ich habe das Gefühl, dass meine Mutter etwas damit zu tun hat, dass sie noch immer über mich wacht.
Der Beamte beäugt mich und lässt die Blüte zurück in die Truhe fallen. »Ich glaube dir, dass du die bist, die du vorgibst zu sein.«
Als er meine Einladung mit dem kaiserlichen Siegel stempelt, entfährt mir ein Seufzer der Erleichterung.
»Zweiter Wächter Chen?« Der junge Mann steht sofort stramm. »Markieren Sie diese Truhe mit dem Namen des Mädchens und bringen Sie sie in den Lagerraum der Konkurrenten.«
»Sehr wohl, Herr.« Er verbeugt sich und versucht, mir die Truhe aus den Händen zu nehmen.
Ich halte sie fest. Lieber würde ich beim Wettkampf Lumpen tragen, als die Truhe einem Fremden zu überlassen.
»Wir passen gut auf deine Sachen auf«, sagt der Beamte ohne sonderliches Interesse. »Es wäre ein zu hohes Vergiftungsrisiko, wenn alle ihre eigenen Zutaten in den Palast brächten.«
»Aber … meine Teetassen …«, sage ich matt und lasse die Truhe dann doch los.
»Geh jetzt mit ihm, bevor ich es mir noch anders überlege«, warnt mich der Beamte mit einer Kopfbewegung. »Ich habe noch eine Menge Leute zu befragen.«
Ich verbeuge mich und husche mit einem unguten Gefühl im Bauch hinter dem Wächter hinaus.
»Keine Sorge«, flüstert Chen mir zu, als die Zelttür hinter uns herabfällt. »Ich sorge dafür, dass sie sicher aufbewahrt wird.«
Dann öffnen sich die Tore vor mir, und ich werde hineingeführt.
Der Palast scheint eine Vision, ein unglaublicher Anblick. Ich blinzle ein paarmal, um sicher zu sein, dass er echt ist. Er ist sogar noch prachtvoller als die Häuser, die ich bei unserer Ankunft von der Fähre aus gesehen habe. Lackierte Säulen, die ich mit den Armen nicht umfassen könnte, halten ausladende Dächer aus purpurfarbenen Ziegeln. Angst, Aufregung und Ehrfurcht erfassen mich abwechselnd, während wir hinter den Wächtern herlaufen. Sie murren uns an, wenn wir irgendwo zu lange stehen bleiben, aber es gibt einfach zu viel zu bestaunen.
Einen Steingarten, angelegt in perfekter Symmetrie. Einen schimmernden Koi-Teich, unter dessen Oberfläche es orange, weiß und golden aufblitzt. Die berauschenden Düfte von Blüten und Räucherstäbchen erfüllen die Luft der Außenpavillons, durch die wir geführt werden. Wir folgen den Wächtern auf schwindelerregenden Kurven über Holzbrücken und steinerne Plateaus, bis wir schließlich unsere Unterkünfte erreichen.
Nur elf von uns sind Frauen. Wir werden im selben Haus untergebracht. Die Mehrzahl der Konkurrenten sind Männer und schon etwas älter, vermutlich um die sechsundzwanzig Jahre alt; das ist das Alter, in dem man an den Shénnóng-shī-Prüfungen der Hánxiá-Akademie teilnehmen kann.
Ich bin froh, dass auch Lian zum Wettkampf zugelassen worden ist. Schnell beschließen wir zusammenzuziehen.
Der ernst dreinblickende Wächter ermahnt uns, ausschließlich in diesem Flügel des Palastes zu bleiben, nicht in den Hallen herumzuschlendern oder den Bediensteten im Weg zu stehen, keinen Umgang mit Hofbeamten zu suchen, um womöglich etwas über die Vorlieben der Jurorinnen und Juroren zu erfahren, und nicht aus der Hintertür zu schleichen, um widerrechtlich an teure Zutaten zu gelangen.
In unserer Unterkunft hängen an jeder Wand faszinierende Kunstwerke, deren Details ich sofort in mich aufsauge: Schriftrollen mit Kalligraphien neben aufwendigen Malereien von stillen Bambuswäldern oder anmutig neben Orchideen sitzenden Frauen. Auf dekorativen Regalen stehen zerbrechlich wirkende Vasen und Holzschnitzereien, sogar die Halter für die Räucherstäbchen sind Kunstwerke – kleine Statuen in Form von Affen in unterschiedlichen Posen. Behutsam berühre ich einen Holzschnitt und bestaune die winzigen Einzelheiten im Auge eines Kolibris.
Lian schüttelt neben mir ihre Bettwäsche aus, und die eingestickten Blumen, die von einem Ende der Seide bis zum anderen reichen, leuchten auf. Ich schlucke, weil ich an Shu denken muss. Sie stickt so gern und verbringt Stunden damit, jeden einzelnen Stich vorsichtig an den richtigen Platz zu setzen, um Blütenblätter wie diese zu gestalten. Sie sollte eigentlich in dem Bett neben mir liegen, und wir würden jetzt genau analysieren, was wir gesehen haben, und uns ausmalen, was wir noch erleben werden.
Doch man lässt uns kaum Zeit, uns einzurichten. Schon werden wir in den Gang vor unserem Pavillon gerufen. Als der Gong zur Mittagsstunde ertönt, führen uns zwei Dienerinnen zu dem Ort, an dem die erste Runde des Wettkampfs stattfinden soll. Wieder laufen wir durch ein Labyrinth von Fluren und Innenhöfen und erreichen schließlich ein prächtiges Gebäude mit schwarzen Steinsäulen. Eingemeißelte Fische schwärmen darauf durch Unterwasserpaläste, Krabben wuseln in verwirrenden Mustern umher.
Die Türen, hoch wie zwei Männer, öffnen sich zu einer Halle. Die Wände sind getäfelt, es muss kostspielig sein, das Holz im feuchten Klima der Hauptstadt zu erhalten.
Zur Linken und zur Rechten stehen Tische, an denen schon Gäste sitzen. Gemurmel und das Flüstern von Namen erfüllen den Raum und werden immer lauter. Man spekuliert über die Jury, die den Wettkampf bewerten wird. Am hinteren Ende der Halle erhebt sich ein Podium, auf dem zwei Männer sitzen. Ein Platz in der Mitte ist noch leer.
»Wer ist das?«, flüstere ich Lian im Gedränge zu. Wir haken uns unter, damit wir nicht von der Menge getrennt werden. Unsere Füße gleiten über den glänzend polierten Boden, während alle nach vorn drängen.
»Der dort links ist der Minister der Rituale, Song Ling«, sagt sie.
Und obwohl ich nur wenig über den Hof weiß, ist mir sofort klar, dass dies einer der wichtigsten Männer im ganzen Kaiserreich ist. Einer der vier Minister, die sämtliche Beamte von Dàxī anführen und den Kaiser bei den Regierungsgeschäften beraten.
»Der rechts ist der Ehrwürdige Qian.«
Diesen Namen kenne ich aus den Lehrstunden meiner Mutter: Er war der erste Hof-Shénnóng-shī des Reiches. Sein silberfarbenes Haar und sein langer, fließender Bart lassen ihn wie einen Philosophen aus einer der klassischen Sagen aussehen.
»Die Prinzessin muss ihn direkt von der Akademie zur Teilnahme am Wettkampf abberufen haben. Zuletzt habe ich von meinem Mentor gehört, dass er nach Yěliŭ gegangen ist, um ein paar antike Texte zu studieren.«
Ich war nicht davon ausgegangen, dass Lian sich mit der Politik des Hofes so gut auskennt, weil sie aus einer noch weiter entfernten Provinz als ich stammt. Doch es sieht ganz danach aus, als hätte meine Freundin Verbindungen in den Palast. Bevor ich weitere Fragen stellen kann, rufen die Herolde zur Ruhe auf.
Wir knien nieder.
Minister Song erhebt sich, um zu sprechen.
»Ich grüße die Shénnóng-tú unseres großen Reiches. Zu Ehren der verstorbenen Kaiserinwitwe und ihres Vermächtnisses nehmt ihr an diesem Fest teil, denn Ihre Hoheit betrachtete die Kunst der Teezubereitung mit größtem Respekt. Diese Kunst ist Teil unserer Kultur, das Erbe unserer Vorfahren. Sie ist ein Geschenk der Götter selbst.«
Der Minister spricht leiernd weiter über die Errungenschaften des Tees, bis meine Beine vom langen Knien ganz taub sind. Endlich dürfen wir uns erheben.
»Ihre Kaiserliche Hoheit, Prinzessin Ying-Zhen!«, ruft der Herold aus.
Aufrecht und mit vollendeter Eleganz schreitet die Prinzessin durch eine Seitentür herein. Ihre Dienerin folgt ihr auf dem Fuße, ihre Hand liegt wachsam am Griff ihres Schwertes. Mir fallen die Worte des Wächters über die Mordanschläge wieder ein, die dieses Mädchen überlebt hat. Mich schaudert.
Obwohl die Zeremonienrobe schwer auf den Schultern der Prinzessin lasten muss, merkt man ihr die Anstrengung nicht an. Die Robe ist von so tiefem Purpur, dass sie fast schwarz erscheint. Sie schwingt majestätisch bei jeder Bewegung, und Stickereien schillern und wogen silbern auf, enthüllen Bergspitzen und Flusswindungen … Sie trägt das Reich auf ihrem Rücken.
Als sie sich zu uns umwendet, sehe ich sogar auf die Entfernung, dass ihre Haut perlengleich schimmert. Ihr Mund ist ein hell leuchtender Punkt, rot, wie eine Blüte. Sie lässt sich auf dem Stuhl zwischen dem Minister und dem Shénnóng-shī nieder und spricht: »Ich bin gespannt, was ihr uns zeigen werdet.«
Obwohl sie sitzt, überträgt sich die Stimme der Prinzessin durch die gesamte Halle. Sie spricht mit dem Selbstbewusstsein eines Menschen, der weiß, dass man ihm zuhört. »Der Wettkampf wird heute Abend im ›Hof der vielversprechenden Zukunft‹ beginnen. Wie der Erhabene Kaiser einmal sagte, sind die Bauern das Rückgrat des Landes, und unsere Speisen nähren nicht nur den Körper, sondern auch die Seele. Jedem von euch wird ein Gericht aus eurer Provinz zugeteilt, und ich bitte euch, einen Tee zu brühen, der dieses Gericht perfekt begleitet. Aber …«, ihre Lippen formen sich zu einem Lächeln, »wir bemühen uns, jede Prüfung so fair wie möglich zu gestalten. Jeder von euch erhält drei silberne Yuan und zwei Stunden Zeit, um auf dem Markt Tee und weitere Zutaten zu erwerben. Diejenigen, die mehr als den zugeteilten Betrag ausgeben oder die nicht rechtzeitig zurückkehren, werden disqualifiziert.«
Manche in der Menge grummeln, zweifelsohne diejenigen, die das Geld hätten, um teurere Tees zu kaufen und sich damit einen Vorsprung zu verschaffen.
»Dieser erste Test wird für die Öffentlichkeit zugänglich sein, damit alle die Schönheit des Shénnóng miterleben können.«
Ihr warnender Blick streift uns, und die unterschwellige Botschaft lautet: Ich vertraue darauf, dass ihr mich nicht enttäuscht.
Die Prinzessin erhebt sich, um sich wieder zurückzuziehen. Sie ist so majestätisch, selbstsicher, einschüchternd, dass sie älter wirkt als die neunzehn Jahre, die sie ist.
»Es lebe die Prinzessin!«, ruft einer der Herolde aus. Seine Stimme schallt durch die Halle wie ein Gong.
»Es lebe die Prinzessin!«
Diejenigen, die sitzen, heben ihre Tassen zum Salut. Diejenigen, die stehen, knien nieder, berühren mit ihrer Stirn den Boden und verharren in dieser Haltung, bis sie den Raum verlassen hat. So wie wir.
Der Wettkampf hat begonnen.
Wir werden in die Küchen gebracht, um sofort mit den Vorbereitungen zu beginnen. Haushofmeisterin Yang, eine Frau mit ernstem Gesicht, trägt ihre dunklen, grau gesträhnten Haare zu einem strengen Dutt zurückgebunden. Unbeeindruckt mustert sie unsere Gruppe.
»Die kaiserlichen Küchen haben bereits Prinzessinnen, Prinzen und hohen Beamten aus weit entlegenen Ländern Speisen serviert.« Sie winkt zwei Diener heran, von denen jeder einen mit roten Holzmünzen gefüllten Korb trägt. »Bringt meine Küche also nicht in Verlegenheit.«
In die Münzen sind unsere Namen eingeschnitzt sowie das Gericht, das uns zugeordnet wurde. Eine nach der anderen wird in die eifrig nach vorn gestreckten Hände ausgeteilt.
Mein Gericht sind klebrige Reisklöße – ein einfaches bäuerliches Gericht und eines meiner liebsten. Klebriger, mit Erdnüssen gefüllter Reis wird in Bambusblätter gewickelt und gedämpft. Eine Mahlzeit, die Bäuerinnen und Bauern mit auf die Felder nehmen können, denn sie lässt sich gut in einer Box transportieren, die wir mit einer Schnur an unsere Schärpen binden.
»Reiskuchen?«, spottet Lian und zeigt mir ihre Münze. »Wie typisch.«
»Hast du etwas an deinem Auftrag auszusetzen?« Die Haushofmeisterin kommt drohend auf uns zu, und Lian verneint mit erschrockenem Kopfschütteln. Wir huschen zusammen davon, bevor sie ihr eine Strafe aufbrummen kann.
Draußen zählt Lian ein paar Speisen aus Kallah auf, die die Küchenchefs stattdessen hätten auswählen können, und allein davon fängt mein Magen schon zu knurren an. Fisch in scharfsaurer Soße, am Stock gegrillte Süßmilchbällchen, Ente mit einer in Honig gerösteten goldbraunen Kruste.
Sie schwärmt so leidenschaftlich, dass sich der Wächter einschaltet, der neben der Tür steht. »Ich mag Pòsū am liebsten. Knusprig gebraten und mit Schinken und Zucker gefüllt.« Er schließt die Augen, als würde er den Geschmack im Geiste genießen. »Schmeckt nach Heimat.«
Lian sieht erfreut aus. »Ich dachte, ich hätte alle Leute aus Kallah im Palast schon getroffen.«
Der junge Mann strahlt zurück. »Ich bin erst vor ein paar Monaten hierherversetzt worden.«
»Freut mich, Bruder.« Lian legt sich die Hand auf die Brust und verbeugt sich.
Auch der Wächter verbeugt sich.
Der Klang des Mittagsgongs schwingt durch die Luft und erinnert uns an die Dringlichkeit unserer Aufgabe. Eilig verabschieden wir uns von Lians neuer Bekanntschaft und hasten den anderen hinterher.