A Venom Dark and Sweet – Was uns zusammenhält - Judy I. Lin - E-Book

A Venom Dark and Sweet – Was uns zusammenhält E-Book

Judy I. Lin

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Beschreibung

Der fesselnde Abschluss des »New York Times«- und »SPIEGEL«-Bestsellers  Die junge Tee-Magierin Ning ist auf der Flucht. Etwas Böses hat sich über das Königreich Dàxi gelegt, und der Verbannte Prinz hat den Drachenthron an sich gerissen. Gemeinsam mit der rechtmäßigen Prinzessin des Reiches sucht Ning nun nach Mutigen und Verzweifelten, die sich ihnen anschließen, um den Thron zurückzuerobern. Doch noch etwas Anderes, das sehr viel älter ist als die kleinlichen Konflikte der Menschen, ist erwacht und verfolgt Ning in ihren Träumen ... 

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Seitenzahl: 483

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Judy I. Lin

A Venom Dark and Sweet – Was uns zusammenhält

 

Aus dem Englischen von Michaela Kolodziejcok

 

Über dieses Buch

 

 

Alle Bände der Tee-Magie-Dilogie:

Band 1: A Magic Steeped in Poison

Band 2: A Venom Dark and Sweet (erscheint im Herbst 2023)

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Judy I. Lin wurde in Taiwan geboren und wanderte als junges Mädchen mit ihrer Familie nach Kanada aus, wo sie noch heute mit ihrem Mann und ihren Töchtern lebt. Tagsüber arbeitet sie als Ergotherapeutin und nachts denkt sie sich Geschichten aus, die von den Legenden und Mythen inspiriert sind, mit denen sie aufgewachsen ist.

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

Inhalt

[Widmung]

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Epilog

Danksagung

Glossar

Wichtige Begriffe

Personen

Orte

Chinesische Medizin

Impressum

Für meinen Ehemann: Deine Liebe hat mir durch die schwierigsten Zeiten geholfen.

Kapitel 1

Kang 康

Als kleiner Junge träumte Kang davon, in den Palast zurückzukehren.

Ein Abgesandter würde in Lǜzhou erscheinen, ein Farbklecks gegen den grauen Himmel und die schwarzen Felsen. Musikanten würden etwas Heiteres, Fröhliches spielen, Banner im Wind flattern. Am Sandstrand, wo die meisten seiner Tagträume spielten, würde ein Hofbeamter in blauer Robe einer Sänfte entsteigen und eine bestickte Schriftrolle öffnen – ein Erlass des Kaisers. Seine Familie würde gebeten, nach Jia zurückzukommen, und ihr Ansehen wäre wiederhergestellt, und er würde zu seinem Leben zwischen den Kindern im Palast zurückkehren.

Aber es kam kein Abgesandter, und die Kindheitsträume verblassten. Erst jetzt, während er vor dem großen Tor des Palastes wartet, holen ihn diese Erinnerungen wieder ein. Sie durchfahren ihn wie einst jene Nordwinde, die seine Nase mit dem Geruch von Salz erfüllten. Doch er kennt die Wahrheit: Das Zuhause seiner Kindheit gibt es nicht mehr. Keine Kaiserinwitwe, die die Küche anweist, ihnen noch einen weiteren Teller voll Süßigkeiten zu bringen. Kein Kaiseronkel, der ihnen auf einer gespannten Leinwand seine Kunstfertigkeit in Kalligraphie vorführt. Keine Prinzessin, die ihren Lehrern einen Aufsatz über Vertragsabkommen rezitiert. Er kam unter einem Schauer von Pfeilen zurück und brachte nichts weiter mit als Lügen und Zerstörung. Und auch wenn er noch sehr das Gegenteil behaupten möchte, er ist an allem beteiligt, was fortan passieren wird.

Sein Pferd wiehert leise und rempelt das danebenstehende an. Das Tier spürt die Veränderung in der Luft, den Wechsel des Windes. Kang dachte, ein Putsch wäre blutiger. Blut und Feuer, ganz wie in den Geschichten der Lehrer und so, wie er sich bruchstückhaft an die Zeit von vor zehn Jahren erinnert. Stattdessen sah er, wie die Soldaten der Armee in Jias Mauerritzen strömten wie Wasser in ein ausgetrocknetes Flussbett. Die Hauptstadt von Dàxī trank eine ganze Nacht lang, während der Himmel verblasste und ein neuer Morgen über der schlafenden Stadt dämmerte.

Das Tor öffnet sich vor ihm. Kang reitet hindurch, flankiert von den Männern seines Vaters. Soldaten in der schwarzen Uniform der Stadtwache stehen in Habachtstellung Spalier. Als er und sein Geleit zwischen ihnen hindurchtraben, verneigen sich die Soldaten. Nirgendwo sind Kampfgeräusche zu hören, kein aufsässiges Klirren von Stahl. Da ist nur das Gewicht der Erwartung, des kommenden Wandels.

Als er seinen Vater im Teehaus traf, lächelte der General über das ganze Gesicht, das vom Wein sichtlich gerötet war. Sein Vater klopfte ihm auf die Schulter und sagte, er habe seine Pflicht erfüllt. Wie ein guter Sohn und ein guter Soldat. Obwohl Kang die Wärme der Anerkennung seines Vaters genießen möchte, verspürt er immer noch ein gewisses Unbehagen, wie ein Juckreiz, der ihn zum Kratzen drängt. Zhens Stimme flüstert ihm zu: »All diese Intrigen kommen zum Tragen, aber zu welchem Preis?« Er dachte, sie meinte damit ihren Betrug einer Verlobung, aber sie lachte ihm ins Gesicht, als er das sagte.

Einer der Fußsoldaten tritt vor, um die Zügel seines Pferdes zu nehmen, und Kang sitzt ab. Ein an seiner schwarz-grünen Kleidung erkennbarer Beamter des Justizministeriums begrüßt ihn mit einer kleinen Verbeugung und stellt sich als Gouverneur Wang Li, Statthalter von Sù, vor. Sie schlüpfen gemeinsam durch eine Seitentür und steigen die schmale Treppe hinauf, die in den hohen Mauern neben dem Hof der Vielversprechenden Zukunft verborgen liegt.

»Der General von Kǎiláng«, verkündet ein Herold in der Ferne, und das daraufhin einsetzende Gebrüll hallt wie Donner durch den steinernen Aufgang.

»Ich habe einen persönlichen Empfang für Euch vorbereitet, mein Prinz.« Der Statthalter, der inzwischen am Kopf der Treppe angelangt ist, lächelt breit und winkt ihn näher. »Willkommen zurück in Jia.«

Beim Klang des Titels läuft Kang eine Gänsehaut über den Rücken. Prinz.

Doch diese Anwandlung wird rasch verdrängt von dem, was ihn unten im Hof erwartet. Von seiner Position aus sieht er die Hofbeamten, die sich vor der Treppe zur Halle des Ewigen Lichts zusammengeschart haben, umgeben vom Rot der Palast- und dem Schwarz der Stadtwache. Einige von ihnen wirken verwirrt, während andere sich bereits auf den Boden niedergeworfen haben, voller Eifer, dem angehenden Kaiser ihre Ehrerbietung zu zollen. Links von Kang ist die Mauer von Bogenschützen gesäumt, und entlang der anderen Seite der Mauer sieht er ähnliche auf und ab wippende Schatten. Ihre Anwesenheit soll die dort unten Versammelten an die Macht des Generals gemahnen.

Der General steht in voller Kampfrüstung am Kopf der Treppe. Sie glänzt in Schwarz und Gold, von den gebogenen Zacken des Helms bis hin zu den polierten Stiefeln. Kanzler Zhou steht hinter seiner rechten Schulter, gekleidet in offizieller Robe. Es gibt keinen Zweifel, wer regieren wird und wer ihm auf den Thron geholfen hat.

Kangs Vater hebt die Arme, und das Gebrüll der Soldaten verstummt. In einer koordinierten Welle der Ehrfurcht lassen sie sich je auf ein Knie sinken. Die restlichen, noch stehenden Zögerer des Hofes folgen dem Bespiel und knien nun ebenfalls nieder. Kang prägt sich die Gesichter ins Gedächtnis ein, denn er weiß, dass auch der Kanzler sie sich merkt – diejenigen, die sich zuerst verbeugten, und jene, die zauderten.

Der General nimmt seine Hände herunter, worauf der Herold vortritt. »Erhebt euch, um die Worte des Regenten zu hören, der schon bald den Thron unseres großartigen Kaiserreichs besteigen wird.«

Die Soldaten erheben sich und stehen wieder stramm, ihre Speere so kraftvoll auf den Boden stoßend, dass die Wände des Innenhofs erzittern. Die Beamten kommen schwankend auf die Beine.

»Für einige von euch mag es überraschend sein, dass ich zurückgekehrt bin.« Die Stimme des Generals von Kǎiláng hallt über die Menge hinweg. »Ich bin vor vielen Jahren aus freien Stücken ins Exil gegangen, in dem Wunsch, dass der Ruhm unseres großartigen Kaiserreichs ohne internes Ringen fortbestehe. Wir können nicht stark sein, wenn wir uns von innen heraus zerfleischen. Ich wollte meinem Bruder eine Chance geben, doch stattdessen strebte er danach, Dàxī ins Verderben zu stürzen.«

Vater war schon immer ein mitreißender Redner, berüchtigt für seine Fähigkeit, das Blut seiner Gefolgsleute in Wallung zu bringen und sie aufzustacheln, in seinem Namen in den Kampf zu ziehen.

»Bei all seinem Ehrgeiz hätte er nie gedacht, dass sich eine der Seinen gegen ihn wenden würde. Die Prinzessin, die er großzog, vergiftete ihren eigenen Vater und versuchte, all jene am Hof zu beseitigen, die ihr bei der Konsolidierung ihrer Macht im Weg standen. Es obliegt nun mir, die Ehre des Namens Li wiederherzustellen und Gerechtigkeit für den Tod meines Bruders zu erwirken.«

Die flammende Rede des Generals scheint in ein Wespennest gestochen zu haben, denn die Versammelten können nicht länger an sich halten und still sein; sie tuscheln und flüstern untereinander angesichts dieser Enthüllung. Kang spürt, wie sich die Aufmerksamkeit aller auf ihn richtet, und er bemüht sich um eine ausdruckslose Miene, obwohl sein Unbehagen wächst.

Ein Mädchen sprach mit ihm über die Zusammensetzung des Giftes und davon, dass eines seiner Bestandteile nur in Lǜzhou vorkommt. Eine Prinzessin versuchte, die Nachricht vom Tod ihres Vaters vor dem Volk zu verbergen. Er hat nur einen kleinen Einblick in die tiefgreifenden Pläne seines Vaters, und der General hat sich geweigert, seine Fragen zur Quelle des Giftes zu beantworten.

Kang begegnet dem Blick des Kanzlers, und der Mann schenkt ihm ein kleines Lächeln, bevor er sich wieder dem Hof zuwendet.

Der Zweifel kriecht tiefer unter Kangs Haut. Spielt es eine Rolle, ob sein Vater das Gift in Umlauf gebracht hat? Der Kaiser ist tot, die Prinzessin verschwunden, der Thron ist leer und wartet auf denjenigen, der ihn einnehmen wird. Aber in seinem Inneren brennt immer noch die Frage: War es sein Vater, der den Befehl erteilte?

»Ich werde Frieden und Wohlstand nach Dàxī zurückbringen. Ich werde die Verräter und Korrumpierten mit der Wurzel ausreißen«, verkündet der General inbrünstig. »Und ich beginne dabei mit dem Palast. Die verräterische Prinzessin und ihre Lieblings-Shénnóng-tú sind aus dem Palast geflohen, aber sie werden nicht lange in Freiheit bleiben. Das Justizministerium wird sie zurückbringen.«

Kanzler Zhou tritt vor und verlautbart: »So will es der kaiserliche Regent von Dàxī!«

»So will es der kaiserliche Regent!«, wiederholen die Untertanen wie ein Echo und lassen sich erneut auf die Knie nieder, um seinen göttlichen Befehl zu empfangen.

Den Kopf gesenkt, das Gesicht vor misstrauischen Blicken verborgen, spürt Kang, wie ein Lächeln seine Mundwinkel kräuselt.

Sie ist am Leben.

Kapitel 2

Ning 寧

Mutter sagte, die Welt erwuchs aus der Dunkelheit. Aus dem großen uranfänglichen Nichts formte sich Bewusstheit, und die ersten Götter erwachten aus ihrem Schlummer. Die große Göttin trat hervor und spaltete die Dunkelheit auf wie ein Ei. Gemeinsam mit ihrem Bruder trennte sie Himmel und Erde.

Vergesst es niemals, sagte sie uns. Die Welt begann mit einem Traum. Mit dem Leben ist es genauso. Haltet an euren Träumen fest, meine Töchter. Die Welt ist größer, als ihr ahnt.

Sonnenlicht strömt durch das Blattwerk über mir, das Laub raschelt leise im Wind. Die Luft riecht nach Sommer, und ich bin irgendwo zwischen Schlafen und Wachsein gefangen. Ich habe das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Mein Körper wird durch eine Bewegung unter mir durchgerüttelt, und ich setze mich zu schnell auf, mir schwindelt der Kopf.

Bäume fliegen an mir vorbei. Meine Hände streichen über rauen Stoff, eine Decke, die von mir heruntergerutscht ist, als ich mich bewegt habe. Ich drehe den Kopf und stelle fest, dass ich mich in einem Fuhrwerk befinde. Meine Schwester sitzt mir gegenüber, die Augen geschlossen, ihre Lippen bewegen sich. Ich kenne diesen Ausdruck an ihr: Sie grübelt über ein besonders kniffliges Problem nach. Vermutlich über irgendein Stickmuster oder über Rechnungen zu Wirkstoffen in Vaters Vorratskammer. Aber dann springen ihre Lider auf, und ihr Blick trifft auf meinen. Sie krabbelt zu mir herüber und hockt sich neben mich.

»Du bist wach«, sagt Shu erleichtert, und bevor ich sie davon abhalten kann, ruft sie den zwei Gestalten vorne auf der Kutschbank zu: »Sie ist wach!«

Ich kann nicht anders – ich ergreife ihren Arm, um mich zu vergewissern, dass sie real ist. Ich muss sicher sein, dass ich nicht immer noch träume, während ich schlafend auf einem Boot den Jadefluss hinunterschippere, auf der Suche nach einem Weg nach Hause. Oder noch schlimmer, während ich zusammengerollt auf dem Boden des Palastkerkers liege und auf meine Hinrichtung am nächsten Morgen warte. Diese beunruhigenden Gedanken vertreiben die Hitze des Tages und lassen nur ein Frösteln zurück. Shu schaut auf meine Hand, dann legt sie ihre auf meine.

Sie öffnet den Mund, um etwas zu sagen, doch bevor sie auch nur ein Wort herausbringen kann, kommt der Wagen ruckartig zum Stehen, und wir werden nach vorne geschleudert. Eine der beiden Gestalten schwingt sich über die Kutschbank nach hinten und landet neben uns, die Krempe ihres breiten Hutes wirft einen Schatten auf ihr Gesicht. Erst als sie aufblickt, erkenne ich sie – ihre markanten Züge, von Dichtern in blumigen Versen gepriesen, die mir inzwischen so wohlvertraut sind. Jemand, den ich vielleicht sogar eine Freundin zu nennen wage.

Zhen, die Prinzessin von Dàxī, trägt eine schlichte braune Tunika, ihr Haar ist zu einem langen Zopf zurückgebunden. Hinter ihr ragt die Kutscherin auf, jemand, den ich ebenfalls wiedererkenne – Ruyi, ihre Dienstmagd, in identischer brauner Kleidung. Sie sehen aus wie Bauern, die von einem Tag auf den Feldern zurückkehren.

Ruyi nickt mir zu, bevor sie sich abwendet und das Pferd mit einem Zungenschnalzen wieder antreibt.

»Wie geht es dir?«, fragt Zhen. Auch Shu sieht mich durchdringend an, und mein banges Gefühl verstärkt sich.

Immer noch leicht benommen schüttele ich den Kopf, in dem Versuch, mich zu erinnern. »Ihr werdet mir sagen müssen, was passiert ist.«

Ungebetene Bilder steigen in mir auf. Das imposante Gesicht des Kanzlers, der mich zum Tode verurteilt. Die leuchtenden Blütenblätter der Pfingstrose, die auf Shus Stickerei erblühen. Ich, wie ich meine Schwester durch den dunklen Wald jage. Mein Vater, weinend über ihren Körper gebeugt. Die herabsteigende Gestalt der Goldenen Schlange und das Aufblitzen ihrer bösartigen Fangzähne … ihre blutroten Augen.

Ein jäher Schmerz sticht mir in die Stirn, und ich krümme mich keuchend zusammen.

Ein beinahe unerträgliches Brennen breitet sich wie ein Lauffeuer über meinen Körper aus und macht jeden anderen Gedanken zunichte. Wie durch Wolken nehme ich Hände wahr, die mir helfen, mich hinzulegen, während der Schmerz wieder und wieder über mich hereinbricht. Ich treibe eine Weile lang durch ihn hindurch. Es könnten Minuten sein oder Stunden, ich weiß es nicht. Bis schließlich, Stück für Stück, der Schmerz verebbt. Bis ich langsam wieder zu mir selbst zurückfinde und mich in eine aufrechtere Position stemme.

»Hier. Trink einen Schluck Wasser.« Man drückt mir eine Flasche in die Hand, und ich lasse das kühle Wasser in meinen Mund laufen.

»Du hast drei Tage und drei Nächte lang geschlafen.« Shu reicht mir ein Taschentuch, mit dem ich mir das Gesicht abwische, ihr Blick strahlt Besorgnis aus. »Du hattest hohes Fieber, und Vater hat, so gut er konnte, versucht, die Infektion aus deinem Körper zu ziehen. Etwas davon ist wohl noch vorhanden …«

Ich zog Shu aus der Dunkelheit, nur um selbst hineinzufallen, und ich erinnere mich an nichts, was danach geschah.

»Vater … wo ist er?« Wir legten unsere Differenzen bei, um Shu zu retten – gemeinsam. Aber ich habe noch so viele Fragen, die ich ihm stellen will. Über ihn und Mutter im Palast. Darüber, was er aufgab, um ein neues Leben in Xīnyì zu beginnen. All das habe ich nie verstanden, bis ich nach Jia ging.

Shu antwortet nur widerwillig. »Nachdem du das Bewusstsein verloren hattest, schickte Vater die Nachricht ins Dorf, dass mein Zustand sich verschlechtert habe und er nicht seine tägliche Visite machen könne. Hauptmann Wu kam, um nach mir zu sehen, und auch, um uns zu warnen.«

Unser Vater hat dem Hauptmann einst nach einem schlimmen Sturz das Leben gerettet. Seitdem ist er uns freundlich gesinnt und immer darum bemüht, uns heimlich zusätzliche Rationen zukommen zu lassen, auch wenn Vater sie zumeist ablehnt.

»Er warnte uns, dass bald Soldaten aus Nánjiāng kommen würden, um auf Befehl des Gouverneurs nach dir zu suchen. Vater gestattete ihm, im Haus nachzusehen, während ich mich mit dir im Bett versteckte.« Bei der Erinnerung zittern Shus Lippen. Ich greife nach der Hand meiner Schwester, denn ich kann mir lebhaft vorstellen, wie beängstigend das Erlebte gewesen sein muss.

»Später ist dein Vater dann zu uns gekommen«, erzählt Zhen. »Er sagte, dass wir uns auf den Weg machen sollen. Er hat uns mit Kleidung und einem Wagen versorgt und versprach, er würde die Soldaten, wenn sie kämen, in die andere Richtung schicken.«

»Warum ist er nicht bei uns?«, frage ich. »Er begibt sich in Gefahr!«

Zhen tauscht einen Blick mit Shu. Die Vertrautheit darin lässt mich aufmerken. Es gibt da etwas, das sie wissen und ich nicht. Was glauben sie verheimlichen zu müssen?

»Er wollte nicht«, erklärt Zhen schließlich. »Er sagte, er habe noch Patienten unter seiner Obhut.«

Natürlich. Seine Patienten. Seine Verpflichtungen.

»Ich habe versucht, ihn zum Mitkommen zu überreden«, sagt Shu, um mich zu trösten, aber stattdessen bringt es mich nur noch mehr auf. Wie sie stets versucht, das Beste in den Menschen zu sehen, selbst wenn sie uns in einem fort enttäuschen. Meine Wut sollte sich nicht gegen sie richten, und doch …

»Dorf voraus!«, ruft Ruyi vorne auf dem Wagen und durchbricht die angespannte Atmosphäre.

Zhen klettert wieder neben Ruyi auf die Kutschbank, während Shu neugierig nach vorne blickt und mich mit meinen Fragen und düsteren Gedanken allein lässt.

Die schräg einfallende Nachmittagssonne scheint auf ein nicht gerade geschäftiges Dorf. Stattdessen laufen uns nur ein paar versprengte Hühner über den Weg, als wir die Tore passieren. Wir kommen an Lehmziegelhäusern vorbei, die um kleine Höfe gebaut und von der Hauptstraße durch niedrige Holzzäune getrennt sind. Eine Frau hängt Wäsche auf eine Leine, und Ruyi geht zu ihr, um mit ihr zu sprechen. Sie kehrt mit der Adresse eines Gasthauses zurück. Als ich vom Wagen zurückschaue, sehe ich, wie die Frau uns hinterherstarrt und sich erst abwendet, als sie merkt, dass ich sie beobachte.

Ruyi führt das Pferd eine weitere Straße hinunter, und wir gelangen durch ein offenes Tor in einen weitläufigen Hof, auf dem sich ein einzelnes Gebäude befindet. Ein an der Außenwand angebrachtes Schild verrät lediglich, dass es sich um ein Gasthaus handelt, nicht aber den Namen des Etablissements. Zur Begrüßung kommt ein älterer Mann herausgeeilt und nimmt Ruyi lächelnd die Zügel des Pferdes aus der Hand.

Ich rutsche vorsichtig hinten von der Ladefläche des Fuhrwerks herunter, aber unter dem Gewicht meines Körpers sacken mir fast die Knie weg. Halt suchend lehne ich mich gegen die Seite. Wenn ich wirklich drei Tage und Nächte lang geschlafen habe, würde das die Schwäche in meinen Gliedern erklären … sowie meinen knurrenden Magen. Zhen plaudert fröhlich mit der älteren Frau, die mit einem Teller Süßigkeiten herausgekommen ist, um uns willkommen zu heißen. Ich höre, wie Zhen die Geschichte spinnt, dass wir Pilger auf dem Weg nach Yěliǔ seien, um der Smaragdschildkröte des Westens unseren Respekt zu erweisen.

Ich erkenne jetzt, dass wir in Xìngyuán sind, einem Dorf vor dem Bergpass, der nach Yěliǔ führt. Wir befinden uns zwei Tagesreisen nördlich meiner Heimat. Offenbar folgt Zhen den Anweisungen in Wenyis Brief, so, wie sie es ursprünglich vorhatte. Sie wird um Hilfe bitten. Ich bin ihr dankbar, dass sie mir half, in mein Dorf zu kommen, und ihre Pläne änderte, damit ich Shu retten konnte. Sie hat uns nicht zurückgelassen, obwohl sie es ohne weiteres hätte tun können.

»Lass mich deine Wunde ansehen.« Ruyi tritt zu mir und stützt mich, als sie bemerkt, dass ich kaum laufen kann. »Wir sollten den Wickel wechseln.«

Bei der Erwähnung des Wickels beginnt prompt mein Arm zu schmerzen. Ich humpele zur Tür, durch die Zhen und Shu bereits verschwunden sind. Drinnen ist ein großer Raum mit mehreren Holztischen und Bänken. Mit Ruyis Hilfe lasse ich mich schwerfällig auf einer der Bänke nieder.

»Ich bringe euch etwas Tee, werte Gäste.« Die ältere Frau zieht den Kopf zwischen die Schultern, und Ruyi folgt ihr durch die andere Tür auf der gegenüberliegenden Seite.

Ich starre auf den Verband und erinnere mich daran, wie die Schlange mir ihre Fangzähne in den Arm schlug, und an den Schauder, in meinen Körper zurückzukehren, mit diesen Bissspuren auf meiner Haut. In mir regt sich ein seltsames Verlangen nachzuschauen, wie sie jetzt aussehen.

Shu steht neben mir und will sich nützlich machen, aber ich spüre ihre Anspannung.

»Du musst dir das nicht anschauen. Ruyi wird mir helfen«, sage ich zu ihr, wohl wissend, dass meiner Schwester der Anblick von Blut nicht behagt.

Sie setzt zum Protest an, aber da ruft Zhen nach ihrer Hilfe, und sie wirft mir einen widerwilligen Blick zu, bevor sie geht.

Als Ruyi schließlich mit einer großen Schüssel voll dampfenden Wassers und einigen sauberen Tüchern zurückkehrt, habe ich den Verband bereits so weit entfernt, dass die Wunde frei liegt.

Ein Teil meines Arms ist rosa und geschwollen, die Haut fühlt sich warm an. Da sind zwei dünne Schlitze, wo die Fangzähne meine Haut durchbohrten und wieder herausglitten, als ich in der Welt des Shifts vom Baum herunter- und zurück in meinen Körper fiel. Ich war immer der Meinung, dass es keine Magie gäbe, die einen Menschen durch Zeit und Raum schicken kann. Diese Spuren erzählen jedoch eine andere Geschichte. Es gibt Magie da draußen, die dunkler ist, als wir ahnen, und davon mehr, als wir bisher gesehen haben.

Ruyi hilft mir, die Wunde zu säubern. Ich beiße die Zähne zusammen und kämpfe gegen den scharfen, stechenden Schmerz an. Einer zweiten Schüssel entnimmt sie eingeweichte Kräuter und verteilt sie auf meinen Arm. Der beißende Arzneigeruch, den sie verströmen, ist mir vertraut – er erinnert mich an meinen Vater. Ich schlucke meine aufsteigende Traurigkeit hinunter und sage mir, dass er sich dazu entschlossen hat, zurückzubleiben.

Nachdem der Kräuterumschlag aufgelegt und befestigt ist, lindert seine wohltuende Wärme den Schmerz ein wenig. Ich öffne und schließe meine Hand, spüre, wie die Haut sich dehnt und zusammenzieht.

Wir sind gerade rechtzeitig zum Abendessen fertig, das unsere Gastgeber im Garten servieren, wo wir von zauberhaften Rosen in verschiedenen Farben umgeben sind, die am Zaun entlang und um das Spalier über unseren Köpfen ranken. Blasse weiße Blüten mit zartrosa Rändern, leuchtend gelbe von der Größe meiner Faust, und pfirsichfarbene Kletterrosen, mit vielen kleinen, filigranen Köpfchen. Der betörend blumige Duft rundet unsere Mahlzeit vorzüglich ab, während wir Schalen mit Nudeln in würziger Chilisoße essen, garniert mit knusprigem Schweinedarm und Sojasprossen. Zu den Nudeln werden kleine Schalen mit eingelegtem Kohl und Rettich gereicht. Außerdem teilen wir uns einen Teller mit Zhéěrgēn, einer weißen, in Öl eingelegten Knolle, deren Süße in köstlichem Kontrast steht zu der salzigen gepökelten Wurst, mit der sie zusammen gebraten wurde. Die Gerichte aus dieser Region sind sehr viel schärfer als das, was ich gewohnt bin, was kein Wunder ist, grenzt dieser Landstrich doch an die Präfektur Huá, die für ihre Liebe zu Chilis bekannt ist. Hu-yi und Hu-buo, die freundlichen Wirtsleute, sorgen dafür, dass unsere Tassen immer mit Chrysanthementee gefüllt sind, und sie lehnen die respektvollere Form der Anrede ab, die unseren Älteren gebührt.

Satt und zufrieden ziehen wir uns frühzeitig auf unsere Zimmer zurück, wohl wissend, dass der morgige Marsch den Berg von Yěliǔ hinauf den Großteil des Tages in Anspruch nehmen wird.

Shu hilft mir, meinen Verband straff zu ziehen, damit er über Nacht nicht verrutscht, und schaut dabei mit gerunzelter Stirn auf meinen Arm, als hätte er sie irgendwie beleidigt.

»Stimmt etwas nicht?«, frage ich vorsichtig.

Sie zieht ein letztes Mal an der Bandage, damit sie wirklich fest genug sitzt, sieht mir aber nicht in die Augen. »Es … es gefällt mir nicht, dass du wegen mir verletzt wurdest«, flüstert sie.

Beim Anblick ihres Gesichtsausdrucks krampft mein Herz sich zusammen. Meine weichherzige Schwester, die immer hilfsbereit ist, die nie jemanden leiden sehen will. Ich hätte wissen müssen, dass sie sich grämen würde. Wir müssen noch darüber sprechen, was vor meiner Rückkehr passierte, und darüber, was seitdem geschehen ist. Aber ich weiß nicht, ob ich schon zum Reden bereit bin.

»Ich bin jetzt wieder da.« Ich zucke mit den Schultern und versuche, einen beiläufigen Ton anzuschlagen. »Und du bist da, und das ist alles, was für mich zählt.«

Sie seufzt. »Ich hasse es, dass ich nicht in der Lage war, dir zu helfen, dass ich nicht einmal Vater richtig helfen konnte, als er dich behandelt hat.«

Ich verstehe ihr Gefühl der Hilflosigkeit, denn ich habe es selbst schon empfunden. Es betrübt mich, dass ich ihr das nicht ersparen konnte.

»Ohne deine Stickerei wäre ich nie auf das Gegenmittel gekommen«, rufe ich ihr in Erinnerung. »Kluges Mädchen.« Ich strecke die Hand aus, um ihr das Haar zu zerzausen, so wie früher, als wir jünger waren. Doch sie duckt sich weg, lächelt dabei aber wenigstens ein bisschen.

Ich puste die Kerze aus, und wir legen uns schlafen, lassen die Sorgen für diese Nacht ruhen. Doch anstelle von erholsamen Träumen und glücklichen Erinnerungen ereilen mich Bilder von roten Augen, die mich in der Dunkelheit beobachten.

Kapitel 3

Kang 康

Als seine Mutter starb, glaubte Kang, er würde auch seinen Vater verlieren. Drei Tage und drei Nächte lang hielt der General beim Leichnam seiner Frau Wache und weigerte sich, den Raum zu verlassen, ungeachtet aller Bemühungen seitens ihrer Familie, ihn zum Essen und Ausruhen zu bewegen. Also baten sie Kang, in ihrem Namen mit seinem Vater zu reden, aber es war vergebens. Er wollte mit niemandem sprechen. Kang konnte nichts anderes tun, als vor der Tür zu knien und dem Weinen und Wüten seines Vaters auf der anderen Seite zuzuhören. Am vierten Morgen der Totenwache kam ein Brief aus der Hauptstadt, der nur für die Augen des Generals bestimmt war und unter der Tür hindurchgeschoben wurde.

Bald darauf verließ der General das Totenbett seiner Frau, schnappte sich ein Boot sowie ausreichend Vorräte für eine Woche und verschwand. Er sagte nichts darüber, wohin er ging oder wann er zurückkommen würde. Kang vollzog die restlichen Bestattungsrituale allein. Die Gebete. Die endlosen Zeremonien, die Prozessionen durchs Dorf. Die Ehrerweisungen durch das Volk seiner Mutter und die Soldaten seines Vaters. Er beobachtete, wie die Flammen des Scheiterhaufens die Nacht erhellten, und er trug die Knochen seiner Mutter die Klippen hinab, um sie dem Meer darzubieten.

Kang war davon überzeugt, dass sein Vater auf eine Reise gegangen war, um zu sterben. Doch dann tauchte knapp hundert Tage nach der Beisetzung seiner Mutter das Segel seines Bootes am Horizont auf. Er empfing seinen Vater an den Ufern unterhalb der Smaragdklippen, immer noch in Trauerweiß gekleidet.

Sein Vater sah ausgemergelt aus und war von der Sonne gebräunt, aber in seinen Augen glomm ein verzweifeltes Feuer. Kang erfuhr vom Inhalt des Briefes, vom Jagdunfall, der gar kein Unfall gewesen war, und vom Zutun des Kaisers am Tod seiner Mutter.

Da verstand er das neue Ziel seines Vaters.

Rache.

Zwei Tage nachdem der General mit seinen Truppen in die Hauptstadt einmarschiert ist, wird Kang in die Ratskammer seines Vaters gerufen. Während er darauf wartet, zum Inneren Palast vorgelassen zu werden, denkt Kang flüchtig darüber nach, dass alles so aussieht wie immer und sich doch alles verändert hat. Der Wachposten vor seiner Residenz wurde durch die Privatwache seines Vaters ersetzt, es sind vertraute, aber keine sehr freundlichen Gesichter. Die Beamten, die noch vor einer Woche auf den Fluren an ihm vorbeigeeilt sind, bedenken ihn jetzt mit einem Nicken oder gar einer ehrfürchtigen Verbeugung. Auch die Diener scheinen verunsichert, wie sie ihm begegnen sollen, und gehen ihm stattdessen lieber aus dem Weg, wenn sie ihn von weitem kommen sehen. Aber diejenigen, die ihm dienen, tun dies nun mit Ehrerbietung und einem Hauch von Angst, denn das Justizministerium hat auf Geheiß des Generals damit begonnen, den Palast zu durchkämmen, auf der Suche nach denen, die im Verdacht stehen, an dem Komplott beteiligt gewesen zu sein, das der Prinzessin die Flucht ermöglichte.

Abgesehen von der Zeit, als man ihn als Gefangenen durch die verborgenen Tunnel in die Privatgärten der Prinzessin gebracht hatte, ist dies seit Jahren das erste Mal, dass er den Inneren Palast zu sehen bekommt. An den mit Bemalungen verzierten Fluren hat sich nicht viel verändert, soweit er sich noch erinnern kann, aber die Wände der Ratskammer sind gähnend leer. Sämtliche Spuren des früheren Kaisers wurden entfernt, damit der neue Herrscher selbst entscheiden kann, was sein Auge erfreut. In dem Raum befinden sich nur sein Vater, der hinter dem prächtigen Rotholzschreibtisch sitzt, und der Kanzler, der links von ihm an einer Tasse Tee nippt.

»Vater.« Kang verbeugt sich. »Kanzler.«

Sein Vater deutet auf den freien Platz gegenüber dem Kanzler, der ihm zur Begrüßung zunickt. Kang lässt sich auf dem harten Holzstuhl nieder, als ein Diener mit einem Tablett voll Leckereien und Tee hereinkommt. Er hatte auf ein Gespräch unter vier Augen mit seinem Vater gehofft, doch anscheinend gibt es einen anderen Grund für dieses Treffen. Einen, der über Familienangelegenheiten hinausgeht.

Nachdem sein Vater von seiner Reise über das Meer zurückgekehrt war, sprach er mit Kang nie wieder ein Wort über den Tod der Mutter. Nie erläuterte er seine Pläne. In der Öffentlichkeit behandelte er Kang stets wie einen seiner Soldaten, ohne ihn in irgendeiner Weise zu bevorzugen, wofür Kang dankbar war. Doch zu Hause in ihren eigenen vier Wänden wurde sein Vater immer mehr zum Eigenbrötler.

Er erinnert sich daran, wie der Kanzler zum ersten Mal in Lǜzhou auftauchte, verkleidet als Kaufmann auf einem kleineren Frachtschiff, zusammen mit anderen Leuten vom Festland. Er und der General unterhielten sich bis spät in die Nacht hinein, hielten Beratungen ab, an denen Kang nicht teilnehmen durfte, bis er sich eines Tages Zugang zum Arbeitszimmer seines Vaters verschaffte. Ein Ort, der ihm bis dahin verwehrt gewesen war. Mit Inbrunst trug er vor, dass man ihn wie ein Kind behandeln würde statt wie einen fähigen Soldaten. Er benutzte eine Sprache, die sein Vater verstand, auch wenn Kang niemals zugab, welche Angst alldem zugrunde lag: Er wollte nicht auch noch seinen Vater verlieren.

Letztlich war es der Kanzler gewesen, der sich für ihn einsetzte, der den General davon überzeugte, ihn mit der Aufgabe zu betrauen, die Hauptstadt zu infiltrieren.

»Unsere Pläne sind aufgegangen.« Der General legt seinen Tuschepinsel auf der Ablage vor sich ab und unterbricht Kangs Erinnerungen. Er schiebt das Schriftstück an den rechten Rand des Tisches, damit es trocken kann. Von seiner Position aus erkennt Kang nur wenige Schriftzeichen. Irgendetwas über Kornkammern und Ānhé.

»Es hätte nicht besser laufen können«, kommentiert Kanzler Zhao und stellt seine Tasse ab. »Wir haben zahlenmäßig geringe Verluste erlitten. Jetzt müssen wir nur noch die Unterstützung des Hofes gewinnen, um sicherzustellen, dass Eure Thronbesteigung erfolgreich ist.«

Kang sollte dem Kanzler dankbar sein, dass er vor vielen Monaten an seinen Vater appelliert hatte, ihn an der Mission teilhaben zu lassen. Aber er hat miterlebt, wie schnell der Kanzler sich gegen die Prinzessin wandte, hat die Gerüchte gehört, dass niemand den Thron besteigt ohne die Zustimmung des Kanzlers. Um seine Position in der Regentschaft von zwei Kaisern beizubehalten, und jetzt nähert sich der dritte … Kanzler Zhou ist kein dummer Mann, und je mehr Kang über ihn erfährt, desto größer wird sein Misstrauen.

»Das Kriegs- und das Justizministerium haben sich schon immer den zahlenmäßig Stärkeren gebeugt«, sagt der General. »Ich habe die Rekruten aus Lǜzhou, meine loyalen Bataillone in der Region und führungsbereite Kommandeure, die mein Banner tragen. Ich würde vermuten, dass wir zusammen mit der Reserve von Gouverneur Wang mindestens die Hälfte der militärischen Kräfte von Dàxī kontrollieren, und weitere könnten überzeugt werden, indem man ihnen entsprechende Anreize bietet. Es sind das Ministerium für Rituale, die Sterndeuter und diejenigen, die an der Verwaltung des Reiches mitwirken, die ich überzeugen muss.« Kangs Vater spricht voller Zuversicht über seine militärische Stärke, und erst als er den Hofstaat erwähnt, runzelt er die Stirn.

»Minister Song liebt seine Symbole und hehre Ziele.« Der Kanzler lächelt süffisant. »Ich denke, der von mir vorgeschlagene Plan wird Eurer Hoheit den gewünschten Rückhalt aller Ministerien verschaffen.«

Aus seiner Hand dringt ein Klirren, wie von aneinanderschlagenden Steinen. Kangs Blick fällt auf die zwei Kugeln, die der Kanzler geschickt auf seiner rechten Handfläche umeinanderrollen lässt. Sie sind von einem satten, dunklen Grün, ein Merkmal hochwertiger Jade. Diese Kleinode, gefertigt aus den verschiedensten polierten Edelsteinen, erfreuten sich großer Beliebtheit, als er noch ein Kind war. Sie sollen die Konzentration fördern, sind in den letzten Jahren allerdings aus der Mode geraten.

»Ja, ich habe den Plan überdacht.« Kangs Vater wirkt nicht so überzeugt.

»Wir müssen rasch handeln«, sagt der Kanzler. »Eine schnelle Abrechnung mit denjenigen, die gegen Euch opponierten, um zu demonstrieren, dass Ihr nicht zögern werdet, die Euch zur Verfügung stehenden Kräfte einzusetzen. Aber …« Sein Blick gleitet zu Kang, und er neigt den Kopf. Kang spürt ein kurzes Aufflackern von Ärger, auch wenn er sich bemüht, es zu verbergen. Es ist ein offenkundiger Versuch, die Höflichkeit zu wahren, ein alter Hofbeamter, der seine Rolle spielt. Kang kennt das bereits zur Genüge. Die Armeekommandeure haben ihr eigenes Gebaren; die Hofbeamten bedienen sich subtiler Gesten und verschleierter Worte. Doch am Ende sind sie alle gleich. Sie schieben die Figuren auf dem Spielbrett hin und her, um sicherzustellen, dass sie profitieren.

»Es gibt einen Grund, warum ich dich zu diesem Rat hinzugebeten habe«, sagt der General und richtet das Wort direkt an seinen Sohn. Wie ein schweres Gewicht spürt Kang die Bedeutung dessen, was ihm gleich zuteilwird. »Deine Mutter wollte immer, dass du Zeit bekommst, um deine eigene Persönlichkeit zu entfalten, bevor du die Verantwortung übernehmen musst, die Familie Li und deren Namen hochzuhalten. Doch jetzt ist es so weit, dass du deinen Platz einnimmst.«

»Ich habe deine Anweisungen befolgt, Vater«, sagt Kang leise. »Ich kam in deinem Namen in den Palast.«

»Und du hast deine Aufgabe erfüllt, so, wie ich es erwartet hatte.« Sein Vater schenkt ihm ein Lächeln. Für Kang ist das ein großes Lob. Dass er den Auftrag erfüllt hat, dass ihm die Anerkennung zuteilwird, nach der er sich so verzehrt.

»Deine Anwesenheit im Palast vor meiner Ankunft hatte einen bestimmten Zweck«, fährt der General fort. »Sie war nicht nur dazu gedacht, die Aufmerksamkeit des Hofes abzulenken, während ich meine Pläne ausführte. Sie war nötig, um den Hof auf die Rolle vorzubereiten, die du zukünftig übernehmen sollst, um den Samen der Legitimität auszusäen.«

Die Wärme des Lobes schwindet so schnell dahin, wie sie gekommen war, und macht einem kühlen Frösteln Platz. Das Zögern seines Vaters hat eine andere Bedeutung als das des Kanzlers. Kang weiß, dass ihn nichts Angenehmes erwartet. »Was soll ich für dich tun?«, fragt Kang.

»Du wirst nach meinem Thronantritt zum Prinzen ernannt, denn ein Herrscher mit einem geeigneten Erben bietet mehr Stabilität. Es entspricht der natürlichen Ordnung der Dinge. Allerdings hast du nie irgendwelche Ambitionen in diese Richtung erkennen lassen, und so muss ich dich fragen: Akzeptierst du diese Rolle?«

Hier ist sie also. Die Frage, die in Lǜzhou immer über ihren Köpfen geschwebt hatte. Die Frage, um die alle Berater herumlavierten, die Frage, die seine Mutter nie beantworten wollte, da Kang es nie gewagt hätte, seinen Vater direkt nach seinen Ambitionen auf den Thron zu fragen. Einem ersten Impuls folgend will Kang tun, was von ihm erwartet wird, und sich fügen. Gehorchen, ohne Fragen zu stellen, und doch … Kang ist dazu nicht in der Lage. Er muss fragen. Er muss es wissen.

Kang erhebt sich aus seinem Stuhl, kniet nieder und neigt das Haupt. Er weiß, dass ihn diese Frage alles kosten könnte. Unzählige Male hat er in Gedanken durchgespielt, wie er sie formulieren könnte. Er hat seinen Vater vor Ning verteidigt, selbst als sie ihm die schreckliche Erkenntnis über die Quelle des Giftes anvertraute. Nun, da der Thron zum Greifen nah ist, sollte es für seinen Vater keinen Grund mehr geben, die Wahrheit vor ihm zu verschleiern.

»Vater, wenn du mir wohl gestattest, eine Frage zu stellen, die mich schon während meiner ganzen Zeit in der Hauptstadt quält … Ich bitte dich darum, dass du sie anhörst und mir eine Antwort gewährst.«

Der Kanzler stößt einen pikierten Laut aus, aber Kang schert sich nicht darum. Er schert sich nur um die Antwort seines Vaters. Das war ihm schon immer am wichtigsten gewesen: seine Anerkennung. Sie ist mehr wert als jedes Gold.

»Sprich.«

»Es betrifft die vergifteten … die vergifteten Teeziegel, die letztes Jahr im Reich verteilt wurden«, sagt Kang. Er hat stets das Gefühl, einen Schritt hinterherzuhinken; erst vor kurzem zum Rat zugelassen, ist er noch immer weit entfernt vom inneren Kreis. »Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, dass die Ärzte und Shénnóng-shī das Gift in seine Bestandteile zerlegt haben, und ein Bestandteil ist gelber kānbù. Aus Lǜzhou.«

»Was willst du wissen?« Die Stimme seines Vaters ist ruhig. Er wirkt nicht alarmiert, nur neugierig interessiert.

»Ich will wissen, warum … Warum hast du den Tee vergiftet?« Kang wählt seine Worte mit Bedacht, denn er denkt an die Weisheit seiner Mutter, die sie ihm einst mit auf den Weg gab. Sie pflegte stets zu sagen, dass mit den richtigen Worten die Schlacht halb gewonnen sei, mit dem, was gesagt und ungesagt bleibt, gewiss und ungewiss. Und manchmal ist es besser vorzupreschen, anstatt zurückzuweichen.

Kang zwingt sich dazu, dem forschenden Blick seines Vaters ruhig standzuhalten. Er hat in den letzten Wochen gelernt, seine eigene Traurigkeit und Wut hinunterzuschlucken.

»Ich habe Euch gewarnt!« Der Kanzler knallt mit der Hand auf den Tisch neben ihm, das Geräusch ist so laut wie ein Donnerschlag. Er schnellt von seinem Sitz hoch, stellt sich neben Kang und verbeugt sich ebenfalls. »Er hat zu viel Zeit mit der Prinzessin und dieser Shénnóng-tú verbracht. Sie haben ihm Argwohn eingeflüstert, der sein Urteilsvermögen trübt und seine Loyalität beeinträchtigt.«

Statt eines Fröstelns jagt Kang ein eisiger Schauer über den Rücken. Während er noch mit seinen eigenen Zweifeln kämpfte, haben andere bereits entsprechend vorgesorgt. Der Kanzler zielt darauf ab, seinen Platz am Hof zu sichern. Wenn er die Loyalität seines Vaters gewinnt und alle anderen in seinem Umfeld unter Verdacht stellt, selbst die eigene Familie des Generals …

»Vater, ich bitte dich, nicht zu –«

»Hinsetzen, alle beide«, stößt der General hervor und unterbricht sein Bitten. »Genug davon.«

»Bald wirst du verstehen, wie die Welt funktioniert und dass wir die Waffen nutzen müssen, die uns zur Verfügung stehen«, sagt der General schließlich, nachdem sich alle wieder auf ihre Plätze gesetzt haben. »Ich habe mich zu lange auf das Schwert verlassen und geglaubt, dass Loyalität und familiäre Bande ausreichen würden, um jene zu schützen, die mir lieb und teuer sind. Aber selbst die Entfernung reichte nicht aus. Meinem Bruder missfiel es, dass ich im felsigen Lǜzhou ein erfolgreiches Leben aufbaute. Er wollte mich leiden sehen, und jetzt habe ich die Qualen an seine Türschwelle gebracht.« Die stille Intensität in seinem Blick ist beunruhigend, und für einen Moment wird Kang angst und bange.

Kanzler Zhou neben ihm nickt.

»Du kannst dem Kanzler persönlich danken, dass er mich vor vielen Monaten darauf aufmerksam gemacht hat. Ohne ihn hätten wir nie die Wahrheit über den Tod deiner Mutter in Erfahrung gebracht.«

Ah. Darum geht es. Um den Ursprung des Komplotts. Wie gerissen der Anschlag ausgeführt wurde, durch einen in das Umfeld seiner Mutter eingeschleusten Spion. Des Kaisers Messer in der Dunkelheit. Wie teuer hat der Kanzler sich die Herausgabe dieser Information bezahlen lassen?

»Ich habe lediglich meine Pflicht getan, Hoheit.« Der Kanzler lächelt. Wieder ist das leise Klirren der Steine zu hören, als er sie in seiner Hand umeinanderkreisen lässt. »Es ist kein Dank erforderlich.«

Dann schaut er zu Kang hinüber, und Kang versteht die unausgesprochene Warnung: Nimm dich in Acht.

»Gift ist ein Werkzeug«, sagt sein Vater ernst und starrt dabei in die Ferne, als würde er über die Zeilen eines alten Textes nachsinnen. »Wie der Gebrauch eines Schwerts, eines Pferdes oder eines Pfeils. Es kann schlimmste Verheerungen anrichten, aber es kann auch zu unserem Vorteil eingesetzt werden, um unsere Feinde zu schwächen, langsam und diskret.«

»Selbst wenn diese Feinde unbescholtene Einwohner von Dàxī sind?«, fragt Kang. Hunderte, vielleicht Tausende Tote. Alles Bürgerliche, die voller Angst sind.

»Würdest du einen opfern, um viele zu retten? Und wie ist es mit hundert Leben gegen Tausende? Das Leben aller in Dàxī?«, entgegnet sein Vater.

Kang weiß nicht, was er darauf antworten soll.

Er weiß nur, dass es der Verlust eines einzigen Menschen war, der diesen ganzen Plan in Gang setzte. Es war der Tod von Kangs Mutter, der den einen Stein ins Rollen brachte, und nun wird eine ganze Lawine herabstürzen.

Die Züge seines Vaters werden weich. »Ich vergesse es immer wieder; du hegst wie deine Mutter große Sympathie für die einfachen Leute.«

Nachdem er seinem Vater und dem Kanzler zugesichert hat, dass er seine Rolle spielen wird, ist Kang entlassen. Die Hände noch an der Tür, hört er, wie sein Name geflüstert wird. Er hält inne und lauscht durch den Spalt.

»Glaubt Ihr, das er tun wird, was er soll?« Der Kanzler ist immer noch skeptisch.

Kang spürt, wie sein Mund sich zu einer harten Linie verzieht. Er wird auf der Hut sein müssen.

»Ich glaube, dass er am Ende erkennen wird, was ich alles für das Reich getan habe.« Der General sieht mit einem Mal müde aus und stützt seinen Kopf in eine Hand. »Was ich alles für ihn getan habe.«

»Ich hoffe, Ihr behaltet recht«, erwidert der Kanzler und erhebt sich zum Gehen.

Es mag nur eine Täuschung des Lichts sein, aber als der Kanzler sich umdreht, könnte Kang schwören, dass dessen Augen im Schein der Laterne rot leuchten.

Kapitel 4

Ning 寧

Am Morgen beladen wir mit Hilfe von Hu-yi und Hu-buo zwei Ponys, die wir gegen unser Fuhrwerk samt Pferd eingetauscht haben. Ich bemerke die bemalten Teekannen und -tassen im Regal des Hauptraums und muss an die ruinierte Shénnóng-shī-Truhe meiner Mutter denken. Alle ihre Utensilien – zerstört. Trotz all meiner Bitterkeit bin ich die Hüterin ihres Vermächtnisses, und ich werde zu ihrem Andenken weitermachen. Denn ich habe nur die Erinnerung.

»Ich habe sie selbst bemalt«, sagt Hu-yi, als sie sieht, wie ich eine Tasse in die Hand nehme und mit einem Finger über die Rosen fahre, die von höchst kunstfertiger Hand erschaffen wurden. Ich kaufe ihr ein Service ab sowie ein Päckchen getrockneter Chrysanthemen. Das Gewicht des Geschirrs in meinem Rucksack empfinde ich als tröstlich, und erst jetzt wird mir bewusst, wie nackt ich mich ohne die Utensilien meiner Magie gefühlt habe.

Bevor wir aufbrechen, gibt Hu-yi uns eine Tasche mit Essen. Sie winkt Zhens Angebot ab, dafür zusätzliches Geld zu zahlen, und behauptet, dass die Vorräte verderben würden, wenn wir sie nicht mitnähmen.

»Es war ein schwieriges Jahr«, erklärt sie. »Es kommen nicht sehr viele Pilger über den Pass, nicht wie in den Jahren zuvor.«

»Wärt ihr doch nur schon vor zwei Jahren hier durchgereist!«, ruft Hu-buo aus. »In den Sommermonaten wimmelte das Dorf von Leuten. Überall Lebensmittel- und Marktstände, jede Straße mit Dekorationen geschmückt.«

»Ist euer Dorf auch mit den vergifteten Teeziegeln in Berührung gekommen?«, fragt Ruyi.

Sie schütteln beide den Kopf. »Wir sind zum Glück verschont geblieben«, sagt Hu-yi. »Wir hatten einen vergifteten Ziegel, aber der wurde entdeckt, bevor er verteilt werden konnte.«

»Was uns zu schaffen macht, das sind die Banditen.« Hu-buo zieht eine Grimasse. »Sie treiben auf den Straßen der Gegend ihr Unwesen, und seit letztem Winter ist es sogar noch schlimmer geworden. Also seid vorsichtig.«

Als wir uns schließlich auf den Weg machen, sind die Baumkronen noch nebelverhangen. Ich bin als Kind öfter mit meinen Eltern in den Bergen gewandert, in der Nähe von Xīny, aber im Vergleich zu diesen Gipfeln waren das eher kleine Hügel.

Im Wald herrscht reges Treiben. Aufgeschreckt durch das Geräusch unserer Schritte huscht etwas vor uns weg ins Unterholz. Das Brummen der Insekten und die Rufe der Vögel erfüllen die Luft.

Ruyi geht zusammen mit Shu und dem ersten Pony voran, während Zhen sich zurückfallen lässt und mir die Zügel des zweiten Ponys aus der Hand nimmt. Ich sehe ihrem Gesichtsausdruck an, dass sie reden möchte, und warte darauf, dass sie das Wort ergreift, als wir beginnen, den Steilhang zu erklimmen.

»Wir müssen uns über Wenyis Brief unterhalten«, sagt Zhen. »Bisher war kaum Zeit, dass wir uns beraten konnten.«

Ich werfe ihr einen überraschten Blick zu. Die Prinzessin wirkt besorgt, während sie das Pony den Pfad entlangführt. Es ist beunruhigend, dass sie ein solches Maß an Besorgnis erkennen lässt, denn es steht in völligem Gegensatz zu ihrer üblichen Dickfelligkeit.

»Was stand denn darin?«

»Seine Familie lebt am Klarwasserfluss. Im letzten Jahr hatte eine dortige Rebellengruppe, die sich selbst das Schwarzwasser-Bataillon nennt, großen Zulauf.« Ein cleveres Wortspiel, das muss ich zugeben. Der Klarwasserfluss trennt die Provinz Yún von der Lǜzhou-Halbinsel. »Es wird gemunkelt, dass es sich dabei um die zurückgekehrten Truppen des Generals handelt, dass einige der Mitglieder frühere Anführer in seinen Reihen waren.«

Der General von Kǎiláng. Ich bin ihm kurz im Teehaus begegnet. Bei dem Gedanken an ihn wird mir mulmig. Er ist der Vater von Kang, eine Tatsache, die mein Verstand nur schwer fassen kann. Der Vater des Jungen, dessen Gedanken ich spürte, als wären es meine eigenen, den ich für unschuldig an der Intrige hielt, bis er mein Vertrauen brach. Er verheimlichte mir so viel, verbarg es vor meiner Magie. Eigentlich müsste mein Zorn sich auch gegen ihn richten, und doch …

»Ning?« Zhen unterbricht meine abschweifenden Gedanken, und mir wird bewusst, dass ich das Schweigen zwischen uns unangemessen in die Länge gezogen habe.

»Verzeiht, fahrt bitte fort.« Ich schüttele den Kopf. Welchen Sinn hat es, in Erinnerungen an ihn zu schwelgen? Er befindet sich weit weg am anderen Ende des Reiches, und ich laufe neben seiner Feindin her, der größten Bedrohung für die Ambitionen seines Vaters.

»Der örtliche Magistrat steht im Verdacht, Bürger wegen geringfügiger Delikte anzuklagen und sie zur Strafverbüßung nach Lǜzhou zu schicken, aber sie kommen nie auf den Salzfarmen an. Stattdessen werden sie für die Schwarzwasser-Truppe zwangseingezogen und dazu gebracht, den gesamten Landstrich zu terrorisieren, wobei so getan wird, als würden sie den Frieden wahren.«

»Das sind schwerwiegende Anschuldigungen«, sage ich. Selbst mit meinen beschränkten Kenntnissen über Politik weiß ich, dass dies ein Ausmaß an Korruption ist, das nur durch weitreichende Beziehungen und Ressourcen bewirkt werden kann. Wir wissen, dass der Arm der Korruption von Lǜzhou bis Sù reicht, offenbar unter Beteiligung des Gouverneurs. Ich frage mich, ob es irgendeinen Winkel von Dàxī gibt, der noch nicht unter dem Einfluss des Generals steht, ob sie alle eingebunden sind in die Umsetzung seines Plans: seine grandiose Thronbesteigung.

»Es ist Hochverrat«, sagt Zhen. »Aber das ist nicht mal das Schlimmste, was man ihm vorwirft. Diejenigen, die den Fängen der Schwarzwasser-Truppe entfliehen können, kehren … verändert zurück. Mit der Zeit verlieren sie den Bezug zur Wirklichkeit.«

»Ich … bin nicht sicher, ob ich Euch folgen kann«, sage ich.

»Anscheinend sind die Veränderungen anfangs noch gering«, sagt sie. »Aber dann beginnen die Betroffenen dem zu erliegen, von dem Wenyi vermutete, dass es sich dabei um eine andere Art von Gift handelt. Sie werden verwirrt, erkennen weder Familie noch Freunde und fangen an, sich selbst und andere in ihrem Umfeld zu verletzen.«

Ich erschauere. Was für eine schreckliche Waffe, seinen Feind in den Wahnsinn treiben zu können.

»Warum sollten sie gewöhnlichen Bürgern etwas anhaben wollen?«, frage ich. »Sie haben gar nicht die Möglichkeit, gegen sie zu opponieren.«

»Angst. Angst ist ihre Waffe.« Zhen runzelt die Stirn. »Statt davon zu leben, die Siedlungen am Fluss zu überfallen und auszuplündern, werden die Banditen jetzt von der Schwarzwasser-Truppe versorgt und ausgerüstet, und sie haben alle Angst davor, dass, wenn sie ablehnen, ihre Angehörigen zwangsrekrutiert oder ermordet werden. Einige Dörfer und Städte haben dieses Schurkenbataillon sogar mit offenen Armen willkommen geheißen und ihm ihre Loyalität bekundet. Sie glauben, es würde besseren Schutz gewähren als die Truppen des Reiches.«

Zhen schüttelt den Kopf. »Aber genug von der politischen Lage der Region. Was ich von dir wissen möchte, ist, ob du diese Sorte von Gift kennst? Oder ist es womöglich eher eine Art von Magie … wie jene, die du an dem Vogel angewandt hast?«

Ich weiß, worauf sie hinauswill. Sie denkt daran, was Peng-ge widerfuhr, als ich ihn dazu zwang, vergiftetes Wasser zu trinken, um seine Wahrnehmung zu verzerren, damit er glaubte, er würde verdursten. Dies zu tun, hatte meiner Natur und den Shénnóng-Lehren widersprochen, doch ich sah keinen anderen Weg, um die Aufgabe zu meistern. Und ich bereue es nicht, denn nur so gelang es mir, die Wettkampfrunde zu bestehen.

Gut möglich, dass ich eines Tages diese Grenze noch einmal überschreiten muss – und meine Magie nicht nur gegen einen Vogel einsetze, sondern auch gegen einen menschlichen Feind, wenn mein Leben oder das von Shu auf dem Spiel steht.

»Ich konnte Einfluss auf den Vogel nehmen, weil er ein einfaches Geschöpf war«, erwidere ich. »Ein einfaches Geschöpf, das schlichte Bedürfnisse hatte. Ich habe seine grundlegende Natur angesprochen, sein Bedürfnis nach Nahrung, Schutz und Wasser. Außerdem war ich ganz in seiner Nähe, so dass ich die Verbindung durch den Shift herstellen konnte. Doch eine solche Art von Einfluss über eine große Distanz hinweg auszuüben und den Geist so vieler auf einmal zu kontrollieren …«

»Ich verstehe«, sagt Zhen, und ihre spürbare Enttäuschung löst in mir einen Anflug von Ärger aus, aber nur für einen kurzen Moment. Es war keine sonderlich stilvolle Lösung im Rahmen eines vom Hof angeordneten Wettbewerbs, trotzdem hatte diese plumpe Anwendung der Shénnóng-Magie ihren berechtigten Zweck. Die Heuchelei dahinter schmerzt etwas, aber dann rufe ich mir ins Gedächtnis, dass es nicht die Prinzessin war, die den Gebrauch dieser Magie missbilligte – es waren einige der anderen Juroren, die ihre Verachtung für derlei Methoden zum Ausdruck brachten.

Wut hilft uns jetzt nicht weiter. Ich muss für die kommenden Tage einen klaren Kopf bewahren.

»Ich begreife die Magie nur in einem begrenzten Maß«, sage ich schließlich. »Ich habe nie eine offizielle Ausbildung erhalten, und meine Schwester hatte ihre gerade erst begonnen, als sie krank wurde. Aber Ihr habt mit eigenen Augen die dreiköpfige Schlange gesehen, die ich aus Ruyi hervorgezogen habe. Es könnten also durchaus Arten von Magie existieren, die mir noch nie untergekommen sind. Auch solche, die selbst meine Mutter nicht kannte.«

Bei der Erinnerung an die Schlange verzieht Zhen angewidert das Gesicht.

»Dein Arm …«, setzt sie zögernd an, als wollte sie die Antwort auf ihre Frage eigentlich gar nicht wissen. »Was ist geschehen?«

Ich erzähle ihr, was passiert war, als ich meiner Schwester in den Shift folgte, von der Schlange im Wald und der Unmöglichkeit, dass eine Kreatur in dieser anderen Welt meinen physischen Körper verletzte. Kreaturen, die nicht existieren sollten und doch vor uns zum Leben erwachten.

Zhen denkt kurz über alles nach, dann sagt sie: »Es ist sehr beunruhigend, all diese Zeichen und Gerüchte. Das Erscheinen dieser Abscheulichkeiten. Ich hoffe, dass wir in Yěliǔ die Antworten finden, die wir suchen.«

Auf dem nächsten Streckenabschnitt bin ich damit an der Reihe, das Pony zu führen, als wir unseren langsamen Aufstieg fortsetzen und in gleichmäßigem Tempo durch den Wald wandern. Je tiefer wir in das Gehölz vordringen, desto schmaler wird der Pfad. Die Bäume rücken immer dichter zusammen. Während die anderen angeregt miteinander plaudern, lasse ich mir die besorgniserregenden Informationen durch den Kopf gehen, die Zhen mit mir geteilt hat.

Neue Magien. Neue Dinge, die man fürchten muss.

»Seht mal«, ruft Ruyi an der Spitze unseres Trecks. Sie steht vor einer abgebrochenen Säule, deren Sockel mit Moos bewachsen ist, aber der Farbunterschied im oberen Teil lässt vermuten, dass der Schaden erst kürzlich entstanden ist. Zu unseren Füßen liegen die Scherben eines zertrümmerten Steintigers, einer Wächterstatue, die die wachsamen Augen der Götter repräsentiert. Ihre Schändung ist höchst beunruhigend. Wer auch immer es war, fürchtet keine Vergeltung des Himmels.

»Berichte über die Unruhen zu lesen ist die eine Sache.« Zhen blickt auf den Tiger hinunter, dem eine Gesichtshälfte fehlt, sein wildes Fauchen ist deutlich entschärft. »Aber Dàxī hat sich verändert seit der letzten Tour meines Vaters. Das erkenne ich jetzt ganz klar.«

Sie begegnet meinem Blick, und ich weiß, dass sie sich an meine Warnung von vor einiger Zeit entsinnt: Es ist ein Unterschied, ob ich das Leid erlebe oder nur Berichte darüber höre.

Ein umgestürzter Baum liegt quer über unserem Pfad und um darum herum manövrieren zu können, müssen wir uns ins Unterholz schlagen und für die Ponys reichlich Gestrüpp aus dem Weg schneiden. Im Weiterwandern essen wir Nüsse und weiche weiße Teigtaschen, um bei Kräften zu bleiben, während unsere Waden vom stetigen Bergauf zu brennen beginnen. Obwohl Ruyi uns nicht zur Eile drängt, spüre ich ihren Eifer, so viel Abstand wie möglich zwischen uns und mein Dorf zu legen. Stunden später dann, als die Sonne sich dem Horizont nähert und das Licht allmählich verblasst, wird der Weg unter unseren Füßen breiter.

Der erdige Untergrund geht in eine mit Steinen gepflasterte Straße über, und die Bäume lichten sich. Wir gehen weiter zu einer Brücke, die sich über eine kleine Schlucht spannt. Die Steintiger, die hier zu beiden Seiten der Brücke hocken, sind unversehrt, und trotzdem sind überall Zeichen der Zerstörung zu erkennen. Auf dem Boden liegen zertrampelte Fahnen. Ruyi geht vor einer in die Hocke und liest die Spuren, die für mein ungeschultes Auge nicht zu entschlüsseln sind.

»Sie haben Pferde und Wagen gebracht.« Sie deutet auf die Abdrücke auf dem Stoff. Radfurchen und Knickfalten. »Aber sie hatten keine gewöhnlichen Güter dabei. Sie transportierten etwas Schweres … Irgendetwas stimmt hier nicht.«

»Sollen wir weitergehen?«, fragt Zhen.

Ruyi nickt. »Bleibt dicht zusammen und seid auf der Hut.«

Wir überqueren die Steinbrücke, und plötzlich ist der Wald um uns herum vollkommen still. Vorsichtig gehen wir weiter. Die großen Steintore, so hoch wie drei Männer, stehen offen, aber als wir näher kommen, sehe ich auf einer Seite einen tiefen Riss. Als ob eine Explosion stattgefunden hätte.

Ein Schwert wird zu meiner Rechten gezogen, dann noch ein weiteres. Ruyi und Zhen stehen mit gezückten Waffen da und halten sich bereit. Shu und ich übernehmen die Ponys. Ich trete näher an meine Schwester heran, nicht wissend, was uns erwartet.

Wir schreiten durch die Tore in den Hof und sehen die Zerstörung vor uns. Mein Pony schnaubt und scharrt am Boden. Ich nehme den stechenden Geruch von kaltem Rauch wahr.

»Das gefällt mir nicht«, murmelt Shu in sich hinein. Ich greife nach ihrer Hand, um ihr ein wenig Zuversicht zu spenden, obwohl die Angst in mich hineinkriecht und sich breitmacht, mich zu beherrschen droht.

Es ist unverkennbar, dass die Gebäude von Yěliǔ einst ziemlich eindrucksvoll waren. Die Häuser sind aus grauem Stein, mit schwarz geziegelten Satteldächern. Es muss viel Mühe gekostet haben, die Baumaterialien den Berg hochzuschleppen. Der See in der Mitte, um den sich die Gebäude gruppieren, ist von einem dunklen, trüben Blau. Eine verwinkelte Brücke führt darüber hinweg, ein Zickzackweg zum Zweck der Besinnung, passend für eine Gelehrtenakademie.

Bambusgehölze wachsen in runden Steineinfassungen, sie ragen aus der Erde in die Höhe, bekrönt mit grünen und gelben Blättern. Aber wenn man sich umschaut, sieht man, dass viele von ihnen umgestürzt sind oder abgeholzt wurden. Als ich mich einem dieser kleinen Haine nähere, bemerke ich etwas, das auf dem Steinboden liegt. Doch statt wie erwartet eine weitere zerrissene Fahne vorzufinden, pralle ich entsetzt zurück.

Es ist eine Leiche.

»Shu, sieh nicht hin!«, rufe ich und reiße den Arm hoch, um ihre Augen zu bedecken.

Ein Stück weiter vor mir dreht Ruyi sich um und begegnet meinem Blick, ihr Gesichtsausdruck spiegelt meinen eigenen wider. Sie steht über eine weitere Leiche gebeugt. Dann sehe sich sie überall. Auf dem ganzen Hof.

Wir sind in ein Massaker hineingeraten.

Kapitel 5

Ning 寧

»Sieh nicht hin!«, flüstere ich Shu noch einmal zu. Ihre Hand schließt sich fester um meine. »Kannst du die Zügel festhalten?«, frage ich sie.

Sie nickt mit geschlossenen Augen, und ich reiche ihr den Strick meines Ponys. »Ich bin gleich wieder da.«

»Geh … geh nicht zu weit weg«, sagt sie, ihre Stimme zittert.

»Das werde ich nicht.«

Ich nähere mich der ersten Leiche. Mit dem Fuß drehe ich den auf der Seite liegenden Mann vorsichtig auf den Rücken und verziehe bei seinem Anblick das Gesicht. Seine Kehle ist aufgeschlitzt, eine klaffende, rote Wunde. Seine Augen starren gen Himmel, ohne zu sehen. Er trägt die Robe eines Gelehrten, eine lange schwarze Tunika mit einer weißen Schärpe, deren Ränder blutbefleckt sind. Neben ihm liegt ein Anhänger, der mir vertraut vorkommt. Es ist dasselbe Symbol wie das, das Wenyi stets bei sich trug.

So viele Leichen liegen wie Müll auf den Steinen ringsherum verstreut. Ich sehe keinerlei Waffen, weder neben ihnen auf dem Boden noch irgendwo in ihrer Reichweite. Sie wurden wehrlos niedergestreckt, dort, wo immer sie gerade standen. Ihre Arme sind blutüberströmt vom Versuch, sich zu schützen.

»Das ist Mord«, sage ich zu mir selbst, aber es kommt lauter als erwartet hervor und schallt durch die Luft.

»Wir wissen nicht, wer möglicherweise noch hier ist.« Ruyi nähert sich zusammen mit Zhen; beide blicken grimmig drein. »Wir sollten von hier verschwinden.«

Die beiden Frauen flankieren uns mit gezogenen Schwertern. Shu und ich setzen die Ponys in Gang; an ihren Zügeln zerrend, versuchen die Tiere hastig dem Gestank von Blut und Rauch zu entkommen.

»Da, zu dem kleineren Haus dort.« Zhen zeigt in Richtung eines Gebäudes, das ein Stück abseits des Hauptwegs steht, umgeben von einer kleinen Baumgruppe. Wir eilen an dem niedrigen Zaun entlang, wachsam Ausschau haltend nach allem, was möglicherweise noch in den Schatten lauert. Wenn ich doch nur einen Tee aufbrühen könnte, um mein Bewusstsein für die Gefahr zu schärfen und meine Sinne mit Gojibeeren und Chrysanthemen zu stärken. Erneut werde ich schmerzlich daran erinnert, wie schwierig es ist, meine Magie auszuüben, wie eingeschränkt ich ohne meine Utensilien bin.

Nachdem wir die Ponys an einem Pfahl festgebunden haben, gehen wir zu einer steinernen Flügeltür in der Mitte des Gebäudes. Beide Türen sind mit kunstvoll geschnitzten Steinfiguren versehen, geharnischte Krieger mit gebogenen Doas auf sich aufbäumenden Pferden, deren Hufe sich an der Stelle berühren, wo die Türflügel sich treffen.

Es bedarf der vereinten Kräfte von Ruyi und Zhen, um auch nur eine der schweren Türen aufzuschieben. Scharrend gleitet sie über den Boden und gibt den Blick frei auf einen höhlenartigen Raum. Die Decken scheinen zu niedrig, die Wände zu dunkel. Zwei imposante Säulen ragen in der Mitte auf, umgeben von aus Stein gehauenen Drachen, beide mit hervorquellenden, furchterregenden Augen. Einer lugt von oben, der andere späht von unten.

Zwischen ihnen steht eine riesige, bronzene Feuerschale. Mit der Spitze eines Stocks stochert Ruyi in der Asche nach Glut.