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Seine Texte sagen mehr als tausend Worte Als Yva von einem Tag auf den anderen eine neue Wohnung in Stockholm finden muss, kommt das Apartment neben der WG ihres besten Freundes wie gerufen. Womit sie nicht gerechnet hat, sind die sanften Gitarrenklänge, die nachts durch die Wand dringen: Fenn, ihr wortkarger Nachbar, ist leidenschaftlicher Singer-Songwriter. Tief berührt lauscht Yva seiner Musik in der Dunkelheit, bis sie ein unerwartetes Post-it von Fenn an der Tür entdeckt. Sie antwortet – und mit jeder weiteren Nachricht schreiben sie Zeile für Zeile ihren gemeinsamen Song. Wäre da nur nicht diese eine Sache, die Fenn vor Yva zu verbergen versucht … Broken Artist meets The Girl Next Door im Auftakt von Rebekka Weilers neuer New-Adult-Reihe. Die Dein SPIEGEL-Bestsellerautorin nimmt ihre Leser*innen mit ins traumhafte Schweden, wo Yva und Fenn eine Liebesgeschichte voller Wohlfühlvibes und Herzmomente erleben, aber auch mit ernsten Themen wie Mobbing und Toxizitätin vergangenen Beziehungen umgehen müssen.
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Seitenzahl: 527
Veröffentlichungsjahr: 2025
Liebe Leser*innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Inhaltswarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte!
Wir wünschen euch das bestmögliche Leseerlebnis.
Für alle, die ihre Stimme gefunden haben.
INHALT
Playlist
1YvaManche Veränderungen spürt …
2YvaEs ist zu …
3Yva»Scheiße, Yva, was …
4FennDas Petrichor ist …
5YvaNach meiner Schicht …
6FennMehrere Menschen mit …
7YvaEs ist ein …
8YvaMit dem Einzug …
9FennIch bin ein …
10YvaFenn rennt weg.…
11FennGuten Morgen. Danke …
12YvaEs ist seltsam, …
13YvaAls ich Stunden …
14FennVielleicht ist ein …
15YvaIn einem steten …
16YvaDie Dämmerung legt …
17YvaOrangerotes Morgenlicht fällt …
18FennDa ist nur …
19Yva»Danke, dass du …
20Yva»Er hat bei …
21FennYva und Mats …
22YvaDu wirst immer …
23Yva»Hej!« Ich falle …
24Fenn»Sieh an, sieh …
25FennSeit ich Linus …
26YvaAuf Fenns Beinen …
27Yva»Da rauf?« Silja …
28YvaFenn schweigt. Das …
29YvaEs ist, als …
30FennOut of words …
31YvaZehn. So viele …
32FennPerfectLifeMoment.mp3 …
33FennDas Handy zwischen …
34YvaWir sitzen draußen, …
Danksagung
Inhaltswarnung
Playlist
The Tortured Poets Department – Taylor Swift
Leftover Love – Picture This
Who’s Afraid Of Little Old Me? – Taylor Swift
Love Somebody – Moncrieff
Have You Ever Loved Someone – BANNERS
Don’t Forget Me – Dermot Kennedy
Looking At You – Only The Poets
Risk – Gracie Abrams
Illicit Affairs – Taylor Swift
Timeless – Reece Mastin
us – Gracie Abrams feat. Taylor Swift
Call It Love – Picture This
Is It Over Now? – Taylor Swift
Poet’s Heart – Westlife
Want You More – Moncrieff
A Cure For Minds Unwell – Lewis Capaldi
Ghost Reality – Moncrieff
Say Don’t Go – Taylor Swift
Act Of Innocence – Picture This
Strangers – Lewis Capaldi
One More Night – Only The Poets
The Last Time – Taylor Swift & Gary Lightbody
Hold Back The River – James Bay
Dying In LA – Panic! At The Disco
loml – Taylor Swift
The Manuscript – Taylor Swift
Somewhere Close To Heaven – Rea Garvey & Picture This
I Can Do It With A Broken Heart – Taylor Swift
Middle Of Love – Picture This & Dean Lewis
1
Yva
A change of heart
A change of light
A change of season
A change of night
[Fenn Lindberg – Changes]
Manche Veränderungen spürt man bereits, bevor sie eintreten. Ein Knistern in der Luft, ein Grummeln in der Magengegend, ein Ziehen in der Brust. Ein Gefühl innerer Anspannung, das Wissen, dass etwas passieren wird. Und dann gibt es Veränderungen, die unerwartet kommen. Die einen überfallen. Aus dem Nichts, hinterrücks. Einfach so. Man spürt nichts, man ahnt nichts, man fühlt nichts. Meistens sind es diese Veränderungen, die nachhallen. Laut und leise, stark und schwach. Aber vor allem dauerhaft. Und so, so heftig.
Der Wind wirbelt meine Haare durcheinander, als ich an den alten roten und gelben Häusern vorbeihaste. Ich bin verdammt spät dran. Und auch wenn ich weiß, dass mir niemand den Kopf wegen fünf Minuten Verspätung abreißen wird, muss ich mich beeilen. Es ist nicht fair, Mats länger als nötig auf mich warten zu lassen.
»Sorry, sorry, sorry«, rufe ich ihm zu, kaum dass ich die Tür zum Tonstudio aufgerissen habe. Er ist natürlich schon da und sitzt hinter dem kleinen Empfangstresen, an dem sich Besuch anmelden muss, um eine Kabine des Studios zu nutzen. Im Gegensatz zu mir ist Mats immer die Pünktlichkeit in Person, obwohl ihm mit Sicherheit nichts passieren würde, würde er zu spät kommen. Das Studio gehört seinen Eltern und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihren eigenen Sohn rauswerfen würden. Dazu sind sie viel zu nett.
Als er mich hört, sieht er von seinem Tablet auf und hebt grinsend die Hand. »Sieh an, wen der Wind hereingeweht hat.« Wie immer reicht sein Grinsen über das ganze Gesicht. Weil Mats einfach so ist. Stets gut gelaunt und nie um einen Spruch verlegen.
»Professor Andersson hat mal wieder überzogen«, erkläre ich im Vorbeilaufen und rausche weiter zum Personalraum. Hier hinten ist alles eng und verwinkelt, was wir der zentralen Lage des Gebäudes verdanken. Das Petrichor befindet sich im Herzen Stockholms, in einer der vielen schmalen Gassen von Gamla Stan, und ist nur zu Fuß zu erreichen. Doch das hält die Stars und Sternchen von morgen nicht davon ab, uns mit ihrer Anwesenheit zu beehren. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht jede einzelne Kabine von früh bis spät belegt ist. Denn es ist sicher nicht von Nachteil, wenn man als Nachwuchskünstler behaupten kann, in einem Studio von Svenstrid, Schwedens bekanntesten Pop-Musikern seit ABBA, aufgenommen zu haben.
Eilig schlüpfe ich in mein schwarzes Arbeitsshirt, das alle Mitarbeitenden von Astrid und Sven Johansson tragen, um ganz mit der dunklen Schallisolierung des Studios zu verschmelzen. Während unsere Kundschaft an den Mikrofonen sitzt, ist es unsere Aufgabe, im Hintergrund dafür zu sorgen, dass die Aufnahmen störungsfrei ablaufen.
Selten hat mir ein Nebenjob so viel Spaß gemacht wie der im Petrichor. Was nicht zuletzt an Mats liegt. Dass ich ihm vor drei Jahren zu Beginn des ersten Semesters auf der großen Anfangsparty begegnet bin, war ein totaler Glücksfall. Seit diesem Tag sind wir befreundet. Vor knapp einem Jahr hat er mir den Job bei seinen Eltern angeboten, nachdem meine Vorgängerin gekündigt hat, weil sie mit ihrem Studium fertig war.
Während ich mir die Haare zu einem Zopf flechte, sehe ich mich im Raum um. Die Schließfächer sind beklebt mit Dutzenden Postern schwedischer Bands und Soloartists. ABBA, Roxette, Robyn, Kent, Gyllene Tider, Håkan Hellström, Svenstrid. Eine Collage unzähliger Musikschaffender, die den Raum ebenso besonders macht wie das ganze Studio. Überall stehen alte Schallplatten herum, Polaroids bedecken Wände und Türen. Und im Flur gibt es eine riesige Stelle, an der sich jeder, der hier aufgenommen hat, verewigen darf. Manchmal bilde ich mir sogar ein, die Musik hier drin nicht nur zu hören, sondern sie auch riechen zu können. Den ganz eigenen Geruch der Schallplatten, die Bleistiftminen, mit denen die Musiker auf Notenpapier schreiben, das Holz der Gitarren. Es ist eine besondere Welt, ich liebe es hier und freue mich ausnahmslos auf jede Schicht.
»Hej«, begrüße ich Mats noch einmal richtig, als ich schließlich zurück nach vorne komme. »Tut mir leid, ich muss mir echt angewöhnen, ganz hinten zu sitzen, damit ich mich rausschleichen kann, wenn Andersson wieder kein Ende findet.«
»Alles gut.« Mats winkt ab. Leider ist es auch für ihn nichts Neues, dass mein Professor an manchen Tagen gnadenlos überzieht. »Es war nicht viel los.« Zur Bekräftigung seiner Worte schiebt er mir das Tablet entgegen, auf dem das Programm mit den Reservierungen geöffnet ist. »Livia und Raik kommen klar, ich werde ihnen nachher nur kurz zeigen, wie man die einzelnen Tonspuren voneinander trennt. Und Fenn ist in Kabine drei und kennt sich sowieso aus. Ihm musste ich nichts erklären.«
»Oh, das Phantom ist da?« Ich grinse, als Mats die Stirn runzelt.
»Das was?«
»Ich meine deinen Mitbewohner. Den geheimnisvollen Fenn.«
»Er ist nicht geheimnisvoll. Nur schweigsam.«
»Ja. So schweigsam und schüchtern, dass ich ihm noch nie begegnet bin, wenn ich dich besuche. Wie lange wohnt er jetzt schon in deiner WG? Vier Monate?«
»Fünf.«
»Noch schlimmer.«
Mats seufzt. »Ich weiß auch nicht, was Linus sich dabei gedacht hat, ihm die Zusage für das Zimmer zu geben.«
»Vielleicht redest du Linus zu viel und er wollte jemanden haben, der das ausgleicht?« Mein Grinsen wird noch breiter. Mats weiß, dass ich ihn nur auf den Arm nehme. Aber seinen mysteriösen Mitbewohner würde ich dennoch gern kennenlernen. Er ist zwar seit ein paar Monaten mindestens zweimal in der Woche bei uns im Studio für Songaufnahmen, aber wie in der WG hat er es jedes Mal geschafft, mir auch hier aus dem Weg zu gehen. Ich habe bisher nur zweimal seinen Rücken gesehen.
»Wahrscheinlich liegt es genau daran.« Mats’ Stimme trieft vor Sarkasmus.
»Keine Sorge, du bist bestimmt trotzdem sein Lieblingsmitbewohner.« Mit Schwung setze ich mich neben ihn. »Und Livia und Raik sind auch da, hast du gesagt? Kann ich mitkommen, wenn du ihnen die Einweisung gibst? Ich würde gern ein TikTok drehen, während du mit ihnen sprichst. Der Algorithmus liebt diese Behind-The-Scenes. Und ein Feature auf unserem Unternehmensaccount ist gute Werbung für sie.«
»Klar. Sie haben sicher nichts dagegen.«
»Dann frage ich sie gleich mal und lasse sie die Einverständniserklärung unterschreiben. Wenn man ihre Songs im Hintergrund hört, sind wir abgesichert.«
»Das ist eine gute Idee, ja.«
»Okay.« Ich nicke und schnappe mir den Laptop aus dem abschließbaren Fach des Schreibtisches. Es dauert nicht lange, bis ich die Datei gefunden habe, damit ich Livia und Raik die Erklärung per Mail schicken kann. Anschließend ziehe ich das Arbeitshandy hervor. Mein Blick ist fest auf das Display gerichtet, als ich TikTok öffne und anfange, Kommentare zu beantworten, die sich angesammelt haben. Unsere Community wächst stetig, die meisten Videos erreichen solide Views im vierstelligen Bereich, immer wieder gehen wir sogar richtig viral, was mich wie eine stolze Mutter fühlen lässt. »In unserer nächsten Schicht filme ich dich für eine kurze Mitarbeitervorstellung, ja? Du musst dir auch echt keine Sorgen machen, ich stelle dir nur ein paar Fragen.«
»Muss ich?« Mats verzieht das Gesicht. »Der Kram frisst so viel Zeit, nur damit am Ende ein Video rauskommt, das ein paar Sekunden lang ist.«
»Na ja. Deine Eltern bezahlen mich dafür«, scherze ich. »Und wenn ich etwas mache, dann mache ich es richtig. Betrachte es einfach als Investition in unsere Zukunft. Ist doch prima, wenn die Leute das Petrichor über die App entdecken. Auch wenn wir ganz gut belegt sind, schadet es nicht, im Gespräch zu bleiben. Einige neue Kunden erwähnen ja inzwischen sogar, dass sie uns über Social Media gefunden haben.«
»Kann sein, keine Ahnung. Es ist einfach nicht meine Welt.« Er seufzt leise und schüttelt den Kopf.
»Deshalb musst du das auch nicht machen. Sondern ich. Dein Job ist es nur, mir die Fragen zu beantworten. Okay?« Ich stoße ihn sanft in die Seite und kümmere mich darum, einen Kommentar unter unserem letzten Video mit einem Herzchen zu versehen. Das ist kein Hexenwerk, und auch wenn es mir Spaß macht, die Videos zu schneiden, verstehe ich, dass Mats keine Lust darauf hat. Er ist niemand, der viel am Handy hängt. Dafür liebt er es viel zu sehr, in einen der Nationalparks zu fahren. Oder auf Djurgården im Park zu sein. Leider sind mittlerweile auch viele Touristen dort unterwegs, seit die Insel zur beliebtesten Stockholms gekürt wurde. Wenigstens haben sie Mats’ Lieblingsort noch nicht entdeckt, die alten Apfelbäume hinter Rosendals Café. Selbst bei Regen ist er gern dort, dann im Glasgewächshaus, das zum Café gehört.
Eine Weile konzentriere ich mich weiter auf TikTok, während Mats Kundenfragen beantwortet, die über das Kontaktformular in unserer Mailbox gelandet sind. Ich höre nur das Klackern seiner Tastatur und meinen ausgewählten Sound, den ich über das Video lege. Meistens benutze ich dafür Tonspuren, die wir extra für unseren Account gemischt haben. Das heißt, Mats hat gemischt. Ich habe nur zugehört und mehr oder weniger hilfreiche Kommentare abgegeben.
Kurz werden wir unterbrochen, als neue Kundschaft eintrifft. Ein Trio, das vor einigen Monaten in der Schule zusammengefunden hat und nun ein Demo aufnehmen möchte, das professioneller klingt als eine Handyaufnahme. Mats verschwindet mit ihnen in ihrer gebuchten Kabine und weist sie ein. Ich widme mich weiter meinem Video, ehe ich beschließe, spontan live zu gehen. Noch ist Box fünf frei und ich nutze den Moment, um Fragen unserer Follower zu beantworten und den Zuschauern persönlich zu zeigen, wie es bei uns aussieht. Nur zehn Minuten, dann beende ich das Live wieder und gehe zurück nach vorn. Mats sitzt hinter dem Tresen und gibt etwas in das Tablet ein. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es bloß noch ein paar Minuten sind, bis wir uns um Kabine eins kümmern müssen.
»Was ist eigentlich …« Ich werde von meinem Klingelton unterbrochen. Beim Arbeiten habe ich es so eingestellt, dass nur Anrufe von bestimmten Nummern weitergeleitet werden. Mats, meine Eltern, meine Schwester Merle, meine beste Freundin Silja – und Lars. Aber mein Freund ruft nie an.
Außer jetzt.
Verwundert sehe ich auf das Display. Sein Name leuchtet mir in Großbuchstaben entgegnen. So hat er sich eingespeichert, als ich ihn kennengelernt habe. Weil wichtige Menschen Raum einnehmen. Das war seine Begründung, und weil ich damals etwas zu viel getrunken hatte, habe ich ihn einfach machen lassen. Und es bis heute nicht geändert.
Ich drücke seinen Anruf weg und stelle mein Handy komplett auf lautlos.
»Lars?« Mats hat trotzdem gesehen, um wen es sich gehandelt hat.
»Hm.« Ich nicke. »Aber ich arbeite. Also muss er bis später warten.«
»Uh. Ärger im Paradies?« Er dreht sich auf dem Schreibtischstuhl in meine Richtung. Nicht aus Sensationsgier, sondern weil er wirklich daran interessiert ist. Wenn ich eine Sache sicher weiß, dann ist es die, dass Mats niemals einfach nur aus Neugierde fragen würde.
»Nein, warum? Weil ich während meiner Schicht nicht rangehe? Er weiß, dass ich hier bin. Wir sind beschäftigt.« Wie um meine Worte zu bestätigen, öffnet sich in diesem Moment die Tür zu Kabine eins. »Siehst du?« Ich stecke mein Handy wieder ein. »Er schreibt mir sicher gleich eine Nachricht, falls es wichtig ist. Während ich dort drin aufräume.« Demonstrativ zeige ich mit beiden Daumen hinter mich. »Wahrscheinlich soll ich nur Milch mitbringen. Oder neue Marabou-Schokolade. Kennst du die mit Aprikosengeschmack? Großartig.«
Mats schüttelt lachend den Kopf. »Bezahlen sie dich für so viel Werbung?«
»Schön wäre es. Aber leider nein. Vielleicht sollten wir ein TikTok drehen und ganz viel Marabou im Hintergrund zeigen. Dann gäbe es bestimmt kostenlose Tafeln für uns. Oder gleich eine dauerhafte Kooperation.« Grinsend verschwinde ich in die Kabine und beginne mit dem Aufräumen. Es dauert nicht lange, alles wieder ordentlich zu machen, den Müll zu leeren und neue Wasserflaschen bereitzustellen. Sven und Astrid ist es wichtig, dass es einladend aussieht. Sie sind der Meinung, dass dann die Kreativität besser fließt. Ich habe keinen Schimmer, ob da was dran ist, aber sie werden wissen, was sie tun. Ihr Erfolg Ende der Neunziger und der frühen Zweitausender gibt ihnen recht.
Als ich fertig bin, ziehe ich kurz mein Handy hervor. Ich habe richtig vermutet, Lars hat mir eine Nachricht geschickt.
16:24Wo bist du?????
Seine Frage irritiert mich, genau wie die vielen Fragezeichen. Das ist normalerweise nicht seine Art.
16:27Im Petrichor. Ich arbeite. Das weiß du doch?
Lars und ich sind erst seit drei Monaten zusammen. Ich habe ihn in einem Club auf einer Weihnachtsfeier kennengelernt und dann ging alles ziemlich schnell. Wir haben uns ein paar Mal getroffen, und nach dem fünften Date waren wir ein Paar. Er hat es mir ziemlich einfach gemacht, mich in ihn zu verlieben. Nicht Hals über Kopf und schon gar nicht auf den ersten Blick. Ich habe bei meiner Schwester gesehen, was passiert, wenn man sich zu schnell auf den falschen Mann einlässt. Aber Lars ist jemand, in dessen Nähe ich mich wohlfühle. Der mich zum Lachen bringt. Und als ich am Ende des letzten Semesters überraschend aus meinem Wohnheim ausziehen musste, hat er mir sofort angeboten, bei ihm einzuziehen. Weil es noch Monate dauern wird, bis der Schimmelbefall beseitigt ist, das ganze Ding saniert werden muss und der Wohnungsmarkt in Stockholm sowieso eine Katastrophe ist, blieb mir nichts anderes übrig, als sein Angebot anzunehmen. Eigentlich finde ich es nicht optimal, schon nach ein paar Wochen Beziehung mit jemandem zusammenzuziehen, aber ich mag ihn echt gern. Zumindest dann, wenn er mir keine vorwurfsvollen Fragen schickt, auf die er die Antwort längst kennt.
Ich warte ein paar Sekunden, ob er sich noch einmal meldet. Aber mein Telefon bleibt still. Nach einem letzten prüfenden Blick verlasse ich die Kabine wieder. Ich ziehe die Tür hinter mir zu und will einen Schritt rückwärts machen. Doch im selben Augenblick pralle ich gegen jemanden und wirble so hastig herum, dass ich beinahe das Gleichgewicht verliere.
»O Gott, sorry«, entfährt es mir und ich greife wie von selbst nach seinem Arm, um einen Sturz zu verhindern. »Ich hab dich nicht gesehen«, beteuere ich, als ich wieder sicher stehe und direkt in zwei strahlend blaue Augen blicke. Sie sind so hell, fast schon stechend, dass ich beinahe wieder stolpere. Dieses Mal über meine eigenen Füße. Er ist so dicht vor mir, ich kann sogar die zwei winzigen hellbraunen Pigmentflecke erkennen, die sich in seiner linken Iris befinden. Seine Wangenknochen hingegen wären auch in einiger Entfernung deutlich sichtbar. Sie sind so markant, so scharf, so schön, dass sie wie gemalt wirken. Allein das zu denken, ist furchtbar kitschig, aber ich kann es nicht verhindern. Er sieht unglaublich aus.
»Tut mir echt leid«, wiederhole ich, weil ich etwas sagen muss, aber keine Worte finde. Ich halte seinen Arm immer noch umklammert. Als mir das bewusst wird, lasse ich ruckartig los. »Scheiße, ich …« Wieder gelingt mir kein ganzer Satz, anscheinend stolpere ich jetzt nicht nur über Füße, sondern auch über Wörter. »Bist du okay?«
Ich trete einen Schritt von ihm weg, um ihm Platz zu machen. Stumm sieht er mich an. Nicht unfreundlich, aber auch nicht so, als wäre alles okay. Irgendwie eher … erschrocken? Mist. Hab ich ihm wehgetan? Noch einmal mustere ich ihn eingängig von oben bis unten, aber auch dieses Mal kann ich nichts entdecken, was darauf hinweist, dass ich ihn irgendwie verletzt habe.
»Sorry«, sage ich dennoch ein drittes Mal. Nur zur Sicherheit. »Ich hatte wohl zu viel Schwung.« Das unsichere Lächeln auf meinen Lippen wackelt. Wieso reagiert er nicht? Er setzt nicht einmal dazu an, etwas zu sagen.
Plötzlich höre ich Stimmen hinter uns. Ich drehe mich um und entdecke beim Eingang zwei neue Gäste. Das werden die Musiker für Kabine eins sein. Allerdings ist der Empfangstresen leer, von Mats ist nichts zu sehen. Was bedeutet, dass ich einspringen sollte.
»Da muss ich …« Ich will mich wieder dem Kerl zuwenden, den ich angerempelt habe, aber er hat sich bereits einige Schritte von mir entfernt. Ich sehe nur noch seinen Rücken, über dem er einen Gitarrenkoffer trägt, als er auf den Ausgang zugeht. Er hat keinen Ton zu mir gesagt und wirft auch keinen Blick zurück.
Okay. Irritiert sehe ich ihm hinterher. Schweigsam hin oder her, er hätte wenigstens sagen können, dass er meine Entschuldigung annimmt. Komischer Typ. Aber mir bleibt keine Zeit, mir weiter Gedanken über ihn zu machen. Die nächsten Kunden warten. Mit großen Schritten eile ich auf sie zu, erfrage ihre Namen und bringe sie anschließend in ihre Kabine.
♪♫♪
Es ist schon dunkel, als wir das Studio kurz nach neun verlassen. Mats schließt ab und macht sich mit mir auf den Weg zur U-Bahn. Weil wir dafür ans andere Ende von Gamla Stan müssen, dauert es eine ganze Weile. Der Wind pfeift unangenehm durch die Gassen und ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke noch ein Stückchen nach oben.
»Es wird Zeit, dass es endlich richtig Frühling wird«, murre ich und ernte dafür ein leises Lachen von Mats.
»Wir haben Mitte April, Yva. Es ist schon längst Frühling.«
»Aber nur auf dem Papier«, beschwere ich mich und vergrabe mein Gesicht demonstrativ weiter in meinen drei Kilometern Schal.
»Oder es liegt dran, dass du mal wieder eine viel zu dünne Strumpfhose trägst.«
»Sie mag dünn aussehen, aber tatsächlich ist sie von innen gefüttert. Unglaublich, was es alles gibt, nicht wahr?« Ich werfe Mats einen vielsagenden Blick zu. »Und nun rate, wo ich zum ersten Mal von diesem fantastischen Produkt gehört habe.«
Er stößt ein schweres Seufzen aus. »Ich ahne Schlimmes.«
»TikTok ist die reinste Wunderkiste«, erkläre ich gut gelaunt – trotz der Kälte. »Du solltest der App wirklich eine Chance geben.«
»Wenn du das sagst.« Er grinst belustigt zurück. »Dann zieh das nächste Mal am besten zwei Paar von deinen fantastischen Strumpfhosen übereinander. So bis Juni vielleicht. Dann dürfte auch dir warm genug sein.«
»Haha. Witzig.« Ich schneide eine Grimasse, woraufhin er kurz den Arm um mich legt.
»Komm schon. Das war nur Spaß. Der Wind ist heute wirklich eklig.«
»Sag ich doch.« Ich beschleunige meine Schritte und ziehe Mats mit mir. Wenn ich die nächste Bahn kriegen will, sollte ich mich beeilen.
Während er in Richtung Süden nach Södermalm fährt, muss ich in den Norden nach Solna, weshalb wir uns in der Station trennen. »Bis Montag, Yva.« Er winkt mir zu und geht ein paar Schritte rückwärts. »Meld dich, wenn du zu Hause bist, ja?«
Seine Worte zaubern ein Lächeln auf meine Lippen. Weil ich es liebe, dass wir diese Art von Freundschaft haben. Ein bisschen so, als wäre er der große Bruder, den ich mir immer gewünscht habe.
»Werde ich«, verspreche ich, erwidere sein Winken und eile die Rolltreppe nach unten.
Ich habe Glück. Die Bahn fährt in dem Moment ein, als ich unten ankomme. Ich steige direkt an der ersten Tür ein und ergattere einen freien Platz.
Wir sind keine zwei Minuten unterwegs und ich will gerade nach den Ohrstöpseln in meiner Tasche suchen, als ein Ruck durch den Zug geht und wir stehen bleiben. Das ist nichts Ungewöhnliches, passiert hin und wieder. Aber heute passt es mir überhaupt nicht in den Kram. Mein Tag war lang. Erst Vorlesungen, dann ein Treffen mit meiner Projektgruppe, wieder Vorlesungen, und den Rest des Tages habe ich im Petrichor verbracht. An solchen Abenden will ich mir nur noch eine Pizza in den Ofen schieben, meinen Pyjama anziehen und das Sofa nicht mehr verlassen. Doch offenbar dauert es noch ein bisschen, bis ich das tun kann. Wir stehen nach wie vor. Und es ist nie ein gutes Zeichen, wenn die Bahn das länger als ein paar Minuten tut. Keine Ahnung, was dieses Mal los ist.
Mein Magen knurrt, ich kann meine Pizza kaum erwarten. Um mich davon abzulenken, ziehe ich mein Handy hervor und entsperre den Bildschirm. Einige neue Nachrichten erwarten mich und ich beginne, eine nach der anderen zu lesen. Mats hat mir ein lustiges Selfie aus seiner Bahn geschickt, meine Schwester ein Foto der kleinen Meerjungfrau aus Kopenhagen, wo sie gerade ein paar Tage Urlaub mit ihrem Verlobten macht. Silja fragt, ob ich morgen mit in irgendeinen neuen Club komme.
Ich beantworte alles, ehe ich den Chatverlauf mit Lars öffne.
Achtzehn neue Nachrichten.
18:23Hast du vergessen, dass heute das Essen mit meinen Eltern ist?
18:23Yva!
18:24Wieso gehst du nicht an dein Handy, Yva?
18:24Ernsthaft, das ist nicht witzig!
18:24Du blamierst mich vor Mum und Dad, ist dir das klar?
18:35Sorry, war nicht so gemeint. Wir warten nur alle auf dich.
18:36Wann kommst du denn?
Ich lese jede Nachricht mehrfach, aber ich weiß nicht, wovon er redet. Er hat mir nichts von einem Besuch seiner Eltern erzählt und schon gar nicht, dass sie mit uns zusammen essen wollen. Ich kenne sie noch nicht einmal, es hat sich bisher nie ergeben, dass ich sie treffe. Diese Nachrichten jetzt klingen überhaupt nicht nach ihm. So hat er noch nie mit mir gesprochen. So fordernd und vorwurfsvoll und dann so defensiv. Stirnrunzelnd lasse ich meine Finger über das Display gleiten, aber ich bin ratlos, was ich darauf sagen soll. Es schwingt immer ein bisschen Unsicherheit mit, ganz subtil, wenn es um seine Eltern geht. Aber dass er nun so reagiert … Das ist seltsam.
Ich setze gerade dazu an, ihm zu antworten, als die Bahn plötzlich weiterfährt.
21:17Bin unterwegs. Gleich da. Sorry.
Nachdem ich die Nachricht abgeschickt habe, schreibe ich Mats, dass ich so gut wie zu Hause bin, stecke mein Handy wieder weg und überlege, wann Lars mir von diesem Besuch erzählt haben könnte. Habe ich es vielleicht doch vergessen? Die letzten Wochen waren extrem stressig, bald stehen die Prüfungen an. Eventuell ging es unter. Aber egal, wie sehr ich darüber nachdenke, ich komme zu ein und demselben Ergebnis: Ich bin mir sicher, dass er mir nichts davon gesagt hat.
Manche Veränderungen spürt man, bevor sie eintreten. Und in meinem Fall ist dieses Gefühl ein hässliches Fadenknäuel, das sich mit jedem Meter, den wir meiner Haltestelle näher kommen, mehr verknotet und mir schwer im Magen liegt.
2
Yva
Do you remember when you were eleven
And the whole of the world was nice and bright?
Do you remember when you were golden
And all of your days were filled with love and light?
[Fenn Lindberg – Take Me Back]
Es ist zu leise.
Das ist das Erste, was mir auffällt, nachdem ich die Wohnungstür aufgeschlossen habe. Eigentlich müsste ich Stimmen hören, drei verschiedene mindestens, wenn Lars’ Eltern tatsächlich hier sind. Aber da ist … nichts. Nur allumfassende, schwere Stille, die sich wie eine zudrückende Hand um meine Kehle legt.
»Hallo?«, rufe ich und ziehe den Schlüssel wieder aus dem Schloss. »Lars?«
Die Tür ist kaum hinter mir zugefallen, als er im Flur auftaucht. Er trägt einen Anzug und ein weißes Hemd, die oberen zwei Knöpfe sind geöffnet, die Ärmel nach hinten gekrempelt. Er sieht wirklich chic aus. Kurz überfällt mich das schlechte Gewissen. Wenn er sich so herausgeputzt hat, war ihm dieses Treffen wirklich wichtig. Scheiße. Allerdings lässt er mir keine Zeit, irgendetwas dazu zu sagen. »Was zur Hölle, Yva?«, fährt er mich an. Mit schnellen Schritten kommt er auf mich zu, die Hände zu Fäusten geballt. Seine Augen funkeln, aber nicht auf die gute Art. Heute sind sie zornerfüllt. Wütend. Aufgebracht.
Instinktiv trete ich einen Schritt nach hinten und stoße mit dem Rücken gegen die Tür. Der Knoten in meinem Magen verstärkt sich, wird zu einem unangenehmen Ziehen und katapultiert mich sofort sieben Jahre zurück in mein Kinderzimmer.
»Wieso kommst du jetzt erst?«, zischt er. Sein Blick bohrt sich in meinen, wirkt dunkel und glasig. Hat er getrunken?
»Das weißt du doch«, sage ich langsam und öffne meine Jacke. Atme. Bleib ruhig. Denk nicht an damals. Das hier ist anders. Lars ist nicht Jörn. »Ich war arbeiten, und dann ist die Bahn zehn Minuten lang stecken geblieben.« Es ist die Wahrheit, vor allem passiert es nicht zum ersten Mal, dass ein Zug Probleme macht. Abgesehen davon … Ich konnte nicht wissen, dass er mich ausgerechnet heute pünktlich erwartet. Dass er mir nichts vom Besuch seiner Eltern erzählt hat, ist nicht meine Schuld. Das alles will ich ihm sagen, doch mein Magenknoten warnt mich davor. Er gibt mir unmissverständlich zu verstehen, dass ein falsches Wort nun Folgen haben könnte. Folgen, an die ich nicht denken will.
»Das ist mir scheißegal«, brüllt Lars erbost. »Du hättest überhaupt nicht in der Bahn, sondern hier sein sollen. Meine Eltern haben umsonst stundenlang auf dich gewartet. Sie sind extra aus Göteborg gekommen und dann bist du nicht da. Hast du auch nur den Hauch einer Ahnung, was deine Abwesenheit für einen beschissenen Eindruck gemacht hat? Du hast mich vor ihnen blamiert!« Bedrohlich wie ein Wolf, der seine Beute umkreist, kommt er näher.
»Ich habe dich nicht blamiert. Du hast mir nicht erzählt, dass sie zu Besuch kommen.« Ich schiebe mich an ihm vorbei, hänge meine Jacke auf und gehe in die Küche. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher, ob meine Magenschmerzen vom Hunger oder von Lars’ Vorwürfen ausgelöst werden. »Hätte ich davon gewusst, hätte ich meine Schicht tauschen können.« Nie im Leben hätte ich das Kennenlernen mit seinen Eltern einfach ignoriert oder mich verspätet. Er spricht nicht oft über sie, aber ich weiß, dass ihm ihre Meinung wichtig ist.
»Ich habe dir heute früh auf die Mailbox gesprochen und dich informiert.« Er folgt mir, fasst mich am Arm und wirbelt mich zu sich herum. Seine Finger umklammern mein Handgelenk so sehr, dass es schmerzt. »Also tu nicht so, als hättest du keine Ahnung gehabt. Du wusstest Bescheid und warst trotzdem nicht da!«
»Ich tue nicht nur so, Lars. Mir wurde keine neue Nachricht auf der Mailbox angezeigt.« Energisch zerre ich an meiner Hand und versuche, mich von ihm loszumachen. Aber ich schaffe es nicht, sein Griff ist zu fest. »Lass mich los«, sage ich und hasse es, wie dünn und brüchig meine Stimme plötzlich klingt. Wie die meiner Schwester, wenn Jörn sie angeschrien hat. »Du tust mir weh.« Der Gedanke an Merle bringt Leben in mich. Erneut versuche ich, ihn abzuschütteln, aber gegen seine Kraft habe ich keine Chance. Es fühlt sich an, als stecke ich in einem Schraubstock.
»Hör auf, mich für dumm zu verkaufen. Und wie du eine Nachricht von mir hattest.«
In der nächsten Sekunde lockert sich sein Griff etwas, was mir die Möglichkeit gibt, ihm mein Handgelenk zu entziehen. Hastig mache ich ein paar Schritte von ihm weg. Die Haut an der Stelle, wo er mich festgehalten hat, brennt wie Feuer. Heiß und roh und wild. Ich umschließe sie behutsam mit meinen Fingern und presse sie an mich. Als müsste ich sie beschützen. Vor Lars. Vor einem Fremden.
Da steht ein Mann vor mir, den ich nicht erkenne. Den ich vielleicht nie gekannt habe. Vier Monate. So lange ist es her, dass wir einander begegnet sind, seit drei sind wir zusammen, seit einem Monat wohne ich bei ihm. Wo war diese Seite von ihm bisher? Wie konnte er sie so lange vor mir verstecken? War ich zu verknallt und genau so naiv wie meine Schwester bei ihrem Jugendfreund? Merle und Jörn, das Traumpaar. Merle und Jörn, die Glücklichen. Merle und Jörn, die schon in der Schule zusammenkamen. Merle und Jörn, der sich als der perfekte Freund gab.
Bis er das plötzlich nicht mehr tat.
Niemand liebt dich so wie ich, Merle.
Seine Worte waren nicht romantisch gemeint, sondern eine Drohung.
Du musst einfach lernen, besser zuzuhören, Merle.
In meinem Kopf höre ich die Dinge immer noch ganz klar, die er zu ihr gesagt hat. Im Zimmer nebenan, wenn unsere Eltern nicht da waren. Als hätte er jedes Recht dazu, all seinen Frust an ihr auszulassen. Einfach, weil sie seine Freundin war. Und er war ständig gefrustet. Jeder einzelne seiner Sätze, die ich damals in meinem Kinderzimmer mitanhören konnte, war wie ein Messerstich in meine Brust. Und gleichzeitig ein Versprechen, das ich mir selbst abgenommen habe: Du wirst niemals, niemals, zulassen, dass jemand so mit dir umgeht.
Mein Puls rast, ich spüre ihn so deutlich wie nie. Da sind nur noch zwei Gedanken in meinem Kopf: Ich werde nicht wie Merle sein. Und: Ich muss hier weg. Wie von selbst gehe ich zwei große Schritte zur Tür, doch Lars stellt sich mir sofort wieder in den Weg. Wie ein Schrank oder ein Bär, weil er so groß ist und mich um mindestens zwanzig Zentimeter überragt.
»Wir sind hier noch nicht fertig, Yva.«
Habe ich dir erlaubt zu gehen, Merle?
Seine Stimme vermischt sich mit Jörns in meinem Kopf. Und dann kommt die meiner Schwester dazu, brüchig und ängstlich, wie sie sich entschuldigt und ihm zustimmt. Obwohl sie nichts Falsches getan hat. Das hat sie nie. Doch am Ende hat sie sich jedes Mal von ihm manipulieren lassen, bis sie diejenige war, die ihn um Verzeihung gebeten hat. Weil sie ihren eigenen Gedanken und Emotionen nicht länger trauen konnte und zu einem Schatten ihrer selbst wurde. Meine tolle, fröhliche, glückliche Schwester. Bis alles davon verschwunden war, weil Jörn sie kaputt gemacht hat.
Genau das war der Grund, warum ich mir vor all diesen Jahren in meinem Kinderzimmer geschworen habe, immer auf mein Bauchgefühl zu hören. Und jetzt, in diesem Moment, brüllt es mich geradezu an.
Lass es nicht so weit kommen. Du musst hier weg. Lass es nicht so weit kommen. Du musst hier weg.
»Und wie wir hier fertig sind, Lars.« Weiter ruhig mit ihm zu sprechen, verlangt mir alles ab. Aber irgendwie gelingt es mir. Weil ich älter und stärker bin, als Merle es war. Ich werde mir nichts einreden lassen. Nicht von ihm. Von niemandem.
»Du hast kein Recht, so mit mir zu sprechen. Lass mich durch.«
»Sag mal, wie redest du eigentlich mit mir?« Wieder greift er nach mir, dieses Mal meinen Oberarm. Schwungvoll schiebt er mich zurück in die Küche, knallt die Tür zu und drückt mich auf einen Stuhl. Es geht so schnell, dass ich keine Chance habe, mich zu wehren.
Du bleibst hier, Merle. Bei mir.
Die Erinnerungen schießen wie Pfeile durch meinen Kopf.
Ich liebe dich, Merle.
Und jedes Mal meine große Schwester, die einknickte. Die ihm seine leeren Worte abnahm. Die ihm verzieh. Immer und immer wieder. Bis sie vor lauter Kummer kaum mehr aß und immer unsichtbarer wurde.
»Du musst dich beruhigen.« Es ist riskant, Lars das zu sagen. Aber es gibt keine andere Art, um ihm klarzumachen, wie sehr er überreagiert. »Lass uns vernünftig drüber reden.« Meine Bitte ist wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Sie zerstäubt sofort.
»Du sagst mir nicht, was ich zu tun habe. Du nicht, verfluchte Scheiße. Wenn du nur ein einziges Mal erreichbar gewesen wärst, dann hätten wir dieses Problem nun nicht, verdammt noch mal.« Er hat sich vor mir aufgebaut, flucht so gepresst und zornig, dass seine Aussprache feucht wird. Am liebsten würde ich mir die Hände vors Gesicht halten. Aber diese Genugtuung gebe ich ihm nicht. Das hier liegt nicht in meiner Verantwortung. Ich sage es mir wieder und wieder und wieder: Es ist nicht meine Schuld.
Lars steht so dicht vor mir, dass ich nicht aufstehen kann. Ich muss den Kopf in den Nacken legen, um ihn anzusehen. Seine Wangen sind voller roter Wutflecken. Und ich weiß einfach nicht, wie das passiert ist. So unbeherrscht kenne ich ihn nicht. So laut, so unfair. Vielleicht kenne ich ihn wirklich überhaupt nicht. Drei Monate zusammen. Vier Wochen in einer Wohnung. Vielleicht ist das einfach zu wenig Zeit, um einen Menschen richtig einschätzen zu können.
Mit weit aufgerissenen Augen fixiert er mich, seine Kiefermuskeln arbeiten heftig, seine Hände sind wieder zu Fäusten geballt. Alles an ihm schreit rohe Wut, wilde Wut, laute Wut.
In diesem Moment spüre ich sie. Die Angst, dass das nicht gut ausgehen wird, wenn ich es nicht schaffe, von hier zu verschwinden. Kaum merklich rücke ich ein Stück von ihm weg. Viel ist es nicht, ich stoße sofort gegen die Lehne meines Stuhls, aber es erweckt immerhin die Illusion von Abstand in mir.
Du gehörst zu mir, Merle.
»Du wirst dich bei meinen Eltern entschuldigen. Und du wirst es zeitnah tun, hast du verstanden?«
Ungläubig starre ich ihn an. Denkt er ernsthaft, dass er im Recht ist? Die Antwort steht ihm unmissverständlich ins Gesicht geschrieben. Ja. So wie Lars sich mit jedem weiteren Wort über mich beugt, besteht daran nicht der geringste Zweifel. Er sieht die Schuld einzig und allein bei mir und glaubt, es wäre in Ordnung, so mit mir umzugehen.
Mit aller Kraft, die ich aufbringen kann, richte ich mich vor ihm auf. Ich will ihn nicht berühren, das würde ihn vermutlich endgültig in die Luft gehen lassen. Also rutsche ich unter seinem Arm hinweg und stehe auf. Das Herz schlägt mir bis zum Hals.
»Du musst runterkommen«, sage ich. Ich bemühe mich, ruhig und gefestigt zu klingen, dabei geht in mir gerade die Welt unter. Der Mann, von dem ich dachte, dass ich in ihn verliebt bin, mit dem ich mir eine gemeinsame Zukunft vorgestellt habe, ist jähzornig. Und ich werde keine Sekunde länger in einem Raum mit ihm bleiben.
Lars will erneut nach mir greifen, aber ich entwinde ihm meine Hand blitzartig und mache zwei Schritte von ihm weg.
»Nein!« Ich habe keine Ahnung, wie ich es schaffe, ihm während dieses Satzes mitten ins Gesicht zu blicken. Denn das habe ich gelernt: »Nein« ist ein vollständiger Satz, der keiner weiteren Erklärung bedarf. Aber obwohl mir das klar ist, obwohl ich dieses Wort nicht begründen muss, tue ich es trotzdem. Ich spreche weiter und hasse mich dafür, weil seine Augen fast schwarz wirken vor glühendem Zorn. »Ich lasse mich nicht so von dir behandeln.«
»So? Was soll das denn bitte heißen?« Er lacht bitter auf. Dann stellt er sich mir wieder in den Weg, will seine Hände ein weiteres Mal auf meine Schultern legen und drängt mich mit seinem gesamten Körper zurück zum Stuhl.
»Hör auf, mich anzubrüllen.« Ich klinge gefasster, als ich es bin. Jede einzelne Faser meines Körpers schreit mich an wegzulaufen. Vorsichtig entferne ich mich von ihm, aber Lars ist nicht dumm. Er begreift sofort, was ich vorhabe.
»Du gehst erst, wenn wir hier fertig sind, Yva!« Wieder kommt er auf mich zu und will nach mir greifen, aber ich bin kleiner und schneller. Ich drehe mich zur Seite und laufe an ihm vorbei. Meine Hand liegt bereits auf dem Türgriff, als direkt neben mir ein Glas an der Wand zerschellt und in tausende Scherben zerbricht. Und mit ihm das letzte bisschen Vertrauen, das ich noch in ihn hatte. Es passiert so schnell, dass ich mich nicht schützen kann. Ein scharfer Schmerz durchfährt mich, als eine der Scherben meine Wange trifft und in meine Haut schneidet.
Reflexartig drehe ich mich zu Lars um. Weg von der Tür, weg von den Scherben. Er steht keine zwei Meter von mir entfernt, die Hand noch erhoben. Fassungslos starre ich ihn an. Ich weiß nicht wie lange oder wer zuerst reagiert. Lars macht einen Schritt auf mich zu, ich hebe beide Hände und schreie so laut »Stopp!«, dass er ruckartig stehen bleibt. Auf meiner Wange spüre ich etwas Warmes. Ich will hinfassen, danach tasten, aber ich habe Angst, was passiert, wenn ich die Hände wieder sinken lasse.
Als der erste Tropfen Blut fällt, schalte ich auf Autopilot. Ich drehe mich um, stürme zurück in den Flur, schnappe mir meine Jacke, die Tasche und die Schlüssel. Ich denke nicht darüber nach, was ich tue oder wo ich hinwill.
Da ist nur noch dieser eine Gedanke in meinem Kopf.
Ich muss hier raus.
Ich muss hier raus.
Ich. Muss. Hier. Raus.
Und dann renne ich.
Ich eile die Stufen nach unten, höre Lars hinter mir rufen, aber ich ignoriere ihn. Ich laufe und laufe und bleibe erst wieder stehen, als ich die U-Bahn erreiche. Immer wieder blicke ich über die Schulter, aber Lars folgt mir nicht. Zumindest ist er nicht zu sehen. Noch nicht. Mein Herz rast ununterbrochen, schmerzt mit jedem Schlag in meinem Brustkorb, während ich auf die Bahn warte. Drei Minuten waren noch nie so lang. Mein Blick wandert andauernd zur Rolltreppe, das Adrenalin schärft meine Sinne. Ich laufe immer weiter am Gleis entlang, bis ich fast ganz vorne stehe und endlich die Bahn einfährt. Ich steige sofort ein und atme erst aus, als sich die Türen schließen und wir losfahren. Ohne Lars.
Ich sehe furchtbar aus. Als ich sitze und mich in Richtung Fensterscheibe drehe, wird mir klar, dass ich immer noch blute. Die Tropfen laufen wie kleine Tränen über meine Wange, fallen auf den Stoff meiner Jacke. Aber es spielt keine Rolle. Verschmutzte Klamotten kann man reinigen. Kaputtes Vertrauen nicht.
Mechanisch ziehe ich ein Taschentuch aus der Tasche und fange damit das Blut auf, ehe ich eine Ecke mit meiner Zunge befeuchte und mich damit versuche, sauber zu machen. Es funktioniert nur so halb.
Sieben Stationen später wartet Silja am Bahnsteig auf mich. Ich habe sie mit einer kurzen Nachricht vorgewarnt, dass ich auf dem Weg zu ihr bin, weil ich mit Lars gestritten habe. Ich bin kaum ausgestiegen, da eilt sie auch schon auf mich zu.
»Scheiße, Yva, du bist verletzt! Was hat dieser Mistkerl getan?«, fragt sie besorgt. Ihre Hände liegen auf meinen Schultern, ihr Blick rast über mich.
Ich antworte ihr nicht, kann nicht. Stattdessen falle ich ihr in die Arme und beginne, hemmungslos zu schluchzen. Es ist mir egal, dass Menschen um uns herum sind, die uns mit neugierigen, fragenden, besorgten Blicken beobachten. Es ist mir alles egal. Genau so wie es ihr egal ist, dass mein Blut nun nicht nur meine Kleidung verschmutzt, sondern auch ihre. Unaufhörlich streicht sie mir über den Rücken und hält mich mit der anderen Hand fest. So lange, bis die Anspannung von mir abfällt und ich mich wieder aufrichte. Mit den Fingern wische ich mir die Tränen von den Wangen. Dabei fahre ich auch über die Stelle, wo die Scherbe mich geschnitten hat. Es brennt sofort wieder heftiger durch das Salz der Tränen.
»Es tut mir leid«, sage ich, obwohl ich weiß, dass ich meine Gefühle vor ihr nicht verstecken, geschweige denn mich für meine Tränen entschuldigen muss. Silja ist der Mensch, der mich so sein lässt, wie ich bin. Schon immer.
»Lass uns nach Hause gehen, ja? Dann versorge ich deine Wunde und du erzählst mir in Ruhe, was passiert ist, okay?« Sie greift nach meiner Hand und zieht mich in Richtung Ausgang. Die Wohnung, die sie sich mit ihrem Freund teilt, ist nicht weit von der U-Bahn-Station entfernt. »Verrat mir nur eins. Wie sehr will ich ihn danach umbringen?«
Ihre Frage ringt mir immerhin ein müdes Lächeln ab. »Wahrscheinlich ziemlich.« Ich wünschte, ich würde übertreiben. Aber ich weiß, dass ich mit meiner Einschätzung richtig liege. Silja ist nicht nur meine beste Freundin und damit sowieso auf meiner Seite. Sie ist zudem der Mensch mit dem größten Empfinden für Gerechtigkeit und Loyalität. Wer denjenigen wehtut, die ihr wichtig sind, hat verloren. Und im Gegensatz zu mir gibt sie keine zweiten Chancen.
Leise seufze ich. Es kommt einfach nicht in meinem Kopf an, wie sehr ich mich in Lars getäuscht haben soll. Wie er wochenlang so nett sein konnte und dann … Zack. Ein Fingerschnipsen. Rage. Und so unendlich viel wuterfüllter Jähzorn.
In ihrer Wohnung angekommen, führt Silja mich in ihr kleines Bad, wo sie mit Desinfektionsspray meine Wunde säubert. Es brennt so sehr, dass alles in mir erstarren will. »Sorry«, murmelt sie und verzieht das Gesicht. »Bin gleich fertig.«
Sie hält Wort. Es dauert nicht lang, bis sie ein Pflaster über meine Wange klebt. »Besser kann ich es nicht. Wenn du willst, können wir auch zum Arzt, falls es genäht oder geklebt werden sollte.«
»Nein.« Ich schüttle den Kopf. Irgendwo in den Untiefen meines Gehirns ist zwar der Gedanke, dass das nicht die schlechteste Idee ist. Aber ich bin müde. Ich bin so, so müde und will die Sicherheit von Siljas Wohnung nicht mehr verlassen.
»Na gut.« Sie mustert mich kritisch, ehe sie mir eine ihrer Jogginghosen holt. Auch mein Rock und meine Strumpfhose haben ein paar Bluttropfen abbekommen. »Aber wenn es morgen nicht besser aussieht, fahren wir!«
Ich verspreche es ihr, dann gehen wir gemeinsam in ihr Wohnzimmer mit dem Zweisitzer-Sofa voller Kissen. Alles ist Ton in Ton, viel Weiß und Beige und immer wieder ein paar passende Farbakzente dazwischen. Während mein Stil durch und durch Pippi Langstrumpf ist, ist Silja eher eine Annika. Geordnet und aufgeräumt. Und dennoch gemütlich und voller Wärme. Langsam setze ich mich auf ihre Couch und ziehe die Beine an.
»Heiße Schokolade?« Sie steht schon fast wieder in der Tür.
»Ja, gern.«
»Kommt sofort.« Sie verschwindet in die Küche und bereitet das Spezialrezept ihrer Großmutter zu, während ich nach einer Wolldecke angle und mich darin einkuschle. Erst jetzt wird mir bewusst, wie kalt mir ist.
Seit ich Silja aus der Bahn geschrieben habe, habe ich nicht mehr auf mein Handy geschaut. Als ich es nun tue, blinken mir wieder unzählige Nachrichten und Anrufe in Abwesenheit entgegen. Lars schreibt mir fast im Minutentakt.
21:59Jetzt lauf nicht weg, Yva.
22:00Es tut mir leid, okay? Ich wollte dir nicht wehtun.
22:07Das ist doch lächerlich. Wieso gehst du nicht an dein Handy?
22:22Ich habe mindestens acht Nachrichten auf deiner Mailbox hinterlassen. Jetzt ruf schon zurück.
22:23Ich wollte dir keine Angst machen. Echt nicht.
22:27Ich liebe dich. Komm zurück.
Seine letzte Nachricht ist es, die Übelkeit in mir aufsteigen lässt. Wie kann er es wagen, seine Handlungen ausgerechnet mit diesem Satz zu rechtfertigen? Wie? Das ist einfach nur ekelhaft.
Ich starre immer noch auf den Bildschirm, als Silja zurückkommt, zwei dampfende Tassen in der Hand. Auf der heißen Flüssigkeit befindet sich Milchschaum und darauf hat sie kleine bunte Marshmallowstücke und Karamellkrümel gestreut. Die reinste Zuckerbombe und genau das, was ich gerade brauche.
»Danke.« Ich strecke meine Arme unter der Decke hervor, nehme ihr die Tasse mit den falsch herum gedrehten Pippi-Langstrumpf-Füßen ab und rücke zur Seite, damit sie neben mir Platz hat.
»Okay.« Auch Silja zieht die Beine an und steckt sie zu mir unter die Decke. Fast wirkt es wie ein normaler Abend unter Freundinnen, wie wir ihn schon oft zusammen verbracht haben. Doch heute ist alles anders. Ich puste auf meinen Kakao, bevor ich anfange zu reden und ihr erzähle, was passiert ist. Jedes Wort, jeder Satz klingt fremd in meinen Ohren. Nach etwas, das nicht mir, sondern jemand anderem passiert ist.
Gott, wie sehr ich mir wünsche, dass dem so wäre. Und zugleich wünsche ich mir, dass das keiner Frau jemals passieren müsste.
»Was für ein unglaublich großes Arschloch«, sagt Silja, als ich geendet habe. »Gibst du mir ein Alibi, während ich ihn um die Ecke bringe?« Sie sieht mich so entschlossen an, dass ich ihr ihre Mordlust fast abkaufe. »Ganz ehrlich, es kann doch nicht sein, dass sich ein Mensch so wenig im Griff hat? Selbst wenn es wahr gewesen wäre und du dieses Essen echt vergessen hättest …« Sie schüttelt langsam den Kopf. »Das ist kein Grund, so auszuflippen und dich zu verletzen. Unter gar keinen Umständen.«
Silja hat recht. Und trotzdem ist da dieser Teil in mir, der immer noch nicht fassen kann, dass das gerade ernsthaft passiert ist. Dabei weiß ich es besser. Es ist passiert. Ich trage den sichtbaren Beweis in meinem Gesicht. Und ich kann nicht leugnen, was ich gesehen habe. Ich kann nicht. Und vor allem darf ich … Ich darf auf keinen Fall so werden wie Merle. Es wird sonst nur schlimmer. Nicht besser. Niemals besser.
»Gibt nur leider viele Menschen, die so sind«, murmle ich und starre in meine Tasse. Ich kenne jetzt zwei davon. Jörn. Und Lars.
Geräuschvoll stößt Silja die Luft aus. »Das liegt daran, weil niemand bereit ist, an sich und seinen Fehlern zu arbeiten. Keine Ahnung, was ihn zu einem solchen Arschloch gemacht hat, aber es wird einen Grund geben, warum er so ist, wie er ist. Zu wenig Liebe und Anerkennung von den Eltern oder irgendein anderes einschneidendes Erlebnis. Narzissmus oder so. Oder er ist einfach ein Psychopath. Was weiß ich.« Auch das ist typisch für meine beste Freundin. Wenn sie etwas aufregt, redet sie und analysiert und hört nicht mehr damit auf. »Aber was auch immer dazu geführt hat … Er hat kein Recht, so mit dir umzugehen. Gar keins. In welcher Welt ist es bitte in Ordnung, seine Freundin so anzugehen und sie zu verletzen? Vor allem wegen … so was!« Für einen kurzen Moment unterbricht Silja sich. »Nein, das hab ich falsch ausgedrückt. Nicht vor allem … Nichts wäre ein ausreichender Grund dafür. Gar nichts.«
Vorsichtig nippe ich an meinem Kakao. Alles, was sie mir sagt, habe ich damals Merle gesagt. Diese Worte nun allerdings nicht selbst auszusprechen, sondern ganz im Gegenteil auf der anderen Seite zu sitzen … Ich begreife erst jetzt, was es wirklich bedeutet, was meine Schwester mitgemacht hat. Wie weh es tut. Und ich bin nicht seit Jahren mit Lars zusammen, wie Merle es mit Jörn war.
Bemüht beherrscht nicke ich. »Kann ich hierbleiben?«
»Natürlich«, sagt Silja ohne jedes Zögern. »Mein Sofa gehört dir.«
»Ist das für Oscar auch okay?«
»Wenn nicht, kann er ja gehen.« Sie zuckt mit den Schultern. »Falls er echt ein Problem damit hat, dass du bei uns übernachtest, nach allem, was passiert ist … Dann hat er gleich das nächste. Ich lasse dich sicher nicht im Stich. Du weißt doch … Not now, not ever.«
Sie zitiert die Zeile aus einem meiner absoluten Lieblingssongs, die ich mir vor zwei Jahren sogar auf den Unterarm habe stechen lassen, um mich selbst daran zu erinnern, dass es sich immer lohnt weiterzumachen.
Aufgeben ist keine Option.
Nicht jetzt.
Niemals.
3
Yva
So tell me, please tell me
How can you heal a broken heart?
How can I unlove you?
How can I get back to the start?
Where do I go from here?
[Fenn Lindberg – How To Heal A Broken Heart]
»Scheiße, Yva, was ist passiert?«, fragt Mats sofort, als ich am Montag das Petrichor betrete. »Du siehst furchtbar aus.«
»Lange Geschichte«, murmle ich und verschwinde nach hinten. Meine Augen sind bleischwer und verquollen, weil ich kaum geschlafen habe. Die drei Nächte auf Siljas Couch waren nicht besonders erholsam und dennoch bin ich einfach nur froh, dass ich bei ihr unterschlüpfen durfte. Allein die Erinnerung an Freitagabend lässt mir kalt werden. Ein Innenkalt, ein Außenkalt. Unweigerlich schlinge ich meine Hände um mich und reibe mir über die Oberarme.
Das ganze Wochenende habe ich über die paar Minuten, die mein Leben verändert haben, nachgedacht. Denn eine Sache weiß ich mit Sicherheit. Ich werde nicht zu ihm zurückkehren.
Das war es.
Er und ich, wir sind Geschichte.
Ich brauche nicht lange, um meine Sachen zu verstauen und zurück nach vorne zu kommen. Mats sieht mich besorgt an. »Leg los«, sagt er, nachdem ich mich gesetzt habe, und greift nach meinen Händen. Sein Blick huscht über mein Gesicht. Als hätte er Angst, mir wehzutun, wenn er ihn zu lange an der einen Stelle verharren lässt, die deutlich hervorsticht. Dabei hätte ich es ihm nicht übel genommen. Ich weiß genau, was er sieht. Eine erschöpfte junge Frau, ungeschminkt, die blonden Haare zu einem wirren Knoten zusammengebunden. Dazu riesige Augenringe, blasse Wangen, eine Wunde mitten im Gesicht, die zwar langsam verheilt, aber immer noch deutlich sichtbar ist, und eisige Hände, während seine Haut warm und weich ist.
»Ich habe mit Lars Schluss gemacht.« Ich seufze, weil ich es immer noch nicht glauben kann. Dass er mich angeschrien, dass er das Glas geworfen hat. Dass er mir einreden wollte, es wäre meine Schuld, obwohl er mir viel zu spät auf die Mailbox gesprochen hat. Aber vor allem kann ich nicht glauben, dass ich mich so sehr in ihm getäuscht habe.
Leise beginne ich zu erzählen. Von Lars’ Nachrichten, unserem Streit, bis er sich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Von seinen Vorwürfen, den unzähligen Anschuldigungen. Und dann von meiner Schwester. Von ihrer Beziehung mit Jörn, die sie kaputt gemacht hat. Und von meinem Versprechen an mich selbst, damals. Zu sehen, wie Merle unter ihrem toxischen Freund gelitten hat, unter seiner perfiden, versteckten Gewalt, wie sie immer tiefer gefallen ist, meine große, starke Schwester, und ich Angst hatte, dass sie es niemals schafft, von ihm loszukommen … Das alles hat dazu geführt, dass ich als Teenagerin in meinem Zimmer saß und beschlossen habe, mich zu beschützen, sollte ich jemals in eine ähnliche Situation geraten. Ich hatte gehofft, dass das nie nötig sein würde, aber anscheinend war Lars nichts von alldem, wofür ich ihn gehalten habe: Sicher. Eine gute Wahl. Vertrauenswürdig.
Stattdessen nicht sicher. Nicht gut. Nicht echt.
Mats hört mir aufmerksam zu. Und ich verfalle erst wieder in ein Schweigen, als Kunden auftauchen. Mats führt sie schnell in ihre Kabine und weist sie ein, dann kommt er zurück zu mir. In den fünf Minuten, die er weg war, habe ich es noch nicht einmal geschafft, das Arbeitshandy zu zücken und ein paar Kommentare auf TikTok zu beantworten. Ich sitze einfach nur da und versuche zu begreifen, dass es das echt war mit meiner Beziehung.
»Weißt du, was ich glaube?« Mats nimmt wieder neben mir Platz. »Du hast absolut richtig gehandelt. Es ist schlimm, was deiner Schwester passiert ist, aber du bist nicht wie Merle. Du hast die red flag rechtzeitig erkannt und deine Konsequenzen gezogen. Das macht dich unglaublich stark, Yva. Wer mit Dingen nach seiner Freundin wirft und in Kauf nimmt, sie mit Glasscherben zu verletzen, weil er sich vor lauter Wut nicht im Griff hat und dabei auch noch denkt, er sei im Recht …« Mats schüttelt energisch den Kopf. »Dem rutscht garantiert bald auch die Hand aus.« Mit den Fingern malt er Anführungszeichen in die Luft. »Dieser Spruch ist so schlimm. Ausrutschen. Als ob so etwas aus Versehen passiert. Lars wusste ganz genau, was er da tut.« Ich sehe die What the fuck?-Gedanken regelrecht in seinem Gesicht stehen. »Er wollte dich einschüchtern. Und das geht gar nicht.«
Ich kann nur nicken. Er hat absolut recht. Doch das Allerschlimmste ist, dass ich weiß, dass ich ihm wahrscheinlich, genau wie meine Schwester damals Jörn, verziehen hätte, wenn ich nicht bei ihr miterlebt hätte, wie viel solche Entschuldigungen wert sind: rein gar nichts. Und dass es nie bei einem einzigen Mal bleibt.
»Ich muss dringend meine Sachen aus seiner Wohnung holen«, sage ich und nehme den Laptop aus dem Schrank. Wenn ich schon keine Motivation habe, neue Videos für TikTok zu drehen, sollte ich mich wenigstens um den Marketingplan für nächsten Monat kümmern und ein paar Ideen sammeln.
»Wo wohnst du denn momentan?«
»Bei Silja. Aber das ist nur vorübergehend möglich. Sie und Oscar haben ja kaum Platz.«
»Du weißt, dass du jederzeit zu uns kommen kannst. Wir haben zwar kein freies Zimmer, aber ich kann auf dem Boden schlafen und du nimmst mein Bett.«
»Das ist lieb, danke. Ein paar Tage kann ich noch bei Silja und Oz bleiben und ich hab bereits alle möglichen Anzeigen geschaltet, dass ich dringend etwas suche. Es ist mir auch völlig egal was, solange ich es bezahlen kann.«
»Ich halte Augen und Ohren offen. Und ich frag Mum und Dad. Vielleicht weiß ihr Makler was«, verspricht er mir.
»Danke, Mats.« Ich lächle ihn an, und zum ersten Mal seit Tagen fühlt es sich nicht wie eine Lüge an.
♪♫♪
Nach der Schicht laufe ich zurück zu Siljas Wohnung. Es ist ein ganzes Stück von der Altstadt aus, aber heute brauche ich die Bewegung. Den Gedanken in meinem Kopf kann ich dennoch nicht entfliehen. Sie begleiten mich auf jedem Schritt und nehmen viel zu viel Raum ein, selbst dann, wenn ich versuche, sie mit lauter Musik zu betäuben. Vielleicht ist das einfach so, wenn Dinge, die man für sicher gehalten hat, es plötzlich nicht mehr sind. Sie schwimmen an der Oberfläche und sind da. Permanent, ohne Unterlass.
Ich drehe die Lautstärke höher, als gut für meine Ohren sein kann, verliere mich in den Texten von Dermot Kennedy, erkenne in jeder Zeile eine Verbindung zu meinen Gefühlen, auch wenn die Lyrics nicht komplett zu meiner Situation passen. Aber das müssen sie nicht. Einzelne Sätze reichen, damit ich mich zwar nicht unbedingt besser, aber immerhin ein bisschen verstanden fühle.
Zurück bei Silja und Oscar bin ich allein. Durch den weißen Vorhang vor den Wohnzimmerfenstern fällt sanftes Abendlicht in den Raum. Staubkörner tanzen in den Sonnenstrahlen und es wirkt alles ruhig und schön und friedlich. Genau diesen Zustand will ich wiederfinden. Denn seit Freitag habe ich ihn verloren. Und es gibt nur eine Möglichkeit, wie ich versuchen kann, mich dahin zu bringen. Ich öffne das Zeichenprogramm auf Siljas iPad, das sie extra für mich installiert hat. Kurz überlege ich, was ich zeichnen will. Doch heute ist ein Tag, an dem ich kein Ziel habe. Ich fühle mich verloren und in einem seltsamen Zwischenzustand, den ich irgendwie zum Ausdruck bringen muss. Deshalb setze ich den Stift an, halte kurz inne – und zeichne dann los. Ich lasse meine Hand über das Touchfeld gleiten, male einzelne Striche, radiere, skizziere neu. Benutze Farben, ändere sie wieder in schwarz und weiß. Beginne von Neuem, gehe dann doch zurück zu der ersten Zeichnung und mache dort weiter.
Jegliches Gefühl für Raum und Zeit verschwindet und für sechzig Minuten hat mein Gehirn eine Pause von all den Gedanken, die es ununterbrochen fluten. Und das tut gut. Es tut so unendlich gut, eine Weile lang nicht nachzudenken. Mich einfach nur in meinen Zeichnungen zu verlieren. Zu vergessen, dass da immer noch eine Wunde an meiner Wange ist, die jeder sieht, dem ich begegne. Für ein paar Minuten schaffe ich es, mich komplett abzulenken.
Erst, als ich den Schlüssel in der Tür höre, weil Silja und Oscar zurück sind, lasse ich den Stift sinken. Silja kommt sofort ins Wohnzimmer, Oscar ruft mir nur einen Gruß zu, bevor er unter die Dusche geht.
»Hej«, sagt sie und beugt sich über die Lehne der Couch und meine Schulter zu mir, um auf das Tablet zu sehen. »Was hast du gezeichnet?«
»Nichts.« Ich will es wegdrehen, aber sie hält mich auf.
»Das ist nicht nichts, Yvi«, protestiert sie und nimmt mir das iPad aus der Hand. »Wie krass das aussieht. Hast du das echt selbst gemalt?« Ihr Blick rast über den Herzmuskel, den ich gezeichnet habe und aus dessen Arterien die verschiedensten Blumen wachsen. Keine Ahnung, was ich damit sagen will, aber ein Kunsttherapeut hätte sicher viel Spaß damit.
»Ja, hab ich.« Ich strecke meine Hand nach dem iPad aus und winke sie zu mir. »Gib wieder her, damit ich es speichern kann.«
Sie reicht es mir, dann lässt sie sich neben mich auf das Sofa fallen und deutet auf meine Wange. »Darf ich?«
Ich nicke und lasse sie mein Kinn umfassen. Sie dreht meinen Kopf so, dass sie die verkrustete Wunde ansehen kann.
»Mein Laienauge findet, dass es ganz gut verheilt.« Sie nickt. »Ich besorg dir Narbensalbe.«
»Danke.« Ich schlucke schwer, weil es einfach nicht selbstverständlich ist, dass sie sich so um mich kümmert.
»Macht es mich zu einem bösen Menschen, diesem Arschloch alles Schlechte dieser Welt zu wünschen?« Fragend mustert sie mich.
»Nein.« Ich speichere meine Zeichnung und lege das iPad zur Seite. »Ich denke, das hat er verdient.«
»Gut. Aber was er nicht verdient hat, ist die Tatsache, dass du viel zu viel an ihn denkst.« Sie dreht sich auf dem Sofa in meine Richtung. »Deshalb werden wir die Sache nun anders angehen.«
»Und wie?«
»Wir lassen ihn nicht gewinnen. Darin sind wir uns einig, richtig?«
»Ja.« Ich weiß immer noch nicht, worauf sie hinauswill.
»Wir werden dafür sorgen, dass es dir ganz bald wieder richtig gut geht. Nein, dass es dir ohne ihn sogar deutlich besser geht. Und wir fangen heute damit an.« Silja rutscht vom Sofa und hält mir die Hand hin.
»Was hast du vor?«
»Du wolltest doch schon lange mal wieder ins Moderna Museet, nicht wahr?«
»Stimmt.«
»Und momentan ist jeden Montag die lange Nacht der Museen.« Sie grinst. »Zufällig ist heute Montag.«
»Woher weißt du das?« Überrascht halte ich ihrem Blick stand. Silja hat nichts gegen Kunst, aber sie ist definitiv kein Fan wie ich. Die paar Mal, die sie in einem Museum war, kann ich an einer Hand abzählen. Ich war jedes Mal dabei.
»Dass heute Montag ist?« Sie lacht, ich verdrehe die Augen.
»Nein. Dass montags die lange Nacht der Museen ist.«
»Hab gegoogelt.« Sie zuckt lässig mit den Schultern. »Und weißt du, was noch besser ist? Als Studentinnen kriegen wir sogar freien Eintritt.« Ihr Grinsen wird breiter. »Also, was ist? Hast du Lust? Wir können sofort los.«
Für einen kurzen Moment überlege ich. Obwohl es eigentlich nichts zu überlegen gibt. Ich liebe Kunst, ich liebe Museen und ich liebe es, wenn Silja mich freiwillig begleitet. Außerdem hat sie recht. Lars verdient es nicht, dass ich so viel an ihn denke. Ich lasse mir meine Freiheit nicht von ihm nehmen.
»Okay.« Ich nicke. »Lass uns gehen.«
4
Fenn
What if you just keep breathing
When you don’t quite know what to say
What if you just keep breathing
When you feel like you’ve lost your way
What if you just keep breathing?
[Fenn Lindberg – Keep Breathing]
Das Petrichor