A.R.T. - Coup zwischen den Sternen - Kris Brynn - E-Book

A.R.T. - Coup zwischen den Sternen E-Book

Kris Brynn

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Beschreibung

Eine Kunstausstellung im All. Ein begehrtes Objekt. Nur eine Frau kann es schützen. Kunst dient den Reichen. Und die Erde ist dafür nicht mehr rentabel genug. Das haben die hiesigen Kunstgalerien verstanden und ihre Versteigerungen in die Weite zwischen den Sternen verlagert: Auf Luxusraumschiffen der Extraklasse können illustre Kunstliebhaber nun ihrem Vergnügen frönen und ungestört Milliarden für die kostbaren Schätze ausgeben. Doch auch im All bedarf es eines besonderen Schutzes, sei es nun vor Kunstschändern, Möchtegern-Dieben oder religiösen Fanatikern. Dafür ist Savoy Midthunder zuständig. Sie arbeitet bei ArtSecure, einer Sicherheitsfirma, die sich auf die Bewachung von Kunstauktionen im Weltall spezialisiert hat. Ihr neuer Auftrag: Sie und ihr Team sollen ein ebenso geheimnisvolles wie spektakuläres Objekt während einer Auktion schützen. Doch darauf haben es mehrere Gruppen abgesehen, darunter auch Savoys Exfreundin! Ein Wettlauf gegen die Zeit und Savoys Gefühle beginnt.  »A.R.T. – Coup zwischen den Sternen« ist ein actiongeladener Science-Fiction-Thriller und eignet sich perfekt für alle Fans von Heist-Geschichten und Gaunerkomödien. 

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Kris Brynn

A.R.T.

Coup zwischen den Sternen

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Eine Kunstausstellung im All. Ein begehrtes Objekt. Nur eine Frau kann es schützen.

Kunst dient den Reichen. Und die Erde ist dafür nicht mehr rentabel genug. Das haben die hiesigen Kunstgalerien verstanden und ihre Versteigerungen in die Weite zwischen den Sternen verlagert: Auf Luxusraumschiffen der Extraklasse können illustre Kunstliebhaber nun ihrem Vergnügen frönen und ungestört Milliarden für die kostbaren Schätze ausgeben.

Doch auch im All bedarf es eines besonderen Schutzes, sei es nun vor Kunstschändern, Möchtegern-Dieben oder religiösen Fanatikern. Dafür ist Savoy Midthunder zuständig. Sie arbeitet bei ArtSecure, einer Sicherheitsfirma, die sich auf die Bewachung von Kunstauktionen im Weltall spezialisiert hat.

Ihr neuer Auftrag: Sie und ihr Team sollen ein ebenso geheimnisvolles wie spektakuläres Objekt während einer Auktion schützen. Doch darauf haben es mehrere Gruppen abgesehen, darunter auch Savoys Exfreundin! Ein Wettlauf gegen die Zeit und Savoys Gefühle beginnt. 

»A.R.T. – Coup zwischen den Sternen« ist ein actiongeladener Science-Fiction-Thriller und eignet sich perfekt für alle Fans von Heist-Geschichten und Gaunerkomödien. 

Inhaltsübersicht

Motto

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Nachwort

Liste der erwähnten Kunstobjekte und Künstler*innen

Kunst besteht nie in Regeln, sondern immer in Ausnahmen vom Standpunkt des Erfahrungsmäßigen.

 

Willi Baumeister

1

Nur eine Schockgranate

11 Tage bis zur Auktion

Schon während der Ausbildung sagen sie dir, was alles auf dich zukommen kann. Dass du keine Angst zeigen darfst, erst mal mitspielen musst – denn es gibt immer ein Morgen, immer einen Ausweg, und du wirst ihn finden. Sie sagen dir, dass du dich in diesem Moment gleichzeitig verletzlich und unverwundbar fühlen wirst. Aber dass du die Mimose in dir beiseiteschieben musst, damit die Unverwundbarkeit die Waagschale zu ihren Gunsten kippen lassen kann. Du musst Wonder Woman sein. Dann wirst du es überleben. Dann bist du die Größte, Schnellste, kannst über drei aneinandergereihte Gleiter springen und dabei deine Waffe im Sprung abfeuern. Ob du das wirklich draufhast, spielt in dem Moment genauso wenig eine Rolle wie die Frage, ob du säufst, rauchst oder dir etliche Liebhaber wie Hamster hältst. Es geht nur darum, fehlerlos zu funktionieren und dir einzureden, du könntest es, wenn es darauf ankäme.

Ich bemühe mich. Ich bemühe mich wirklich.

 

Undatierte Datei, abgelegt unter »Dies ist kein Apfel«, privater Infostick von Savoy Midthunder

Schon fünf Minuten zu spät. Savoy öffnete die Eingangstür des Firmengebäudes von ArtSecure, eilte mit langen Schritten durch die Lobby auf die Aufzüge zu und wollte gerade auf einen der Anforderungsknöpfe eindreschen, als sie hinter ihrem Rücken etwas über den Boden rollen hörte. Sie drehte sich um und sah die Granate, die noch einige Meter auf sie zuholperte und dann in der Mitte der Vorhalle liegen blieb. Danach folgten circa fünf Sekunden unheimlicher Stille, die schließlich in einem donnernden Knall und einem gleißenden Licht erstarb.

Die unerwartete Helligkeit ließ Savoy die Arme hochreißen, und ein plötzlich auftretender Schwindel fegte sie von den Füßen, als sei sie ein vertrocknetes Blatt, das der Sturm von einem Ast reißt. Zeitgleich schrillten die Alarmsirenen wie eine Schar kreischender Eichelhäher. Ihr rechter Arm war aufgeschürft, ihre Schläfe pochte unangenehm, und ihre Sicht war leicht verschwommen. In ihren Ohren brauste es.

Eine halbe Minute lang kam ihr Bewusstsein zu einer Art Stillstand, bevor direkt vor ihrem Gesichtsfeld eine Schrift auftauchte. Geringe Alarmstufe, las sie. Eine weitere Attacke auf die Zentrale durch den Hogarth Club. Auswirkung gleich null. Bewahren Sie Ruhe.

Der Knall, der grelle Blitz, der Sturz, der Schlag auf den Kopf. Savoy zwang sich zur Konzentration und blinzelte zweimal kurz hintereinander, um die AR-Anwendung zu schließen. Sofort verschwanden die vier Angaben. Noch halb im Liegen sah sie sich um. Die Info stand wie angenagelt hinter der Rezeptionstheke, schien aber funktionstüchtig zu sein, davor kniete jemand von der Sicherheit mit gezogener Waffe. Sie nickte selbstsicher in seine Richtung.

»Nur eine Schockgranate«, rief er ihr zu.

Fehlerlos funktionieren. Die Mimose beiseiteschieben. Savoy ignorierte den Gong in ihren Ohren, zwang sich dazu, aufzustehen, und bedeutete dem Kollegen durch ein weiteres Nicken, dass mit ihr alles in Ordnung war. Unverwundbarkeit statt Verletzlichkeit. Die Waagschale kippen lassen.

Drei weitere Angaben erschienen auf ihren AR-Kontaktlinsen: Begeben Sie sich zum besprochenen Treffpunkt. Konferenz mit Dr. Bonnier nicht abgesagt. Business as usual, B. Kremer.

Savoy klopfte demonstrativ lässig den nicht vorhandenen Staub von der Hose, tastete vorsichtig ihre Stirn ab und betrachtete anschließend ihre Finger. Kein Blut. Keine Platzwunde.

Mit einem enervierend hohen Pling öffneten sich die Fahrstuhltüren, und sie trat ein, betrachtete sich sorgfältig im Spiegel, der die gesamte hintere Liftwand einnahm, und stellte mit Erleichterung fest, dass sie immer noch präsentabel aussah. Sie löste den Haargummi, fasste den Pferdeschwanz erneut zusammen, korrigierte den Sitz ihrer Lederjacke und atmete einmal tief durch.

»Anna, Bob, Ebbe, Gag, Hannah, Kajak …« Eine Liste von Palindromen half ihr, zu entspannen. Kremer hatte ihr nicht mitgeteilt, warum er ausgerechnet sie bei der Konferenz dabeihaben wollte, aber sie würde es in wenigen Minuten erfahren. Im Stillen zählte sie weiter Begriffe auf. Der Aufzug erreichte in dem Augenblick sein Ziel, als sie bei »Reliefpfeiler« angekommen war. Entschlossen trat sie auf den Korridor des dritten Untergeschosses.

* * *

Das kleine grüne Licht für eingehende Anrufe an Caius’ Armbanduhr begann zu leuchten, und er stellte sein Whiskeyglas ab. Mit einem entschuldigenden Lächeln sah er auf das Display, während seine Begleiterin sich an seinen Bizeps schmiegte.

»Geh ruhig ran«, flüsterte sie in sein Ohr, und ihre Fingerspitzen kletterten seinen Unterarm hinauf.

Für einen kurzen Moment wurde Caius unnatürlich heiß, dann räusperte er sich, stand auf, trat an die marmorne Balkonbrüstung, drückte auf das immer noch blinkende Licht und hielt das Handgelenk an sein Ohr.

»Ein Notruf vom Krankenhaus der Barmherzigen Elisabeth an Dr. Fichtner. Ihre Abteilung verfügt momentan über zwei freie Betten, das Durchschnittsalter der Patienten beträgt vierundsiebzig Jahre, wobei der prozentuale Anteil der weiblichen …«

»Einleitung überspringen«, raunzte er.

»Nehmen Sie diesen Anruf an?«

»Ja, verdammt!« Die dämlichen ausschweifenden Einleitungen bei jedem Anruf könnten sich die Blechbüchsen in den Hintern stecken, dachte Caius. Überflüssig wie ein Kropf und alles andere als effektiv.

»Ein Notfall, Dr. Fichtner«, wiederholte die weibliche Stimme monoton.

Caius hätte sich gerne eine langbeinige Blondine dazu vorgestellt, wusste aber sehr wohl, dass er mit einer Datenbank sprach.

»Hast du eben schon gesagt. Was ist mit Dr. Braun?«

»Dr. Braun ist auf dem Weg nach Brasilien.«

Er erinnerte sich. Sein Kollege gönnte sich einen Familienurlaub auf Luna 5, einer Freizeitraumstation, die ihren Besuchern ein »sportives Allerlei« versprach. Was auch immer man sich darunter vorstellen mochte. In Brasilien startete der Raumer, der ehemalige Flughafen in Macapá hatte sich zum Weltraumbahnhof gemausert. Sehr gut, der Kollege war also unabkömmlich, was hieß, dass er selbst die OP durchführen könnte.

»Welche Art Notfall?«, hakte er ungeduldig nach. Dass die Blechbüchse zuerst einen verbalen Dünnschissanfall bekam und danach wortkarg wurde, sollte sich auch mal ein Techniker anschauen.

»Gleiterunfall.«

Also das Übliche, dachte Caius. Eine alkoholisierte Schnupfnase, die vor ihrem Betthasen den Macho raushängen lassen wollte. Den Gedanken kannte er aus seinem eigenen Leben, aber er war vorsichtig. Andere jedoch nicht. Dem Herrn sei’s gedankt, denn das könnte für ihn einen fetten Obolus bedeuten. In einer staatlichen Klinik musste man schauen, wo man als Mediziner blieb.

»Bin unterwegs.« Er fuhr über das Display und ließ den Arm sinken.

Nachdem er überstürzt gezahlt und sich so angemessen wie nötig und so fix wie möglich von seiner Begleiterin verabschiedet hatte, schnappte er sich ein Taxi. Sein Magen knurrte – er hoffte, die Schönheit mit den großen dunklen Augen aß ohne ihn. Er konnte Hungerhaken nicht ausstehen, und er hatte vor, das Date zu wiederholen.

Im Gleiter ließ er sich auf den Rücksitz fallen und gab sein Ziel an. Das fahrerlose Taxi kam ihm momentan ganz recht. Kein Gequatsche. Keine forschenden Blicke im Rückspiegel. Nur Fahren.

Als das Auto nach einer Weile an der gut in Schuss gehaltenen Münchner Residenz und dem gepflegten Hofgarten vorbei Richtung Spital schwebte, hoffte Caius inständig, dass es sich bei dem Unfallopfer um einen Prominentensohn handelte. Der eine zahlungskräftige Familie im Rücken hatte. Was ihm den Abend jetzt endgültig versauen würde, wäre ein Jüngelchen aus der Mittelschicht, dessen Erzeuger nur das Allernötigste springen ließe, um den Sohnemann wieder zurück in den Sattel zu hieven. Denn das bedeutete: Caius’ Anteil wäre kleiner.

An den Maximiliansanlagen angekommen, stürzte er sich aus dem Gleiter, stürmte ins Krankenhaus Richtung Patientenannahme und baute sich schwer atmend vor der Infothek auf. Schnelligkeit war ausschlaggebend. Wer zuerst kam, durfte zuerst operieren. Der Scanner nahm sein Sehorgan in Augenschein, und gleich darauf meldete sich die Stimme der Info wieder. Der Blechkasten stand hinter dem Tresen, gesichtslos, weiß, quadratisch, und blinkte entrüstet.

»Dr. Fichtner! Bitte benutzen Sie den Antibiotika-Injektor.«

»Aber, ich habe erst gestern …«, setzte Caius an, wurde aber sofort abgewürgt.

»Ein neuer multiresistenter Keim wurde identifiziert und ein Antibiotikum entwickelt. Bitte benutzen Sie den Injektor.«

Er seufzte, folgte aber der Anweisung. Nachdem seit einigen Jahren die Pharmaindustrie zur Entwicklung neuer Medikamente KI hinzuzog, die feste Denkmuster durchbrach, neue Verbindungen schaffte und nüchtern, neutral und unbelastet durch persönliche Erfahrungen an die Analyse heranging, hatte sich die Zulassungszeit für neue Wirkstoffe um zehn Jahre verkürzt. Neue Antibiotikacocktails sprossen nahezu wöchentlich aus den Laboren.

»Wir freuen uns, dass Sie sich die Zeit genommen haben, zu erscheinen, müssen aber mitteilen, dass ein anderer Kollege den Fall inzwischen übernommen hat«, teilte ihm die Info mit, nachdem er die Manschette seines Hemdes wieder zugeknöpft hatte.

»Wie … Wer soll das sein?«, brachte Caius kurzatmig hervor, während sein leerer Magen unangenehme Kapriolen unternahm.

»Dr. Braun«, antwortete die Info. Caius konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihre Stimme jetzt plötzlich einen hämischen Unterton angenommen hatte. Er presste wütend die Lippen aufeinander, behielt sich aber im Griff. »Moment. Mir wurde mitgeteilt, er sei in Macapá.«

»Er hielt sich noch am Münchner Flughafen auf, und laut unseren Berechnungen ist die Strecke von dort zum Krankenhaus kürzer als vom Pool-Club, in welchem Sie diniert haben. Deswegen wurde er ebenfalls über den Notfall in Kenntnis gesetzt.«

Caius, der erbost anmerken wollte, dass er erst gar nicht zum Dinieren gekommen war, klappte den Mund wieder zu. Es war nicht ungewöhnlich, mehrere Ärzte gleichzeitig zu kontaktieren. Der schnellere gewann eben. Rat Race. Und offensichtlich hatte er getrödelt. Verdammt, wo hatte er kostbare Zeit verloren? Caius konnte nicht verhindern, dass er sich wieder Veränderung herbeisehnte: Er in einer Privatklinik. Zahlungskräftige Klienten, Ausstattung vom Feinsten. Kein Medizinersprint, geregelte Arbeitszeiten. Aber für diese Art der Jobmodifikation verfügte er nicht über den geeigneten Lebenslauf.

»Was liegt denn eigentlich vor?«, hakte er nach, und vor seinem geistigen Auge sah er Dr. Braun bis zu den blutverschmierten Ellenbogen im Brustkorb des Patienten wühlen. Ein Spiel auf Leben und Tod. Ein Spiel, das man als Arzt leicht verlieren konnte. Da mochte nur eine Kleinigkeit schiefgehen. Der Arzt wäre erledigt, seine Bezahlung wäre Schnee von gestern, ein anderer würde Hand anlegen müssen. Ein Szenario, an dem Caius Gefallen fand. Solange er derjenige war, der einspränge. Falls Dr. Braun es versaute.

»Hautabschürfungen, eine Platzwunde an der rechten Schläfe und ein gebrochenes Schlüsselbein«, teilte ihm die Info völlig ungerührt mit.

»Scheiße!« Unbeherrscht schlug Caius mit der Faust auf den Tresen. Was für ein verfluchtes Glück dieser Bastard wieder hatte!

Um ihn noch weiter zu quälen, fuhr die Info ungerührt fort: »Der Name des Verletzten ist Sebastian Klinger, Sohn des Pharmamagnaten. Die Versorgung wird selbstverständlich vollkommen vergütet werden. Es ist anzunehmen, dass der Vater noch ein paar Scheinchen dazulegen wird. Aus purer Dankbarkeit.«

Somit würde sich der Kollege eine weitere Woche sportives Allerlei gönnen können. Caius’ Finger krallten sich an der Infothek fest; ihm wurde schwummrig vor Neid. In Gedanken rechnete er seine monatlichen Mietausgaben mit den Nebenkosten zusammen und addierte seine sonstigen Ausgaben dazu. Das Ergebnis sah alles andere als rosig aus.

Er brauchte dringend einen wohlhabenden Patienten, dem der Schnitter schon die Hand zum Willkommensgruß reichte. Und den Caius dann mit Pauken und Trompeten zu retten gedachte.

* * *

Sie standen sich gegenüber. Dr. Bonniers dunkle Augenbrauen leuchteten im Licht der Neonröhren wie Pinselstriche in einem ansonsten farblosen Gemälde. Ungeschminkte Lippen, erstaunlich blasse Haut. Im Besprechungsraum röhrte eine Lüftung, unterbrochen vom trockenen Husten der Heizungsanlage.

Der Soundtrack eines Gruselschockers, dachte Savoy, als sie die Hand ausstreckte, um die Kunsthistorikerin zu begrüßen. »Wie war Ihr Flug?«, fragte sie, nur um etwas gesagt zu haben. Obwohl sie es niemals zugeben würde: Auf irgendeine Art, die sie nicht in Worte fassen konnte, schüchterte sie die hagere Gestalt ein. Deren Nase war erstaunlich schmal, ausgesprochen lang und leicht gebogen. Die tief in den Höhlen liegenden Augen groß. Als ob ihr Gesicht nur der Wahrnehmung, der Sondierung diente. Die Frau wirkte wach, hellwach. Savoy war sich sicher, dass die Kunsthistorikerin hervorragend schlief. Ihr Haar hatte Dr. Bonnier streng aus dem Gesicht frisiert, was ihren Zügen noch mehr Schärfe verlieh. In einer abgelegenen Ecke von Savoys Gedächtnis klingelte ein kleines Glöckchen. Die Frau erinnerte sie an jemanden, an ein Porträt, aber sie kam nicht drauf. Das Foto einer Autorin? Schauspielerin? Das kam davon, wenn man im Job mit Bildern konfrontiert war. Egal ob sie in Stein gehauen, auf Leinwand gepinselt oder holografiert waren … irgendwann meinte man, in allem etwas Bekanntes zu entdecken.

»Meine Reise war ohne Vorkommnisse.« Die Stimme von Dr. Bonnier war voll, akzentfrei und ein wenig höher, als Savoy erwartet hatte. »Aber hier hat offenbar gerade ein Handstreich stattgefunden. Nicht dass wir hier unten irgendetwas davon mitbekommen hätten.«

»Ein bedauernswerter Zwischenfall«, ließ sich Bastien Kremer verlauten. Savoys Boss zog abschätzig einen Mundwinkel hoch. »Nichts Neues für unser Hauptquartier. Von einem Handstreich zu sprechen, halte ich – mit Verlaub – für ein klein wenig übertrieben.«

»Der Hogarth Club?«

»Wir nehmen es an.«

»Ich hoffe, Sie handhaben die Sicherheitsvorkehrungen beim Transport von Kunstobjekten nicht so lax wie hier?«, ätzte Dr. Bonnier. »Ansonsten müsste ich mich doch in letzter Sekunde umorientieren. Das würde mir sehr missfallen. Umstände, Sie verstehen.«

»Wenn wir denen keine Spielwiese bieten, toben sie sich woanders aus«, erwiderte Savoy. »Bei den Shuttles zum Beispiel. So einem, mit dem Sie vor ein paar Stunden von der Horta zu uns gereist sind.« Savoy versuchte in dieser Sache, die Contenance, die ihr Chef zeigte, selbst auch zu wahren.

Bei den kleinen Scharmützeln, die sich das Sicherheitspersonal ab und an mit den Terroristengruppen lieferte, war bis dato noch niemand zu Schaden gekommen. Seit die KI-basierte Terrorvorhersage wegen ständig auftretender Rückkopplungsschleifen gestoppt wurde, nahm Kremer die Anschläge einfach als gegeben hin. Und er konnte selbst entscheiden, wie darauf zu reagieren war. Keine KI, der doch nur das zur Verfügung stand, was ihr eingetrichtert worden war, nahm ihm das ab. In den meisten Fällen hatte das bedeutet, dass Verhaftungen in Bezirken mit großen sozialen Unterschieden zur Tagesordnung wurden. Wobei diese Zugriffe dann wieder in die Lernalgorithmen der KI eingeflossen waren. Ein gigantischer Fehler im System, der katastrophale Auswirkungen gehabt hatte. Man hatte diese Art der Terrorverfolgung gestoppt.

Dennoch hatte es im Fall des Hogarth Club einige Verhaftungen gegeben. Eine zwar nicht alltägliche Taktik, das Personal der Aufrührer auszudünnen, aber dennoch effektiv. Kremer ging in dieser Sache nach eigenen Worten »den langen Weg, der auch ans Ziel führt«. Denn die kopflastigen Schaumschläger, die alle Kunstwerke wieder vollkommen der Öffentlichkeit zugänglich machen wollten, so wie es früher einmal gewesen war, und aus diesem Grund in regelmäßigen Abständen die Zentrale von ArtSecure heimsuchten, lernten rundweg nicht dazu. Bei allem Intellekt fehlte ihren Miniaturfeldzügen eins: eine zielführende Strategie.

Dr. Bonnier schien Savoys kleine verbale Spitze entweder nicht gehört zu haben, oder sie hatte beschlossen, nicht darauf einzugehen. »Sie wurden mir empfohlen«, begann sie. »Eine meiner Kolleginnen von der Jackson Pollock war äußerst zufrieden mit der Art und Weise, wie die Bewachung des Kunstraumers vor ein paar Monaten von Ihnen geregelt wurde. Effektiv und …«

»Diskret«, vervollständigte Kremer ihren Satz.

Dr. Bonnier nickte huldvoll.

Kremer deutete auf einen der Konferenzstühle. »Setzen wir uns doch.« Er hob die Wasserkaraffe, um dem Gast einzuschenken, doch die Kunsthistorikerin lehnte ab. »Das positive Feedback«, er stellte die Karaffe wieder zurück und nahm seinerseits Platz, »ehrt uns. ArtSecure war einer der ersten Dienstleister, die sich der Situation sofort angepasst haben. Als die großen Auktionshäuser und Museen ihre Versteigerungen und Ausstellungen noch auf der Erde ausrichteten, hatten wir selbstverständlich ein komplett anderes Anforderungsprofil an unsere Mitarbeiter.«

»Das ist mir natürlich bekannt.« Ein weiteres huldvolles Nicken.

Savoy konnte den Blick nicht von Bonniers Nase nehmen.

Da Sotheby’s, Christie’s und Co. innerhalb der immens angewachsenen Oberschicht seit einigen Jahren Eingruppierungen vornahmen – also die Käufer aus ihrem Portfolio aussortierten, die sich als elitärer einstuften, als sie es waren –, hatten die angesehenen Häuser ihre Dienstleistungen ins All verlagert. Der Kreis der Sammler war dadurch um einiges überschaubarer geworden, noch auserlesener … kurzum: unvernünftig, unverschämt stinkend reich. Und die Kunstgegenstände mussten im Shuttle und auf den Auktionsraumern beschützt werden. Von Firmen wie ArtSecure.

»Die ganze Branche hatte sich umzustellen, Monsieur Kremer.« Dr. Bonnier kniff die Augen zusammen. »Ich fliege jetzt durchs All, anstatt mich im Ritz-Carlton in Hongkong oder im Steigenberger in Brüssel häuslich einrichten zu dürfen.«

Kremer machte ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter, seine Version von gespielter Anteilnahme.

»Und glauben Sie mir«, fuhr die Kunsthistorikerin fort. »Ich würde alles dafür tun, um den Blick auf eine belebte Straße in London für das …«, Dr. Bonnier wedelte abschätzig mit der Hand, »Nichts einzutauschen, das mir entgegenspringt, wenn ich aus meiner Kabine der Horta schaue. Die Shuttles und Raumer der Auktionshäuser mögen als luxuriös bezeichnet werden, aber es geht nun einmal nichts über einen Verdauungsspaziergang im Hyde Park oder Lunch auf der Dachterrasse des Mandarin Oriental.«

Kremers Stirnfalten des aufgesetzten Mitgefühls wurden noch etwas tiefer. Savoy verkniff sich ein Grinsen. »Wie wahr. Deswegen versichere ich Ihnen, dass Miss Midthunder«, sagte Kremer mit einem Nicken in Savoys Richtung und faltete die Hände auf der Tischplatte wie zur Andacht, »Ihnen von nun an mit Rat und Tat zur Seite stehen wird, um Sie in allem zu unterstützen. Sie wird das Team auswählen, es Ihnen vorstellen und Sie und die Kunstwerke sicher zur Horta zurückgeleiten.«

»Die Van Gogh fliegt Donnerstag früh«, stellte Dr. Bonnier unbeeindruckt fest. »In der Zwischenzeit muss ich noch ein paar rechtliche Dinge fixieren: Kunstversicherungen, Expertisen … Diese ganzen Formulare können es in ihrem Umfang leicht mit der Magna Charta aufnehmen.« Sie heftete ihre Adleraugen direkt auf Savoy. »Das sind meine Aufgaben. Ich will davon ausgehen, Miss Midthunder, dass Sie die Ihren in der gleichen Zeit mit derselben Professionalität und Verve erledigen.«

Stille.

»Miss Midthunder?« Bastien Kremer räusperte sich verlegen.

Es dauerte eine Weile, bis Savoy den auffordernden Blick ihres Chefs auffing.

Ein eigenes Team. Ihr erster Einsatz. Mit ihr an der Spitze. Ihr Magen flatterte, und ihr Puls beschleunigte sich. Kremer war keiner, der seinen Hintern auf einem weichen Polster platt saß. Er wollte sich nicht in der Nase popeln, während andere für ihn arbeiteten, sondern bevorzugte, mittendrin zu agieren. Deswegen empfand es Savoy als ganz besondere Auszeichnung, ein Team leiten zu dürfen. Er überließ ihr das, vertraute ihr.

Sie schluckte. »Absolut kein Problem«, krächzte sie und hoffte, dass während der Phase ihres Überwältigtseins keine Stunde vergangen war. Kremers Worte flogen in ihrem Hirn herum wie zwitschernde Spatzen. »Mein Team wird für Sie bereitstehen, Dr. Bonnier«, ergänzte sie und fand dabei ihre normale Stimme wieder.

Sie sprachen noch eine Weile über die Spezifikationen des Auktionsraumers Victor Horta: fünfzig Luxussuiten, Freizeitdecks mit zwei Tennishallen, Bars, Clubs, Restaurants, eine Diskothek, Kinos … Savoy musste sich beherrschen, nicht konsterniert mit den Kiefern zu mahlen. Sie unterdrückte ein Ächzen, als Dr. Bonnier die Gesamtversicherungssumme der zu transportierenden Kunstgegenstände nannte. Farben. Aufgetragen mit Pinsel, Spachtel, Kratzer, Fingern oder gar der ganzen Hand. Stein. An dem herumgeklopft worden war. Holz. Zersägt, zersplittert, zusammengenagelt. Technische Spielereien. Blinkende Dioden. Monochrome Farbflächen. Und das alles hatte den Gegenwert des Bruttosozialproduktes eines nicht einmal ganz kleinen Staates!

Trotz allem: Ein Auftrag war ein Auftrag, und es war der erste Auftrag, bei dem sie die alleinige Verantwortung trug. Logischerweise würde sie ihn kompetent ausführen, auch wenn sie hundert rosa eingefärbte und in Reagenzgläser abgefüllte Fürze bewachen müsste.

Savoy fühlte einen pochenden Schmerz hinter der Schläfe, der entweder vom Sturz oder vom Stress herrührte, und beschloss, noch einige Minuten Frischluft zu tanken, bevor sie sich genauer mit dem Ablauf des Transports auseinandersetzte. Sie verabschiedete sich von Dr. Bonnier und Kremer, die ihrerseits noch einiges zu besprechen hatten, und nahm den Aufzug zurück in die Lobby. Eine Traube von Angestellten hatte sich vor dem großen Bildschirm versammelt, der hinter der Infotheke die tagesaktuellen News zeigte.

Sie verlangsamte ihren Schritt und stellte sich neben eine ältere Frau, von der Savoy meinte, sie schon einmal in der Personalabteilung gesehen zu haben.

»Was gibt es?« Dass die Nachrichtensendungen vom »Handstreich«, wie Dr. Bonnier die rollende Blendgranate bezeichnet hatte, berichteten, war äußerst unwahrscheinlich.

Statt einer Antwort nickte die Frau Richtung Display, auf dem in der Totale Ruinen eines unter schwarzem Rauch verhangenen Gebäudekomplexes auftauchten. »Feuer«, hauchte sie und zwinkerte ein paar Tränen weg. »Eine Grundschule, eine Tagesstätte. Vermutlich vierhundert Tote. Die meisten davon Kinder.«

Rettungshubschrauber trudelten wie Libellen über den Schirm, eine Brigade von Lösch- und Rettungsgleitern kam ins Bild. Einem tanzenden Oktopus gleich schwebte eine Armee von Wasserdrohnen mit Schläuchen in Höhe des dritten Stockwerks, aus dem immer noch Flammen stoben. Weinen. Schreien. Stöhnen. Unverständliche Sätze.

»Der Papst hat sich angekündigt.«

»Was? Jetzt?« Savoy konnte den Blick nicht von dem Bildschirm lösen.

»Nein, das da ist ein Zusammenschnitt. Also, er war schon dort … der Papst war schon da … wissen nichts Genaues«, stammelte die Frau zusammenhangslos. »Die einzige Schule in der Umgebung. Kinder aus den umliegenden Ortschaften. Eingeschlossen. Vierhundert Kinder …«, fügte sie hinzu, dann brach ihre Stimme. Tränen liefen über ihre Wangen.

Savoy fühlte sich unnütz und hilflos.

Splitscreen. Auf der zweiten Hälfte des Displays tauchte jetzt ein Feld auf, das offenbar in der Nähe des Schulzentrums lag. Rauch im Hintergrund. Ein weiterer Helikopter landete. Schnitt. Weg von der Totale, hin zum Porträt. Ein anderes Kamerateam fing die sich nun langsamer drehenden Rotoren in einer Nahaufnahme ein. Der Winkel änderte sich. Aus der sich öffnenden Tür kam ein roter Schuh zum Vorschein, dem ein weißer Rocksaum folgte. Der Rest der Soutane schälte sich aus dem Inneren des Hubschraubers, mit der linken Hand hinderte Papst Juan III. das Scheitelkäppchen am Davonfliegen. Gegenschnitt. Ein beleibter Mann mit schwarzem Schnauzbart stand am Rand der Ruinen. Starre Miene. Tief liegende Augen, von Schock und Schmerz durchzogen. Totale. Die beiden Männer gingen aufeinander zu, das Haupt der katholischen Kirche gemessenen, aber trotzdem eiligen Schrittes, der von Trauer Zerfressene leicht gebückt, langsam und zögerlich. Er hielt ein weißes Taschentuch in der Hand, das er während des Gehens immer wieder zusammenknüllte und auseinanderfaltete. Die Stimme des Reportes schilderte im Telegrammstil das Aufeinandertreffen zweier Welten: der höchste Würdenträger des Vatikans, der dem Bürgermeister einer italienischen Kleinstadt sein Mitgefühl aussprechen wollte.

Die beiden Männer trennte nur noch ein Meter, sie stoppten, Papst Juan III. neigte in Ehrfurcht das Haupt und streckte dem Mann ihm gegenüber die Hand entgegen. Was nun folgte, ließ die Stimme des Reporters überschnappen. Der Bürgermeister schleuderte das Taschentuch vor die roten Schuhe des Würdenträgers, wandte sich abrupt ab und schleppte sich über das von der Sonne verbrannte Gras zurück zu seinem Gleiter. Der Reporter war kaum mehr zu verstehen.

Savoys Kollegin schlug sich die Hand vor den Mund. »Ach du meine Güte!«

»Was ist passiert?« Savoy verstand den Aufruhr nicht. »Warum folgt ihm der Papst nicht?«

»Er hat den Fischerring nicht geküsst.«

»Den was?«

»Den Ring des Papstes! Er hat das Haupt der katholischen Kirche einfach abgewiesen.«

* * *

Die OP an dem Pharmasöhnchen war ihm also durch die Lappen gegangen, aber da Caius schon mal im Krankenhaus war, wenn auch außerhalb seiner eigentlichen Dienstzeit, und die Info offenkundig eine Art digitalen Mitleidsanfall hatte, vermittelte sie ihm die Visite einer neu eingetroffenen, vielversprechenden Patientin. Er solle sich aber beeilen.

Dr. Caius Fichtner kam gerade noch rechtzeitig, bevor man ihn auch in dieser Sache ersetzt hätte. Die Oberärztin der Pneumologie lehnte ungewohnt entspannt an der weißen Wand des Krankenzimmers und begrüßte ihn mit einem »Auch schon da?«, während sein Studentenduo, das neben dem Patientenbett stand, ihn erwartungsvoll anblickte. Offensichtlich hatte die Info die beiden ebenfalls kontaktiert. Kein schlechter Schachzug. Caius überlegte sich, mit welchen Nichtigkeiten er seine Handlanger die nächsten Tage zusätzlich beschäftigen sollte – vielleicht täte ihnen ein wenig Recherchearbeit über seltene neurologische Krankheiten gut –, als die Finanzexperten der Krankenhausgesellschaft eintraten. Die Rechenschieber waren sogar noch später dran als er. Kein Wunder, normalerweise lagen diese Bleistiftschubser um die Zeit schon im Bett, aber Notfälle waren eben Notfälle.

Im Prinzip hatte sich beim Vorgehen einer Krankenvisite seit anno dunnemals nichts verändert, mit einem Unterschied: Statt zuerst einen Blick auf das Krankenblatt zu werfen und darüber zu diskutieren, ob man den Tropf wieder abhängen, austauschen oder gleich wegwerfen sollte, waren erst mal die Wirtschaftsfuzzis dran. Die prüften die Bonität des Patienten, während die Controller im Haus berechneten, was die anstehenden medizinischen Maßnahmen so kosteten. Passte die Sache, war alles klar. Harmonierten die zwei Summen dagegen nicht miteinander, hatte der Kranke drei Möglichkeiten: Entweder er packte seinen Koffer allein, eine Pflegerdrohne packte ihn für ihn, oder der Patient wurde ohne Gepäck vor die Tür gesetzt. Konnte er nicht aus eigenen Stücken gehen, bestellte man ihm einen Rollgleiter, den man ihm draußen auf der Straße wieder unter dem Hintern wegzog. Krankenhausausstattung war kostbar. Viele Grüße vom staatlichen Gesundheitssystem.

Die Liquidität des Patienten wurde jeden Tag aufs Neue überprüft, denn es war ja durchaus drin, dass eine Aktie fiel – was schlecht für den Kranken wäre – oder stieg, was sich sowohl für den Leidenden als auch für die Mediziner positiv auswirkte. Als Arzt konnte man nämlich in letzterem Fall noch über ein paar zusätzliche Maßnahmen reden. Fettabsaugen, Transplantationen von in Mitleidenschaft gezogenen Organen oder die komplette Runderneuerung – im Prinzip war alles möglich.

Während Caius die hochpotenzierte Guarana-Tablette, die er sich beim Hereinkommen unter die Zunge gelegt hatte, um seine grauen Zellen zu pimpen, hin und her schob, tippten die beiden Herren angestrengt auf ihren Tablets herum. Das gesamte Team wartete in scheinbarer Ehrfurcht erstarrt, bis es am Zug war. Keine Behandlung vor positiver Nachricht. So lautete die Regel.

Nach einigen Minuten, während deren Caius erwartungsvoll die Tablette in seinem Mund mit der Zunge herumgerollt hatte, reckte der hagere Finanzexperte, ohne den Blick von den Zahlenkolonnen abzuwenden, den Daumen nach oben. Dann drehte er sich um, drückte Caius’ blonder Studentin das Tablet in die Hände, nickte seinem Kollegen zu, und die beiden verließen den Raum.

Zum ersten Mal nahm Caius jetzt die Patientin angemessen in Augenschein, deren ausgezehrter Oberkörper auf einem hohen Kissen ruhte. Sie war jung. Ungefähr sechzig Jahre zu jung, um hier zu sein.

»Sylvia van Berg«, las sein gelockter Student aus den Akten vor. »Geboren am 23. März …« Er stockte und starrte zu Caius, der sich daraufhin zu ihm beugte, um seinerseits einen Blick in die Patientendokumente zu werfen. Die Oberärztin bewegte keinen Muskel und beobachtete das Prozedere beinahe gelangweilt.

»Botox?«, fragte Caius die Frau im Bett beeindruckt. »Nein. Lassen Sie mich noch mal raten. Eher Nanotechnologie?« Wie vierundfünfzig sah die Patientin nicht gerade aus, aber auch die Schönheitschirurgie hatte in den letzten Jahren rasante Fortschritte gemacht. Wieder dachte Caius an seinen Traumjob in der privaten Medizinversorgung. Weg von hustenden Patienten, hin zu Nasenkorrekturen und Brustvergrößerungen. Durchweg gehobene Klientel. Peinliche finanzielle Überprüfungen blieben bei Patienten in Privatkliniken aus. Man kannte dort seine Gäste.

Frau van Berg zog ihre Atemmaske vom Gesicht, atmete rasselnd ein, bellte kollernd, und ihre Stimme krächzte leise, als sie antwortete: »Rundumerneuerung. Vor zwei Jahren. Meinem Mann zuliebe.«

Noch während sie diese wenigen Worte sprach, verstand Caius, weswegen sie hier war. COPD. Chronisch obstruktive Lungenerkrankung. Früher nur Rauchern oder genetisch vorbelasteten Menschen vorbehalten, griff sich die Krankheit seit einigen Jahren jeden, den sie kriegen konnte. Mit den Umweltveränderungen kehrten plötzlich Leiden zurück, die während der Industrialisierung ihren Höhepunkt gehabt hatten: Staublunge, Rachitis, Tuberkulose. Und COPD – für alle, die dafür anfällig waren. Simpel schon aus der Ferne zu diagnostizieren. Das AHA-Symptom, unter Medizinern schwere Exazerbation genannt, hatte meist recht: Atemnot, Husten, Auswurf. Und das alles in einer bunten Mischung.

Vom letzten »A« wollte Caius in den nächsten Minuten nicht Zeuge werden.

Sein Blick blieb erneut an ihr hängen. »Saubere Arbeit«, sagte er und meinte ihren Teint. »Auch keine Falten um den Mund. Nicht die kleinsten Narben von den Behandlungen. Sie sehen keinen Tag älter aus als vierundzwanzig.«

Sie lächelte verschämt, und eine feine Röte überzog ihre blasse Haut. »Danke«, hauchte sie und drückte sich die Maske wieder vor den Mund.

»In welcher Klinik?«, hakte Caius nach. »Privat?«

Räuspern aus der Zimmerecke. Die Oberärztin stieß sich von der Wand ab. »Konzentrieren Sie sich auf die Lunge, Dr. Fichtner«, sagte sie und wandte sich zur Tür.

»Geht der Bericht an Sie?«, fragte er.

Sie drehte sich zu ihm und strahlte ihn an. »Nicht doch. Bin so gut wie weg. So richtig weg. Ich wollte nur sichergehen, dass Sie rechtzeitig auftauchen und die Routinen für die OP einleiten. Sonst hätte ich die Info nach einem Kollegen suchen lassen. Danken Sie mir später.«

Er runzelte die Stirn. »Sie nehmen Urlaub?« Neid kroch ihm die Kehle hoch. Zuerst Dr. Braun und jetzt sie.

»Luna 5.« Sie grinste.

»Sie – Sie fliegen ins Freizeitressort?«, stotterte Caius’ Student. Auch seine kurvenreiche Studentin, deren Gesicht von einer Lockenflut umrahmt wurde und die Caius einem weiteren männlichen Mitarbeiter aus naheliegenden Gründen vorgezogen hatte, riss die Augen auf.

»Mit der Space IV. Erste Klasse. Das komplette Wohlfühlprogramm.« Die Oberärztin zwinkerte ihnen noch zu, bevor sie die Tür hinter sich schloss.

Eine Weile war es still im Patientenzimmer. Alle schienen sich im Kopfrechnen zu üben.

»Was kostet so was?«, fragte Goldlöckchen schließlich leise.

Caius vermutete, sie meinte die Reise zur Freizeitraumstation und nicht das neue Organ für die Patientin. »Das wollen Sie nicht wirklich wissen, oder?« Er zumindest hatte kein gesondertes Interesse daran, sich vorzustellen, was seine Kollegen im Gegensatz zu ihm so auf der hohen Kante hatten, und zwang sich zur Konzentration. »Zurück zur Tagesordnung.« Er warf einen Blick auf die Patientenakte. »Rechte Lunge. Schleimhautatrophie und Hyperreagibilität mit Zerstörung der Bronchialstruktur. Bevorstehender exspiratorischer Kollaps der Bronchien.« Er sah auf. »Sie beide checken im Anschluss die Auslastung der 3-D-Drucker. Wir sollten morgen schon die Transplantation durchführen. Finden Sie schleunigst einen freien OP-Saal, machen Sie das klar und dann melden Sie sich sofort bei mir, damit ich den Formularkram erledigen kann. Wäre das in Ihrem Sinne, Frau van Berg?«

Nachdem Caius ihr versichert hatte, dass man seit einigen Monaten das Problem der unzureichenden Blutzirkulation bei gedrucktem Gewebe in den Griff bekommen hatte, die Prozedur wegen Kreditwürdigkeit abgesegnet werden würde und sie sich keine Sorgen machen müsste, schien die Anspannung von der todkranken Frau abzufallen. Strahlend lächelte sie Dr. Caius Fichtner an. Er lächelte zurück. Manchmal kam er nicht umhin, seine Patienten zu lieben. Auch wenn es nur wegen ihres Portemonnaies war.

* * *

Savoy trat in die Rue de Brel hinaus und atmete tief durch. In ihrem Rücken erstrahlte die eindrucksvolle Kulisse des ArtSecure-Gebäudes. Fünfhundert individuelle Fenster, deren Glaspaneele die Stahlstruktur der Architektur nachzeichneten.

Was für eine Aufregung um einen abgewiesenen Handkuss, dachte sie. Die weinende Kollegin aus der HR hatte leise über die Konsequenzen sinniert. Savoy war davon überzeugt, dass es keine nach sich zog. Und wenn schon? Was war ein verschmähter Ring im Gegensatz zu vierhundert verbrannten Kindern?

Sie legte den Kopf in den Nacken. Der Nachthimmel hatte passenderweise ein dichtes Trauergewand angelegt, dicke Regentropfen fielen auf den Boden und zerbarsten im Schein der Brüsseler Stadtbeleuchtung wie klitzekleine Kugeln aus Kristall. Eine heftige Bö riss an ihren Haaren. Mit nur einem Teil des Erlöses der Kunstwerke könnte man locker die ganze vom Feuer zerstörte Schule wiederaufbauen und noch ein paar Nebengebäude erstellen und ausstatten, schoss es ihr durch den Kopf. Die Opfer vermochte es hingegen nicht zurückholen.

»Genießen Sie jeden Tropfen, Mademoiselle Midthunder. Jeden einzelnen.«

Die Stimme ließ sie herumfahren. Dr. Bonnier reckte neben ihr die schmale lange Nase in die Luft. Savoy hatte sie nicht kommen hören, das Zischen der sich öffnenden Türen der Eingangshalle war ihr ebenfalls entgangen.

»Sie glauben gar nicht, wie Sie das vermissen werden, meine Liebe. C’était au temps où Bruxelles rêvait. C’était au temps du cinéma muet. C’était au temps où Bruxelles chantait. C’était au temps où Bruxelles bruxellait.«

Savoy sah sie fragend an.

»Jacques Brel. Der Mann, der dieser Straße den Namen gegeben hat. Ein sentimentales Chanson über das alte Brüssel. Bleiben Sie noch eine Weile hier. Genießen Sie jeden Tropfen.«

»Das habe ich vor«, erwiderte Savoy.

Dr. Bonnier schien das nicht als Aufforderung zu interpretieren, selbst zu gehen. »Ich habe gehört, Sie haben den Übergriff der Futuristen in Berlin vereitelt?«

»Hm.« Savoy versuchte, ihre Unsicherheit zu überspielen, denn diesen Einsatz hatte sie in äußerst schlechter Erinnerung. »Sie meinen die Sache während des Transports einiger Objekte des Auktionshauses Grandezze?«, ergänzte sie vage.

Bonnier schnaubte. »Grandezze. Die werden sich nicht mehr lange auf dem Markt halten können, glauben Sie mir. Das Unternehmen hat auf ganzer Linie versagt. Konzentrieren sich auf die falschen Künstler. Konservativ bis ins Mark. Grauenhaft.« Sie stieß zischend Luft aus.

Savoy ließ das unkommentiert. »Wer hat Ihnen das mit Berlin erzählt?«, wollte sie stattdessen wissen.

»Monsieur Kremer sprach darüber.«

»Ach ja?« Savoy konnte ihre Verwunderung nicht verbergen. Sie selbst hatte in Berlin vor Ort keinen Finger gerührt, sondern während des Übergriffs nur wie paralysiert dagestanden, da die Mimose in ihr sich in den Vordergrund gedrängt hatte. Dass Kremer diese Entschlusslähmung jetzt mit Lametta behängte, obwohl er ihr danach die Leviten in aller Deutlichkeit gelesen hatte, war überraschend. Womöglich hatte er einen Marketingkurs belegt.

»Wie auch immer, Mademoiselle Midthunder.« Dr. Bonnier spitzte die schmalen Lippen, als wolle sie den Rauch einer Zigarette in die Abendluft blasen. »Ihre Zuverlässigkeit ist äußerst beruhigend. Ich wünsche noch einen erholsamen Abend. Vergessen Sie nicht: Genießen Sie den Regen.«

2

Glaube, Liebe, Hoffnung

10 Tage bis zur Auktion

Caius hatte die Lungentransplantation auf den darauffolgenden Morgen angesetzt. Aus diesem Grund saß er um sieben Uhr in der Früh auf einer der Örtlichkeiten der Chefarztbrigade, zu der er normalerweise keinen Zutritt hatte – jedoch hatte ihn niemand dabei beobachtet, als er in das luxuriöse Obermufti-WC geschlüpft war. Auf dem geschlossenen Toilettendeckel hockend, starrte er in einer Kabine die Fliesen an. Nach einer Weile wählte er »Gesang eines Buckelwals« als lautmalerische Hintergrundkulisse und drückte die Meersalz-Taste der Beduftungsdüsen. Und während der Wal irgendetwas trällerte, was er nicht begriff, aber als ungemein einlullend empfand, inhalierte er tief das algige Bouquet, das in die WC-Kajüte drang.

Er ging im Geist die OP durch. Etwas, das er, falls der Cheflokus gerade okkupiert war, auch oft in der Geburtsstation tat, wobei er sich in eines der vielen nicht besetzten Patientenzimmer zurückzog. Die Neonatologie stand mehr oder weniger leer – die Geburtenrate war seit Jahren auf dem historischen Tiefpunkt.

Umgeben von Salzluft und Walgesang rief sich Caius die Einzelheiten ins Gedächtnis. Nicht dass er es nötig gehabt hätte, er war der Überzeugung, auch in volltrunkenem Zustand erstklassige Arbeit leisten zu können, aber es gehörte nun einmal zu seinem Ritual. Er holte erneut tief Luft und konzentrierte sich auf die vogelartigen Laute der Walkommunikation. Dann griff er in die Tasche seines Arztkittels, förderte ein Fläschchen zutage, schraubte es auf und träufelte sich zwei Tropfen einer farblosen Essenz in jedes Auge. Bevor er in Aktion trat, bevorzugte er Guarana in seiner flüssigen Form. Effizienter.

Der Buckelwal sang, das Meer rauschte, die salzige Luft strömte in seine Lungen. Caius sah an die Decke und blinzelte. Hastig steckte er das Fläschchen wieder ein und stand auf. Gleich würde es losgehen. »Maestro«, murmelte er. »Sie haben die Bühne.«

* * *

Zwei Pools, mehrere Sporthallen, Wellnessbereiche mit türkischen Bädern, zehn Bars und Clubs, sechs Restaurants, Rauchsalons (Rauchsalons?), vier Lounges, drei Diskotheken, zwei Kinosäle, fünfzig Luxussuiten, einzeln oder zu zweit beziehbar. Zwei Ausstellungsebenen, eine auf dem sogenannten Eremitage-Deck, die andere abseits der Schwerkraftzone. Moment. Savoy stutzte und wischte, um sich eine weitere Risszeichnung auf den Screen zu holen. Kunst in der Schwerelosigkeit? Und was zur Hölle war genau der Unterschied zwischen einer Lounge und einer Bar und einem Club? Und … zwei Pools? Hoffentlich fiel dort die künstliche Gravitation nicht aus. Zweimal fünfhundertsiebzigtausend Liter Wasser, die sich in mannigfaltigen Formen aus den Becken erhoben, waren gewiss ein gigantisches Schauspiel. Savoy wollte gerne darauf verzichten.

Der Auktionsraumer glich einem fliegenden Kreuzfahrtschiff der Luxusklasse. Ein abgeflachter Walkörper, der Galerien und Promenadendecks verschluckt hatte, die miteinander durch verschiedene Aufzüge und ein Treppenhaus verbunden waren.

Zweimal war Savoy bis jetzt im All gewesen. Beide Missionen waren kurz und wurden von Kremer persönlich angeführt. Zwei Aufenthalte auf zwar kleineren, reduzierter bestückten, aber ebenso mit künstlichen Schwerkraftmodulen ausgestatteten Raumern. Zwei Aufenthalte, die Savoy nicht direkt genossen hatte. Sie musste an Dr. Bonniers wahre Worte denken. Die Abwesenheit von Sonne, Wind und Regen war irritierend gewesen.

Kurz wurde Savoy flau, und sie stand auf, um sich in der Küche ein alkoholfreies kaltes Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Sie mochte herbe Getränke, Softdrinks konnte sie nicht ausstehen. Sie trank direkt aus der Flasche und genoss mit geschlossenen Augen die Kühle in ihrer Kehle. Die Klimaanlage drehte sie nur an, wenn gar nichts anderes half. Mit der Flasche in der Hand ging sie zurück in ihr Arbeitszimmer, ließ sich in den Schreibtischstuhl sinken und wischte weiter zur nächsten Abbildung, einer schematischen Zeichnung der einzelnen Decks und Lagerräume. Natürlich würde sie sich jederzeit alle nötigen Informationen über ihre AR-Lenses auf die Netzhaut holen können, aber Kremer hatte seine Crew schon immer dazu angehalten, die eigenen grauen Zellen zu benutzen, »damit ihr mir nicht komplett verblödet«. Außerdem waren Fehlfunktionen der ARLs nicht ausgeschlossen, Savoy war angehalten, mit allem zu rechnen, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.

Als Panoramaabbildungen ihr die Ausstattung der Innenräume zeigten, tat sich plötzlich ein ganz anderes Problem auf. Eins, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Sie stellte die Flasche neben den Screen und überlegte. Auf der Horta würde sie als Teamleiterin am traditionellen Captain’s Dinner und der Gala teilnehmen müssen. Das konnte sie angesichts der sich dort aufhaltenden Klientel aber nicht in Jeans und T-Shirt oder im Teamjackett tun. Ihr Kleiderschrankinhalt war allerdings ausgesprochen überschaubar. Sie hatte nichts Passendes. Das aber war ein Problem, mit dem sie Kremer auf keinen Fall belästigen konnte. Savoy schüttelte den Kopf, wie um den Gedanken wieder loszuwerden. Sie würde darüber zu einem späteren Zeitpunkt nachdenken, jetzt ging es erst einmal darum, sich die Flure, Treppen- und Fluchtwege einzuprägen. Es war absolut notwendig, dass das Schiff zu ihrer zweiten Heimat wurde, in der sie sich zurechtfand wie in ihrem Apartment.

Sie legte den Kopf in den Nacken, fixierte die Zimmerdecke und schaffte es zu ihrer Freude auf Anhieb, in Gedanken den Weg von einem Restaurant auf Deck 9, das den überkandidelten Namen »Frühstück im Grünen« trug, zu der Ein-Personen-De-luxe-Kabine »Adolph von Menzels Balkonzimmer« mit der Nummer 3.34 nachzuverfolgen, als auf ihren Linsen der Hinweis eines eingehenden Anrufs einging. Nachts ruhten ihre ARLs genau wie der dazu passende Hörer in einer extra dafür vorgesehenen Schale, aber gleich nach dem Aufstehen setzte Savoy die auf die Kommunikationsbedürfnisse der Firma spezifizierten Ausrüstungsgegenstände ein. Die mit einer antibakteriellen Schicht überzogenen Linsen waren pflegeleicht und bedurften nur sporadisch einer Reinigung. Den Ohrhörer hatte sie in dreifacher Ausfertigung erhalten.

»Hier Midthunder«, meldete sie sich geistesabwesend.

»Davon ist auszugehen.« Kremer klang fahrig, was Savoy bei ihm bisher niemals zuvor erlebt hatte. Seine leicht zynische Ader dagegen war ihr nur zu gut bekannt.

»Einen schönen guten Morgen, Bastien. Ich bin gerade dabei, mir die Horta einzuhämmern.«

»Gut. Machen Sie trotzdem mal Pause und schalten Sie auf Videokonferenz. Und bevor Sie fragen: Ja, es ist dringend.«

Savoy wischte die Risszeichnungen vom Screen und stellte die Flasche außer Reichweite der Kamera. Dass sie sich morgens ein Bier genehmigte, auch wenn es keinen Alkohol enthielt, ging nun wirklich niemand etwas an, und Kremer schon gar nicht. »Wollen Sie mich eventuell kurz briefen?«

»Rhetorische Frage. Keine Zeit.«

Kaum hatte Kremer das letzte Wort ausgesprochen, teilte sich der Schirm in drei Segmente, wobei ihr eigenes Gesicht und das ihres Chefs an den Rand rutschten, um in der Mitte ihrem Gesprächspartner Platz zu machen. Dessen auffälligstes Merkmal war ein großes dunkles Muttermal unter dem linken Auge, das Savoy darüber grübeln ließ, wann sie selbst das letzte Mal ihre Dermatologin aufgesucht hatte.

»Miss Midthunder«, Kremer wechselte in seine Darstellung ausgesuchter Förmlichkeit, »darf ich vorstellen: Barry Sarandon. Mr Sarandon, Savoy Midthunder, die für die Kunstwerke auf der Horta die Verantwortung tragen wird.«

Savoy spürte förmlich, wie sich ihre Poren öffneten. Ihre Finger suchten die Kühle der Bierflasche. Du schaffst das. Du bist gut. Du bist trainiert. Du hast es im Griff, flüsterte sie sich in Gedanken zu. Du willst das.

»Miss Midthunder, ich komme gleich zur Sache.« Sarandon sprach Englisch, wie es üblich war, seinen Akzent aber konnte Savoy nicht einordnen. »Sie sind über die weltpolitische Lage informiert? Wirtschaft, Naturkatastrophen, Zusammenhänge? Einer Frau mit Ihrem Genpool dürfte das nicht entgehen, schätze ich.« Er schenkte ihr ein schmieriges Lächeln.

Savoy widerstand dem Drang, den Monitor auszuschalten. Wieder einmal eine Anspielung auf ihre Herkunft. Es gab Menschen, Weiße, die immer noch nicht damit zurechtkamen, dass sich die Reservate im Laufe des letzten Jahrhunderts zu florierenden wirtschaftlichen Städten entwickelt hatten. Für einen Moment war Savoy geneigt, die Bemerkung auf sich beruhen zu lassen, der Augenblick war aber schnell vorüber. Savoy betrachtete Sarandons Gesicht. Es kam ihr so vor, als imitiere er die naive Mimik von Angeklagten, wie man sie in Gerichtsfernsehserien immer sah. Hielt fast penetrant an ihrem Blick fest. »Haben Sie spezifische weiter gehende Fragen? Mein indigenes Sternzeichen, das traditionelle Rezept meiner Großmutter väterlicherseits?« Sie fing Kremers steinernen Ausdruck in der unteren Ecke auf und zwang sich zu einem dünnen Lächeln. Dass sie vor vielen Jahren ihrem eigenen Reservat den Rücken gekehrt hatte, ging Sarandon einen feuchten Hirschfurz an. »Darf ich mich erkundigen, auf welches Ereignis Sie anspielen?« Wer war dieser impertinente Typ, der nicht einmal den Anstand hatte, seine Position vorzustellen, wenn dies schon Kremer versäumt hatte?

Jetzt zwinkerte Sarandon nervös, was Savoy gewillt war, fürs Erste als Entschuldigung für seine vorherige Bemerkung durchgehen zu lassen. »Das Feuer«, sagte er.

»In Norditalien. Ja, ist mir bekannt.« Tote Kinder, junges Leben vernichtet, dachte Savoy. Ein ungeküsster Fischerring und ein von Gram zerfressener Bürgermeister. Ganz zu schweigen von einer weinenden Kollegin, die offensichtlich dem katholischen Glauben anhing, denn ihre Finger hatten das goldene Kreuz, das sie in einer zarten Kette um den Hals getragen hatte, berührt. Frömmigkeit: eine äußerst seltene Erscheinung heutzutage.

»Sie haben die Übertragung gesehen? Die Begegnung des Heiligen Vaters mit Enrico Muratori, Sindaco von La Foggia?«

Anhand der fließenden Aussprache der Namen vermutete Savoy jetzt, dass Sarandon italienischer Abstammung war. Weder wusste sie, was Sindaco bedeutete, noch hatte sie in der Lobby mitbekommen, welche Stadt vom Unglück heimgesucht worden war, und auch keine Nachrichten mehr gehört, um sich ganz auf ihre Aufgabe konzentrieren zu können, trotzdem nickte sie. »Er hat ihn zurückgewiesen. Den Handkuss verweigert.« Immer noch rätselte sie über den Hintergrund des Gesprächs. Waren Kunstwerke verschüttet worden, die in der Van Gogh zur Horta hätten fliegen sollen? Aber welche herausragenden Kunstobjekte konnte eine Schule besitzen? Und wenn dem so wäre, warum waren diese Werke nicht schon längst unterwegs zum Raumhafen?

»Es geht um zwei Dinge, Miss Midthunder.« Sarandons Stimme nahm jetzt einen professorenhaften Tonfall an. Savoy hasste es, wenn man mit ihr sprach wie mit einer Unterbelichteten. »Erstens: um die Postulation der Notwendigkeit des Bestehens einer Institution, die den Willen des Herrn auf Erden vertritt, und zweitens um den Wiederaufbau von La Foggia und die Entschädigung der dort ansässigen Familien, die bei dem tragischen Unglück ihre Kinder verloren haben. Eine Verpuffung. Während einer chemischen Demonstration für die Schüler. Das Gebäude hatte eine Holzkonstruktion, das Feuer konnte sich rasend schnell verbreiten.«

Postulation der Notwendigkeit des Bestehens. Einer Vertretung von Gottes Willen auf Erden. Das waren saftige Worte. Savoy überlegte, welcher Subtext sich darin verbergen könnte, und kam zu dem Schluss, dass die Drohung verschiedener Institutionen, das Vermögen der Kirchen einzufrieren, um diese letzten Endes völlig auszutrocknen, dabei womöglich eine nicht unwichtige Rolle spielte. Würde die Kirche sich als wohltätige Retterin wieder in den Vordergrund spielen, gewönne sie an Zulauf und damit an Einfluss. Savoy warf erneut einen kurzen Blick in die linke untere Ecke, in der Kremer stoisch in die Kamera blickte. Allem Anschein nach wusste er ebenso wenig, auf was Sarandon hinauswollte, und hatte beschlossen, sich bis zur Lüftung aller Details mit Kommentaren zurückzuhalten.

»Hat Signore Muratori sich irgendetwas zuschulden kommen lassen, was den Vatikan verärgert hat?« Bevor Sarandon, der empört die Augen aufriss, sich dazu ausbreiten konnte, schob Savoy schnell hinterher: »Außer der Zurückweisung der Institution der katholischen Kirche vor laufender Kamera?« Kremer hob fast unmerklich amüsiert eine Augenbraue.

»Der Vatikan, Miss Midthunder«, Sarandon bemühte sich sichtlich um Fassung, »verdient wieder den Respekt, den man ihm früher einmal entgegenbrachte. La Foggia hatte seit seiner Stadtgründung vor zweihundert Jahren noch nie eine Kirche.«

»Davon habe ich gehört.«

»Noch niemals.«

»Richtig.« Sie verkniff sich ein »Na und?« und antwortete stattdessen: »So wie viele andere Orte auch, Mr Sarandon. Wir alle wissen, wie es um die Gemeindemitglieder bestellt ist. Das betrifft nicht nur die katholische Kirche. Der Glauben ist ein überholtes Konzept.«

Ein leichtes Lächeln umspielte Sarandons schmale Lippen. »Ist er das? Und jetzt wurde eine Gemeinde ohne Gotteshaus von einem Feuer heimgesucht.«

Das war dick aufgetragen. Der Mann wollte doch nicht etwa so etwas wie ein göttliches Gericht andeuten? »Das ist eine erstaunliche These, Mr Sarandon«, sagte sie.

Sarandon fixierte die Kamera wie ein Nachrichtensprecher. »Hier ergibt sich die einmalige Gelegenheit, wahre Größe, Demut und Hilfsbereitschaft zu zeigen. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, mich von einem äußerst bedeutenden Objekt meiner Kunstsammlung zu trennen und den Erlös der Auktion dem Heiligen Stuhl zukommen zu lassen, der seinerseits den gesamten Betrag der Stadt La Foggia spenden wird.« Sarandon breitete jetzt die Arme aus. »Glaube, Liebe, Hoffnung, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit.«

Savoy war erstaunt, dass Sarandon auf die gleiche Idee gekommen war wie sie, als sie auf der Rue de Brel in den Regen gestarrt hatte. Wenn auch seine Motive ganz andere waren. Dennoch hakte sie nach: »Und der Vatikan kann diese monetäre Leistung nicht selbst vollbringen, weil ihm dazu das nötige Bargeld fehlt?«

»Barvermögen war schon der Kirche Sache nicht, als diese noch viele Seelen betreute«, stellte der Kunstsammler mit verkrampftem Lächeln fest. »Das Vermögen bestand aus Grundstücken, Kunst und …«

»Verzeihen Sie, Mr Sarandon«, unterbrach ihn Savoy. »Kunst. Das Stichwort. Kunst der Kirche.«

Er schaltete sofort. »Verkauft«, lautete die knappe Erwiderung. »Das meiste zumindest.«

Das war interessant. Dass die katholische Kirche ihren Betrieb in den letzten Jahrzehnten durch den Verkauf von Wertgegenständen und Grundstücken am Laufen hielt, war Savoy nicht bekannt gewesen. Es stand um die Institution schlimmer, als sie es angenommen hatte. »Allem Anschein nach sind Sie ein äußerst großzügiger Mann, Mr Sarandon. Und dieses kostbare Stück soll mit der Van Gogh auf die Horta transportiert werden?«

Sarandon lächelte. »Correttamente.«

»Und Ihre Sammlung ist …«, Savoy suchte nach einer Formulierung, »… in den einschlägigen Kreisen bekannt?«

Statt einer Antwort schenkte Sarandon ihr zunächst einen eiskalten Blick. »So ist es«, sagte er dann, jedes Wort betonend. »Mein Name ist in der Szene ein Begriff.« Savoy hatte sich noch nie groß für die Sammler interessiert, die hinter den Objekten standen, die sie zu bewachen hatten. »Ich habe bereits die Initiative ergriffen und meine Rechtsanwälte angewiesen, Kontakt mit Dr. Bonnier aufzunehmen«, fuhr Sarandon fort. »Die nötigen Formalien sind auf dem Weg, die Interessenten der Auktion sind über die Teilnahme meines Objekts informiert, wissen jedoch nicht, was ich mit dem Erlös vorhabe. Das soll der, nun ja …«, er machte eine theatralische Pause, »der Paukenschlag der Veranstaltung auf der Horta werden. Der Vertrag mit ArtSecure beinhaltet aus diesem Grund eine Geheimhaltungsklausel. Ich finde es nur gebührlich, Sie schon im Vorfeld darüber in Kenntnis zu setzen, welch bedeutende Fracht Sie dazugewinnen werden.«

Savoy hörte Kremer ein leises »Firma dankt« murmeln, was Sarandon in seiner überheblichen Darstellung der einzelnen Punkte komplett zu entgehen schien.

»Durch den angeordneten Sicherheitstransport«, sprach er weiter, »wird sich der Start der Van Gogh allerdings um einen Tag verzögern. Als Dr. Bonnier jedoch hörte, um welches Objekt es sich handelt, hat sie sofort eingelenkt.«

Jetzt endlich schaltete sich Kremer ein. »Von welchem Gegenwert sprechen wir hier, Mr Sarandon?«

»Nun …« Ihr Gesprächspartner legte die Fingerspitzen aneinander. »Drücken wir es so aus. Sollte das Objekt aus irgendeinem Grund nicht versteigert werden können oder gar Schaden nehmen, dann müsste die Versicherung Ihrer Firma nicht nur dem Vatikan, sondern auch den Verbliebenen der vierhundert toten Kinder Rede und Antwort stehen. Können Sie sich eine Zahl im dreistelligen Millionenbereich vorstellen? Würde Ihre Versicherung hier einspringen können? Eine Summe, die Sie und das Kunsthaus Bonnier dann dem Vatikan schuldig wären? Und den toten Kindern? Was das für die Reputation von ArtSecure bedeuten würde? Wir alle wissen, dass die von mir gespendete Summe nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist, aber sie ist ein Anfang. Ein Zeichen. Eine unübersehbare Geste.«

Die Flasche, die Savoy umklammert hielt, schien sich aufzuheizen. Kremers Miene blieb weiterhin unbewegt. Hatte sie sich noch vor einigen Minuten eingeredet, die Sache könnte sich zu einem Spaziergang entwickeln, sah sie jetzt vor ihrem geistigen Auge einen Parcourslauf auf einem Minenfeld vor sich. Anna, Bob, Ebbe, Gag, Hannah, Kajak … zählte sie lautlos auf.

»Das Kunstwerk wird wohlbehalten auf der Horta ankommen«, hörte sie Kremer sagen. »Alle beteiligten Parteien werden zufrieden sein. Sie können auf uns zählen.«

* * *

Der Kopf der Patientin ruhte auf dem weichen Kissen, und das kurze Haar stand nach allen Seiten ab. Die Atemmaske war gestern nur vorübergehend eingesetzt worden, jetzt ragten aus den Nasenlöchern Frau van Bergs zwei kleine Schläuchlein, die mit der Sauerstoffversorgung hinter den Wandpaneelen verbunden waren. Ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig – ein bei COPD-Patienten seltener Anblick von Frieden, innerer Ruhe, Erleichterung. Caius trat ein wenig näher an das Bett und lauschte. Das Atemgeräusch wurde von einem leisen Schnorcheln begleitet. Das war der Schleim in ihren Bronchien, die sich aus eigener Kraft bald nicht mehr davon befreien könnten.

Nur für ein paar Sekunden schloss er die Augen, um sich seiner Situation erneut bewusst zu werden, dann riss er die Lider wieder auf und räusperte sich. »Frau van Berg?«

Es dauerte eine Weile, bis sie reagierte, und er fühlte sich schuldig, sie aus dem Ruhezustand, den ihr Körper so dringend nötig hatte, herauszureißen. Ein Gefühl, das er von sich gar nicht kannte.

»Frau van Berg«, wiederholte er, dieses Mal mit Nachdruck. Sie schlug die Augen auf. War offenkundig die ganze Zeit über schon wach gewesen, hatte ihn hereinkommen hören, gespürt, wie er unschlüssig an ihrem Bett stand. Er versuchte sich an einem Grinsen. »Es geht los. Ich erwarte Sie in dreißig Minuten im OP-Saal. Brauchen Sie ein Beruhigungsmittel? Ist eigentlich nicht nötig.«

Sie öffnete den Mund und bedachte ihn mit einem Blick, der zwischen gespielter Ahnungslosigkeit und Panik lag.

»Nein? Nun gut. Ihre Finanzprüfung fiel auch zum zweiten Mal positiv aus …«

Erneut öffnete sie den Mund, schloss ihn aber gleich wieder.

»… es ist also alles geregelt«, repetierte Caius mit fester Stimme. »Sie müssen nicht befürchten, hier rauszufliegen und auf der Straße in Kürze den Löffel abzugeben.« Er lachte auf. »Tut mir leid«, setzte er hastig nach, als er ihren entsetzten Blick auffing. »Das war unangebracht.« Vielleicht hätte heute ein Tropfen Guarana genügt.

Sie starrte ihn weiter an.

Caius versuchte, nicht wie ein hippeliger Teenager von einem Fuß auf den anderen zu treten. Er fühlte sich wie ein Gepard vor der Antilopenjagd. Aber das gehörte nun mal dazu, wenn man kurz davor war, seinen Hunger zu stillen … Wenn man sich von einer OP einen fetten Obolus versprach. »Wie geht es Ihnen momentan?«, fragte er. Rein rhetorisch.

»Den Umständen entsprechend«, krächzte sie irritiert.

»Schön, schön. Dann sehen wir uns gleich unten.« Bevor sie etwas erwidern konnte, kam Caius ein Gedanke. »Wissen Sie was?« Er war schon bei der Tür. »Bin gleich wieder da!«

Der Aufzug konnte ihm gestohlen bleiben; Caius rannte die zwei Stockwerke zur Neurologie hinauf. Freie Rollgleiter waren ein seltenes Gut in diesem Etablissement, aber wenn er das Glück haben sollte, einen zu finden, dann in dieser Abteilung. Während des Laufens piepste er seine beiden jungen Paladine an und teilte ihnen mit, dass er die Patientin selbst nach unten fahren würde. Caius gedachte, Sylvia van Berg noch einen ordentlichen emotionalen Einlauf zu verpassen, bevor er sie operierte. Dieser wirkte sich bekanntermaßen oft in einer großzügigen Prämie aus.

Im Laufschritt eilte er durch den Flur – ein geschäftiger Arzt auf dem Weg zu einem Patienten, niemand nahm Anstoß an seinem Tempo – und versuchte sich fieberhaft in Erinnerung zu rufen, welcher Kranke in welchem Zustand in welchem Zimmer lag. Die Neurologie hatte er seit einiger Zeit nicht mehr betreten, denn mit Alzheimer-Patienten, Epileptikern und Parkinson-Kranken war nun mal kein Geld zu machen. Sein letzter Besuch in dieser Abteilung hatte einer alten Dame gegolten, die ihn immerzu »Jüngelchen« genannt und eine neue Hüfte benötigt hatte. Da laut Controlling Geld in diesem Fall kein Problem gewesen war, hatte er sich damals gegen einen 3-D-Druck und für eine bioaktive Titaniumlegierung entschieden. Die fünfundzwanzig Prozent Arztanteil investierte Caius nicht allzu geschickt in die Anzahlung eines neuen Aufreißfahrzeugs, auf das er auf keinen Fall verzichten wollte, anstatt sie in die Teilabzahlung seiner Schulden zu stecken. Dummerweise hatte er kein Händchen für eine ordentliche Finanzverwaltung. Schon seit Jahren schwor er sich, das zu ändern, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen. Bereits zu Studienzeiten hatte er auf zu großem Fuß gelebt.

Circa zwanzig Meter vor ihm schwebte ein älterer Herr auf seinem Gleitstuhl Richtung Toilette. Er drehte Caius den Rücken zu, sah ihn nicht heraneilen, hörte auch nichts (wahrscheinlich hatte er sich nach seiner Behandlung keinen Nanochip mehr leisten können und war stocktaub geblieben) und riss nur den zahnlosen Mund zu einem Stöhnen auf (zu einem Kau-Ersatz hatte es also auch nicht mehr gereicht), als Caius den federleichten Körper des Alten aus dem Stuhl hob. Aus dessen aufgerissenen Augen sprach pure Empörung, und seine Hände pflügten wie Windmühlenflügel durch die Luft. Caius hielt ein paar Sekunden inne, starrte zögernd auf das Häuflein Elend in seinen Armen, besann sich, trug den Alten in das Herren-WC, die ursprüngliche Destination des Greises, zog dessen Hose hinunter, sodass sie ihm um die Knöchel schlackerte, und setzte ihn behutsam auf eine Klobrille. Mit bedeutungsschwangerer Miene zeigte Caius anschließend auf das Sicherheitspanel an den Fliesen. »Wenn Sie fertig sind, rufen Sie nach Hilfe, in Ordnung?«

Keine Reaktion.

»In Ord-nung?«, wiederholte Caius ungeduldig.

Jetzt nickte der Alte stumm. Seine wässrigen Augen fixierten die leuchtenden Dioden des Displays, das sofort alle Blutwerte auflistete, als er in die Schüssel pinkelte.

Caius warf einen Blick auf seine Uhr. Verdammt noch eins, die Zeit lief ihm davon! Zu seiner großen Erleichterung stellte er fest, dass der Rollgleiter noch da war; er umklammerte die Griffe und rannte Richtung Aufzug.

Zehn Minuten später befand er sich mit Sylvia van Berg und seinem Team im Lift. Caius zwang sich zur Ruhe, versuchte nicht zu zwinkern und näherte sich dem Retina-Scanner in Zeitlupe. Er wünschte, er hätte dieses Mal seinen bevorzugten Energiebooster in Tablettenform eingeworfen. Es wird Zeit, dachte er, meine Murmeln endlich wieder einzusammeln und nebeneinander aufzureihen. Das würde seine letzte OP sein, wenn er den medizinischen Eingriff versaute, nur weil er auf einem Koffeintsunami surfte.

»OP-Saal 5. Autorisierung: Doktor Caius Fichtner.«

Der Lift setzte sich lautlos in Bewegung und hielt nur wenige Sekunden später wieder. Sie stiegen aus. Caius spürte, wie sich die Anspannung wegen der bevorstehenden OP immer stärker in ihm aufbaute, heftiger als sonst, und das war nicht gut. Wilde Gedanken klackerten wie Boulekugeln in seinem Oberstübchen umher. Mit aller Anstrengung zwang er sich zur Vernunft, durchfingerte, während er mit dem Team den Korridor zum OP-Saal entlanglief, die Taschen seines Kittels und förderte einen Downer zutage. In der Hoffnung, er würde seinen mäandernden Geisteszustand verankern, legte er sich ihn unter die Zunge. Meine Güte, warum hatte er nicht schon vorhin daran gedacht?

Das Sedativum half. Nach nur kurzer Zeit spürte er förmlich, wie sich die kleinen drehenden Rädchen in seinem Hirn wieder miteinander verbanden. Eines nach dem anderen fand den angestammten Platz. Das unkontrollierte Free-Jazz-Gedudel des Orchesters in seinem Kopf hatte ein Ende. In diesem Moment wusste Caius genau, was zu tun war. Er legte den Finger auf den sensorischen Öffner des OP-Saals. Das blendende Licht ließ ihn kurz die Augen zusammenkneifen, dann übernahm endlich sein innerer Autopilot.

Sanft schob er seine Assistenz, er hieß Abdeel, und sie sah aus wie Goldlöckchen, zur Seite und baute sich vor den vier in der Saaldecke installierten Roboterarmen auf, die gerade die letzten Vorbereitungen durchführten. Blinkende Dioden der Operationskonsole klärten über den aktuellen Stand der Softwareüberprüfung ihres integrierten Fehlermanagements auf. Caius warf einen kurzen Blick darauf und nickte zufrieden. »Autorisierung: Dr. Caius Fichtner, Patientin: Sylvia van Berg, Lungentransplantation«, sagte er mit fester Stimme und ging in den Nebenraum, um die Programmierung des 3-D-Druckers zu überprüfen. Dann eilte er eine Tür weiter und führte die Handlungen aus, die vor jeder OP angesagt waren: Kleidung wechseln, chirurgisches Händewaschen, Desinfektion. Befeuchtung der Unterarme mit lauwarmem Wasser, Einreiben der Hände und Arme mit Waschlotion, Säuberung der Finger und des Nagelbereichs mit einer weichen Bürste.

»Nachdem die Anästhesie erfolgt ist, herkommen und vorbereiten!«, bellte er in das in eine Konsole eingelassene Mikrofon, das seine Stimme in den OP-Saal übertrug. »Überlassen Sie die Patientin dann unseren elektronischen Helfern, die werden sich rührend um Frau van Berg kümmern. Ich gebe Ihnen beiden einen kurzen theoretischen Überblick über die Abläufe der OP, dann starten wir. Hopphopp! Losen Sie schon mal aus, wer von Ihnen an der medizinischen Konsole sitzen darf.«

3

Mission Sternennacht

9 Tage bis zur Auktion

Krafttiere, spirituelle Wege in die eigene Seele. Hokuspokus in meinen Wurzeln. Wurzeln, die ich gekappt habe; ich kann sie nicht gebrauchen, sie schmerzen. »Unser Clantier, unsere alten Rituale, unser Glauben und unser Vermächtnis werden zu dir kommen, von ganz allein«, sagte mein Vater. In der geschwollenen Art, die er bei diesen Gelegenheiten immer anschlug. »Dann, wenn du nicht nach ihnen suchst.« Ich habe ihn reden lassen. Und er redete viel.

Hilfe von außen, Kraft von außen – auf die wartet man oft vergebens. Ahyoka musste das erfahren. Meine große Schwester. Ich warte nicht mehr. Ich bin mein eigenes Clantier.

 

Undatierte Datei, abgelegt unter »Dies ist kein Apfel«, privater Infostick von Savoy Midthunder

Savoy hatte die Kehrtwende der Kunstszene nie sonderlich interessiert, wenn ihr die Ursachen auch bekannt waren. Durch die Drehung um hundertachtzig Grad war sie zu ihrem Job gekommen.

Anfang des 21. Jahrhunderts hatten Museen und Galerien noch Versuche unternommen, um die »intellektuelle Schwelle«, wie Kremer sie einmal genannt hatte, von Brusthöhe auf zumindest Kniehöhe zu senken. So weit, so gut. Begleittexte wurden geändert. Man sprach nicht mehr von »einer Technik, die sich der Kraft und Akzentuierung der Linie widersetzt«, sondern vom »Verschwimmen der Konturen«. Nicht mehr von »der gewissen Unsicherheit über den Abschluss des Umrisses und der Details«, sondern vom »fast unsichtbaren Übergang zwischen Farben«. Änderungen, die Savoy nachvollziehen konnte, ging ihr das verschwurbelte Gerede der Museumspädagogen und Kunsthistoriker, mit denen sie es beinahe täglich zu tun hatte, gehörig auf die Nerven. Auch die Idee, Kopien der Originalskulpturen zur Verfügung zu stellen, die man ertasten konnte, leuchtete ihr ein.

Aber alle Bemühungen, neuen Besuchergruppen Kunst als direkte Erfahrung zugänglich zu machen, scheiterten. Auch gesenkte Eintrittspreise konnten da nichts ausrichten. Fehlendes Interesse oder Zeitmangel? Man fand keine Antwort darauf. Kunst blieb somit auch nach den durch die von den Museen vorgenommenen Veränderungen ein Paradebeispiel für Prestigekonsum. Für das finanzstarke Publikum mit normalerweise hohem Bildungsgrad. Zudem wurden die immer deutlicher einbrechenden Umsatzzahlen durch die gesenkten Eintrittspreise nicht durch Zuschüsse oder Sponsoring ausgeglichen – und so entschied man sich für das krasse Gegenkonzept: Schluss mit der Kunst für die Gesamtheit. Her mit der Exklusivität. Dem Luxus.

Es funktionierte.