Born - Kris Brynn - E-Book

Born E-Book

Kris Brynn

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Beschreibung

Düster, hochspannend – und beklemmend realistisch: Der Noir-Thriller »Born« spielt in einer nahen Zukunft, in der Europa den Krieg um wesentliche Ressourcen verloren hat. Deutschland in der nahen Zukunft: Der Große Sandkrieg hat das Land fast unbewohnbar gemacht, die Bevölkerung drängt sich in gigantischen Mega-Citys. Riesige Farmen außerhalb sichern die Versorgung mit dem Nötigsten – oder dem, was die Regierung für nötig hält. Nalani hält sich als Taxifahrerin in der Mega-City Born über Wasser, stets begleitet von Fergus, ihrem KFZ-Notfall-Hologramm, das sich nicht mehr deaktivieren lässt und so ziemlich alles besser weiß. Ihr Leben gerät gründlich aus den Fugen, als ihr Bruder Tomas sie verzweifelt kontaktiert: Auf den Farmen, die von sogenannten Brüdern und Schwestern nach einem alttestamentarischen Kodex geleitet werden, läuft etwas gründlich schief, und Nalani, die Tag für Tag mit dem übelsten Abschaum zurechtkommen muss, ist seine letzte Rettung ... In ihrem Noir-Thriller »Born« lässt Kris Brynn, die Autorin von »The Shelter – Zukunft ohne Hoffnung« und »Out of Balance«, eine beklemmend realistische Vision der Zukunft entstehen. Die richtige Dosis Action, spritzige Dialoge und viel Atmosphäre machen den Thriller zu einem echten Lese-Highlight.

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Seitenzahl: 455

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Kris Brynn

BORN

Dystopie-Thriller

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Deutschland in der nahen Zukunft: Außerhalb gigantischer Städte und riesiger, teils unterirdischer Farmen ist das Land praktisch unbewohnbar. Nalani hält sich als Taxifahrerin in der Mega-City Born über Wasser, stets begleitet von Fergus, ihrem KFZ-Notfall-Hologramm, das sich nicht mehr deaktivieren lässt und so ziemlich alles besser weiß. Ihr halbwegs geordnetes Leben gerät gründlich aus den Fugen, als ihr Bruder Tomas sie verzweifelt um Hilfe bittet: Auf den Farmen, die von sogenannten Brüdern und Schwestern nach einem alttestamentarischen Kodex geleitet werden, läuft etwas gründlich schief ...

Inhaltsübersicht

Rauchende Colts

Delflopion gekreuzt mit Gloster

Geh und tu das, was du tun musst

Der unfreiwillig Freiwillige

Cro Magnon und Tapas

Bewahre die Festung!

Et ego te absolvo

Are friends electric?

Familienwabe 105A

Großartiges Blau

Der Apfelkern

Chloro-Freak

Der stumme Junge

Für König und Vaterland

Der Gottesbeweis

No cars go

Wir haben ein Problem

Bis auf die letzte Kommastelle

Ich genieße deine Liebe mehr als den besten Wein

Glühwürmchen und Zitronensaft

Willst du einen Freund gewinnen …

Wadi Rum

El Vengador de los Desheredados

Yankee Doodle Dandy

Ataraxie

Ich weiß, wer du bist

It’s the only way to live

Denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen

Dein Platz ist bei den Säuen

Eine Welt aus Farbe

Потёмкин

Optionen

Jeder Tag ist voller Staunen

WhiteHeatKnowsItAll

Burning Down the House

Vermächtnis

It’s save

Nachwort und Danksagung

Rauchende Colts

Der Geruch von Hitze und Staub war überall. Die glühende Stadt lechzte nach Gewitter, nach Donnergrollen, Blitzen und Wolkenbrüchen. Nalani ließ die Schultern kreisen, bis sie krachten, und blendete den Redeschwall ihres Fahrgastes aus. Sie mochte Horse, aber es gab Tage, da konnte sie ihm unmöglich die ganze Fahrt über zuhören. Tage wie heute. Heiße, trockene Tage. Tage, die den Dreck der Straßen knistern ließen.

»Klar gibt es Regeln, aber die sind doch nur für die anderen, verstehste? Die sind nicht für meinesgleichen. Also, hab ich der Blaujacke gesagt, er kann sich diese Vorschriften dahin schieben, wo die Sonne normalerweise nicht hinscheint. Verstehste? Sicher, nachdem ich ihm den Hintern aufgerissen habe, kann die Beleuchtungssituation anders aussehen, aber …«

Sie nahm die Hand vom Lenkrad und fuhr sich durchs Haar. Obwohl im Cab konstante zwanzig Grad herrschten, gab es Momente, in denen sie sich das Klatschen von Regentropfen auf der Scheibe wünschte.

 

HD? Zentrale an HD. Behinderung auf deiner Strecke.

 

»… aber so weit waren wir ja noch gar nicht in unserer Beziehung. Die Blaujacke und ich«, hörte sie Horse weiterreden.

»Hm. Sehr anschaulich formuliert«, warf sie kurz ein.

 

HD? Kommen!

 

Die Stimme in ihrem Ohr wurde drängender. Sie justierte den Stöpsel mit Daumen und Zeigefinger, klopfte einige Male dagegen, um die Lautstärke zu reduzieren. »Aus einem Guss, Horse, wie immer«, fuhr Nalani mit ihrer Lobeshymne Richtung Rücksitz fort.

»Nicht wahr?« Ihr Fahrgast auf der Rückbank kicherte. Ein heiseres Glucksen, dem ein raues Husten folgte.

Der Staub. Er drang in jede Pore, in jede Körperöffnung, verstopfte alles.

Wieder dachte Nalani an Regen. Das Auftreffen und Zerplatzen von Tropfen. Das Hüpfen und Springen, das Prasseln und Trommeln des vom Himmel niedergehenden Schauers, in dem eine Kraft steckte, als wollte er die Karosserie zerschießen. Nalani konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann es das letzte Mal so richtig geschüttet hatte.

»Du solltest mal deine Bronchien checken lassen, Horse«, sagte sie.

 

HD? Bist du da? Wiederhole. Behinderung vor dir. Jetzt melde dich mal! Nalani?

 

»Bullshit. Meinen Bronchien geht es bestens.«

»Klar.« Im Rückspiegel sah Nalani die eingefallenen Wangen ihres Fahrgastes. Die Haare hingen ihm strähnig in die Stirn, mit der Hand fuhr er sich mehrmals über den grau gesprenkelten Bart. Tief liegende Augen wie schwarze Murmeln fingen ihren forschenden Blick auf. Den Namen Horse trug er nicht etwa wegen seines Clubs, des Quivering Pony, sondern wegen seines Gesichts. Lang wie das eines Pferds.

Er leckte sich mit der Zunge über die spröden Lippen. »Jetzt mal weiter im Text. Der Typ wollte dann gar nicht mehr aufhören mit seinem Gequatsche, verstehste, und …«

»Horse?«, unterbrach Nalani den Sermon ihres Stammgastes.

»Was ist?«

»Hast du deine Ernährungsbons abgeholt?«

»Was soll das, Nalani? Hältst du mich für blöd? Klar hab ich das!«

»Und für dich selbst behalten?« Es war kein Geheimnis, dass Horse die Wertmarken nicht selten an seine Tänzerinnen weitergab. »Du darfst sie nicht immer verschenken, hörst du?«

»Wer bist du? Meine Mutter? Erstens reichen mir die, die ich für mich aufhebe …«

»So siehst du aber nicht aus«, unterbrach ihn Nalani. »Ich mach mir echt Sorgen um dich.«

»Und zweitens«, redete Horse unverdrossen weiter, als ob er nichts gehört hätte, »zweitens will keiner der Gäste Gerippe an der Stange tanzen sehen, okay? An meinen Girls muss schon was dran sein, verstehste?«

Wenn Horse über seine Mädchen sprach, dann hatte das nichts Sexistisches oder Obszönes. Sie waren seine Familie, um die er sich sorgte. Die er beschützte. Er fragte sie jeden Tag, wie es ihnen ging, ob sie etwas bräuchten, ob es Probleme mit Gästen oder privat gab. Er hielt die geifernden Besucher auf Abstand. Anfassen verboten. Bewundern durchaus erlaubt. Aber die Frauen waren für ihn keine Ausstellungsstücke, er wusste seine Tänzerinnen aus Fleisch und Blut gut zu behandeln. Was die Gäste vor den Hologrammen taten, die die weniger lukrativen Tagesschichten abdeckten …? Horse sprach nicht darüber, und Nalani konnte es sich denken.

Sie kannte niemanden persönlich, der hungerte. Aber Hobos gab es genug. Die Wanderarbeiter, die von der Hand in den Mund lebten, hielten sich von den Hauptstraßen fern, übernachteten in Garagen, Lagerhallen oder Werkstätten, in denen sie sich durch Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielten, bis sie weiterzogen.

»Solltest du nicht selbst ein bisschen mehr essen?«, meinte sie. »Bevor du dich kaputtmachst?«

»Ich bitte dich! Vitamine und so ’n Zeug werden überbewertet.«

Bevor Fergus auf dem Beifahrersitz ein medizinisches, von Fakten untermauertes Statement abgeben konnte, warf Nalani ihm einen warnenden Nicht-jetzt-sonst-reißt-er-dir-alle-Sicherungen-raus-Blick zu.

Horse hatte sich wieder mal in Rage geredet. »Außerdem: Klappernde Knochen auf der Tanzfläche: Das würde mich kaputtmachen! Nicht ein paar verschenkte, verschissene Essensbons.«

»Das würde dich kaputtmachen, weil dir dein gutes Herz schmerzen würde.«

»Jetzt werd mal nicht gefühlsduselig, Nalani, außerdem …«

 

HD? Verdammt, was treibst du? Melde dich endlich!

 

»Moment mal, ich muss mich konzentrieren«, fuhr ihm Nalani erneut in die Parade. »Allem Anschein nach haben wir ein Problem vor uns, die Zentrale nervt schon die ganze Zeit, ich kann das nicht länger ignorieren.«

Hinter ihr grunzte es. »Die Strecke fahren wir doch jetzt schon zum tausendsten Mal, was musste da noch schauen, wohin’s geht? Das haste doch im Blut.«

Nalanis ausgestreckter Finger deutete nach vorn. »Aber das nicht.«

»Fuck.« Horse’ Schnauben machte seinem Namen alle Ehre. »Die Typen von Narthex sind die letzten Zecken. Glaubst du, wir schaffen das an denen vorbei? Ich hab ’ne Verabredung mit dem Kerl von der Spirituosenfront, falls du verstehst, was ich meine.«

Nalani tippte auf das daumendicke rote WristTab, das sich um ihr rechtes Handgelenk schmiegte, als sei es mit ihrer Haut verwachsen. »HD an Zentrale. Ich habe eine Narthex-Flotte vor mir.«

 

HD! Davon rede ich doch schon die ganze Zeit! Die blockieren auch unsere anderen Fahrer. Ich sende dir deine Umleitung.

 

»Nicht nötig, Millie, ich hab das im Griff. Ist ja nicht das erste Mal, dass die Konkurrenz versucht, uns den Tagesdurchschnitt zu versauen. Wollte nur melden, dass wir uns selbst drum kümmern. Umleitungsübermittlung nicht nötig. Okay, Zentrale? HD aus.«

Der erste manipulierte Wagen mit selbstfahrender KI raste im Jahr 2031 gegen eine Betonmauer im damaligen Berlin, nachdem Hacker dem Fahrer die manuellen Eingreifmöglichkeiten gesperrt hatten. Laut Zeitungsberichten hatte sich zudem noch die Onboard-Music-Station aktiviert, und die am Unfallort eintreffenden Sanitäter stießen auf ein Autowrack, in dessen Innerem (aufgrund eines nicht aktivierten Airbags) nicht nur die Einzelteile des Fahrers lagen, sondern aus dem auch gut gelaunte Blasmusik dröhnte.

Weitere Unfälle häuften sich, ganze Flotten mitsamt ihrer Fahrer wurden auf diese Weise ins Jenseits befördert. Die Motivation der Täter war nie wirtschaftlicher Natur. Racheakte an Chefs, die die erhoffte Beförderung abgelehnt hatten, Firmenzweite, die nicht abwarten konnten, bis die Geschäftsführer von selbst ins Gras bissen.

Inzwischen leistete eine unabhängige Stelle innerhalb jedes Taxi-Unternehmens die vollständige Beobachtung der automatisierten Fahrsysteme selbst. Bei DroschkeFürDich war dies Millie. Und Millie hatte in den fünf Jahren, in denen Nalani schon Cab fuhr, noch niemals einen Fehler gemacht. Trotzdem ließ sie Nalani oft freie Hand. Sie vertraute ihr und verstand, dass man auf das Gefühl, das Steuer zwischen den Fingern zu spüren und selbst Einfluss auf die Fahrweise zu haben, nicht immer verzichten konnte. Und es darüber hinaus die Verkehrsinfrastruktur auch nicht immer zuließ.

 

Okay, HD. Wenn du das im Blick hast, dann ist das für mich in Ordnung.

 

»Die Narthex-Typen machen das wirklich absichtlich?«, erkundigte sich Horse, dessen schwarze Murmeln jetzt angestrengt aus dem Fenster schauten, als suchten sie die eine Lücke, durch die das Taxi stoßen könnte.

Nalani zuckte mit den Achseln. »Ist anzunehmen. Du weißt, wie aufdringlich die Konkurrenz ist. Der Wettbewerb ist gnadenlos. Kommt einer von uns zu spät, wird der Fahrgast das nächste Mal das Taxi eines anderen Betreibers wählen. Da ist es schon möglich, dass Fahrer angewiesen werden, uns zu blockieren.«

»Ich fahre mit niemand anderem.« Wie um seine nachfolgenden Worte zu unterstreichen, deutete Horse mit seinem knochigen Zeigefinger auf ihren Hinterkopf. »Nur mit dir. Davon kannste ausgehen. Vor allem bei den Zecken würde ich nie einsteigen. Schon allein diese schwachsinnige Werbung auf den Autos: Rettet den Planeten. Die hammse ja nicht mehr alle. Retten? Für wen denn? Die Idiotenriege im Ernährungsministerium?«

Vor allem hätte man damit früher anfangen sollen, dachte Nalani. Ihre Augen folgten einer Staubwolke, die an einer blinkenden Werbefassade vorbeigetrieben wurde und den grellroten Schriftzug einen Augenblick lang verhüllte. Inzwischen ist der Zug doch längst abgefahren.

»Heidi … du kennst sie, weißt, wen ich meine?«, schwadronierte Horse unbeirrt weiter.

Die Minuten in ihrem Cab nutzte er zur Erholung und tauschte darüber hinaus den neuesten Tratsch mit ihr aus. Seine dramatischen Auftritte waren nur gespielt. Der Dauerquassler hinter ihr könnte keiner Fliege was zuleide tun. Sie kannten sich schon eine Weile, und Nalani glaubte zu wissen, wie er tickte.

»Deine Neue?«, fragte sie, obwohl sie genau im Bilde darüber war, von wem Horse sprach. »Lange Beine, dunkle Haare, Porzellanteint?«

Ein Nicken. Stolz wie das eines Vaters. »Genau. Die hat sich kürzlich in ein Narthex-Cab gesetzt. War wohl in Gedanken und hat nicht aufgepasst. Die ganze Fahrt über hat der Fahrer versucht, sie zu bekehren. Kannste dir das vorstellen? Sie ist dann ausgestiegen und den Rest gelaufen. War nicht zum Aushalten, hat sie gesagt.«

Auf dem Beifahrersitz fing Fergus nervös an zu flimmern. Nalani wusste dieses kurze Aufflackern inzwischen einzuordnen. Ihr Kfz-Notfall-Hologramm wurde kribbelig. Kurz hatte es den Anschein, als würde sein Arm durchsichtig, dann stabilisierte sich Fergus wieder und räusperte sich.

»Es sollte einem bewusst sein, auf was man sich einlässt, wenn man in ein Taxi der Narthex-Gruppe einsteigt«, stieß er schulmeisterlich näselnd hervor. »Der Narthex bezeichnet die schmale, eingeschossige Vorhalle am Haupteingang altchristlicher und byzantinischer Kirchen. Die Konkurrenz hat den Firmennamen nicht zufällig gewählt, will sie damit doch bekräftigen, dass sie den Glauben an das Paradies nicht verloren hat. Und wie wir wissen, handelt es sich bei der Bruderschaft um gottesfürch…«

»Fergus?«, schnitt Nalani ihm das Wort ab und unterlegte die erste Silbe mit einem bedrohlichen Unterton, während sie eine schmale Seitengasse als Abkürzung nutzte, damit sie sich vor das Taxi der Konkurrenz schieben konnte.

»Ja, bitte?«

»Halt bitte die Backen. Wir haben einen Gast. Du kennst die Regeln.«

»Aber das ist nur Horse!«

Von der Rückbank schnaubte es erneut. »Ja, sicher. Nur der alte Nachtclubbetreiber und Alkohollizenzfälscher mit dem klapprigen Fahrgestell. Kein Grund, auf den Rücksicht zu nehmen. Außerdem muss ich dich korrigieren, denn die Taxi-Zecken machen nichts anderes, als sich selbst anzubeten. Und das sind die Schlimmsten, Gus.«

»Für dich immer noch Fergus«, korrigierte ihn das Hologramm schnippisch.

»Warum ist der überhaupt noch hier?«, fragte Horse und ignorierte den eingeschnappten Seitenblick des Notfallprogramms. »Hattet ihr nicht einen Softwarecheck oder so was?« Er griff nach der Kopfstütze des Vordersitzes, als Nalani schwungvoll um eine Kurve fuhr.

Der Motor überdrehte, und sie riss das Steuer erneut herum, scherte kurz vor dem Narthex-Cab wieder auf die Hauptstraße ein und passte sich dem fließenden Verkehr an. Die Rückspiegelkamera zeigte ihr die vor Empörung aufgerissenen Augen des Fahrers.

»Die Typen von der Werkstatt sind bis jetzt zu keiner eindeutigen Beurteilung gekommen«, wich sie der Frage aus, was glattweg gelogen war.

Die Aussage des Diagnose-Teams war eindeutig gewesen: Niemand wusste, wie man das Hologramm abschalten konnte. Normalerweise aktivierte es sich automatisch nach einem Unfall, um Hilfestellung bei der Reparatur und der Fehlerdiagnose zu leisten, und verschwand nach getaner Arbeit auf Knopfdruck wieder. Nicht so Fergus, der – nachdem Nalani in der letzten Woche ein vorausfahrendes Luxus-Privatfahrzeug mit Ausnahmestraßenlizenz leicht touchiert hatte – rundweg sitzen geblieben war. Wie man ihn wieder loswurde, ohne gleich die gesamte Software des Wagens austauschen zu müssen – was die Taxifirma aus finanziellen Gründen ablehnte –, stand bis dato in den Sternen. Nalani aber war auf Navigation und Cab-Datenbanken angewiesen, und so fuhr das Hologramm ständig mit, wühlte im Taxispeicher, sah sich Filme an, die normalerweise nur den Fahrgästen zur Verfügung standen, und hatte in der Zwischenzeit schon Mandarin und Spanisch gelernt. Und Nalani musste zugeben, dass diese Neuerung in ihrem Service dem Trinkgeld durchaus zupasskam.

»Neues Cab?«, schlug Horse vor.

Fergus schnaubte entrüstet durch die Nase. Es klang so, als imitierte er ein Pferd.

»Wir sind ein kleines Unternehmen. In der Flotte ist im Moment keins mehr übrig«, erwiderte Nalani. »Und den Betreiber wechsele ich nicht. Der Lohn bei DroschkeFürDich ist gut, ich habe eine für meine Verhältnisse erfreulich angenehm ausgestattete Wohnung, kann nebenbei ein wenig auf die hohe Kante legen, der Umgangston unter den Kollegen ist okay, die Cabs sind immer in tadellosem Zustand.«

»Mal abgesehen von unserem KNH hier, das nicht mehr zurück in seine Box will – oder wo auch immer seinesgleichen so wohnt«, brummte Horse.

»Das ist üble Nachrede!«, schimpfte Fergus weinerlich. »Für die Unzulänglichkeiten der Werkstatt kann ich nun wirklich nichts. Für mich ist das eine eminente Tortur, die ganze Zeit den Beifahrer spielen zu müssen, aber keinen Ton sagen zu dürfen. Diesen Erdenjammer kann sich niemand vorstellen!«

»Eine echte Folter«, bestätigte Horse. »Aber für die Fahrgäste. Dein Flackern allein macht mich irre. Kannst du das nicht abstellen, oder soll das etwas Individuelles sein?« Er schien kurz zu überlegen. »Sind eigentlich alle KNHs männlich? Ich war noch nie in ’ner Werkstatt.«

»Ich habe mir mein Geschlecht selbst gewählt«, antwortete Fergus nicht ohne Stolz. »So wie meinen Namen.«

»Also, ob ich an deiner Stelle so vorgegangen wäre, weiß ich nicht«, Horse grinste, »aber von mir aus. Außerdem erinnerst du mich an einen Bankangestellten und nicht an einen Handwerker. Warum machst du nicht einen auf Super Mario?«

Nalani verstand nicht, auf was Horse anspielte, Fergus offensichtlich schon, denn er schmollte wieder.

»Wie gesagt«, redete Horse weiter und wandte sich wieder an Nalani. »Es ist nicht gerade so, dass er die Fahrgäste mit seinem sonnigen Gemüt bezaubert.«

»Ich darf doch gar nicht mit denen sprechen!« Fergus’ Flackern nahm zu.

»Dein stoischer Gesichtsausdruck genügt«, meinte der Clubbesitzer. »Was soll der eigentlich ausdrücken? Sorge? Innere Leere? Bist du pikiert?« Er wartete die Antwort des Hologramms, das so tat, als würde es vor Empörung nach Luft schnappen, gar nicht erst ab, sondern beugte sich vor, bis er Nalani ins Gesicht sehen konnte. »Falls du deswegen Fahrgastausfälle haben solltest – eventuell bin ich in der Lage, dir ein neues Cab zu besorgen.«

»Das ist lieb von dir.« Sie hauchte ihm einen Kuss zu und grinste, als Fergus die Lippen aufeinanderpresste, den Kopf abwandte und aus dem Beifahrerfenster starrte. »Aber momentan nicht nötig. Er übt noch.«

Horse ließ sich in seinen Sitz zurückfallen und wedelte lässig mit der Hand. »Ein Wink genügt. Du weißt schon. Viele Hände, schnelles Ende. Ich kenne Leute, die Leute kennen.«

»Die wir aber nicht kennenlernen wollen«, presste das Hologramm so leise hervor, dass es nur Nalani hören konnte.

Als die Werkstatt ihr das Ergebnis mit großem Bedauern und Mitleid in der Stimme verkündet hatte, wäre sie den Software-Ingenieuren schier um den Hals gefallen. Trotz seiner akuten Klugscheißerei war Nalani ihr Beifahrer inzwischen auf eine seltsame Art und Weise ans Herz gewachsen. Wenn sie keinen Fahrgast auf der Rückbank sitzen hatte, gab ihr das Hologramm bereitwillig Auskunft über Abkürzungen, Staus und Baustellen, unterhielt sie mit einer speziell für sie zusammengestellten Auswahl an Songs, machte sie mit musikalischen Neuentdeckungen bekannt oder zählte aktuelle kulturelle Highlights auf. Nicht, dass Nalani Zeit hätte, auch nur eine dieser Veranstaltungen zu besuchen, aber sie konnte die Informationen auf Wunsch sofort ohne Recherche an ihre Fahrgäste weitergeben. Sicher gab es Beförderungsfälle, die Nalani, nachdem sie Fergus durch die Scheibe entdeckt hatten, weiterwinkten und das nächste Cab nahmen, aber erstaunlicherweise hielt sich die Anzahl dieser Passagiere in Grenzen. Neugierde siegte.

»Kann er nicht wenigstens einen anderen Namen haben?« Anscheinend gefiel es Horse, weiterhin auf dem Thema herumzureiten.

»Warum? Ist Fergus der Name eines Pferdes, das du mal näher kanntest?«, spottete das Hologramm.

»Er ist affig«, meinte der Nachtclubbesitzer.

»Uns gefällt er. Nicht, Nalani?«

Sie nickte. Und behielt für sich, dass Fergus’ intensiver Konsum einer alten Westernserie dazu geführt hatte, dass sie selbst ihm den Namen des tollpatschigen, übereifrigen Marshall-Gehilfen verpasste. Oder zumindest eine Variante davon. Denn Festus – das wäre ihr selbst in der Tat zu albern gewesen. Mit Fergus aber waren sie beide zufrieden, wobei das Hologramm seinen Namen im Grunde genommen nicht übermäßig ernst nahm. Hätten sie zusammen Lassie angesehen, würde das KNH jetzt eben heißen wie ein Collie. Ausschließlich der Name James war ein Tabu, das hatte Fergus von vorneherein klargestellt. James war heilig und durfte nicht entweiht werden.

Nachdem Fergus sich selbst dennoch einige Tage nach seiner Taufe den entgeisterten Passagieren namentlich vorgestellt und sie bis ins kleinste Detail über die Identitätsfindung informiert hatte, musste Nalani diesem Vorgehen unter Androhung seiner Umbenennung in die ihm zugeteilte Seriennummer ein Ende bereiten. Und darüber hinaus Fergus ein Sprechverbot während der Fahrgastbeförderung auferlegen.

Sie trat auf die Bremse, und Horse stieg aus. Als er ihr sein Handgelenk zur Abbuchung entgegenhielt, ließ sie das Fenster herunter. Sofort drangen der Geruch nach geröstetem Kardamom, der süße Duft exotischen Obstes und fruchtige Sakeschwaden in den Wagen. Das Quivering Pony lag im asiatischen Viertel von Born in der Gasse der himmlischen Taten, von nicht wenigen Besuchern des Clubs Gasse der himmlischen Titten genannt. Ein Wortspiel, über das Nalani schon lange nicht mehr lachen konnte. Zwischen Sake- und Sushi-Bars, Karaoke-Kellern und Fünf-Sterne-Restaurants lebten sich trinkfeste Gäste aus, die in ihrer knapp bemessenen Freizeit gerne die Sau rausließen. Ein einträgliches Geschäft. Werbeholos blinkten undeutlich durch Staubwolken. Ein Hund kläffte heiser auf dem Bürgersteig.

Während Nalani den Scanner über den unter der Haut liegenden Chip ihres Gastes hielt, sah sie, wie Fergus den Hals reckte, um einen Blick hinter die getönten Scheiben des Ponys zu erhaschen.

»Suchst du was?« Sie nickte Horse zu und schloss mit einem Handwedeln die Scheibe.

Fergus schüttelte wie beiläufig den Kopf. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Sicher. Du starrst ja auch nur jedes Mal auf die Stangen, wenn wir Horse absetzen. Und ganz vorne, da tanzt immer nur sie.« Mit dem Kopf deutete sie auf ein bildschönes schlankes Mädchen mit kleinen, festen Brüsten, das sich wie eine Kletterpflanze um ihr Tanzgerät schlang. Obwohl ihr Körper nur schemenhaft zu erkennen war, gab es weniger erfreuliche Anblicke, das musste Nalani zugeben. »Halt mich nicht für unsensibel, Fergus, aber schmink dir das ab. Deine Angebetete kann ihren Arbeitsplatz genauso wenig verlassen wie du.«

»Ich finde einen Weg«, murmelte Fergus.

»Sie ist ein Hologramm. Horse kann sich für die Tagesschichten nichts Lebendiges leisten. Die Echten tanzen nur nachts.«

Nalani hatte nichts gegen Horse’ Girls. Aber jedes Mal wenn sie die Mädchen an den Stangen sah, durchflutete sie eine Welle von Mitleid. Wie weit musste es kommen, bis eine Frau einen solchen Job annahm?

»Sie heißt Vanessa.« Er sagte es mit einer Bestimmtheit, die keine Widerrede duldete. »Für mich zumindest.«

»Okay. Vanessa. Kein Problem. Wenn es dich glücklich macht.«

Sie wollte gerade den Wagen anlassen, da winkte ihr Horse vom Eingang des Clubs zu. Sein Mund formte Worte, die sie nicht deuten konnte, also öffnete sie die Tür, faltete ihre langen Beine aus dem Chassis und stieg aus. Eine Windbö trieb ihr Schmutz in die Augen. Sie blinzelte.

»Du solltest noch was für mich mitnehmen«, schrie ihr der Stammgast über die lautstarken Werbefeldzüge der Straßenhändler hinweg zu.

Ein Geschäftsmann rückte den Mundschutz zurecht und schob seinen fahrbaren Stand vor den Eingang des Clubs. Die bunten, flatternden Tücher am Dach der Bude nahmen Nalani für den Bruchteil einer Sekunde komplett die Sicht, bevor der Händler seinen Laden weiterbewegte.

Abwehrend hob sie Hände. »So was mache ich nicht, das weißt du!«, brüllte sie über die Straße und wollte sich gerade wieder in ihr Cab zurückziehen, als der hagere Clubbesitzer erstaunlich geschwind über die Straße rannte.

»Nur das eine Mal.« Seine Finger umklammerten die Autotür und hielten sie offen. »Es ist nur eine Kiste. Mehr nicht.«

»Alkohol?«

Er wiegte den Kopf hin und her, als würde er einen Parkinsonanfall erleiden. »Tja, ein wenig.«

»Ein wenig?« Widerwillig löste Fergus die Augen von Vanessas Kurven und wandte sich dem Clubbesitzer zu. »Der Alkoholgehalt einer Kiste deiner Ware beläuft sich insgesamt auf schätzungsweise sechs Mal sechzig Prozent! Und die Ware ist illegal!«

»Fünfundsiebzig Prozent.« Horse grinste und zeigt eine Reihe makelloser Zähne. »Kunden sind anspruchsvoll geworden, das wisst ihr doch. Und es gibt einen Sonderbonus für euch.« Er hielt Nalani sein Handgelenk vor die Nase. »Die Hälfte jetzt, die andere nach dem Anruf von Alejandro, dass die Ware sicher bei ihm angekommen ist. Denn das ist seine Kiste, die aus Versehen bei mir abgeladen wurde. Ich habe keine Zeit für Botengänge, muss mit Monika die Abrechnungen von gestern Nacht durchgehen.«

Fergus, offensichtlich schwer beeindruckt, von Horse zumindest verbal mit ins Boot genommen worden zu sein, schenkte Nalani einen aufmunternden Blick. »Attraktives Angebot«, meinte er.

»Das ist nicht ungefährlich für mich«, gab Nalani zu bedenken. »Ich darf meine Lizenz unter keinen Umständen verlieren.«

»Ich würde noch ein wenig drauflegen«, schlug Horse vor und zwinkerte ihr zu. »Fünf Prozent vom Gewinn?«

»Zehn«, platzte Fergus heraus.

»Sieben. Wenn ich noch weiter hochgehe, zieht mir Alejandro die Kronjuwelen lang«, hielt Horse dagegen. »Und warum zum Geier verhandele ich überhaupt mit dir, Gus?«

 

Die Kiste stand unter dem Dach eines Nebengebäudes, und Nalani stieg die schmalen, steilen Stufen zum Dachboden hinauf. Viel Platz zum Stehen hatte sie zwischen den nackten Balken nicht, und vorsichtshalber zog sie den Kopf ein, während sie die verschiedenen Kartons betrachtete, die Horse dort bunkerte. Die Beschriftung ging von Orangensaft über Zitronenbrause bis hin zu Apfelmus – alles Obstsorten, die von VertiPlant-6 und -7 kommen könnten. Gedankenverloren strich sie über die Etiketten, bevor sie sich den Karton mit dem von Horse beschriebenen stilisierten, schneewittchenrot glänzenden Apfelaufdruck unter den Arm klemmte. Wenn Tomas wüsste, was sie hier tat … Bis jetzt unterstützte sie ihn und seine Familie so großzügig, wie sie imstande war, um ihren bescheidenen Teil zur Verbesserung des Lebens ihres großen Bruders beizutragen, der sich schon vor etlichen Jahren entschieden hatte, dem Moloch Born den Rücken zu kehren, um auf einem der Gewächshäuser nahe den Outskirts anzuheuern.

 

HD, du fährst nicht. Was ist los?

 

Mit der freien Hand tippte sie auf ihr WristTab. »Pinkelpause. Bin gleich wieder unterwegs.«

 

Habe eine Anfrage vom Ernährungsministerium. Abholen des Passagiers in einer Stunde. Weiblich. Es klang dringend.

 

Nalani überlegte. Das müsste zu schaffen sein. Fahrten vom und zum Ministerium versprachen ein großzügiges Trinkgeld und bei vorzüglichem Service womöglich weitere Dienste. Frauen zeigten sich stets generös. Zwei Fliegen mit einer Klappe.

»Melde mich gleich wieder!«

 

HD, ich brauche jetzt eine Antwort, sonst gebe ich das an RT!

 

Gregor. Nur nicht dem. Seine mit stolzgeschwellter Brust vorgetragene Schilderung dieser Fahrt würde unerträglich werden. Fast jeden Abend stieß sie nach ihrer Schicht mit RT, also Gregor, in der Zentrale von DroschkeFürDich zusammen, und jedes Mal hielt er sie mit inhaltsleerem Quark auf. Möglich, dass er einen Narren an ihr gefressen hatte. Sie hingegen definitiv nicht an ihm.

»Ich mach die Fuhre, Millie! HD aus.«

Die Flaschen klapperten, als sie erneut das WristTab berührte, damit die Verbindung unterbrach und vorsichtig, Stufe für Stufe, hinabstieg. Ein Karton, schwor sie sich. Es ist nur einer, und darüber hinaus das erste und letzte Mal, dass sie sich von Horse in dessen zwielichtige Geschäfte verwickeln ließ. Ein Zubrot, das Tomas, Mila und Zuzanna helfen würde. Mila ist ein Teenager, sie schießt in die Höhe. Sie braucht neue Kleidung, hat eigene Wünsche.

Tief versunken in ihre Gedanken, hörte Nalani das Knarren des Dielenbodens zu spät. Ein Knarzen, das nicht von ihren eigenen Schuhen herrührte. Das war nicht der Schritt eines normal gehenden Menschen, das war ein … Schleichen, was sie erst begriff, als sie den Lauf einer Waffe als schwarze Silhouette an der Wand sah.

Ruckartig drehte sie sich um, blieb am Absatz einer Stufe hängen und wäre fast gestürzt. Beim Versuch, das Tempo auf dem kurzen Weg zurück in die Dachkammer anzuziehen, stieß sie sich den Ellenbogen, und der Karton rutschte ihr fast aus den Fingern. Ein Klirren. Aneinanderschlagende Flaschen. Laut. Scheiße. Instinktiv wollte sie die Ware absetzen, dachte dann aber wieder an Mila. Sie musste den Karton mitnehmen. Der Anteil an der Ware würde es ihr ermöglichen, ihre Nichte finanziell besser zu unterstützen. Sie hatte sich entschieden, bei diesem Spiel mitzumachen – jetzt würde sie es auch durchziehen. Sie packte die Kiste fester, ging einige Schritte, hielt aber dann inne, als die Stufen der Stiege in ihrem Rücken zum wiederholten Mal ächzten. Nalanis Blick fiel auf die kleine Dachluke auf Brusthöhe. Viel Zeit hatte sie nicht. Sie hatte sogar verdammt wenig Zeit! So leise wie möglich stellte sie die Kiste ab, ihre Finger nestelten am Verschluss der kleinen Dachluke, zogen den Haken aus der Öse und stießen das Fenster auf. In Gedanken klopfte Nalani sich anerkennend auf die Schulter. Wenn sie nicht so dünn wäre, könnte sie sich jetzt nur umdrehen und zitternd darauf warten, in den Lauf dieser Waffe zu starren. Sie packte den Karton, lehnte sich hinaus und stellte ihn so auf das Dach, dass das Schneefanggitter, das noch aus Ururgroßmutter-Zeiten stammen musste, ihn am Fallen hinderte. Anschließend schraubte sie ihren drahtigen Körper in Windeseile hinaus in das grelle Sonnenlicht. Bäuchlings robbte sie einige Meter übers Dach, ging dann auf alle viere, streckte die Hand nach dem Karton aus und zog ihn über die Ziegel so schnell zu sich, dass es deutlich schepperte. Aber Geräusche waren jetzt egal. Wer auch immer hinter ihr her war, stand in diesem Moment wahrscheinlich schon nicht weit vom Dachfenster entfernt unter der Schräge.

Nur ein paar Meter trennten sie vom angrenzenden Club, der ein Flachdach hatte – und hoffentlich ein Oberlicht, durch das sie ins Innere gelangen konnte. Nalani presste den Karton entschlossen an sich und stand auf. Zu schnell. Ihr Herzschlag, der schon die ganze Zeit überdrehte wie eine strapazierte antiquierte Kurbelwelle, schien ihren Brustkorb sprengen zu wollen. Vorübergehend wurde ihr schwindelig, dann konzentrierte sie sich auf die Dachkante und die kurze Strecke, die vor ihr lag. Als sie gerade den ersten Schritt machen wollte, hörte sie hinter sich eine Art Keuchen. Dann ließ ein nervenzerfetzender Ton sie zusammenzucken. Nur Zentimeter neben ihrem linken Turnschuh zerbarst ein Ziegel. Kleine Splitter pfiffen über das Dach, etwas Scharfes, Spitzes traf ihre Wade, bohrte sich in ihr Fleisch.

»Verdammte Scheiße!«

Nalani presste die Lippen zusammen, als ein weiterer Schuss abgefeuert wurde, wollte sich aber aus Angst, das Gleichgewicht zu verlieren, nicht umdrehen, um die Position des Schützen zu bestimmen. Wenn sie Glück hatte, streckte der nur den Arm aus der Luke und konnte nicht präzise zielen. Wenn sie Pech hatte, war ihr Verfolger so gertenschlank wie sie und hatte sich in wenigen Momenten durch das Fenster geschraubt. Flach atmend fing sie an zu laufen und versuchte den Blitz zu ignorieren, der ihr bei jedem zweiten Schritt die linke Wade bis zur Hüfte emporjagte, als wolle er ihr Bein zweiteilen. Dann stand sie bebend am Rand des Firstes. Starrte auf das etwa anderthalb Meter entfernte Dach des Clubs, das um die zwei Meter tiefer lag. Eine Distanz, die normalerweise kein Problem bedeutete. Mit einem Karton voller Flaschen und einem Bein, das sich anfühlte, als würde es in Flammen stehen, kam es Nalani jedoch so vor, als müsse sie von einem dahinrasenden Zug in ein Kinderschwimmbecken springen.

Bäng. Neben ihr schlug eine weitere Kugel ein. Ziegelstaub hing in der Luft. Bäng. Eine Patronenhülse hüpfte scheppernd über das Dach, rollte über die Kante und stürzte in die Tiefe. Bäng. Nalani schloss kurz die Augen. Dann ging sie ein paar Schritte zurück, legte all ihre Kraft in den kurzen Anlauf. Rannte. Und sprang.

Der Schmerz fegte durch ihre Nervenbahnen wie ein Geschoss auf der Suche nach einer neuen Stelle, an der es explodieren konnte.

Delflopion gekreuzt mit Gloster

Teamleiterin.« Der Sekretär des Ernährungsministers legte die Hand mit einem angedeuteten Diener auf den massiven Messingknauf der Beratungszimmertür. »Man erwartet Sie schon.«

Missbilligend fuhr es Lorna durch den Kopf, dass das einflussreichste Ressort von Born inzwischen mehr Bedienstete als Staatsdiener beschäftigte. Ein prall gefüllter Wasserkopf mit einem noch praller gefüllten Leib. Was für eine Verschwendung von Ressourcen!

Schon vor dem herrschaftlichen Portal am Ende der Freitreppe, an deren Seiten steinerne Löwen ihre Mäuler aufrissen, hatten zwei Männer mit weißen Handschuhen auf sie gewartet, um voller Elan das doppelflügelige Portal zu öffnen. Lorna konnte sich nicht daran erinnern, die beiden bei einem ihrer letzten Besuche gesehen zu haben. Dennoch musste sie zugegeben, dass dieses überfrachtete Dekor – denn was waren die Livreeträger anderes als bewusst eingesetzte Kulisse – zum Innenleben des Ministeriums passte. Zu den Tapisserien an den Wänden, deren kunstvolle Wirkereien Szenen aus dem Garten Eden darstellten, den korinthischen Säulen mit ihren reich verzierten Kapitellen, durch deren Blätterwerk sich Salamander und Geckos wanden, dem polierten Marmorboden, über den Lorna jetzt glitt wie über eine Eisfläche.

Noch bevor sich die Tür zum Besprechungsraum öffnete, drangen die Stimmen der Beratenden hinaus ins Entree. Die dunkle Tonlage des Ministers erkannte Lorna sofort, und gereizt stellte sie fest, dass ihr auch die höhere bekannt war. Einzelne Worte konnte sie nicht verstehen, dennoch seufzte Lorna, schon jetzt zermürbt. Bruder Alant. Vorsteher von VertiPlant-5. Er würde ihr mit seinem schwülstigen Gefasel wieder den letzten Nerv rauben.

»Minister Erhard!« Mit ausgestreckter Hand schwebte Lorna in den manieriert ausgestatteten Saal und hoffte, es mit ihrem aufgesetzten Lächeln nicht zu übertreiben. »Herzlichen Dank für die Einladung. Sie sehen aus wie das blühende Leben.«

Der Ernährungsminister, ein fülliger Mann Ende sechzig, angesichts dessen schlohweiß gelocktem Haars ganz Born stets ins Grübeln geriet, ob es sich denn um Implantate handele, ergriff ihre Finger und drückte sie energielos.

»Meine Liebe. Willkommen.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, und Lorna meinte, den schmatzenden Ton überlaut zu hören.

Geräusche! Das Steak von VertiFarm-9, das sie sich jede Woche mehrmals gönnte, genoss sie unhörbar. Ihre Lippen, ihr Gaumen, ihre Zunge – eine exquisite Symphonie der Stille. Der Wein dazu, der aus den ehemaligen Steillagen der Gegend stammte, ein edler Tropfen, wie ihn sich nur die Elite leisten konnte, floss lautlos ihre Kehle herunter. Sie schluckte besonnen und geziert, als ob sie jedem Tropfen Bedeutung verleihen wollte. Sie verachtete Schlürfen, übermäßige Speichelbildung oder lautes Kauen. Genauso war es Lorna zuwider, wenn ihre Sexpartner über, unter oder neben ihr seufzten oder kleine stöhnende Laute ausstießen. Quietschende Stühle, Menschen, die sich ächzend in einen Sessel fallen ließen, das Schnauben in ein Taschentuch: All das löste bei Lorna fast Brechreiz aus.

Der Minister nickte in Richtung des hochgewachsenen Mannes neben ihm. »Sie kennen Bruder Alant?«

Als der damit vorgestellte Prinzipal, dessen knochige Gestalt in einer braunen Kutte steckte, sich Lorna stocksteif näherte, schleifte der Saum seines asketischen Gewands über das gewachste Parkett, als wollte er es kehren.

»Aber gewiss kenne ich den Hüter von VertiPlant-5.« Lornas Lächeln wurde so breit, dass sie fürchtete, ihre Lippen könnten reißen.

»Teamleiterin«, stieß Alant ölig hervor, ließ ihre Hand unberührt und verbeugte sich stattdessen. »Wir hatten bereits das Vergnügen. Ein Pläsier, das ich damals gerne verlängert hätte.«

Was für ein schauderhafter Speichellecker. »Nun haben Sie dazu ja Gelegenheit«, hauchte sie übertrieben keusch und schlug theatralisch die Augen nieder.

»Wie ich eben zu Minister Erhard sagte«, fuhr Alant unbeeindruckt von ihren Schauspielkünsten fort, »müssen wir uns der Vorsehung des Herrn anvertrauen und seinen Willen erfüllen.«

Erhard nickte zustimmend.

»Will heißen?«, fragte Lorna, die ihre Rolle als Dienerin jetzt schon gründlich satthatte. Der Prinzipal würde während der kommenden Mission ihr Vorgesetzter sein, aber ihrer Meinung nach genügte es vollauf, ihm nur in den ersten zehn Sekunden die Schuhspitzen zu lecken. »Wollen Sie damit andeuten, dass Sie einen Freiwilligen auf Ihrer Obstfarm gefunden haben?«

Alant sah überrascht aus. »Meine Liebe, möchten Sie denn gleich zum Fokus der Sache vorstoßen?«

»Ist Ihnen das just in diesem Moment nicht … konvenabel?« Lorna zog eine Augenbraue hoch. »Haben wir denn noch etwas anderes vor? Wir könnten freilich eine Stunde um den heißen Brei herumpalavern. Aber um ehrlich zu sein – ich habe heute noch andere Pläne.«

»Nun, wenn es denn fortissimo sein soll.« Alant legte die Fingerspitzen aneinander und betrachtete sie mit steinernem Gesichtsausdruck.

»Wollen wir uns nicht setzen?« Der Minister deutete auf ein Arrangement aus Sesseln mit geschwungenen Beinen und ließ sich sogleich in das geblümte Polster eines Fauteuils sinken.

»Der Mensch als Gemeinschaft von Menschen ist die Kirche von vielen, der Mensch als Einzelner ist die Kirche in jedem dieser vielen«, fing Alant an zu deklamieren, bevor er neben Erhard Platz nahm und geziert die Beine übereinanderschlug.

Lorna hatte keine Ahnung, was dieser inhaltlich verschwurbelte Ausspruch mit ihrem eigentlichen Anliegen zu tun haben sollte. »Wie wahr, Bruder Alant. Wollen wir uns nun hurtig sputen, um zum Kern der Sache zu gelangen?«, erging sie sich ihrerseits, um beim Duell der Phrasen nicht ins Hintertreffen zu geraten, und erntete daraufhin einen irritierten Blick des Ministers.

»Ein Name drang an mein Ohr«, begann Alant und hob die Augen zur Decke, als ob dieser Name dort geschrieben stünde.

»Ach?« Minister Erhard beugte sich zuerst interessiert vor und spähte anschließend ebenfalls forschend nach oben.

»Sie meinen, dass Ihnen die geeignete Person für das Unternehmen empfohlen wurde«, übersetzte Lorna leicht gereizt. »Ohne dessen Wissen.«

Alant nickte.

»Und wer ist es?«

»Ein Arbeiter aus meiner Plant.«

»Das ist wenig überraschend, Bruder Alant«, presste Lorna zwischen den Zähnen hervor. »Stünde es im Bereich des Möglichen, dass der Name, der an Ihr Ohr drang, auch an unseres dringen wird, oder müssen wir Ihnen erst Daumenschrauben anlegen?«

Der Ernährungsminister stieß ein schrilles Lachen aus. »Ach, köstlich!«

»Ich meine es bitterernst«, knurrte Lorna.

»Mir will scheinen, dass Ihre Seele unter einem bedrohlichen Einfluss leidet.« Der Vorsteher von VertiPlant-5 taxierte sie aufmerksam. »Bedürfen Sie des Beistands, werte Teamleiterin?«

»Wollen Sie andeuten, dass ich betrunken bin?«, empörte sich Lorna.

»Der Sinn meiner Rede ging eher in die Richtung, dass …«

»Das ist äußerst spannend, Bruder Alant. Die Sache mit dem unfreiwillig Freiwilligen«, fuhr der Minister in diesem Moment dazwischen und gackerte erneut, bevor sich Alant in Einzelheiten über den Sinn seiner Rede ergehen konnte. »Auch ich würde gerne den Namen des Mannes erfahren, der als unser Spion fungieren soll. Oder ist es eine Frau?«

»Es ist in der Tat eine Person männlichen Geschlechts«, erwiderte Alant, senkte die Lider und atmete tief durch. »Sein Name ist Tomas; er wurde mir wegen seiner … nun, wie will ich es ausdrücken … erfrischenden Naivität und Zuverlässigkeit als Arbeiter ans Herz gelegt. Er tut, was man ihm sagt.«

»Er ist also langweilig und gefügig?«, hakte Lorna nach. »Hört sich gut an.«

Alant reagiert nicht auf ihren Einwand. »In diesem Moment – mehr oder weniger, auf Minuten lege ich mich nicht fest«, er lächelte wissend, »wird er den Grund dafür erfahren, der seine alsbaldige Versetzung nach VertiFarm-7 notwendig macht. Metaphorisch gesprochen. Persönlich informiert haben wir ihn noch nicht. Das werden wir allerdings in Kürze tun.«

Lorna zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Wie es aussah, hatte die Bruderschaft an alles gedacht. »Wann werden Sie ihn dorthin schicken?« Sie hatte die Gesellschaft dieser überflüssigen Mannsbilder inzwischen gründlich satt, und Nägel mit Köpfen zu machen erschien ihr der einzige Weg zum Notausgang zu sein. Metaphorisch gesprochen. »In welcher Eigenschaft soll ich mich der Zielperson nähern?«

»Im Augenblick arbeiten wir daran. Bei der Ausführung selbst lassen wir Ihnen aber freie Hand. Nutzen Sie Ihre Fantasie, von der Sie, davon bin ich überzeugt, gewiss eine Menge besitzen.«

»Hm.« Lorna war zufrieden. Zumindest in dieser Hinsicht machten sie ihr keine Vorschriften. »Und wann genau soll meine Kontaktaufnahme mit der Zielperson stattfinden?«

»In Bälde«, antwortete Alant gewichtig.

Lorna ächzte leise. In Bälde. Welche Antwort sollte man auch von dem Geschäftsführer einer Megafarm erwarten, der eine Kutte trug und sich selbst nach einer altertümlichen Heilpflanze benannt hatte?

»Wie über die Maßen spannend!«, wiederholte der Minister leidenschaftlich und ließ sich ein wenig tiefer in die Kissen sinken.

»In der Tat, Minister. Auch die Stimmung im Ministerium soll sich momentan auf einem aufregenden Niveau befinden.« Bruder Alant tippte erneut mit den Fingerspitzen aneinander. »Gibt es etwas, das ich wissen müsste?«

Für einen Moment sah es aus, als getraue sich der Minister nicht zu antworten. »Aber nein. Nur das Übliche«, sagte der dann und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nichts, was uns unbekannt wäre. Petitessen.«

Interessiert beobachtete Lorna die beiden Männer. Auch ihr war zu Ohren gekommen, dass Erhards politische Gegenspieler wieder Produktionsalternativen ins Gespräch brachten.

»Petitessen?«, hakte Bruder Alant nach. »Wie … Fliegenschiss?«

Lornas Lippen kräuselten sich amüsiert. Der Patron der Plant war doch immer wieder für eine Überraschung gut.

Der Minister schwankte mit dem Oberkörper, als würde ihm schwindelig, dann räusperte er sich und hielt affektiert die Hand vor den Mund. »Von Mischfarmen ist die Rede«, krächzte er. »Lächerlich.«

»Unfug ist das!«, brauste Alant auf. »Und Blasphemie! Wir alle wissen, was geschrieben steht: ›Hiermit übergebe ich euch alle Pflanzen auf der ganzen Erde, die Samen tragen, und alle Bäume mit samenhaltigen Früchten. Euch sollen sie zur Nahrung dienen!‹«

Lorna verkniff sich den Kommentar, dass Gott, so es ihn denn gab, sich damit mit Sicherheit nicht auf die Nahrungsmittelplanung der vertikalen Gewächshäuser bezogen hatte.

»Ein eindeutiger Hinweis auf die frutarische Gesellschaft der VertiPlants, werter Bruder«, stimmte Minister Erhard überschwänglich nickend zu.

»Und sagt er nicht über unsere VertiFarmen: ›Alles Lebendige, das sich regt, soll euch zur Nahrung dienen‹?«, dozierte Bruder Alant mit glühendem Eifer weiter.

Erhard nickte wieder, dieses Mal jedoch weniger eifrig. »Andere Zitate drangen an mein Ohr«, flüsterte er zurückhaltend, als ob er gleich einen Schlag ins Gesicht erwartete.

»Ach?«

»Alles, was sich regt und lebt, das sei eure Speise; wie das grüne Kraut habe ich’s euch alles gegeben. Allein das Fleisch mit seinem Leben, seinem Blut, esst nicht!«, ratterte der Minister herunter.

Lorna schloss verzweifelt die Augen. Die absurde biblische Argumentationskette der Bruder- und Schwesternschaft hatte sie noch nie interessiert.

Der Prinzipal schnaufte. »Mit den Farmen bringen wir Opfer dar. Das müsste doch allgemein bekannt sein. Und der Tod der Tiere soll nicht umsonst gewesen sein. Sollen wir das Fleisch wegwerfen?«

Als Erhard dies mit einem ergeben ausgerufenen »Aber nicht doch!« bestätigte, glaubte Lorna leichten Spott in seiner Stimme zu hören.

»Dann müsste es doch ein Leichtes sein, die jämmerlichen Vorschläge der Gegner im Keim zu ersticken!«, bellte Alant. »Sie sind unser Mann im Inneren, Erhard. Es ist Ihnen hoffentlich bewusst, dass ich Ihnen jederzeit die Unterstützung entziehen kann, nicht wahr?«

»Die Opposition hat keine Chance, hochgeschätzter Prinzipal«, beteuerte der Minister mit quäkender Stimme. »Keine Chance!« Er räusperte sich. »Darf ich wagen, mich nach den Dingen des Äußeren zu erkundigen?«

Bruder Alant zog fragend eine Augenbraue nach oben.

»Er meint Ihren Mann im Außeneinsatz«, übersetzte Lorna, die selbst nicht mehr über dessen Aufgabenbereich wusste, außer dass er seit wenigen Monaten für Alant die wichtigsten Bereiche des Lebensmittelhandels in Born im Auge behalten sollte.

»Die Dinge laufen gut«, antwortete der Prinzipal kurz angebunden.

»Wie geht es denn den Taxi-Geschäften, werter Vorsteher?«, wechselte Lorna ihrerseits das Thema. »Wie weise, sich auch auf diesem Gebiet zu betätigen. Man kann gar nicht genügend Pferdchen im Rennen haben, nicht? Ich habe gehört, die Flotte wächst und gedeiht?«

»Wie unsere Apfelbäumchen«, verkündete Alant gewichtig und allem Anschein nach wieder mit der Welt versöhnt. »Wie unsere Apfelbäumchen auf VertiPlant-5.«

»Die, wie wir alle wissen, die schönsten von Born sind«, betonte der Minister. »Ich werde jetzt den Tee servieren lassen.«

Lornas Traum einer kurzen Besprechung löste sich bei diesen Worten in Luft auf. »Tee? Welch zauberhaft gesellige Idee«, heuchelte sie Glückseligkeit. Gespitzte Lippen an Tassen, die geräuschvoll Flüssigkeit einsaugen! Ihr Magen ballte sich kurz zusammen.

»Für mich bitte nur Wasser«, bat der Prinzipal. »Und kein Gebäck. Ein wenig Obstmus für uns alle hingegen wäre zur Feier des Tages angemessen. Ich habe ein Gläschen mitgebracht. Eine Neuzüchtung. Delflopion gekreuzt mit Gloster.«

Obstmus! Schmatzen. Überlautes Schlabbern.

Lorna atmete tief durch und zwang sich dann erneut zu einem Lächeln. »Wie umsichtig von Ihnen, Bruder Alant. Eine Neuzüchtung. Ich kann’s kaum erwarten.«

Geh und tu das, was du tun musst

Auferstehung18: Hört nicht auf die bösen Zungen! Lasst euch nicht einlullen! Wappnet euch gegen falsche Zeugnisse und benutzt euren Verstand, den Er euch gegeben hat!

 

RaptorIsHere: Den hast du offensichtlich nicht bekommen. Was bist’n du für’n Pisser? Narthex-Zecken haben in diesem Forum nix verloren! Wo ist der Administrator?

 

AdminFem: Die Administratorin! Außerdem gibt es keinerlei Richtlinien bezüglich der Benutzer. Halt also den Rand, RaptorIsHere.

 

Auferstehung18: Ihr werdet euch meiner Worte erinnern!

 

DieHüttebrennt007: Können wir bitte zurück zum Thema kommen? Wie ist das jetzt mit den Farmen und Plants? Mangelernährung oder nicht? Sind die dort verabreichten Nahrungsergänzungsmittel ausreichend, um die Arbeiter gesund zu halten?

 

RaptorIsHere: Natürlich Mangelernährung. Oder bleibst du etwa auf dem Posten, wenn du dich die ganze Zeit vom gleichen Müll ernährst? Tabletten sind kein Ersatz!

 

Auferstehung18: Es handelt sich um einwandfrei produzierte Nahrung, derer auch du habhaft wirst, RaptorIsHere, nachdem du deine Ernährungswertmarken eingelöst hast. Mit genau der gleichen Sorgfalt werden die Medikamente hergestellt. Zweifelst du etwa an der Sorgfaltspflicht der Bruderschaft?

 

RaptorIsHere: Ich wiederhole: Kann endlich jemand die gehirnamputierte Zecke rausschmeißen?

Nachdem Nalani das Taxi verlassen hatte, unterzog Fergus das Cab einer technischen Routine-Überprüfung. Dann fuhr er das zusätzliche Sonnenkollektorpaneel auf dem Autodach aus und gab sich wie immer seinen Hobbys hin. Neben dem Anschauen alter Gangster- und Western-Filme und dem Durchforsten der Datenbanken, optimalerweise der elektronischen Karteikärtchen, die vielleicht mit Informationen über die Existenz von Hologrammen außerhalb ihres Bestimmungsorts aufwarteten, schwor er auf Foren, die Verschwörungstheorien absorbierten und wieder freigaben wie ein Schwamm.

Die Sache mit der Mangelernährung kreiste seit einigen Tagen auf IsItSave?, neue Aspekte tauchten jedoch nicht auf. Fergus hatte keinen Zweifel daran, dass das Forum durch das Ernährungsministerium überwacht wurde, das unter Umständen sogar eigene Leute als Benutzer eingeschleust hatte, die den Deckel mit aller Kraft auf den Topf drückten, falls der ganze verdammte Mist einmal kurz vorm Überkochen stand. Und so wie sich AdminFem benahm – das war für Fergus gar keine Frage –, war sie ebenfalls gekauft.

Gelangweilt schloss er die Anwendung und sah wieder aus dem Beifahrerfenster. Zu seiner großen Bestürzung tanzte Vanessa nicht mehr, was hieß, dass er ihre Deaktivierung versäumt hatte. Der Vorgang, wenn sich ihr Körper irisierend auflöste und in kleine funkelnde Teilchen zerfiel, entlockte ihm jedes Mal ein leises Stöhnen des peinvollen Abschieds. In den Datenbanken hatte er darüber nichts Eindeutiges gefunden, nur einen Hinweis auf etwas, was sich Die blaue Blume nannte. Eine Sache oder Person, die ersehnt wird, die aber nie erreicht werden kann. Schon zweimal hatte Fergus versucht, das Zentralwerk dieser Thematik zu lesen, war aber jedes Mal grandios an der für ihn nur schwer zu deutenden Diktion gescheitert. Da hatte er einiges aufzuarbeiten.

Mit einem schnellen Befehl rief er die Cinemathek für Passagiere auf, die er eigenmächtig um einige seltene Exemplare der früheren Filmkunst ergänzt hatte, und navigierte an die Stelle, an der er den Film hatte abbrechen müssen, weil Nalanis Schicht begonnen hatte und sie es nicht duldete, wenn außer ihm noch etwas anderes neben ihr flimmerte.

Der Held stand lässig an einen Laternenpfahl gelehnt, den Hut vor dem prasselnden Regen schützend ins Gesicht gezogen, und beobachtete zwei alte Benzinkutschen, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite näherten und schließlich hielten. Fünf Männer stiegen aus, grimmige Gesichter, hochgeschlagene Mantelkragen. Kein Ton, kein Dialog, keine Musik. Nur das Trommeln der Regenflut auf den Autodächern. Dann ein Satz, den Fergus nicht verstand – er musste unbedingt versuchen, den Audiofeed besser in den Griff zu bekommen –, und der Boss kletterte aus dem Wagen. Erkenntlich am Regenschirm, dem forschen Schritt und der Bewegung, die plötzlich in die Männer kam. Schnitt auf den Held, der in Deckung gegangen war und energisch die Lippen zusammenkniff.

»Jetzt mach schon, James«, flüsterte Fergus. »Folge ihnen in den Laden. Die machst du doch fertig.« Mit einem weiteren Befehl hielt er das Bild an, studierte den Ausschnitt, legte die Stirn in Falten, kniff die Augen zusammen, zog spöttisch einen Mundwinkel hoch und kontrollierte seine Cagney-Imitation im Beifahrerspiegel.

Fergus grinste, zufrieden mit sich. Noch zwei-, dreimal, dann hatte er die Mimik perfekt drauf. Dass er die Hände nicht in die Jacketttaschen stecken konnte wie sein Filmidol, frustrierte ihn allerdings zutiefst. Aber erstens trug er kein Jackett, und zweitens konnte er verdammt noch eins nicht aufstehen. Dieser unerschrockene Gang! Entschlossen und gleichzeitig lässig. Wenn er doch nur das verfluchte Auto verlassen könnte! Stattdessen verhockte er sein ganzes digitales Leben auf seinen digitalen vier Buchstaben!

Ein Schlag gegen die Windschutzscheibe ließ ihn kurz aufflimmern. Fergus meinte, eine Taube gesehen zu haben, dann aber erkannte er einen blutigen Handabdruck, der das Glas verschmierte. Sekundenbruchteile später wurde die Tür zum Cab aufgerissen.

»Starte!«, stieß Nalani atemlos zwischen den Zähnen hervor.

»Was …?«

»Jetzt!« Es klirrte, als sie einen Karton auf die Rückbank warf, dann ließ sie sich vorsichtig auf den Sitz gleiten. Sie stöhnte mit zusammengepressten Lippen, als sie das linke Bein in den Wagen zog. »Wir müssen sofort los!«

Ohne weiter nachzufragen, sorgte Fergus dafür, dass der Kollektor einfuhr; gleichzeitig sprang der Motor mit einem leisen Seufzen an. Nalani hatte inzwischen das Steuer umgriffen. Es war nicht ihre Hand, die verletzt war, aber sie hatte etwas berührt, das blutete. Da gab es nur zwei Optionen. Entweder es war ihr eigenes Blut oder das einer anderen Person. Da Fergus keine Basisinformationen hatte, war er außerstande zu berechnen, wie die Chancen standen.

»Wisch die Scheibe!«

Fergus aktivierte die Reinigungsdüsen. »Erste Hilfe?«, wollte er wissen.

»Nicht jetzt.«

Also ihr Blut, schlussfolgerte er. In Filmen fielen in solchen Situationen oft Sätze wie »Halt durch! Gemeinsam schaffen wir das! Du darfst nicht für immer gehen, hörst du?«, aber Fergus hörte aus Nalanis kurzen Befehlen heraus, dass Bemerkungen dieser Art im Moment nicht angemessen waren. Sie lag offenbar nicht im Sterben. Jedoch … »Deine Pupillen sind erweitert«, stellte er fest.

Sie antwortete nicht.

»Die Größe der Pupillen gibt Informationen darüber, wie sich der Mensch fühlt«, fügte Fergus hinzu.

Keine Antwort. Nalani manövrierte das Cab rückwärts die Straße hinaus, bog in eine Seitenstraße ein und wendete. Die Mischung aus Gereiztheit, Schmerz und plötzlich aufflammender Entschlusskraft in ihrem Mienenspiel brachte ihn für 10–8 Sekunden durcheinander. Schnell wechselnde menschliche Mimik war seine Sache nicht.

»Die Irismuskulatur kann sich zusammenziehen oder erweitern. Deine ist kontrahiert. Ich sollte die Steuerung übernehmen«, spezifizierte er weiter.

»Fergus …«

»Das bedeutet Ekel, Konzentration, Stress oder Schmerz.«

Sie bedeutete ihm mit einer Handbewegung, die Klappe zu halten. »Wir müssen weg. Außerdem bist du in Erster Hilfe so oder so bescheiden. Ein Mensch ist kein Auto.«

»Ich habe dazugelernt!«, empörte er sich.

Nalani schwieg. Niemand achtete auf das Taxi, das nun stark beschleunigte. Das Geschäftsviertel brummte. Menschen eilten wie schwer beschäftigte Ameisen auf den Bürgersteigen aneinander vorbei. Ein Taxi, das es eilig hatte. Keine Besonderheit.

»Du hast doch nicht etwa vor, den Karton abzuliefern? Jetzt, wo Horse’ Konkurrenz hinter uns her ist.«

»Doch, genau das habe ich vor. Es sind zwar Flaschen zerbrochen, aber mit denen werde ich Horse’ Konkurrenz vielleicht den Arsch aufreißen können, um dafür zu sorgen, dass … wie war das gleich … die Sonne da auch mal hinscheinen kann.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Welchen Teil bitte verstehst du denn daran nicht?«

»Den mit dem Gesäß.« Er überlegte. »Den anderen auch nicht.«

Sie seufzte. »Ich hab keine Lust zu erklären, was passiert ist. Wir machen es so, wie ich es sage. Wir liefern die Ware ab.«

»Wenn du es sagst«, erwiderte Fergus, ein wenig eingeschnappt darüber, dass er nicht ins Vertrauen gezogen wurde. Einige Sekunden bewahrte er Stille, dann fiel ihm etwas anderes ein. »Hast du mal an den Flaschen geschnuppert?« Außer den Ketten, die ihm das Fahrzeug auferlegte, haderte Fergus mit der Tatsache, dass er nichts riechen oder schmecken konnte. Gerüche. Er hatte keine Ahnung von salzig oder süß, schwer oder leicht. Vor einigen Wochen hatten sie Weinhändler ins Ministeriumsviertel gefahren. Das Gespräch auf dem Rücksitz war ihm vorgekommen wie ein Interview für den Einlass ins Paradies. Von »Reintönigkeit« war die Rede gewesen. Der »würzigen Note von Zimt«. Von »Wiegen« und »Kauen«. Einen Geruch konnte man kauen? Nalani hatte sich immer wieder zu ihm gedreht, als wolle sie sich seiner Anwesenheit als Zeuge für diesen verbalen Irrsinn versichern. Und als sie wieder allein im Wagen saßen und er sie nach ihrer Erfahrung mit Alkohol befragte, hatte sie nur spöttisch einen Mundwinkel hochgezogen und geschnaubt.

»Du solltest dich um deine Verletzung kümmern.« Voller Mitgefühl beugte Fergus sich vor, um einen Blick auf Nalanis linken Unterschenkel erhaschen zu können. Es war ihm nicht entgangen, wie sie immer wieder mit der Hand danach greifen wollte. Mit der Zeit hatte er begriffen, dass Schmerz etwas war, mit dem viele Menschen nicht umgehen konnten. Nalani hatte ihm einmal erklärt, das sei ein Trick der Natur. Denn keine Schmerzen deuteten viele als immerwährende Gesundheit. Und unentdeckte Krankheiten führten oft zum Tod. Diese Schlussfolgerung ließ Fergus die Panik mancher Personen angesichts von Verletzungen verstehen.

»Nur ein Kratzer. Hab nachgesehen«, erwiderte Nalani.

»Wann?«

»Na, vorhin.«

»Deine Pupillen sagen etwas anderes.«

»Scheiß auf meine Pupillen.«

»Ursache?«

»Streifschuss.«

Eine Weile überlegte Fergus, dann legte er die Stirn in Falten, kniff die Augen zusammen und zog spöttisch einen Mundwinkel hoch. »Geh und tu, was du tun musst«, nuschelte er mit amerikanischem Akzent und versuchte vergeblich, die Hände in Jacketttaschen zu stecken.

Nalani schüttelte verständnislos den Kopf, als sie sagte: »Ja, genau das habe ich auch vor.«

»James Cagney«, teilte ihr Fergus mit.

»Wer?«

»Der beste Schauspieler der Welt.«

Nalani schüttelte immer noch den Kopf, als sie auf die Hauptverkehrsader einbogen. Sie setzte den Fuß fester aufs Pedal. »Kneif deine digitalen Hinterbacken zusammen und mach dir nicht ins Hemd.« Dann drückte sie voll durch. »Das ist von mir, Nalani, der besten Taxifahrerin der Welt.«

Der unfreiwillig Freiwillige

Als hinter ihm ein seltsam schmatzendes Geräusch ertönte und Wasser auf seine Hose spritzte, sah Tomas keine Veranlassung, sich umzudrehen. Ein Leck in der Dichtung des Aquarienzulaufs? Wäre nicht das erste Mal. Die Leitungen waren in die Jahre gekommen und sollten dringend erneuert werden. Ohne die geringste Spur von Eile fuhr er fort, die aktuellen Kennzahlen in sein Tablet zu tippen. Mit Zahlen hatte er es immer schon sehr genau genommen, denn sie waren eine fixe Größe, blieben stets dieselben und hintergingen einen nie. Die Nitratwerte sahen erhöht aus, stellte er fest. Auch das Kohlendioxid musste er in den nächsten Tagen im Auge behalten. Denn die Buntbarsche in den zwei flachen Becken, die die Aqua-Ebene fast ausfüllten, gehörten zur Plant-Lebensversicherung. Über die Kiemen reicherten die Tilapia das Tankwasser des Aquaponik-Bereichs mit Ammonium an, das mithilfe von Mikroorganismen in Nitrat umgewandelt wurde. Die festen Bestandteile des Fischkots wurden herausgefiltert. Ein Teil des nitrathaltigen Wassers diente der Düngung der Obstbäume, das überschüssige Nass gelangte wieder zurück in die Aquarien. Das Abwasser der Fischaufzucht stellte so zugleich Frischwasser für die Pflanzenaufzucht bereit. Ein durchdachter Kreislauf der Nachhaltigkeit, der sich über ein filigranes Netz an Leitungen über die gesamte Plant verteilte.

Ein weiteres Geräusch, diesmal eher ein Knacken, unterbrach ihn, ließ seinen Finger für einen Sekundenbruchteil über dem Display schweben. Erst als der Laut zu einem Krachen wurde, fuhr er beunruhigt herum. Eine Fontäne spritzte in sein Gesicht. Das Kontrollgerät fiel ihm aus der Hand. Knirschen, Splittern – Tomas’ Augen waren schreckgeweitet, als er erkannte, was unausweichlich war. Einen Moment später brach die Scheibe des Tanks vor ihm.

»Verdammte Scheiße!« Schützend hielt er sich die Arme vors Gesicht, konnte aber nicht verhindern, dass ein paar der auf ihn zuschießenden Barsche seine Brust trafen. Ein kurzes Zappeln der Tiere in der Luft, bevor sie auf dem Boden aufschlugen und dort stumm zuckten. Tomas taumelte zwei Schritte zurück, verharrte regungslos. Er schrie, aber das weiter aus dem Tank schießende Wasser übertönte seine Verwünschungen. Die Zeit schien sich zu dehnen – ein zu langsam laufender Film, der eine körnige Bildsequenz zeigte. Tomas’ Gehirn kam nicht mit.

Dann aber ging ein Ruck durch seinen Körper, und er versuchte, die zappelnden Barsche im Auge zu behalten, als er zum Sicherungskasten eilte, die Klappe aufriss und den Hauptalarm der Aqua-Ebene auslöste. Fieberhaft sah er sich nach einem Hilfsmittel um, das die Tiere retten könnte, entdeckte ein am zweiten Tank lehnendes Netz, erreichte es mit wenigen Schritten und begann, die kostbaren Fische behutsam damit einzusammeln. Ihre Spezies kam von der südlichen Halbkugel. Jeder einzelne Barsch war mehr wert als das, was er, Zuzanna und Mila gemeinsam besaßen. Wenn er schnell genug war, konnte er einige von ihnen in den zweiten Tank werfen. Wobei schnell momentan eine nicht genau zu definierende Zeitspanne beschrieb, denn Tomas konnte das Netz voller zappelnder Barsche, von denen einige fast einen halben Meter groß waren, kaum halten. Sein Fang zuckte, ein Fisch hüpfte aus seinem Gefängnis, sprang ihm gegen den Brustkorb. Der Schlag ließ Tomas erneut einen Schritt nach hinten taumeln, wo er gegen einen Widerstand stieß, stolperte, fiel und hart auf dem Steißbein landete. Schuppige Leiber wanden sich auf seiner Hose. Mäuler öffneten und schlossen sich. Tomas meinte, den verzweifelten Kampf ums Überleben in den kleinen dunklen Augen sehen zu können.

»Verflucht!« Er fuhr herum, als sich von hinten eine Hand sanft auf seine Schulter legte. »Britta, Herrgott, musst du dich so anschleichen?«