A. S. Tory und die verlorene Geschichte - S. Sagenroth - E-Book

A. S. Tory und die verlorene Geschichte E-Book

S. Sagenroth

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Beschreibung

Klappentext: Eine E-Mail mit einer Adresse in Venedig, einem Foto aus den Dreißigerjahren und einer Gratulationsanzeige. Mehr Informationen haben Sid und Chiara nicht, als sie beschließen, die Vergangenheit eines mysteriösen Engländers zu enträtseln. Bei ihrer Suche landen die beiden im alten Ghetto Venedigs, im Wiener Untergrund und in Berlin-Kreuzberg. Nach und nach erforschen sie eine Biografie, die von einer ersten Jugendliebe, allerbesten Freunden, grenzenlosem Hass und Tragik erzählt. Unmerklich verwebt sich die Geschichte mit der Gegenwart und ihnen selbst. Gelingt es, das Puzzle vollständig zusammenzusetzen? Eine spannende Reise durch die Zeit, nicht nur für Jugendliche. In diesem Roman geht es darum, aufzuzeigen, dass Rechtsextremismus und Rassismus nicht nur Themen der Vergangenheit sind, sondern bis in unsere Gegenwart nachwirken und leider wieder sehr aktuell sind. Innerhalb einer fiktiven Geschichte werden historische Begebenheiten aufgegriffen und ihre Spuren bis in unsere Neuzeit verfolgt. Das Buch soll Jugendliche dafür sensibilisieren, Vorurteile und auch Radikalisierungen rechtzeitig zu erkennen und zu einer offenen und wertfreien Begegnung mit anderen Kulturen und Religionen ermuntern.

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Zum Inhalt:

Eine E-Mail mit einer Adresse in Venedig, einem Foto aus den Dreißigerjahren und einer Gratulationsanzeige.

Mehr Informationen haben Sid und Chiara nicht, als sie beschließen, die Vergangenheit eines mysteriösen Engländers zu enträtseln. Bei ihrer Suche landen die beiden im alten Ghetto Venedigs, im Wiener Untergrund und in Berlin-Kreuzberg. Nach und nach erforschen sie eine Biografie, die von einer ersten Jugendliebe, allerbesten Freunden, grenzenlosem Hass und Tragik erzählt. Unmerklich verwebt sich die Geschichte mit der Gegenwart und ihnen selbst. Gelingt es, das Puzzle vollständig zusammenzusetzen?

Eine spannende Reise durch die Zeit, nicht nur für Jugendliche.

S. Sagenroth

A. S. Tory und die verlorene Geschichte

IMPRESSUM

© S. Sagenroth 2019

Umschlaggestaltung: Stefan Hilden, HildenDesign.de

Umschlagmotive: © HildenDesign / © Stephen Mulcahey /Trevillion Images, © Mark Owen/ Trevillion Images

Lektorat: Leo Aldan

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN: 978-3-7497-3228-9 (Paperback) 978-3-7497-3229-6 (Hardcover) 978-3-7497-4405-3 (e-Book)

Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Verlags und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalblibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dt-nb.de abrufbar.

Inhalt

Prolog

Berlin, November 1938

1. Campeto und Hannover

Campeto - Mittwoch, 26.09.2018

Hannover - Mittwoch, 26.09.2018

Samstag, 29.09.18

Die verlorene Geschichte

2. Rückkehr

Sonntag, 30.09.18

Die verlorene Geschichte

3. Venedig

Montag, 1.10.18

4. Emilia, Cannaregio und Bassani

Die verlorene Geschichte

5. Bassani erzählt

6. Ein venezianischer Abend

Die verlorene Geschichte

7. La Serenissima und The Ghetto

Dienstag, 2.10.18

8. Abraham und Elisabeth

Die verlorene Geschichte

9. Neue Reisepläne

Mittwoch, 3.10.18

10. Café Central und der Untergrund

Die verlorene Geschichte

11. Herr Wurzlgruber

Donnerstag, 4.10.18

12. Vom Naschmarkt zur Schönlatern

13. Freud und Leid

Die verlorene Geschichte

14. Recherchen

Freitag, 5.10.18

15. Hofers und Meierhoffs

Die verlorene Geschichte

16. Prater

17. Der Brief

Samstag, 6.10.18

18. Hasenherz

Die verlorene Geschichte

19. Wien - Berlin

Sonntag, 7.10.18

20. Berliner Luft

21. Ku'damm

22. Greta

Montag, 8.10.18

Die verlorene Geschichte

23. Der Abend

Die verlorene Geschichte

24. Fritz

Dienstag, 9.10.18

25. Mia

Mittwoch, 10.10.18

Die verlorene Geschichte

26. Alt-Treptow

Donnerstag, 11.10.18

Die verlorene Geschichte

27. Kreuzberg

Die verlorene Geschichte

28. Wiedersehen

Freitag, 12.10.18

29. Abschied

Samstag, 13.10.18

Nachwort

Prolog

Berlin, November 1938

Der Kel­ler­raum war von Dun­kel­heit und Eis­es­käl­te er­füllt. Ein mo­dri­ger Ge­ruch lag in der Luft. Boden und Wän­de waren ru­ßig und feucht, an den Sei­ten die Um­ris­se ei­ni­ger stäh­ler­ner Rega­le mit Kis­ten und Blech­do­sen. Der Jun­ge öff­ne­te die Augen. Die Sprung­fe­dern der schä­bi­gen Ma­trat­ze sta­chen ihm in die Rip­pen. Vor­sich­tig rich­te­te er sich auf. Er fror, Schwin­del er­fass­te ihn und Hun­ger brei­te­te sich als Schmerz in sei­nem Ma­gen aus. Mit der Zun­ge fuhr er sich über die auf­ge­sprun­ge­nen Lip­pen. Vor ihm lag ei­ne zer­bro­che­ne Scha­le mit ei­nem letz­ten har­ten Brot­kan­ten. Die Kan­ne war um­ge­kippt. Nur noch ein feuch­ter Fleck auf dem stau­bi­gen Stein­boden. Sein schmäch­ti­ger Körper tat weh, Ar­me und Bei­ne fühl­ten sich taub an. Angst. Mit aller Ge­walt kehr­te sie zurück. In der Ecke zeich­ne­te sich ein dunk­ler Hau­fen ab. Ei­ne Kin­der­uni­form. Ihn er­griff ein Schau­dern. Was hat­te er ge­tan? Er muss­te fort. So schnell wie mög­lich. Has­tig lang­te er in die Brust­ta­sche sei­ner Ja­cke und zog zwei zerk­nick­te Fotos her­vor. Ei­ne Frau, ein Mann, zwei Kin­der. Ein Jun­ge und ein Mäd­chen. Alle in dunk­ler Klei­dung. Die Hän­de ar­tig vor­ne ge­fal­tet. Mit gro­ßen Augen starr­ten die bei­den Kin­der in die Ka­me­ra. Der Mann blick­te ernst. Nur die Frau trug ein leich­tes Lä­cheln. Das Blond ih­rer Lo­cken stach ge­nau­so her­vor wie das kur­ze hel­le Haar des klei­nen Jun­gen. Der Mann und das Mäd­chen waren dun­kel­haa­rig. Im Hin­ter­grund ein Laden­ein­gang – und ein Schild. Ab­ra­ham To­ra­ni Bü­cher. Auf dem an­de­ren Foto ein Jun­ge mit fröh­li­chem Blick, in der Uni­form der Pimp­fe. Das Mäd­chen spöt­tisch la­chend mit Dirndl und Zöp­fen. Gren­zen­lo­se Trau­er und Schmerz er­fass­ten ihn. Er strei­chel­te die bei­den Bil­der und schob sie in die Ta­sche zurück. Sein Blick fiel auf das win­zi­ge, zer­split­ter­te Fens­ter un­ter­halb der Kel­ler­de­cke. Das of­fen­ste­hen­de Git­ter klapp­er­te lei­se vor sich hin. Er stand auf, schritt mit wa­ckli­gen Bei­nen auf die Rega­le zu, fass­te nach den stäh­ler­nen Stüt­zen, such­te auf den Ein­le­ge­bö­gen Halt und klet­ter­te empor, bis er in­mit­ten von Glas­split­tern vor der klei­nen Kel­ler­lu­ke hock­te. Das Me­tall­regal quietsch­te und schep­pernd fiel ei­ne Do­se zu Boden. Er drück­te den ro­sti­gen Me­tall­rie­gel zur Sei­te und riss das Fens­ter auf. Licht und kal­te Luft ström­ten ihm ent­ge­gen, dann zwäng­te er sich müh­sam und mit letz­ter Kraft durch die schma­le Öff­nung. Er blin­zel­te. Sei­ne Augen trän­ten. Der Jun­ge ver­such­te, sich auf­zu­rich­ten. Sei­ne Bei­ne zit­ter­ten. Ein ei­si­ger Wind streif­te ihn, be­vor er zu­sam­men­brach. Er merk­te nicht mehr, wie je­mand ihn hoch­nahm und da­von­trug.

Da stand er auf der Wie­se, die Son­ne schien.

Er klemm­te sich ein Stück Baum­rin­de zwi­schen Mund und Na­se,

nahm die­se leicht ver­kram­pfte, stock­stei­fe Hal­tung ein.

Mein Voollkk! Tssei­ten! Kom­men! Und! Ver­gää­hen!

Und wir bogen uns vor La­chen, kugel­ten durch das Gras

und skan­dier­ten immer wie­der:

Ver­gää­hen! Ver­gää­hen! Ver­gää­hen!

A. S. To­ry

1. Campeto und Hannover

Campeto - Mittwoch, 26.09.2018

Die Herbst­son­ne schien in den ge­pflas­ter­ten In­nen­hof und schim­mer­te in den Fens­ter­schei­ben. Ein war­mer Gold­ton lag auf den Haus­mau­ern und bun­te Wä­sches­tü­cke tanz­ten an der Lei­ne. Eng zu­sam­men­ge­rollt schlie­fen die bei­den Kat­zen un­ten auf der La­de­flä­che des Pick-ups.

Chia­ra wand­te ih­ren Blick vom Fens­ter, strich die wi­der­spens­ti­gen ro­ten Sträh­nen aus ih­rem Ge­sicht, seufzte und starr­te wie­der auf das Auf­ga­ben­blatt. Er­ör­tern Sie, wel­che Fak­to­ren ge­gen En­de der Wei­ma­rer Re­pu­blik die po­li­tisch ra­di­ka­len Kräf­te am lin­ken und rech­ten Rand stärk­ten.

Schon seit ei­ner Stun­de saß sie am Schreib­tisch und hat­te nichts Ge­schei­tes zu Papier ge­bracht, konn­te sich ein­fach nicht kon­zen­trie­ren. Die­se E-Mail … sie hat­te sie mehr­mals ge­le­sen, wuss­te nicht, was sie da­von hal­ten soll­te. Den­noch, die Neu­gier war da, hat­te sie so­fort ge­packt und nicht mehr los­ge­las­sen.

Zeit, ei­ne Ent­schei­dung zu tref­fen.

Chia­ra griff ihr Han­dy, öff­ne­te ihr Post­fach, klick­te auf Weiter­lei­ten und schick­te in di­rek­ter Fol­ge ei­ne Kurz­nach­richt. Sid, schau mal in dei­ne Mails …

Hannover - Mittwoch, 26.09.2018

Ich saß am Schreib­tisch und ver­such­te, das Wirr­warr an Ar­beits­blät­tern und Bü­chern in Ord­nung zu brin­gen, als ich Chia­ras Nach­richt sah. Auf dem Plat­ten­tel­ler ro­tier­te Stings De­sert Ro­se. Das Stück er­in­ner­te mich auf wun­der­sa­me Wei­se an Mar­ra­kesch im letz­ten Jahr. Die Far­ben und Ge­rü­che der Me­di­na. Die flir­ren­de Hit­ze wäh­rend der Mit­tags­zeit. Die stau­bi­gen, rost­ro­ten Ber­ge des Ou­ri­ka­tals. Die Wü­ste, die wir in der Ferne er­ahn­ten, uns aber nicht mehr an­schau­en konn­ten.

Mit Ach und Krach hat­te ich den Sprung in die Ober­stu­fe ge­schafft und mich da­mit selbst über­rascht. Mitt­ler­wei­le hef­te­te ich von Zeit zu Zeit mei­ne Sa­chen ab, um ei­ni­ger­ma­ßen den Über­blick zu be­hal­ten. Chip­stü­ten, Fla­schen, al­te Brot­do­sen oder So­cken sam­mel­te ich nun ein­mal in der Wo­che zu ei­nem Hau­fen zu­sam­men, da­mit man durch mein Zim­mer kam. Mei­ne Mutter ließ mir nach den Er­eig­nis­sen im letz­ten Herbst we­ni­ger Frei­hei­ten als vor­her, kon­trol­lier­te immer wie­der, was ich ge­ra­de mach­te, und frag­te mir Lö­cher in den Bauch. Nach und nach hat­te sie her­aus­be­kom­men, was ich auf mei­nem heim­li­chen Trip er­lebt hat­te. Fast alles … Auch Chia­ra hat­te ihr das En­de un­se­res Aben­teu­ers nicht voll­stän­dig ver­ra­ten. Sie war im Ja­nu­ar aus Ita­li­en an­ge­reist und drei Ta­ge bei uns zu Be­such ge­we­sen. Seit­dem sie ih­ren Schul­ab­schluss nach­ho­len woll­te, tausch­ten wir uns manch­mal zu ei­ni­gen Fä­chern aus. Ma­ma fand Chia­ra da­her echt okay, ich glau­be so­gar, sie moch­te sie rich­tig gern.

Ich klick­te mein Post­fach an. Ei­ne weiter­ge­lei­te­te E-Mail. Beim Ab­sen­der hielt ich die Luft an: To­ry!

Ver­ehr­te Sig­no­ri­na Chia­ra,

um Sid nicht er­neut in Schwie­rig­kei­ten zu brin­gen, möch­te ich Sie zu­erst an­schrei­ben. Zu­dem ent­schul­di­ge ich mich, mich so lan­ge nicht ge­mel­det zu ha­ben. Das Al­ter schlägt all­mäh­lich er­bar­mungs­los zu, und ich war ge­sund­heit­lich ei­ne gan­ze Wei­le nicht auf der Hö­he. Lan­ge ha­be ich da­rüber nach­ge­dacht, ob ich Sids Wunsch nach­kom­men und ihm mehr über mich er­zäh­len soll. Aus­schlag­ge­bend war die bei­lie­gen­de An­zei­ge. Sie hat al­te Er­in­ne­run­gen ge­weckt und mir ge­zeigt, wie we­nig Zeit noch bleibt.

Wie Sie wis­sen, wei­le ich be­reits viele Jahr­zehn­te auf die­ser ver­rück­ten Welt. Von ei­ni­gen mei­ner Rei­sen ha­be ich Ih­nen im letz­ten Jahr in Mar­ra­kesch be­rich­tet, vieles je­doch of­fen­ge­las­sen.

Sie könn­ten zu­sam­men mit Sid Licht ins Dun­kel brin­gen, wenn Sie das weiter­hin wol­len.

Es soll ei­ne Rei­se sein, auf der Sie mei­ne Jugend ent­rät­seln kön­nen. Es wird aber nicht nur Schö­nes bei der Re­cher­che her­aus­kom­men. Man­ches da­von ha­be ich lan­ge ver­drängt. Außer­dem wird Sid et­was über sich selbst her­aus­fin­den und be­grei­fen, wa­rum ich ge­ra­de ihn aus­ge­sucht ha­be.

Ich muss Sie je­doch war­nen und dies be­den­ken: Soll­ten Sie die rei­ne Leich­tig­keit in den fol­gen­den Herbst­wo­chen su­chen, wä­re ei­ne an­de­re Rei­se bes­ser. Sie­gen hin­ge­gen Ih­re Neu­gier und Aben­teu­er­lust, will ich Ih­nen fol­gen­de wich­ti­ge Fra­gen be­ant­wor­ten: Wo­hin soll es ge­hen und wie lan­ge soll es dau­ern?

Die er­ste Etap­pe ist nicht weit: Sie führt nach Ve­ne­dig.

Die da­rauf­fol­gen­den Zie­le sind ab­hän­gig von dem, was Sie her­aus­fin­den oder her­aus­fin­den wol­len. Es liegt in Ih­rer Hand. Die zwei Wo­chen Herbst­fe­rien dürf­ten rei­chen. Aller­dings soll­te Sids Mutter dies­mal in­for­miert und ein­ver­stan­den sein.

Den­ken Sie in Ru­he da­rüber nach und set­zen Sie sich mit Sid in Ver­bin­dung. Wenn Sie ei­ne Ent­schei­dung ge­trof­fen ha­ben, las­sen Sie sie mich dies wis­sen. Egal, wie sie aus­fällt.

Es grüßt Sie herz­lich

A.S. To­ry

Im An­hang be­fand sich ei­ne Gra­tu­la­tions­an­zei­ge.

Wir gra­tu­lie­ren zum 95.

Mar­ga­ret­he Reu­ters geb. von Ber­ne­ke

1.9.1923

Fa­mi­lien von Ber­ne­ke und Reu­ters

Ber­lin im Sep­tem­ber 2018

Ich starr­te aus dem Fens­ter. Die Herbst­fe­rien im letz­ten Jahr, To­rys E-Mail, mei­ne heim­li­che Rei­se. Lon­don. Ita­li­en, wo ich Chia­ra ken­nen­lern­te. Un­ser ge­mein­sa­mer Trip nach Frank­reich, Ma­rok­ko und Hol­land. Die Su­che nach ei­ner al­ten Vi­nyl­sing­le und drei Brü­dern, die plötz­lich so en­de­te, wie es kei­ner ge­ahnt hat­te. Und am Schluss die Er­kennt­nis, dass es ei­nen Mis­ter A. S. To­ry über­haupt nicht gab.

Über ein hal­bes Jahr hat­te ich kei­ne Nach­richt mehr von ihm er­hal­ten und trotz aller Re­cher­che­ver­su­che nichts über ihn her­aus­ge­fun­den. Die Fra­ge, wer er war, be­schäf­tig­te mich nach wie vor. Wenn er mein­te, es gin­ge ihm nicht gut, muss­te dies stim­men. Woll­te ich mehr über To­ry er­fah­ren, blieb nicht mehr viel Zeit. Ita­li­en und Ve­ne­dig … Es gab für die bei­den näch­sten Wo­chen kei­ne Rei­se­plä­ne. Dass Mis­ter To­rys Ver­gan­gen­heit mit Ita­li­en zu tun hat­te, war selt­sam. Die­se An­zei­ge aus Ber­lin. Was be­deu­te­te sie? Wer war Mar­ga­ret­he Reu­ters? To­ry leb­te in ei­ner piek­fei­nen Ge­gend von Lon­don, in Ken­sing­ton. Ob­wohl er er­staun­lich gut deutsch sprach, hat­te ich in ihm ei­nen wasch­ech­ten Eng­län­der ge­se­hen. Dann die­se War­nung: Soll­ten Sie die rei­ne Leich­tig­keit in den fol­gen­den Herbst­wo­chen su­chen, wä­re ei­ne an­de­re Rei­se bes­ser. Ei­ne Vor­sichts­maß­nah­me nach den Er­fah­run­gen im letz­ten Jahr?

Außer­dem wird Sid et­was über sich selbst her­aus­fin­den und be­grei­fen, wa­rum ich ge­ra­de ihn da­mals aus­ge­sucht ha­be. Da­mit hat­te er mich end­gül­tig ge­packt … Auch die Mög­lich­keit, Chia­ra zu tref­fen, wä­re es wert …

Ich muss­te wis­sen, was Chia­ra da­von hielt. Oft hat­te ich mich mit ihr über den Trip im letz­ten Jahr aus­ge­tauscht. Sie war von To­ry be­ein­druckt ge­we­sen und den­noch in ih­rem Ur­teil über ihn zwie­ge­spal­ten ge­blie­ben. Ge­nau wie mich in­te­res­sier­te sie sei­ne wah­re Ge­schich­te und Her­kunft, wa­rum er un­ter dem fal­schen Na­men »Mr. To­ry« auf­ge­tre­ten war und aus­ge­rech­net mich aus­ge­wählt hat­te. Wie­so hat­te er so we­nig von sich er­zählt? War er je­mals ver­hei­ra­tet? Hat­te er Ge­schwis­ter oder Kin­der?

Ich schick­te ihr ei­ne Kurz­nach­richt zurück. Und – was meinst du? Nach­denk­li­cher Smi­ley.

Chia­ra schien auf mei­ne Ant­wort ge­war­tet zu ha­ben. Du ent­schei­dest. Wenn du fah­ren willst, bin ich da­bei … Du bist bei mir ein­ge­laden, okay? Zwin­ker­ge­sicht.

Ich schrieb: Ja klar! Ich er­zäh­le auch nichts von To­ry! Und füg­te ei­nen Smi­ley mit Reiß­ver­schluss­mund hin­zu.

Chia­ras Ant­wort kam prompt. Su­per! Sieh zu, dass du dei­ne Mutter über­zeugen kannst! Ich drü­cke dir die Dau­men!

Es war dann alles an­de­re als ein­fach. Na­tür­lich war mei­ne Mutter nicht be­geis­tert. Sie er­in­ner­te mich an den letz­ten Herbst und ih­re Äng­ste, als sie mein Ver­schwin­den be­merk­te. Sie ver­wies auf die vier­wö­chi­ge Ka­na­dar­ei­se. Pa­pa war vor drei Jah­ren aus­ge­wan­dert und leb­te dort sein neu­es Le­ben. Ich wuss­te, dass ein Ur­laub in den Herbst­fe­rien nicht in Be­tracht kam. Ob­wohl mein Vater ei­nen Groß­teil des Som­mer­ur­laubs über­nom­men hat­te, war allein der Flug zu teu­er ge­we­sen, um direkt wie­der zu ver­rei­sen.

Ma­ma tele­fo­nier­te mit Pa­pa, um auch sei­ne Mei­nung ein­zu­ho­len. Nach dem Ge­spräch sah sie un­zu­frie­den aus. »Na ja, du kennst ihn ja. Wie soll aus­ge­rech­net ein Aus­stei­ger wie er dich da­von ab­hal­ten, weg­zu­fah­ren?«, und ließ sich im An­schluss die Num­mer von Chia­ra ge­ben.

Wäh­rend des Tele­fo­nats lief ich ner­vös vor ih­rem Ar­beits­zim­mer auf und ab. Es dau­er­te ent­setz­lich lan­ge. End­lich kam sie aus ih­rem Zim­mer, mit ge­rö­te­ten Wan­gen. Ich über­leg­te, ob das ein gu­tes oder schlech­tes Zeichen war, da husch­te ein Lä­cheln über ihr Ge­sicht.

»Chia­ra ist ge­ni­al, das muss ich zu­ge­ben.«

Ich schau­te sie fra­gend an: »Und?«

»Sie hat es tat­säch­lich ge­schafft, mich zu über­re­den, sie meint, du bräuch­test un­be­dingt ei­ne Aus­zeit von der Schu­le. Ita­li­en wä­re ideal da­für. Und sie wür­de mit dir Fran­zö­sisch ler­nen.« Ma­ma lach­te kurz auf. »Es fällt mir schwer, aber ja. Du darfst fah­ren. Auch nach Ve­ne­dig. Chia­ra sagt, da wür­de ei­ne Tan­te von ihr woh­nen. Aber du mel­dest dich zurück! Und mach kei­ne krum­men Sa­chen! Ich will nicht, dass dich am Schluss wie­der ein Kom­mis­sar nach Hau­se bringt. Das musst du mir ver­spre­chen!«

»Na­tür­lich. Mach dir kei­ne Sor­gen! Dan­ke!« Ich fiel mei­ner Mutter um den Hals, was nicht mehr leicht ge­lang, da sie mitt­ler­wei­le ein gu­tes Stück klei­ner war als ich. Sie wehr­te schwach ab, lä­chel­te aber.

Dann eil­te ich in mein Zim­mer zurück, und konn­te mir ein lau­tes, jauch­zen­des »Jipp« nicht ver­knei­fen. Ich schick­te Chia­ra drei Dau­men­hoch mit Lach­ge­sicht als Nach­richt, wo­rauf­hin sie mit ei­nem Zwin­ker­ge­sicht ant­wort­ete. Ich nahm die LP von Sting vom Plat­ten­tel­ler, fisch­te So­met­hingjust li­ke this her­aus und star­te­te laut die Musik. Am Lap­top such­te ich nach ei­nem Flug von Han­no­ver nach Pi­sa. Abends pack­te ich mei­ne Sa­chen. Für Ka­na­da hat­te ich ei­nen neu­en gro­ßen Rei­se­kof­fer be­kom­men. Den al­ten zer­schlis­se­nen Ruck­sack vom letz­ten Jahr nahm ich trotz­dem da­zu, aus rein nos­tal­gi­schen Grün­den.

Samstag, 29.09.18

Die zwei Schul­ta­ge ver­gin­gen schnell.

Am Sams­tag­mor­gen war es so weit. Mei­ne Mutter brach­te mich zu­sam­men mit mei­nem Bru­der Fer­di zum Flug­hafen. Kurz vor der Si­cher­heits­kon­trol­le drück­te sie mich fest.

»Du machst wirk­lich kei­ne Dumm­hei­ten?«

Ich schüt­tel­te den Kopf und gab ihr ei­nen Kuss – das mach­te ich sonst nie – und brach­te Ma­ma da­mit ver­mut­lich aus der Fas­sung, knuff­te Fer­di, der die gan­ze Zeit rat­los da­bei­stand, in die Sei­te und ver­sprach ihm: »Ich bring dir ein In­ter-Mai­land-Tri­kot mit, okay?«

Fer­di nick­te. Dann wink­ten sie, ich pas­sier­te den Kon­troll­be­reich und lief zum Ga­te.

Die verlorene Geschichte

Den Jun­gen aus­zu­wäh­len, war ei­ne spon­ta­ne Ent­schei­dung. Der Na­me. Auf­fäl­lig. Und mir so ver­traut. Ei­ne Li­ai­son aus deut­schem Helden­tum und Sa­gen. Sieg­mund … Sieg­fried … Sa­gen­roth …

Nein, ich woll­te mich lan­ge Zeit nicht er­in­nern, will ich das heu­te?

Die­se zwei­te Rei­se … Eigent­lich war ich im letz­ten Jahr da­von über­zeugt, dass es ei­ne ein­ma­li­ge Sa­che ge­we­sen war. Wa­rum dann doch? Sen­ti­men­ta­li­tät? Angst, ver­ges­sen zu wer­den? Um die Din­ge end­lich rich­tig­zu­stel­len? Weil es lei­der wie­der ak­tu­ell ist? Weil es wie­der be­ginnt, und ich es nicht er­tra­gen kann, auf mei­ne al­ten Ta­ge zu­zu­se­hen?

2. Rückkehr

Nach ei­nem kur­zen Zwi­schen­stopp in Stutt­gart lan­de­te ich zur Mit­tags­zeit in Pi­sa. Am Himmel tum­mel­ten sich ein paar Schäf­chen­wol­ken. Mil­de Luft emp­fing mich.

Ich muss­te nicht lan­ge su­chen. Chia­ras Rot­schopf war in der Men­ge der War­ten­den leicht zu er­ken­nen. Ihr Look war un­ver­än­dert. Schwar­ze Car­go­ho­se, ein T-Shirt mit fre­chem Spruch, I fre­ak my­self out, da­rüber ei­ne Leder­ja­cke, das fun­keln­de Na­sen­pier­cing, die grü­nen, leuch­ten­den Augen, die lus­ti­gen Som­mer­spros­sen und beim er­sten Grin­sen ih­re un­ver­kenn­ba­re Zahn­lü­cke.

Wir skyp­ten re­gel­mä­ßig. Un­ser letz­tes Tref­fen lag aber ein Drei­vier­tel­jahr zurück. Ich ver­ges­se nicht die neu­gie­ri­gen Bli­cke und Kom­men­ta­re mei­ner Klas­sen­ka­me­ra­den, als sie am Schul­tor stand und mich ab­hol­te. Mar­lon pfiff kurz durch die Zäh­ne, Fe­lix und Tom zo­gen Gri­mas­sen und feix­ten: »Aha, Sid hat ’ne heim­li­che Freun­din!« und der dümm­ste Spruch kam von Gre­gor. »Der klei­ne Sieg­mund wird von sei­ner Ma­mi aus dem Kin­der­gar­ten ab­ge­holt.« Wor­te, für die ich nor­mal­er­wei­se ei­ne Prü­ge­lei ris­kiert hät­te. Ich schaff­te es nur knapp, mich zu­sam­men­zu­rei­ßen.

Es war ei­ne Mi­schung aus »Oh Gott, ist das pein­lich!« und »Sie ist echt cool, oder?«, die mir durch den Kopf ging.

Die meis­te Zeit ver­such­te ich, es zu ver­drän­gen. Aber … von An­fang an ge­fiel mir Chia­ra. Das Sel­fie von uns bei­den aus Ita­li­en hat­te sie mir ge­schickt und ich schau­te es mir oft an.

Im Ja­nu­ar zeig­te ich Chia­ra Han­no­ver, wir waren im Ki­no, zock­ten am PC, hör­ten fast mei­ne ge­sam­te Plat­ten­samm­lung, waren zu­sam­men mit mei­ner Mutter und Fer­di beim be­sten Ita­lie­ner der Stadt, ge­ra­de gut ge­nug, um je­man­dem, der von der tos­ka­ni­schen Kü­che ver­wöhnt war, ge­recht zu wer­den, und un­ter­hiel­ten uns un­ge­heu­er viel. Das konn­te man mit ihr her­vor­ra­gend. Wir spra­chen über un­se­re Pat­chwork­fa­mi­lien. Ich über Pa­pa und sein neu­es Le­ben in Ka­na­da. Chia­ra von ih­rer Mutter in Ham­burg und ih­rem Vater in Cam­pe­to. Ich frag­te sie, ob er ei­ne neue Freun­din hät­te. Chia­ra zuck­te mit den Schul­tern. »Ab und zu nimmt er sich ei­ne Aus­zeit und fährt auch mal weg. Er spricht nicht groß­ar­tig da­rüber. Im Som­mer war Ma­ma bei uns. Fast hat­te ich das Ge­fühl, sie wä­ren sich wie­der nä­her­ge­kom­men.«

Mein Bru­der Fer­di be­nahm sich wie so oft ziem­lich al­bern, schoss, wäh­rend wir auf dem Zim­mer waren, Flie­ger rein, platz­te mit sei­ner Clo­ne Troo­per-Mas­ke her­ein und führ­te Schein­ge­fech­te durch, was mich tie­risch nerv­te, Chia­ra aber stets zum La­chen brach­te.

Am letz­ten Tag frag­te ich sie vor­sich­tig, ob sie ei­nen Freund ha­be.

Sie zö­ger­te mit ih­rer Ant­wort.

»Es gab da ein paar … aber ich glau­be, ich bin ein­fach kein Mensch für was Dau­er­haf­tes. Ty­pi­sches Kind ge­trenn­ter Eltern halt.« Mehr er­zähl­te sie nicht, und ich wag­te nicht, weiter nach­zu­fra­gen. Wie es ak­tu­ell aus­sah, wuss­te ich nicht. Bei mir war kur­ze Zeit was mit Ali­na aus der Pa­ral­lel­klas­se ge­lau­fen. Aber ir­gend­wie hat­te das mit uns nicht funk­tio­niert. Oh­ne es zu wol­len, ver­glich ich alle mit Chia­ra und da­bei schnit­ten un­wei­ger­lich die meis­ten in mei­nem Al­ter schlecht ab. Ent­we­der waren sie mir zu al­bern oder ge­fie­len mir ein­fach nicht so. Ob­wohl sie nicht dem Durch­schnitt ent­sprach – nicht die­se lan­gen glat­ten Haa­re wie fast alle an­de­ren Mäd­chen hat­te und auch nicht de­ren Ein­heits­look trug – hat­te sie was, kei­ne Fra­ge. Ich fand sie auf je­den Fall klas­se.

Als sie mich am Flug­hafen be­grüß­te, ver­such­te ich die­se Ge­dan­ken zu ver­scheu­chen.

»Hey, schön dich wie­der­zu­se­hen. Wie war dein Flug?« Chia­ra um­arm­te mich kurz.

»Dan­ke. Der Flug war okay, die Zeit ging schnell rum.«

Chia­ra mus­ter­te mich auf­merk­sam. »Sag mal, du bist noch grö­ßer und kräf­ti­ger ge­wor­den, kann das sein?«

Ver­le­gen mur­mel­te ich vor mich hin. Tat­säch­lich über­rag­te ich sie mitt­ler­wei­le ein gu­tes Stück. Wie die meis­ten Ita­li­en­er­in­nen war Chia­ra eher klein und zier­lich.

»Sieht gut aus.« Sie grins­te mich an.

Viel­leicht merk­te sie, dass mich das ver­wirr­te. Je­den­falls ging sie za­ckig wie immer zu an­de­rem über. »All­ora, lass uns kei­ne Zeit ver­lie­ren und nach Cam­pe­to fah­ren.«

Ih­ren al­ten Pick-up hat­te sie al­so immer noch. Die Kar­re hat­te uns letz­tes Jahr bis nach Süd­frank­reich ge­bracht. Mir kam es vor, als wä­re sie noch ro­sti­ger ge­wor­den. Zü­gig nahm Chia­ra mei­nen Rei­se­kof­fer und den Ruck­sack ent­ge­gen und ver­stau­te bei­des hin­ter den klapp­ri­gen Sit­zen. Nicht oh­ne ei­ne flap­si­ge Be­mer­kung zu ma­chen. »Aha, der Herr reist jetzt mit Kof­fer.«

An die Stre­cke er­in­ner­te ich mich gut. Die­ses Mal konn­te ich die Fahrt mehr ge­nie­ßen. Da­mals hat­te mich Chia­ra ein we­nig ein­ge­schüch­tert und ich wuss­te nicht, was mich er­war­tet.

Nun freu­te ich mich auf Cam­pe­to, auf Chia­ras Groß­mutter Lu­do­vi­ca, ih­ren Vater Fe­de­ri­co, die Ta­ver­ne.

»Wann sol­len wir nach Ve­ne­dig auf­bre­chen? Bei mir hat sich To­ry noch nicht ge­mel­det? Bei dir?«

Chia­ra warf mir ei­nen be­deu­tungs­vol­len Blick zu. »Ja, hat er. Spä­tes­tens am Mon­tag­mor­gen müs­sen wir los. Ich ver­mu­te, dass es ihm zu hei­kel war, dich zu kon­tak­tie­ren. Immer­hin könn­te es sein, dass dei­ne Mutter dei­ne E-Mails kon­trol­liert. Könn­te ich bei ei­nem Aus­rei­ßer wie dir durch­aus ver­ste­hen.«

Ich gab ein kur­zes Grum­meln von mir. Mei­ne Mutter hat­te das tat­säch­lich ein paar Mal ver­sucht, so­gar da­rauf be­stan­den, dass ich ihr das Pass­wort für den Lap­top und mein Mail­post­fach ge­be. Aber das war nur in den er­sten Mo­na­ten, da­nach war es ihr zu an­stren­gend ge­wor­den. Und es waren auch kei­ne Nach­rich­ten mehr von To­ry ge­kom­men.

»Er hat mir ei­ne weite­re kryp­ti­sche E-Mail ge­schickt. Mit ei­nem al­ten Plan von Ve­ne­dig und zwei Fotos.«

»Du machst mich neu­gie­rig.«

»All­ora, ich wer­de dir alles zei­gen, so­bald wir zu­hau­se sind.« Chia­ra grins­te mich an. »Ich bin ge­nau­so ge­spannt wie du. Aber bit­te kein Wort zu mei­nem Vater. Er weiß ge­nau­so we­nig wie dei­ne Mutter. Und ver­mut­lich ist das bes­ser so.«

Was hat­te es mit der Ve­ne­dig­rei­se auf sich? Die Fra­ge ließ mich nicht los. Ei­ne Wei­le schwie­gen wir. Wie im Vor­jahr hat­te Chia­ra ihr Tran­sis­tor­ra­dio da­bei und es lief Creep von Ra­dio­he­ad. Ein Song, der de­fi­ni­tiv kein Rum­ge­quat­sche ver­trug. Zu­dem sang sie ent­setz­lich falsch, da­für lauts­tark, mit.

Nach den zahl­rei­chen Kur­ven, die sich von der Küs­te aus in das tos­ka­ni­sche Hin­ter­land schlän­gel­ten, war mir wie­der et­was übel. Doch als ich in der Ferne die dicht an­ein­an­der ge­schmieg­ten, hell­brau­nen Häu­ser, die ho­hen Pi­nien und Zy­pres­sen und wei­trei­chen­den Hügel mit Wein­stö­cken er­ken­nen konn­te, war es fast wie nach Hau­se zu kom­men. Wir tu­cker­ten durch die schma­len Gas­sen, bis wir die To­rein­fahrt der Ta­ver­na Da Ro­sa er­reich­ten. Der klei­ne In­nen­hof lag an die­sem Spät­nach­mit­tag im Schat­ten, aus den Fens­tern des un­te­ren Ge­bäu­des leuch­te­te warm das Licht aus der Ta­ver­ne. Die Kat­zen­fa­mi­lie schien Zu­wachs be­kom­men zu ha­ben. Ei­ne klei­ne Schwarz-Wei­ße, die ich letz­tes Jahr noch nicht ge­se­hen hat­te, saß zwi­schen den Ton­töp­fen im Hof und lug­te neu­gie­rig her­vor. Die bei­den Grau­en lagen in den Fens­ter­sim­sen und spran­gen uns ent­ge­gen, als wir knat­ternd an­hiel­ten. Chia­ras Vater er­schien in der Tür.

»Ben­ve­nu­to Sid!«

Graue Schlä­fen, ge­bräun­te Haut, ein gro­ßer, schlan­ker, stol­zer Ita­lie­ner mitt­le­ren Alters. Fe­de­ri­co hat­te mir schon letz­tes Jahr im­po­niert.

»Deer wil­de Schwei­ne­hel­de!« Ein Grin­sen zog über sein Ge­sicht. Chia­ras Grin­sen. Die An­spie­lung auf mei­ne Flucht vor dem gro­ßen Cing­hia­le ließ mich er­rö­ten. Fe­de­ri­co war da­mals nicht so be­geis­tert da­von ge­we­sen, dass ich um ein Haar ei­ne un­schö­ne Be­geg­nung mit ei­nem aus­ge­wachs­enen Wild­schwein ge­habt hät­te und sie da­her die Jagd vor­zei­tig ab­bre­chen muss­ten. Aber er hat­te mir zum Ab­schied ei­nen Stoß­zahn des Kei­lers ge­schenkt, der seit­dem mein Ta­lis­man war und den ich auch jetzt an mei­nem Ruck­sack be­fes­tigt hat­te.

Wir be­tra­ten den Gast­raum. Die Ti­sche waren für den Abend ge­deckt. Rot-ka­rier­te Tisch­de­cken. Wei­ße, zu Müt­zen ge­fal­te­te Ser­viet­ten. Glän­zen­de Wein­glä­ser in ver­schie­de­nen Grö­ßen. Die in den Wand­ver­tie­fun­gen des al­ten Ge­mäu­ers ein­ge­las­se­nen Leuch­ter spen­de­ten ein war­mes Licht. Ich er­in­ner­te mich an mei­nen er­sten Abend hier, das er­ste Glas Wein, Chia­ras Ver­wand­te und Freun­de, ei­nen völ­lig an­de­ren All­tag als bei uns zu­hau­se. Es waren an­ge­neh­me Er­in­ne­run­gen. Lu­do­vi­ca kam mir freu­de­strah­lend ent­ge­gen und hol­te mich aus mei­nen Be­trach­tun­gen. Die klei­ne Frau um­arm­te mich und be­dach­te mich dann mit ei­nem Schwall ita­lie­ni­scher Sät­ze, de­nen ich kaum fol­gen konn­te. Ich hat­te mir in den letz­ten Mo­na­ten Mü­he ge­ge­ben, et­was mehr Ita­lie­nisch zu ler­nen, den­noch war mir das ein­fach zu schnell, ich ver­stand aber so viel, dass sie ih­re Freu­de zum Aus­druck brin­gen woll­te, mich nach so lan­ger Zeit wie­der­zu­se­hen. Nach­dem ich mit Ge­sten und ver­schie­dens­ten Sprach­bro­cken Lu­do­vi­ca und Fe­de­ri­co be­grüßt hat­te, deu­te­te Chia­ra an, dass es Zeit wä­re, mein Zim­mer zu be­zie­hen. So folg­te ich ihr die schma­le Trep­pe zu den klei­nen Gäs­te­zim­mern hoch. Meins lag wie im vo­ri­gen Jahr ih­rem Zim­mer ge­gen­über. Ich stell­te mein Ge­päck ab und schon zog sie mich in ih­ren Raum. Auf ih­rem Schreib­tisch lagen drei Bil­der und ei­ne aus­ge­druck­te Mail. Neu­gie­rig nä­her­te ich mich. Chia­ra nahm den Papier­bogen mit der E-Mail und gab ihn mir. Ich setz­te mich auf ih­ren Schreib­tisch­stuhl und las.

Ver­ehr­tes Fräu­lein Chia­ra, lie­ber Sid,

es freut mich, dass Sie mei­ner Ein­la­dung ge­folgt sind. Viel­leicht kön­nen Sie mir mit Ih­rer Su­che Fra­gen, die ich mein Le­ben lang hat­te, be­ant­wor­ten und die Mau­er, die ich um mei­ne Ver­gan­gen­heit er­rich­tet ha­be, ein­rei­ßen. Es gab Zeiten, da hät­te ich das nicht ge­wollt. Jetzt füh­le ich mich be­reit und se­he ge­ra­de Sie bei­de als ge­eig­net an.

Bin ich die Sum­me mei­ner Vor­fah­ren und mei­ner Ver­gan­gen­heit? Oder be­stim­me ich selbst, wer ich sein will? Kann ich mich immer wie­der neu er­fin­den? Was ma­chen Freund­schaft, Lie­be, Hass und Schuld mit mir? Be­kommt am Schluss alles ei­nen Sinn, soll man ver­zei­hen?

Ich weiß es nicht, aber viel­leicht fin­den Sie bei­de ei­ne Ant­wort.

An­bei ei­ne Adres­se, ein al­ter Stadt­plan und zwei al­te Foto­gra­fien. Ich wün­sche Ih­nen bei­den ei­ne gu­te Rei­se und bin ge­spannt, was Sie in Er­fah­rung brin­gen wer­den.

Mit freund­li­chen Grü­ßen

A.S. To­ry

Chia­ra schau­te mich fra­gend an. »Und?«

»In der Tat sehr kryp­tisch. Aber … macht echt neu­gie­rig. Er spricht von ei­ner Mau­er, die er um sei­ne Ver­gan­gen­heit er­rich­tet hat. Hm … Hass und Schuld? Ob der al­te Mr. To­ry et­was ver­bro­chen hat? Und was hat es mit die­ser An­zei­ge in sei­ner er­sten E-Mail auf sich?«

Sie zuck­te statt ei­ner Ant­wort mit den Ach­seln. Man sah ihr an, dass sie eben­falls da­rüber nach­ge­dacht hat­te.

Ich nahm die Bild­aus­drucke in die Hand. Auf ei­nem war ein Aus­schnitt aus ei­nem al­ten Stadt­plan ab­ge­bil­det. Auf ei­nem an­de­ren ei­ne al­te schwarz-wei­ße Foto­gra­fie mit ei­nem Mäd­chen und ei­nem Jun­gen, schwie­rig zu schät­zen, viel­leicht drei­zehn Jah­re alt, da­run­ter zwei Na­men: Gre­ta und Fritz.

»Wer sind Gre­ta und Fritz?«

»Ich kann es dir nicht sa­gen. Ist es To­ry? Ge­schwis­ter von To­ry? Freun­de? Der Jun­ge sieht dir üb­ri­gens et­was ähn­lich.«

»Hm. Er sieht mir ähn­lich, na­ja, fin­dest du? Aber das hier ist in­te­res­sant.«

Ich nahm die Ab­bil­dung ei­nes al­ten Ge­bäu­des her­vor. Da­ne­ben stand hand­schrift­lich ei­ne Adres­se.

R. Sa­mu­el Bass­ani

Cam­piel­lo de le Scuo­le 1256

30121 Ve­ne­zia VE

»Da­mit kön­nen wir et­was an­fan­gen. Ein Na­me und ei­ne Adres­se. Der al­te Ve­ne­dig-Plan zeigt ei­nen Aus­schnitt von Can­na­re­gio. Ob Cam­piel­lo de le Scuo­le 1256 die Adres­se des ab­ge­bil­de­ten Hau­ses ist? Das Foto ist un­scharf. Man kann kei­ne Haus­num­mer er­ken­nen.«

Chia­ra nick­te. »Es steht auch kei­ne Tele­fon­num­mer da­bei. Wir wer­den be­sag­tem Herrn Bass­ani wohl ei­nen Be­such ab­stat­ten müs­sen und hof­fent­lich mehr er­fah­ren.«

»So sieht’s wohl aus … Ei­ne an­de­re Fra­ge: Stimmt es, dass wir bei dei­ner Tan­te woh­nen?«

Chia­ra lä­chel­te. »Es stimmt fast. Emi­lia ist kei­ne Tan­te, son­dern ei­ne Be­kann­te von Pa­pa. Ich war zwar schon ein­mal in Ve­ne­dig, vor un­ge­fähr zwei Jah­ren, war je­doch nicht bei ihr, ken­ne sie al­so auch nicht. Aber Pa­pa hat das schon ge­klärt. Wir kön­nen bei Emi­lia woh­nen. Es ist nicht in Can­na­re­gio. Aber das dürf­te kein Pro­blem sein.«

»Okay, das ist pri­ma. Woll­test du mit dei­nem al­ten Pick-up fah­ren?«

»Nein, der nützt uns in Ve­ne­dig eh we­nig. Und wir ken­nen noch nicht un­se­re an­de­ren Zie­le. Am Mon­tag­mor­gen kann uns Pa­pa nach Pi­sa mit­neh­men. Von dort kom­men wir gut mit dem Zug nach Ve­ne­dig.«

Nach­dem ich mei­ne Mutter an­ge­ru­fen hat­te, pack­te ich ein paar Sa­chen aus dem Kof­fer, un­ter an­de­rem Ge­schen­ke für die Fa­mi­lie Da Ro­sa. Ma­ma hat­te da­rauf be­stan­den. Ei­ne al­te LP von Mi­ke Batt für Chia­ra, die sich tat­säch­lich im Lau­fe des Jah­res ei­nen al­ten Plat­ten­spie­ler zu­ge­legt hat­te, ei­ne Schach­tel Pra­li­nen für Lu­do­vi­ca und ei­nen Han­no­ver­aner Kräu­ter­schnaps für Fe­de­ri­co. Als ich die Sa­chen über­reich­te, freu­ten sich alle. Chia­ra muss­te bei Mi­ke Batt schal­lend la­chen, hat­te sie mir doch Ri­de to Aga­dir auf dem Flug nach Mar­ra­kesch vor­ge­spielt. Lu­do­vi­ca zeig­te ihr rei­zend­stes, zahn­lo­ses Lä­cheln und um­arm­te mich ganz fest. Fe­de­ri­co be­äug­te den Schnaps erst kri­tisch, nahm aber direkt ei­ne Kost­pro­be und lob­te ihn. Chia­ra über­setz­te mir mit ei­nem schel­mi­schen Lä­cheln, dass er ge­sagt hät­te, es wä­re zwar kein Grap­pa, aber da­für ab­so­lut okay.

Für den Abend hat­te Lu­do­vi­ca ein Fes­tes­sen zu­be­rei­tet. Es gab Wild­schweins­chin­ken und Oliven als Vor­spei­se und als Haupt­ge­richt Pe­po­so, ei­nen wür­zi­gen Ein­topf aus ver­schie­de­nen Fleisch­sor­ten und To­ma­ten. Da­zu fri­sches Weiß­brot und den Haus­wein. Es ka­men auch Ver­wand­te und Freun­de, und es wur­de da­mit ei­ne mehr als tur­bu­len­te Run­de. Mü­de, aber zu­frie­den sank ich nach ein Uhr in mein Bett.

Sonntag, 30.09.18

Am Vor­mit­tag be­such­ten wir Chia­ras On­kel Raf­fae­le. Ich lern­te bei der Ge­le­gen­heit auch sei­ne Frau An­to­nia ken­nen. Ei­ne klei­ne, rund­li­che, freund­li­che Ita­li­en­erin. Sie zeig­te mir Fotos von ih­ren Kin­dern, Fran­ka und Fran­ce­sco, die bei­de bis zu den Win­ter­fe­rien im In­ter­nat waren, und er­zähl­te von der Wein­ern­te in die­sem Jahr, die dank des hei­ßen Som­mers aus­ge­zeich­net aus­ge­fal­len war, aller­dings viel Ar­beit ma­chen wür­de.

Chia­ra und ich mach­ten an­schlie­ßend mit dem Pick-up ei­nen Kurz­trip in die nä­he­re Um­ge­bung. Der wei­te Blick in die hüge­li­ge Land­schaft mit den herbst­far­be­nen Wein­hän­gen war der Ham­mer. Kitsch­post­kar­ten­idyl­le pur, könn­te man sa­gen. Wir hör­ten da­bei Musik, ita­lie­ni­schen Pop im Wech­sel mit in­ter­na­tio­na­len Charts, hat­ten die Fens­ter her­un­ter­ge­kur­belt und ge­nos­sen ein­fach die Zeit.

Ich schau­te sie von der Sei­te an. Ihr wie immer ver­wu­schel­tes ro­tes Haar weh­te im Fahrt­wind, sie lach­te und scherz­te, summ­te und sang zur Musik mit, die ge­ra­de lief, ich glau­be, es war so ein al­ter ita­lie­ni­scher Schla­ger. » … da­ba­dan, da­ba­dan, ba­ba­dan … tu …« In dem Mo­ment wuss­te ich, egal, was bei un­se­rem Trip her­aus­kom­men wür­de, es war klas­se, Chia­ra wie­der­zu­se­hen. Selbst wenn un­klar blieb, was aus un­se­rer Freund­schaft wur­de und wie aus­sichts­los es im Grun­de war. Sie hier in Ita­li­en, ich in Han­no­ver. Wir hat­ten die­se zwei Wo­chen. Und da­rüber freu­te ich mich in die­sem Augen­blick irr­sin­nig.

Am spä­ten Nach­mit­tag such­ten wir nach pas­sen­den Zug­ver­bin­dun­gen für den näch­sten Tag und goo­gel­ten nach mehr In­fos über Ve­ne­dig und den Stadt­teil Can­na­re­gio.

Den Sonn­tag­abend ver­brach­ten wir nach dem Es­sen ab­schlie­ßend in der Sports­bar in Mon­te­ver­di. Chia­ra stell­te mich ei­ni­gen Freun­den und Be­kann­ten vor, die ich im letz­ten Jahr noch nicht ken­nen­ge­lernt hat­te. Ich frag­te mich, wer von ih­nen schon ihr Freund ge­we­sen war. Ein Typ namens Sal­va­to­re sah mich lan­ge und auch et­was arg­wöh­nisch an und frag­te mit selt­sa­mer Be­to­nung: »Du bist al­so Sid?« Wäh­rend die an­de­ren recht aus­ge­las­sen und lo­cker waren, ver­hielt er sich die gan­ze Zeit über ab­wei­send. Trotz­dem wur­de der Abend ganz nett. Nach ein paar Darts- und Bil­lard­run­den bra­chen wir ge­gen elf Uhr auf, da es am näch­sten Mor­gen schon früh los­ge­hen soll­te.

Als ich ge­ra­de das Licht aus­ma­chen woll­te, klopf­te es an der Tür. Er­staunt öff­ne­te ich. Chia­ra schlüpf­te ins Zim­mer. Schon in ei­ner Art Schlafs­hirt. Grund­gü­ti­ger! Ich blick­te auf ein rie­si­ges Ab­bild von Al­bert Ein­stein. In psy­che­de­li­schen Far­ben. Der al­te Herr starr­te mir ge­ra­de­wegs ins Ge­sicht und streck­te die Zun­ge her­aus. Aber der Spruch war gut: Le­arn from yes­ter­day, li­ve for to­day, ho­pe for to­mor­row. Ich muss­te mich den­noch an­stren­gen, ei­ni­ger­ma­ßen ernst zu blei­ben. »Sehr schick, was du da an­hast.«