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Klappentext: Eine E-Mail mit einer Adresse in Venedig, einem Foto aus den Dreißigerjahren und einer Gratulationsanzeige. Mehr Informationen haben Sid und Chiara nicht, als sie beschließen, die Vergangenheit eines mysteriösen Engländers zu enträtseln. Bei ihrer Suche landen die beiden im alten Ghetto Venedigs, im Wiener Untergrund und in Berlin-Kreuzberg. Nach und nach erforschen sie eine Biografie, die von einer ersten Jugendliebe, allerbesten Freunden, grenzenlosem Hass und Tragik erzählt. Unmerklich verwebt sich die Geschichte mit der Gegenwart und ihnen selbst. Gelingt es, das Puzzle vollständig zusammenzusetzen? Eine spannende Reise durch die Zeit, nicht nur für Jugendliche. In diesem Roman geht es darum, aufzuzeigen, dass Rechtsextremismus und Rassismus nicht nur Themen der Vergangenheit sind, sondern bis in unsere Gegenwart nachwirken und leider wieder sehr aktuell sind. Innerhalb einer fiktiven Geschichte werden historische Begebenheiten aufgegriffen und ihre Spuren bis in unsere Neuzeit verfolgt. Das Buch soll Jugendliche dafür sensibilisieren, Vorurteile und auch Radikalisierungen rechtzeitig zu erkennen und zu einer offenen und wertfreien Begegnung mit anderen Kulturen und Religionen ermuntern.
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Seitenzahl: 258
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Zum Inhalt:
Eine E-Mail mit einer Adresse in Venedig, einem Foto aus den Dreißigerjahren und einer Gratulationsanzeige.
Mehr Informationen haben Sid und Chiara nicht, als sie beschließen, die Vergangenheit eines mysteriösen Engländers zu enträtseln. Bei ihrer Suche landen die beiden im alten Ghetto Venedigs, im Wiener Untergrund und in Berlin-Kreuzberg. Nach und nach erforschen sie eine Biografie, die von einer ersten Jugendliebe, allerbesten Freunden, grenzenlosem Hass und Tragik erzählt. Unmerklich verwebt sich die Geschichte mit der Gegenwart und ihnen selbst. Gelingt es, das Puzzle vollständig zusammenzusetzen?
Eine spannende Reise durch die Zeit, nicht nur für Jugendliche.
S. Sagenroth
A. S. Tory und die verlorene Geschichte
IMPRESSUM
© S. Sagenroth 2019
Umschlaggestaltung: Stefan Hilden, HildenDesign.de
Umschlagmotive: © HildenDesign / © Stephen Mulcahey /Trevillion Images, © Mark Owen/ Trevillion Images
Lektorat: Leo Aldan
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN: 978-3-7497-3228-9 (Paperback) 978-3-7497-3229-6 (Hardcover) 978-3-7497-4405-3 (e-Book)
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Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalblibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dt-nb.de abrufbar.
Prolog
Berlin, November 1938
1. Campeto und Hannover
Campeto - Mittwoch, 26.09.2018
Hannover - Mittwoch, 26.09.2018
Samstag, 29.09.18
Die verlorene Geschichte
2. Rückkehr
Sonntag, 30.09.18
Die verlorene Geschichte
3. Venedig
Montag, 1.10.18
4. Emilia, Cannaregio und Bassani
Die verlorene Geschichte
5. Bassani erzählt
6. Ein venezianischer Abend
Die verlorene Geschichte
7. La Serenissima und The Ghetto
Dienstag, 2.10.18
8. Abraham und Elisabeth
Die verlorene Geschichte
9. Neue Reisepläne
Mittwoch, 3.10.18
10. Café Central und der Untergrund
Die verlorene Geschichte
11. Herr Wurzlgruber
Donnerstag, 4.10.18
12. Vom Naschmarkt zur Schönlatern
13. Freud und Leid
Die verlorene Geschichte
14. Recherchen
Freitag, 5.10.18
15. Hofers und Meierhoffs
Die verlorene Geschichte
16. Prater
17. Der Brief
Samstag, 6.10.18
18. Hasenherz
Die verlorene Geschichte
19. Wien - Berlin
Sonntag, 7.10.18
20. Berliner Luft
21. Ku'damm
22. Greta
Montag, 8.10.18
Die verlorene Geschichte
23. Der Abend
Die verlorene Geschichte
24. Fritz
Dienstag, 9.10.18
25. Mia
Mittwoch, 10.10.18
Die verlorene Geschichte
26. Alt-Treptow
Donnerstag, 11.10.18
Die verlorene Geschichte
27. Kreuzberg
Die verlorene Geschichte
28. Wiedersehen
Freitag, 12.10.18
29. Abschied
Samstag, 13.10.18
Nachwort
Der Kellerraum war von Dunkelheit und Eiseskälte erfüllt. Ein modriger Geruch lag in der Luft. Boden und Wände waren rußig und feucht, an den Seiten die Umrisse einiger stählerner Regale mit Kisten und Blechdosen. Der Junge öffnete die Augen. Die Sprungfedern der schäbigen Matratze stachen ihm in die Rippen. Vorsichtig richtete er sich auf. Er fror, Schwindel erfasste ihn und Hunger breitete sich als Schmerz in seinem Magen aus. Mit der Zunge fuhr er sich über die aufgesprungenen Lippen. Vor ihm lag eine zerbrochene Schale mit einem letzten harten Brotkanten. Die Kanne war umgekippt. Nur noch ein feuchter Fleck auf dem staubigen Steinboden. Sein schmächtiger Körper tat weh, Arme und Beine fühlten sich taub an. Angst. Mit aller Gewalt kehrte sie zurück. In der Ecke zeichnete sich ein dunkler Haufen ab. Eine Kinderuniform. Ihn ergriff ein Schaudern. Was hatte er getan? Er musste fort. So schnell wie möglich. Hastig langte er in die Brusttasche seiner Jacke und zog zwei zerknickte Fotos hervor. Eine Frau, ein Mann, zwei Kinder. Ein Junge und ein Mädchen. Alle in dunkler Kleidung. Die Hände artig vorne gefaltet. Mit großen Augen starrten die beiden Kinder in die Kamera. Der Mann blickte ernst. Nur die Frau trug ein leichtes Lächeln. Das Blond ihrer Locken stach genauso hervor wie das kurze helle Haar des kleinen Jungen. Der Mann und das Mädchen waren dunkelhaarig. Im Hintergrund ein Ladeneingang – und ein Schild. Abraham Torani Bücher. Auf dem anderen Foto ein Junge mit fröhlichem Blick, in der Uniform der Pimpfe. Das Mädchen spöttisch lachend mit Dirndl und Zöpfen. Grenzenlose Trauer und Schmerz erfassten ihn. Er streichelte die beiden Bilder und schob sie in die Tasche zurück. Sein Blick fiel auf das winzige, zersplitterte Fenster unterhalb der Kellerdecke. Das offenstehende Gitter klapperte leise vor sich hin. Er stand auf, schritt mit wackligen Beinen auf die Regale zu, fasste nach den stählernen Stützen, suchte auf den Einlegebögen Halt und kletterte empor, bis er inmitten von Glassplittern vor der kleinen Kellerluke hockte. Das Metallregal quietschte und scheppernd fiel eine Dose zu Boden. Er drückte den rostigen Metallriegel zur Seite und riss das Fenster auf. Licht und kalte Luft strömten ihm entgegen, dann zwängte er sich mühsam und mit letzter Kraft durch die schmale Öffnung. Er blinzelte. Seine Augen tränten. Der Junge versuchte, sich aufzurichten. Seine Beine zitterten. Ein eisiger Wind streifte ihn, bevor er zusammenbrach. Er merkte nicht mehr, wie jemand ihn hochnahm und davontrug.
Da stand er auf der Wiese, die Sonne schien.
Er klemmte sich ein Stück Baumrinde zwischen Mund und Nase,
nahm diese leicht verkrampfte, stocksteife Haltung ein.
Mein Voollkk! Tsseiten! Kommen! Und! Vergäähen!
Und wir bogen uns vor Lachen, kugelten durch das Gras
und skandierten immer wieder:
Vergäähen! Vergäähen! Vergäähen!
A. S. Tory
Die Herbstsonne schien in den gepflasterten Innenhof und schimmerte in den Fensterscheiben. Ein warmer Goldton lag auf den Hausmauern und bunte Wäschestücke tanzten an der Leine. Eng zusammengerollt schliefen die beiden Katzen unten auf der Ladefläche des Pick-ups.
Chiara wandte ihren Blick vom Fenster, strich die widerspenstigen roten Strähnen aus ihrem Gesicht, seufzte und starrte wieder auf das Aufgabenblatt. Erörtern Sie, welche Faktoren gegen Ende der Weimarer Republik die politisch radikalen Kräfte am linken und rechten Rand stärkten.
Schon seit einer Stunde saß sie am Schreibtisch und hatte nichts Gescheites zu Papier gebracht, konnte sich einfach nicht konzentrieren. Diese E-Mail … sie hatte sie mehrmals gelesen, wusste nicht, was sie davon halten sollte. Dennoch, die Neugier war da, hatte sie sofort gepackt und nicht mehr losgelassen.
Zeit, eine Entscheidung zu treffen.
Chiara griff ihr Handy, öffnete ihr Postfach, klickte auf Weiterleiten und schickte in direkter Folge eine Kurznachricht. Sid, schau mal in deine Mails …
Ich saß am Schreibtisch und versuchte, das Wirrwarr an Arbeitsblättern und Büchern in Ordnung zu bringen, als ich Chiaras Nachricht sah. Auf dem Plattenteller rotierte Stings Desert Rose. Das Stück erinnerte mich auf wundersame Weise an Marrakesch im letzten Jahr. Die Farben und Gerüche der Medina. Die flirrende Hitze während der Mittagszeit. Die staubigen, rostroten Berge des Ourikatals. Die Wüste, die wir in der Ferne erahnten, uns aber nicht mehr anschauen konnten.
Mit Ach und Krach hatte ich den Sprung in die Oberstufe geschafft und mich damit selbst überrascht. Mittlerweile heftete ich von Zeit zu Zeit meine Sachen ab, um einigermaßen den Überblick zu behalten. Chipstüten, Flaschen, alte Brotdosen oder Socken sammelte ich nun einmal in der Woche zu einem Haufen zusammen, damit man durch mein Zimmer kam. Meine Mutter ließ mir nach den Ereignissen im letzten Herbst weniger Freiheiten als vorher, kontrollierte immer wieder, was ich gerade machte, und fragte mir Löcher in den Bauch. Nach und nach hatte sie herausbekommen, was ich auf meinem heimlichen Trip erlebt hatte. Fast alles … Auch Chiara hatte ihr das Ende unseres Abenteuers nicht vollständig verraten. Sie war im Januar aus Italien angereist und drei Tage bei uns zu Besuch gewesen. Seitdem sie ihren Schulabschluss nachholen wollte, tauschten wir uns manchmal zu einigen Fächern aus. Mama fand Chiara daher echt okay, ich glaube sogar, sie mochte sie richtig gern.
Ich klickte mein Postfach an. Eine weitergeleitete E-Mail. Beim Absender hielt ich die Luft an: Tory!
Verehrte Signorina Chiara,
um Sid nicht erneut in Schwierigkeiten zu bringen, möchte ich Sie zuerst anschreiben. Zudem entschuldige ich mich, mich so lange nicht gemeldet zu haben. Das Alter schlägt allmählich erbarmungslos zu, und ich war gesundheitlich eine ganze Weile nicht auf der Höhe. Lange habe ich darüber nachgedacht, ob ich Sids Wunsch nachkommen und ihm mehr über mich erzählen soll. Ausschlaggebend war die beiliegende Anzeige. Sie hat alte Erinnerungen geweckt und mir gezeigt, wie wenig Zeit noch bleibt.
Wie Sie wissen, weile ich bereits viele Jahrzehnte auf dieser verrückten Welt. Von einigen meiner Reisen habe ich Ihnen im letzten Jahr in Marrakesch berichtet, vieles jedoch offengelassen.
Sie könnten zusammen mit Sid Licht ins Dunkel bringen, wenn Sie das weiterhin wollen.
Es soll eine Reise sein, auf der Sie meine Jugend enträtseln können. Es wird aber nicht nur Schönes bei der Recherche herauskommen. Manches davon habe ich lange verdrängt. Außerdem wird Sid etwas über sich selbst herausfinden und begreifen, warum ich gerade ihn ausgesucht habe.
Ich muss Sie jedoch warnen und dies bedenken: Sollten Sie die reine Leichtigkeit in den folgenden Herbstwochen suchen, wäre eine andere Reise besser. Siegen hingegen Ihre Neugier und Abenteuerlust, will ich Ihnen folgende wichtige Fragen beantworten: Wohin soll es gehen und wie lange soll es dauern?
Die erste Etappe ist nicht weit: Sie führt nach Venedig.
Die darauffolgenden Ziele sind abhängig von dem, was Sie herausfinden oder herausfinden wollen. Es liegt in Ihrer Hand. Die zwei Wochen Herbstferien dürften reichen. Allerdings sollte Sids Mutter diesmal informiert und einverstanden sein.
Denken Sie in Ruhe darüber nach und setzen Sie sich mit Sid in Verbindung. Wenn Sie eine Entscheidung getroffen haben, lassen Sie sie mich dies wissen. Egal, wie sie ausfällt.
Es grüßt Sie herzlich
A.S. Tory
Im Anhang befand sich eine Gratulationsanzeige.
Wir gratulieren zum 95.
Margarethe Reuters geb. von Berneke
1.9.1923
Familien von Berneke und Reuters
Berlin im September 2018
Ich starrte aus dem Fenster. Die Herbstferien im letzten Jahr, Torys E-Mail, meine heimliche Reise. London. Italien, wo ich Chiara kennenlernte. Unser gemeinsamer Trip nach Frankreich, Marokko und Holland. Die Suche nach einer alten Vinylsingle und drei Brüdern, die plötzlich so endete, wie es keiner geahnt hatte. Und am Schluss die Erkenntnis, dass es einen Mister A. S. Tory überhaupt nicht gab.
Über ein halbes Jahr hatte ich keine Nachricht mehr von ihm erhalten und trotz aller Rechercheversuche nichts über ihn herausgefunden. Die Frage, wer er war, beschäftigte mich nach wie vor. Wenn er meinte, es ginge ihm nicht gut, musste dies stimmen. Wollte ich mehr über Tory erfahren, blieb nicht mehr viel Zeit. Italien und Venedig … Es gab für die beiden nächsten Wochen keine Reisepläne. Dass Mister Torys Vergangenheit mit Italien zu tun hatte, war seltsam. Diese Anzeige aus Berlin. Was bedeutete sie? Wer war Margarethe Reuters? Tory lebte in einer piekfeinen Gegend von London, in Kensington. Obwohl er erstaunlich gut deutsch sprach, hatte ich in ihm einen waschechten Engländer gesehen. Dann diese Warnung: Sollten Sie die reine Leichtigkeit in den folgenden Herbstwochen suchen, wäre eine andere Reise besser. Eine Vorsichtsmaßnahme nach den Erfahrungen im letzten Jahr?
Außerdem wird Sid etwas über sich selbst herausfinden und begreifen, warum ich gerade ihn damals ausgesucht habe. Damit hatte er mich endgültig gepackt … Auch die Möglichkeit, Chiara zu treffen, wäre es wert …
Ich musste wissen, was Chiara davon hielt. Oft hatte ich mich mit ihr über den Trip im letzten Jahr ausgetauscht. Sie war von Tory beeindruckt gewesen und dennoch in ihrem Urteil über ihn zwiegespalten geblieben. Genau wie mich interessierte sie seine wahre Geschichte und Herkunft, warum er unter dem falschen Namen »Mr. Tory« aufgetreten war und ausgerechnet mich ausgewählt hatte. Wieso hatte er so wenig von sich erzählt? War er jemals verheiratet? Hatte er Geschwister oder Kinder?
Ich schickte ihr eine Kurznachricht zurück. Und – was meinst du? Nachdenklicher Smiley.
Chiara schien auf meine Antwort gewartet zu haben. Du entscheidest. Wenn du fahren willst, bin ich dabei … Du bist bei mir eingeladen, okay? Zwinkergesicht.
Ich schrieb: Ja klar! Ich erzähle auch nichts von Tory! Und fügte einen Smiley mit Reißverschlussmund hinzu.
Chiaras Antwort kam prompt. Super! Sieh zu, dass du deine Mutter überzeugen kannst! Ich drücke dir die Daumen!
Es war dann alles andere als einfach. Natürlich war meine Mutter nicht begeistert. Sie erinnerte mich an den letzten Herbst und ihre Ängste, als sie mein Verschwinden bemerkte. Sie verwies auf die vierwöchige Kanadareise. Papa war vor drei Jahren ausgewandert und lebte dort sein neues Leben. Ich wusste, dass ein Urlaub in den Herbstferien nicht in Betracht kam. Obwohl mein Vater einen Großteil des Sommerurlaubs übernommen hatte, war allein der Flug zu teuer gewesen, um direkt wieder zu verreisen.
Mama telefonierte mit Papa, um auch seine Meinung einzuholen. Nach dem Gespräch sah sie unzufrieden aus. »Na ja, du kennst ihn ja. Wie soll ausgerechnet ein Aussteiger wie er dich davon abhalten, wegzufahren?«, und ließ sich im Anschluss die Nummer von Chiara geben.
Während des Telefonats lief ich nervös vor ihrem Arbeitszimmer auf und ab. Es dauerte entsetzlich lange. Endlich kam sie aus ihrem Zimmer, mit geröteten Wangen. Ich überlegte, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war, da huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.
»Chiara ist genial, das muss ich zugeben.«
Ich schaute sie fragend an: »Und?«
»Sie hat es tatsächlich geschafft, mich zu überreden, sie meint, du bräuchtest unbedingt eine Auszeit von der Schule. Italien wäre ideal dafür. Und sie würde mit dir Französisch lernen.« Mama lachte kurz auf. »Es fällt mir schwer, aber ja. Du darfst fahren. Auch nach Venedig. Chiara sagt, da würde eine Tante von ihr wohnen. Aber du meldest dich zurück! Und mach keine krummen Sachen! Ich will nicht, dass dich am Schluss wieder ein Kommissar nach Hause bringt. Das musst du mir versprechen!«
»Natürlich. Mach dir keine Sorgen! Danke!« Ich fiel meiner Mutter um den Hals, was nicht mehr leicht gelang, da sie mittlerweile ein gutes Stück kleiner war als ich. Sie wehrte schwach ab, lächelte aber.
Dann eilte ich in mein Zimmer zurück, und konnte mir ein lautes, jauchzendes »Jipp« nicht verkneifen. Ich schickte Chiara drei Daumenhoch mit Lachgesicht als Nachricht, woraufhin sie mit einem Zwinkergesicht antwortete. Ich nahm die LP von Sting vom Plattenteller, fischte Somethingjust like this heraus und startete laut die Musik. Am Laptop suchte ich nach einem Flug von Hannover nach Pisa. Abends packte ich meine Sachen. Für Kanada hatte ich einen neuen großen Reisekoffer bekommen. Den alten zerschlissenen Rucksack vom letzten Jahr nahm ich trotzdem dazu, aus rein nostalgischen Gründen.
Die zwei Schultage vergingen schnell.
Am Samstagmorgen war es so weit. Meine Mutter brachte mich zusammen mit meinem Bruder Ferdi zum Flughafen. Kurz vor der Sicherheitskontrolle drückte sie mich fest.
»Du machst wirklich keine Dummheiten?«
Ich schüttelte den Kopf und gab ihr einen Kuss – das machte ich sonst nie – und brachte Mama damit vermutlich aus der Fassung, knuffte Ferdi, der die ganze Zeit ratlos dabeistand, in die Seite und versprach ihm: »Ich bring dir ein Inter-Mailand-Trikot mit, okay?«
Ferdi nickte. Dann winkten sie, ich passierte den Kontrollbereich und lief zum Gate.
Den Jungen auszuwählen, war eine spontane Entscheidung. Der Name. Auffällig. Und mir so vertraut. Eine Liaison aus deutschem Heldentum und Sagen. Siegmund … Siegfried … Sagenroth …
Nein, ich wollte mich lange Zeit nicht erinnern, will ich das heute?
Diese zweite Reise … Eigentlich war ich im letzten Jahr davon überzeugt, dass es eine einmalige Sache gewesen war. Warum dann doch? Sentimentalität? Angst, vergessen zu werden? Um die Dinge endlich richtigzustellen? Weil es leider wieder aktuell ist? Weil es wieder beginnt, und ich es nicht ertragen kann, auf meine alten Tage zuzusehen?
Nach einem kurzen Zwischenstopp in Stuttgart landete ich zur Mittagszeit in Pisa. Am Himmel tummelten sich ein paar Schäfchenwolken. Milde Luft empfing mich.
Ich musste nicht lange suchen. Chiaras Rotschopf war in der Menge der Wartenden leicht zu erkennen. Ihr Look war unverändert. Schwarze Cargohose, ein T-Shirt mit frechem Spruch, I freak myself out, darüber eine Lederjacke, das funkelnde Nasenpiercing, die grünen, leuchtenden Augen, die lustigen Sommersprossen und beim ersten Grinsen ihre unverkennbare Zahnlücke.
Wir skypten regelmäßig. Unser letztes Treffen lag aber ein Dreivierteljahr zurück. Ich vergesse nicht die neugierigen Blicke und Kommentare meiner Klassenkameraden, als sie am Schultor stand und mich abholte. Marlon pfiff kurz durch die Zähne, Felix und Tom zogen Grimassen und feixten: »Aha, Sid hat ’ne heimliche Freundin!« und der dümmste Spruch kam von Gregor. »Der kleine Siegmund wird von seiner Mami aus dem Kindergarten abgeholt.« Worte, für die ich normalerweise eine Prügelei riskiert hätte. Ich schaffte es nur knapp, mich zusammenzureißen.
Es war eine Mischung aus »Oh Gott, ist das peinlich!« und »Sie ist echt cool, oder?«, die mir durch den Kopf ging.
Die meiste Zeit versuchte ich, es zu verdrängen. Aber … von Anfang an gefiel mir Chiara. Das Selfie von uns beiden aus Italien hatte sie mir geschickt und ich schaute es mir oft an.
Im Januar zeigte ich Chiara Hannover, wir waren im Kino, zockten am PC, hörten fast meine gesamte Plattensammlung, waren zusammen mit meiner Mutter und Ferdi beim besten Italiener der Stadt, gerade gut genug, um jemandem, der von der toskanischen Küche verwöhnt war, gerecht zu werden, und unterhielten uns ungeheuer viel. Das konnte man mit ihr hervorragend. Wir sprachen über unsere Patchworkfamilien. Ich über Papa und sein neues Leben in Kanada. Chiara von ihrer Mutter in Hamburg und ihrem Vater in Campeto. Ich fragte sie, ob er eine neue Freundin hätte. Chiara zuckte mit den Schultern. »Ab und zu nimmt er sich eine Auszeit und fährt auch mal weg. Er spricht nicht großartig darüber. Im Sommer war Mama bei uns. Fast hatte ich das Gefühl, sie wären sich wieder nähergekommen.«
Mein Bruder Ferdi benahm sich wie so oft ziemlich albern, schoss, während wir auf dem Zimmer waren, Flieger rein, platzte mit seiner Clone Trooper-Maske herein und führte Scheingefechte durch, was mich tierisch nervte, Chiara aber stets zum Lachen brachte.
Am letzten Tag fragte ich sie vorsichtig, ob sie einen Freund habe.
Sie zögerte mit ihrer Antwort.
»Es gab da ein paar … aber ich glaube, ich bin einfach kein Mensch für was Dauerhaftes. Typisches Kind getrennter Eltern halt.« Mehr erzählte sie nicht, und ich wagte nicht, weiter nachzufragen. Wie es aktuell aussah, wusste ich nicht. Bei mir war kurze Zeit was mit Alina aus der Parallelklasse gelaufen. Aber irgendwie hatte das mit uns nicht funktioniert. Ohne es zu wollen, verglich ich alle mit Chiara und dabei schnitten unweigerlich die meisten in meinem Alter schlecht ab. Entweder waren sie mir zu albern oder gefielen mir einfach nicht so. Obwohl sie nicht dem Durchschnitt entsprach – nicht diese langen glatten Haare wie fast alle anderen Mädchen hatte und auch nicht deren Einheitslook trug – hatte sie was, keine Frage. Ich fand sie auf jeden Fall klasse.
Als sie mich am Flughafen begrüßte, versuchte ich diese Gedanken zu verscheuchen.
»Hey, schön dich wiederzusehen. Wie war dein Flug?« Chiara umarmte mich kurz.
»Danke. Der Flug war okay, die Zeit ging schnell rum.«
Chiara musterte mich aufmerksam. »Sag mal, du bist noch größer und kräftiger geworden, kann das sein?«
Verlegen murmelte ich vor mich hin. Tatsächlich überragte ich sie mittlerweile ein gutes Stück. Wie die meisten Italienerinnen war Chiara eher klein und zierlich.
»Sieht gut aus.« Sie grinste mich an.
Vielleicht merkte sie, dass mich das verwirrte. Jedenfalls ging sie zackig wie immer zu anderem über. »Allora, lass uns keine Zeit verlieren und nach Campeto fahren.«
Ihren alten Pick-up hatte sie also immer noch. Die Karre hatte uns letztes Jahr bis nach Südfrankreich gebracht. Mir kam es vor, als wäre sie noch rostiger geworden. Zügig nahm Chiara meinen Reisekoffer und den Rucksack entgegen und verstaute beides hinter den klapprigen Sitzen. Nicht ohne eine flapsige Bemerkung zu machen. »Aha, der Herr reist jetzt mit Koffer.«
An die Strecke erinnerte ich mich gut. Dieses Mal konnte ich die Fahrt mehr genießen. Damals hatte mich Chiara ein wenig eingeschüchtert und ich wusste nicht, was mich erwartet.
Nun freute ich mich auf Campeto, auf Chiaras Großmutter Ludovica, ihren Vater Federico, die Taverne.
»Wann sollen wir nach Venedig aufbrechen? Bei mir hat sich Tory noch nicht gemeldet? Bei dir?«
Chiara warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ja, hat er. Spätestens am Montagmorgen müssen wir los. Ich vermute, dass es ihm zu heikel war, dich zu kontaktieren. Immerhin könnte es sein, dass deine Mutter deine E-Mails kontrolliert. Könnte ich bei einem Ausreißer wie dir durchaus verstehen.«
Ich gab ein kurzes Grummeln von mir. Meine Mutter hatte das tatsächlich ein paar Mal versucht, sogar darauf bestanden, dass ich ihr das Passwort für den Laptop und mein Mailpostfach gebe. Aber das war nur in den ersten Monaten, danach war es ihr zu anstrengend geworden. Und es waren auch keine Nachrichten mehr von Tory gekommen.
»Er hat mir eine weitere kryptische E-Mail geschickt. Mit einem alten Plan von Venedig und zwei Fotos.«
»Du machst mich neugierig.«
»Allora, ich werde dir alles zeigen, sobald wir zuhause sind.« Chiara grinste mich an. »Ich bin genauso gespannt wie du. Aber bitte kein Wort zu meinem Vater. Er weiß genauso wenig wie deine Mutter. Und vermutlich ist das besser so.«
Was hatte es mit der Venedigreise auf sich? Die Frage ließ mich nicht los. Eine Weile schwiegen wir. Wie im Vorjahr hatte Chiara ihr Transistorradio dabei und es lief Creep von Radiohead. Ein Song, der definitiv kein Rumgequatsche vertrug. Zudem sang sie entsetzlich falsch, dafür lautstark, mit.
Nach den zahlreichen Kurven, die sich von der Küste aus in das toskanische Hinterland schlängelten, war mir wieder etwas übel. Doch als ich in der Ferne die dicht aneinander geschmiegten, hellbraunen Häuser, die hohen Pinien und Zypressen und weitreichenden Hügel mit Weinstöcken erkennen konnte, war es fast wie nach Hause zu kommen. Wir tuckerten durch die schmalen Gassen, bis wir die Toreinfahrt der Taverna Da Rosa erreichten. Der kleine Innenhof lag an diesem Spätnachmittag im Schatten, aus den Fenstern des unteren Gebäudes leuchtete warm das Licht aus der Taverne. Die Katzenfamilie schien Zuwachs bekommen zu haben. Eine kleine Schwarz-Weiße, die ich letztes Jahr noch nicht gesehen hatte, saß zwischen den Tontöpfen im Hof und lugte neugierig hervor. Die beiden Grauen lagen in den Fenstersimsen und sprangen uns entgegen, als wir knatternd anhielten. Chiaras Vater erschien in der Tür.
»Benvenuto Sid!«
Graue Schläfen, gebräunte Haut, ein großer, schlanker, stolzer Italiener mittleren Alters. Federico hatte mir schon letztes Jahr imponiert.
»Deer wilde Schweinehelde!« Ein Grinsen zog über sein Gesicht. Chiaras Grinsen. Die Anspielung auf meine Flucht vor dem großen Cinghiale ließ mich erröten. Federico war damals nicht so begeistert davon gewesen, dass ich um ein Haar eine unschöne Begegnung mit einem ausgewachsenen Wildschwein gehabt hätte und sie daher die Jagd vorzeitig abbrechen mussten. Aber er hatte mir zum Abschied einen Stoßzahn des Keilers geschenkt, der seitdem mein Talisman war und den ich auch jetzt an meinem Rucksack befestigt hatte.
Wir betraten den Gastraum. Die Tische waren für den Abend gedeckt. Rot-karierte Tischdecken. Weiße, zu Mützen gefaltete Servietten. Glänzende Weingläser in verschiedenen Größen. Die in den Wandvertiefungen des alten Gemäuers eingelassenen Leuchter spendeten ein warmes Licht. Ich erinnerte mich an meinen ersten Abend hier, das erste Glas Wein, Chiaras Verwandte und Freunde, einen völlig anderen Alltag als bei uns zuhause. Es waren angenehme Erinnerungen. Ludovica kam mir freudestrahlend entgegen und holte mich aus meinen Betrachtungen. Die kleine Frau umarmte mich und bedachte mich dann mit einem Schwall italienischer Sätze, denen ich kaum folgen konnte. Ich hatte mir in den letzten Monaten Mühe gegeben, etwas mehr Italienisch zu lernen, dennoch war mir das einfach zu schnell, ich verstand aber so viel, dass sie ihre Freude zum Ausdruck bringen wollte, mich nach so langer Zeit wiederzusehen. Nachdem ich mit Gesten und verschiedensten Sprachbrocken Ludovica und Federico begrüßt hatte, deutete Chiara an, dass es Zeit wäre, mein Zimmer zu beziehen. So folgte ich ihr die schmale Treppe zu den kleinen Gästezimmern hoch. Meins lag wie im vorigen Jahr ihrem Zimmer gegenüber. Ich stellte mein Gepäck ab und schon zog sie mich in ihren Raum. Auf ihrem Schreibtisch lagen drei Bilder und eine ausgedruckte Mail. Neugierig näherte ich mich. Chiara nahm den Papierbogen mit der E-Mail und gab ihn mir. Ich setzte mich auf ihren Schreibtischstuhl und las.
Verehrtes Fräulein Chiara, lieber Sid,
es freut mich, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind. Vielleicht können Sie mir mit Ihrer Suche Fragen, die ich mein Leben lang hatte, beantworten und die Mauer, die ich um meine Vergangenheit errichtet habe, einreißen. Es gab Zeiten, da hätte ich das nicht gewollt. Jetzt fühle ich mich bereit und sehe gerade Sie beide als geeignet an.
Bin ich die Summe meiner Vorfahren und meiner Vergangenheit? Oder bestimme ich selbst, wer ich sein will? Kann ich mich immer wieder neu erfinden? Was machen Freundschaft, Liebe, Hass und Schuld mit mir? Bekommt am Schluss alles einen Sinn, soll man verzeihen?
Ich weiß es nicht, aber vielleicht finden Sie beide eine Antwort.
Anbei eine Adresse, ein alter Stadtplan und zwei alte Fotografien. Ich wünsche Ihnen beiden eine gute Reise und bin gespannt, was Sie in Erfahrung bringen werden.
Mit freundlichen Grüßen
A.S. Tory
Chiara schaute mich fragend an. »Und?«
»In der Tat sehr kryptisch. Aber … macht echt neugierig. Er spricht von einer Mauer, die er um seine Vergangenheit errichtet hat. Hm … Hass und Schuld? Ob der alte Mr. Tory etwas verbrochen hat? Und was hat es mit dieser Anzeige in seiner ersten E-Mail auf sich?«
Sie zuckte statt einer Antwort mit den Achseln. Man sah ihr an, dass sie ebenfalls darüber nachgedacht hatte.
Ich nahm die Bildausdrucke in die Hand. Auf einem war ein Ausschnitt aus einem alten Stadtplan abgebildet. Auf einem anderen eine alte schwarz-weiße Fotografie mit einem Mädchen und einem Jungen, schwierig zu schätzen, vielleicht dreizehn Jahre alt, darunter zwei Namen: Greta und Fritz.
»Wer sind Greta und Fritz?«
»Ich kann es dir nicht sagen. Ist es Tory? Geschwister von Tory? Freunde? Der Junge sieht dir übrigens etwas ähnlich.«
»Hm. Er sieht mir ähnlich, naja, findest du? Aber das hier ist interessant.«
Ich nahm die Abbildung eines alten Gebäudes hervor. Daneben stand handschriftlich eine Adresse.
R. Samuel Bassani
Campiello de le Scuole 1256
30121 Venezia VE
»Damit können wir etwas anfangen. Ein Name und eine Adresse. Der alte Venedig-Plan zeigt einen Ausschnitt von Cannaregio. Ob Campiello de le Scuole 1256 die Adresse des abgebildeten Hauses ist? Das Foto ist unscharf. Man kann keine Hausnummer erkennen.«
Chiara nickte. »Es steht auch keine Telefonnummer dabei. Wir werden besagtem Herrn Bassani wohl einen Besuch abstatten müssen und hoffentlich mehr erfahren.«
»So sieht’s wohl aus … Eine andere Frage: Stimmt es, dass wir bei deiner Tante wohnen?«
Chiara lächelte. »Es stimmt fast. Emilia ist keine Tante, sondern eine Bekannte von Papa. Ich war zwar schon einmal in Venedig, vor ungefähr zwei Jahren, war jedoch nicht bei ihr, kenne sie also auch nicht. Aber Papa hat das schon geklärt. Wir können bei Emilia wohnen. Es ist nicht in Cannaregio. Aber das dürfte kein Problem sein.«
»Okay, das ist prima. Wolltest du mit deinem alten Pick-up fahren?«
»Nein, der nützt uns in Venedig eh wenig. Und wir kennen noch nicht unsere anderen Ziele. Am Montagmorgen kann uns Papa nach Pisa mitnehmen. Von dort kommen wir gut mit dem Zug nach Venedig.«
Nachdem ich meine Mutter angerufen hatte, packte ich ein paar Sachen aus dem Koffer, unter anderem Geschenke für die Familie Da Rosa. Mama hatte darauf bestanden. Eine alte LP von Mike Batt für Chiara, die sich tatsächlich im Laufe des Jahres einen alten Plattenspieler zugelegt hatte, eine Schachtel Pralinen für Ludovica und einen Hannoveraner Kräuterschnaps für Federico. Als ich die Sachen überreichte, freuten sich alle. Chiara musste bei Mike Batt schallend lachen, hatte sie mir doch Ride to Agadir auf dem Flug nach Marrakesch vorgespielt. Ludovica zeigte ihr reizendstes, zahnloses Lächeln und umarmte mich ganz fest. Federico beäugte den Schnaps erst kritisch, nahm aber direkt eine Kostprobe und lobte ihn. Chiara übersetzte mir mit einem schelmischen Lächeln, dass er gesagt hätte, es wäre zwar kein Grappa, aber dafür absolut okay.
Für den Abend hatte Ludovica ein Festessen zubereitet. Es gab Wildschweinschinken und Oliven als Vorspeise und als Hauptgericht Peposo, einen würzigen Eintopf aus verschiedenen Fleischsorten und Tomaten. Dazu frisches Weißbrot und den Hauswein. Es kamen auch Verwandte und Freunde, und es wurde damit eine mehr als turbulente Runde. Müde, aber zufrieden sank ich nach ein Uhr in mein Bett.
Am Vormittag besuchten wir Chiaras Onkel Raffaele. Ich lernte bei der Gelegenheit auch seine Frau Antonia kennen. Eine kleine, rundliche, freundliche Italienerin. Sie zeigte mir Fotos von ihren Kindern, Franka und Francesco, die beide bis zu den Winterferien im Internat waren, und erzählte von der Weinernte in diesem Jahr, die dank des heißen Sommers ausgezeichnet ausgefallen war, allerdings viel Arbeit machen würde.
Chiara und ich machten anschließend mit dem Pick-up einen Kurztrip in die nähere Umgebung. Der weite Blick in die hügelige Landschaft mit den herbstfarbenen Weinhängen war der Hammer. Kitschpostkartenidylle pur, könnte man sagen. Wir hörten dabei Musik, italienischen Pop im Wechsel mit internationalen Charts, hatten die Fenster heruntergekurbelt und genossen einfach die Zeit.
Ich schaute sie von der Seite an. Ihr wie immer verwuscheltes rotes Haar wehte im Fahrtwind, sie lachte und scherzte, summte und sang zur Musik mit, die gerade lief, ich glaube, es war so ein alter italienischer Schlager. » … dabadan, dabadan, babadan … tu …« In dem Moment wusste ich, egal, was bei unserem Trip herauskommen würde, es war klasse, Chiara wiederzusehen. Selbst wenn unklar blieb, was aus unserer Freundschaft wurde und wie aussichtslos es im Grunde war. Sie hier in Italien, ich in Hannover. Wir hatten diese zwei Wochen. Und darüber freute ich mich in diesem Augenblick irrsinnig.
Am späten Nachmittag suchten wir nach passenden Zugverbindungen für den nächsten Tag und googelten nach mehr Infos über Venedig und den Stadtteil Cannaregio.
Den Sonntagabend verbrachten wir nach dem Essen abschließend in der Sportsbar in Monteverdi. Chiara stellte mich einigen Freunden und Bekannten vor, die ich im letzten Jahr noch nicht kennengelernt hatte. Ich fragte mich, wer von ihnen schon ihr Freund gewesen war. Ein Typ namens Salvatore sah mich lange und auch etwas argwöhnisch an und fragte mit seltsamer Betonung: »Du bist also Sid?« Während die anderen recht ausgelassen und locker waren, verhielt er sich die ganze Zeit über abweisend. Trotzdem wurde der Abend ganz nett. Nach ein paar Darts- und Billardrunden brachen wir gegen elf Uhr auf, da es am nächsten Morgen schon früh losgehen sollte.
Als ich gerade das Licht ausmachen wollte, klopfte es an der Tür. Erstaunt öffnete ich. Chiara schlüpfte ins Zimmer. Schon in einer Art Schlafshirt. Grundgütiger! Ich blickte auf ein riesiges Abbild von Albert Einstein. In psychedelischen Farben. Der alte Herr starrte mir geradewegs ins Gesicht und streckte die Zunge heraus. Aber der Spruch war gut: Learn from yesterday, live for today, hope for tomorrow. Ich musste mich dennoch anstrengen, einigermaßen ernst zu bleiben. »Sehr schick, was du da anhast.«