Abendmahl für einen Mörder - Uwe Ittensohn - E-Book

Abendmahl für einen Mörder E-Book

Uwe Ittensohn

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Beschreibung

Eine Autofahrerin wird durch den Steinwurf von einer Brücke schwer verletzt. Nur die unbedachte Tat eines Jugendlichen? Stadtführer André Sartorius vermutet mehr dahinter. Als eine mysteriöse Nachricht des Täters auftaucht und man kurz darauf bei einem Mordopfer eine ähnliche Botschaft findet, ermittelt er auf eigene Faust. Aus Steinskulpturen am Domportal, theologischen Texten, Schutzpatronen, Märtyrern und Reliquien ergibt sich für ihn ein verstörendes Bild. André ist sich sicher, dass noch weitere Tote folgen werden …

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Uwe Ittensohn

Abendmahl für einen Mörder

Kriminalroman

Zum Buch

Mystische Morde Eine junge Autofahrerin wird durch den Steinwurf von einer Brücke schwer verletzt. Nur die unbedachte Tat eines Jugendlichen, wie die Polizei glaubt? Der Stadtführer André Sartorius hält den Jungen für unschuldig. Er vermutet etwas anderes hinter der Sache. Doch selbst seinem Freund, Kriminalhauptkommissar Frank Achill, sind Andrés Hypothesen zu gewagt. Als eine mysteriöse Nachricht des Täters auftaucht und kurz darauf ein Mann ermordet wird, bei dessen Leiche man eine ähnliche Botschaft findet, ermittelt André zusammen mit seiner Mitbewohnerin, der Studentin Irina, auf eigene Faust. Aus Steinskulpturen am Domportal, theologischen Texten aus dem Vatikan, Schutzpatronen, Märtyrern und den Reliquien im Dom ergibt sich für ihn ein verstörendes Bild, und er ist sich sicher, dass noch weitere Tote folgen werden. Ein atemloser Wettlauf mit der Zeit beginnt. Wird es André mit seinen unkonventionellen Methoden gelingen, das nächste Opfer vor dem sicheren Tod zu bewahren?

Uwe Ittensohn, in Landau/Pfalz geboren, ist vielseitig engagiert: Krimischriftsteller, Autor für Weinliteratur, anerkannter Berater für deutschen Wein, Kultur- und Weinbotschafter der Pfalz sowie Dozent an einer Hochschule. Er lebt in Speyer, wo er ein denkmalgeschütztes Stiftsgebäude sanierte und sich um den historischen Klostergarten kümmert, in dessen schattigen Winkeln er auch die Muße zum Schreiben findet. Mit seinem schriftstellerischen Wirken will er die Kultur, Lebensart und den im Herzen der Pfälzer verankerten Hang zu Wein und Genuss über die Grenzen der Region hinaus bekannt machen.

 

Alle Veröffentlichungen von Uwe Ittensohn im Gmeiner-Verlag finden Sie bei uns im Internet.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Frank Fischbach / shutterstock

ISBN 978-3-8392-6242-9

Zitat

Alle, die ohne Gesetz gesündigt haben, werden auch ohne Gesetz verloren gehen; und alle, die unter dem Gesetz gesündigt haben, werden durchs Gesetz verurteilt werden.

Römer 2,12

Disciplina

Freitag, 22. Dezember 2017, 2.40 Uhr, eine halbe Stunde nach der Matutin

Der flackernde Schein einer einzelnen Kerze lag auf dem bleichen Oberkörper des hageren Mannes.

»Miserere mei, Deus, secundum magnam misericordiam tuam … – Gott, sei mir gnädig nach deiner Huld, tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmen …«, deklamierte er hastig den Anfang von Psalm 51.

Nachdem er den Bußpsalm rezitiert hatte, hallte von den Wänden des Gewölbes ein gedämpftes Klatschen wider. Die kleinen Eisenkreuze, deren Kanten er spitz zugefeilt und an die Enden von drei Lederriemen geknüpft hatte, gruben sich tief in die von Narben übersäte welke Haut seines Rückens.

Nach fünf Schlägen brach er ab. Während sich das erste Blut wie Regentropfen auf die uralten Ziegelsteine, mit denen der Fußboden des Gewölbekellers ausgelegt war, ergoss, betete er inbrünstig Psalm 130: »De profundis clamavi ad te Domine … – aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir …«

Es folgten erneut fünf Schläge mit der Geißel. Dabei schien es, als würde er dieses Mal noch mehr Kraft in die ruckartige Bewegung des rechten Armes legen. Schon glich sein Rücken einem Stück weißer Leinwand, die aussah, als hätte sie ein Besessener wild mit roten Farbklecksen beschmiert.

So fuhr er fort, bis er alle sieben Bußpsalmen rezitiert hatte. Zuletzt waren ihm die Worte nur noch stöhnend über die Lippen gekommen. Zweimal hatte er sich an der Wand abstützen müssen, um nicht zu fallen. Aus der zerschundenen Haut quoll ein zäher Blutstrom, der sich mit Schweiß und kleinen Fleischpartikeln mischte, die ihm die scharfkantigen Kreuze wie die Fänge eines Raubvogels aus dem Leib gerissen hatten. Das Blut tränkte den Stoff seiner Hose und bildete auf dem Boden kleine Pfützen.

Es folgten drei letzte Schläge, die er, wie den schwindenden Kräften zum Trotz, fester, fanatischer und hasserfüllter ausführte. Insgesamt waren es 33 Hiebe – einer für jedes vollendete Lebensjahr Christi.

»Oh Herr, befreie mich vom Laster der Wollust!«, schrie er voller Verzweiflung. Dann schlug sein blutüberströmter Körper hart auf den Steinboden und blieb in einer Lache aus Blut, Schweiß und Urin liegen.

Weihnachtsstimmung

Freitag, 22. Dezember 2017, 11.05 Uhr

»Irina, steh endlich auf, du Schlafmütze!«, rief er in einem ungeduldigen Crescendo durchs Haus. Wie schon bei den beiden Malen vorher blieb alles still. Noch nicht einmal ihr übellauniges Grunzen, das ihm sonst bedeutete, dass sie schlafen wollte, war zu hören.

Eigenartig. Sie hatte sich doch gestern extrem frühzeitig ins Bett verkrochen. Blass war sie die letzten Tage gewesen. Sie hatte abgespannt gewirkt. Hatte kaum ein Wort gesprochen. Ob es die Vorzeichen einer Erkältung waren, die sich in ihrem zerbrechlichen Körper schleichend ausbreitete?

In den letzten Wochen war einiges zusammengekommen: Stress bei ihrem Betriebswirtschaftsstudium und das latente Gefühl, von ihrer Familie getrennt zu sein, die 2.500 Kilometer von Speyer entfernt in der Partnerstadt Kursk lebte. Wahrscheinlich hatte sie das in der Vorweihnachtszeit mehr als sonst belastet.

Obwohl sich normalerweise ihre Wege im Haus nur zufällig kreuzten und sie sich nicht immer beim Frühstück in der Küche trafen, hatte er gestern mit ihr vereinbart, gemeinsam einen Sonntagsbrunch einzunehmen.

Er saß schon eine Stunde am reich gedeckten Küchentisch und wartete. Merkwürdig. Es war nicht ihre Art, ihn warten zu lassen. Sie war in einer konservativen russischen Familie aufgewachsen. Dort ließ man seinen Vater nicht warten.

André schmunzelte bei diesem Gedanken. So weit war es nun schon zwischen ihnen gekommen, dass er sich mit ihrem Vater auf eine Stufe stellte. Dabei war er lediglich ihr Vermieter und das auch noch wider seinen ursprünglichen Willen. Wie schwer hatte er sich vor zweieinhalb Jahren getan, ihr das kleine Zimmer mit Bad im Obergeschoss zu überlassen und damit sein Haus mit einem fremden Menschen zu teilen. Er, der Eremit, dem es unsagbar schwerfiel, andere in seinem engeren Umfeld zu ertragen.

Mehr als einmal hatte sie ihn einen Soziopathen gescholten. Vielleicht war es gerade die Mischung zwischen ihrer vorwitzigen Direktheit, die sich häufig nicht um übliche Konventionen scherte, und einer gewissen Verletzlichkeit, die in ihm immer wieder väterliche Gefühle weckte.

Sie hatte die letzten Tage blutleer und traurig gewirkt; sollte er sich Sorgen machen? André schmunzelte erneut. Ertappt!, dachte er. Wieder verfällst du ins Grübeln, statt einfach nach ihr zu schauen.

Er erhob sich abrupt vom Frühstückstisch, übersprang jede zweite Stufe und gelangte für einen 59-Jährigen überraschend dynamisch ins erste Obergeschoss.

Zaghaft klopfte er an ihre Tür. »Irina?« Er lauschte angestrengt. »Irina, ist dir nicht gut?«

Nichts.

»Irina, ich komme zu dir rein.«

Kein Laut.

André zögerte. Er war ein zurückhaltender Mensch. Einfach so ins Zimmer seiner Mieterin zu platzen, war ihm mehr als unangenehm. Aber was, wenn sie mit Kreislaufversagen im Bett lag?

»Komm rein, alter Mann, bevor du dir da draußen Krampfadern holst, während du dir aus Angst, meinen Revuekörper nackt zu sehen, die Beine in den Bauch stehst«, brummte es von drinnen.

Er trat ein.

Vor ihm auf dem Bett saß die junge Frau, blass, melancholisch mit den Armen die Knie umklammernd und mit einer Decke über den mageren Schultern.

»Ist dir nicht gut?«, wiederholte er seine Frage. »Soll ich dir einen Tee machen?«

»Oh Mann, lass mich in Ruhe. Du hörst dich an wie meine Mutter. Geh raus, Bäume umarmen, wenn du jemanden bemuttern willst.« Ihre Stimme klang heiser und kraftlos. Ihr müdes Lächeln reichte kaum aus, die spitze Ironie, die in ihren Worten lag, zu flankieren.

»Hast du geweint?«, fragte er, als er auf ihren Wangen angetrocknete Tränenspuren wahrnahm.

Sie antwortete nicht – nur ihre Augen glänzten.

Er wusste, dass es Irina schwerfiel, über das zu sprechen, was sie bedrückte. Sonst war sie offen, hin und wieder eine Spur zu direkt, aber in Situationen wie dieser war sie verletzlich und verschlossen. Vielleicht entsprach es auch nur der russischen Natur zu leiden, ohne zu klagen.

Wortlos setzte er sich neben sie aufs Bett und legte den Arm um ihren hageren Oberkörper. »Raus damit! Welche Laus ist dir über die Leber gekrochen?«

Irina blieb still – zögerte. Dann griff sie neben sich in die Nachttischschublade, zog ein rosa Formular heraus und schnippte es vor ihn aufs Bett.

»Diese Laus!«, sagte sie mit einem vorwurfsvollen Unterton, so als wäre André dafür verantwortlich.

Er nahm das Papier und las die wichtigsten Passagen laut vor: »Verordnung von Krankenhausbehandlung, Ektomie Adnextumor …«

André hatte das Gefühl, als würde die Faust eines Preisboxers in seiner Magengrube landen. »Du … du hast …«, stammelte er mit halb geöffnetem Mund.

»Nein, hab ich nicht – hoffe ich jedenfalls. Der Arzt meinte, es sei eine gutartige Zyste in meinem Eierstock.«

André schluckte.

»So, jetzt weißt du mehr als meine Eltern.«

Er nickte, unfähig, etwas zu sagen. Es ging ihm nahe, die Angst und Unsicherheit in den Augen dieses dünnen, zerbrechlichen Wesens vor sich zu sehen. Er hatte wenig Routine darin, Menschen zu trösten, war er doch nie verheiratet gewesen oder hatte gar die Verantwortung für ein eigenes Kind getragen.

»Trotzdem muss sie raus«, unterbrach sie seine Gedanken.

»Wer?«, fragte er abwesend.

»Na, die Zyste, du Schnarchnase!«

»Ach so, klar«, stotterte er, schloss sie in die Arme und drückte sie an sich.

Er hörte, wie sie schluchzte, eine Träne tropfte auf seine Hand.

»Und meine Eltern sind so weit weg, ich kann es ihnen nicht mal erzählen. Sie würden sterben vor Angst.«

»Musst du auch nicht, ich bin ja hier bei dir.« Dabei klopfte er ihr aufmunternd auf die Schulter.

Todeskampf

Dienstag, 26. Dezember 2017, 17.48 Uhr

Dunkelheit, Smog und Nieselregen hatten sich wie schwarzer Samt über die Stadt gelegt und verschluckten jeden Laut. Es war ihr schwergefallen, ihre Mietwohnung in dem heruntergekommenen Wohnblock am Rande der maroden Hochstraße, die sich quer über das Ludwigshafener Stadtgebiet zog, zu verlassen. Sie hatte sich nur an Heiligabend und am ersten Weihnachtsfeiertag etwas Freizeit gegönnt. Freizeit verleitete doch nur dazu, Bedürfnisse zu wecken, die man nicht befriedigen konnte, und Geld auszugeben, das man nicht hatte. Es war fast befreiend gewesen, als schließlich jener Stammkunde anrief, den sie, seit sie in Deutschland war, kannte. Es war ein gebildeter Mann, dem es aufgrund seines Alters mehr um Nähe als um Sex ging. Ja, er sprach sogar etwas russisch und hatte ihr am Anfang geholfen, hier Fuß zu fassen. Er war ein komischer Kauz, manchmal war er ihr unheimlich, trotzdem war er der Einzige, mit dem sie ihr Geheimnis, das sie nach wie vor belastete, geteilt hatte. Die anderen Mädchen hier waren ihr zu grob oder zu oberflächlich, um solche intimen Dinge mit ihnen zu teilen. Irgendwie war der alte, weise Mann so etwas wie ein Beichtvater für sie. Deshalb hatte sie sich auch ohne Widerstand breitschlagen lassen, für ihn, der sich wohl ähnlich einsam fühlte wie sie, ihren Arbeitsplatz in jenem Speyerer Club aufzusuchen. Doch noch war sie auf der regennassen B 9, die sich westlich um das Stadtgebiet von Speyer schmiegte, unterwegs. Sie fuhr nicht gerne Auto – schon gar nicht im Dunkeln und bei diesem Wetter.

Ein Schatten von oben, ein Knall wie ein Pistolenschuss, ein Schlag auf die Brust, wie von einem Riesen ausgeführt, der ihr die Kraft zum Atmen nahm. Für einige Sekunden hatte sie das Empfinden, in einer Waschtrommel zu sitzen und ohne eigene Kontrolle herumgewirbelt zu werden. Sie spürte warme Nässe, dann hüllte Dunkelheit sie ein.

Wache Augenblicke folgten, blaue Lichtreflexe, die um sie herumtanzten, Stimmengewirr, jemand, der ihre Hand drückte, sie aus dem wohligen, alles verdrängenden Schlaf, in den sie gefallen war, reißen wollte. Der Griff in ein gestärktes Laken, angenehm, sauber, vertraut. Dann schlief sie tief, fiel in Träume, die sich durch ihr Leben zappten. So musste es sein, wenn man an die Pforte des Todes klopfte.

*

Die Weihnachtsfeiertage troffen vorbei wie zäher Honig. André hasste diese Tage, an denen alles ruhte. Keine Stadtführung, die einem das Gefühl gab, mitten im Leben zu stehen, kein Geschäft, durch das man bummeln konnte, und keine gemütliche Weinstube, in der man sich an einem samtigen Pfälzer Rotwein laben konnte. Stattdessen hatte er entschieden, die tatenlosen Stunden der Unsicherheit und Angst mit Irina zu teilen.

Am Anfang hatte er ihre ängstlichen Fragen, was denn wäre, wenn es sich nicht nur um eine harmlose Zyste handelte, mit humoriger Leichtfüßigkeit abgewiesen. Nun, nach drei Tagen stiller Untätigkeit, hatte die Depression, die wie ein unsichtbarer Nebel im Haus hing und sie wie eine morbide Aura umhüllte, auch von ihm Besitz ergriffen. Schlechte Nachrichten in feiertäglicher Ruhe waren besonders schwer zu ertragen und lagen nicht selten wie Blei auf der Seele. Es kostete ihn immer mehr Energie, Irina wenigstens ein bisschen aufzumuntern. So wurde es unsäglich still, Irinas Lachen, die Geräusche, die sonst ihr jugendlich ungestümes Verhalten begleiteten, waren verstummt. Einzig die antike Pendeluhr an der Wand durchbrach mit ihrem monotonen Ticken die Grabesruhe.

Erwachen

Dienstag, 2. Januar 2018, 11.20 Uhr

André bemühte sich, nicht zu rennen. Man hatte ihm am Telefon gesagt, die Operation sei gut verlaufen und Irina würde wohl bald aufwachen.

Er wollte auf keinen Fall, dass sie alleine mit ihrer Ungewissheit die Augen aufschlug.

So hatte er sich Hals über Kopf in sein Auto geworfen und war quer durch die Stadt zum Diakonissenkrankenhaus gebraust. Er marschierte am Empfang vorbei, vorbei an der kleinen Tafel mit den heutigen Geburten. Für einen Sekundenbruchteil wunderte er sich über die dort aufgemalten Namen, die ihn eher an die Helden von Fantasyfilmen als an die Rufnamen veritabler Kinder erinnerten. Er stürzte über die endlosen Flure des Krankenhauses, mit den aufgeklebten gepunkteten roten, blauen und gelben Linien auf dem Boden, die Patienten und Besucher sicher an ihr Ziel bringen sollten. Sie schafften es nicht, in den bewussten Raum seines Geistes zu gelangen, der einzig dafür reserviert war, sich um Irina zu sorgen. Stattdessen riefen sie in seinem Unterbewusstsein Assoziationen zum U-Bahn-Netzplan einer Großstadt hervor. Das war typisch für ihn. Wie ein Eisberg, der nur zu einem Siebtel über Wasser lag und mit dem Rest darunterhing, war auch sein Denken strukturiert. Während die Kapazitäten seines Gehirns für alles Bewusste begrenzt waren und sich seine mangelnde Multitaskingfähigkeit oft darin äußerte, dass er zögerte und stockte, waren bei ihm die für das Unterbewusstsein reservierten Synapsen geradezu verschwenderisch vorhanden. Er war in der Lage, unzählige Informationen gleichzeitig aufzunehmen, assoziativ nach Gesetzmäßigkeiten und Mustern zu scannen und zu speichern. Dies sorgte dafür, dass er für andere oft verwirrt und zerstreut wirkte, als könne er ihren Ausführungen gerade nicht folgen, zeitgleich saugte er aber wie ein Schwamm Informationen aus seiner Umgebung auf und verarbeitete sie.

So war es auch jetzt. Während er einerseits im unbewuss­ten Teil seines Denkens die Linien mit allen ihm bekannten U-Bahn-Netzplänen abglich, verlief er sich zwangsläufig und fand erst nach zwei Nachfragen die Gynäkologische Station der Klinik.

Ohne weitere Panne erreichte er das Zimmer mit der Nummer, die ihm die freundliche Schwester am Telefon durchgegeben hatte. Er klopfte vorsichtig an und trat ein. Gleich im ersten Bett an der Tür lag Irina, wächsern und zerbrechlicher als sonst. Sie hatte die Augen geschlossen.

Er zog sich einen Hocker heran, setzte sich neben das Bett und ergriff ihre kalte, feingliedrige Hand. Er musste unwillkürlich schmunzeln, als ihm klar wurde, wie sie wohl normalerweise die väterliche Geste mit einem frechen Kommentar quittieren würde.

Stattdessen schlief sie friedlich und reagierte nicht weiter. Er hoffte inständig, dass die OP keine negativen Erkenntnisse zutage gebracht hatte.

Er versuchte, die finsteren Gedanken zu vertreiben, und ließ den Blick ziellos durchs Zimmer schweifen.

Während das mittlere Bett mit einer Folie abgedeckt war und offensichtlich für den nächsten Patienten bereitstand, erkannte er im hinteren Krankenbett am Fenster eine junge Frau. Ihm war beim Hereinkommen aufgefallen, dass sie sich abgewandt und seinen Gruß nicht erwidert hatte. Auch jetzt drehte sie sich zur Seite. Ihr Gesicht verzerrte sich dabei etwas, so als verursachte ihr diese Bewegung starke Schmerzen. Dass es ihr nicht gut ging, schloss er auch aus dem Vorhandensein gleich dreier Infusionsflaschen und den dicken Pflastern, die ihr junges Gesicht entstellten. Er wandte sich schnell ab. Es war ihm peinlich, wenn seine Gegenwart bei anderen Unbehagen auslöste, und dies ganz besonders, wenn sie sich in einer prekären gesundheitlichen Situation befanden.

Wenige Minuten später trat ein junger Arzt ein. Er stellte sich als Stationsarzt vor und kontrollierte Irinas Infusion.

»Sie wird gleich aufwachen«, kommentierte er knapp ihren Zustand.

»Hat sie … ich meine, ist alles mit ihr in Ordnung?«, wandte sich André an den Arzt.

Dieser schaute ihn fragend an. »Sind Sie ein Angehöriger?«

»Ja, das heißt nein. Ich bin ihr Vermieter, aber sie hat hier sonst niemanden außer mir.«

»Sie werden verstehen, dass ich Ihnen keine Auskunft geben kann«, schnarrte der junge Arzt mechanisch die wohl tausendmal über seine Lippen gewanderte Floskel herunter.

»Ich will ja nur wissen, ob ich sie beruhigen kann, wenn sie aufwacht.«

»Das können Sie, die Operation ist erfolgreich verlaufen, und sie kann voraussichtlich in wenigen Tagen entlassen werden.«

»Das heißt, es war alles in Ordnung?«, bohrte André weiter.

»So könnte man es umschreiben«, sagte der Mediziner lächelnd. »Die nächsten 1.000 Monatsmieten sind Ihnen wohl sicher«, fügte er hinzu.

»Danke«, raunte André heiser, unsicher, ob er die letzten Worte als missglückten Scherz oder bösartige Spitze auffassen sollte.

Daraufhin ging der Arzt ans Bett der anderen jungen Frau. »Und Swetlana, wie geht es Ihnen heute? Die Schwester hat mir erzählt, das Fieber sei zurückgegangen.«

Die Angesprochene schwieg. Er tätschelte ihr kurz die Hand. »Keine Sorge, Sie werden wieder ganz gesund. Das hätte schlimmer ausgehen können.«

Wieder schwieg sie nur. Er zögerte etwas, als hätte er die Hoffnung, sie würde sich zu einer Antwort entschließen. Dann wandte er sich um und verließ den Raum.

Wenig später begannen Irinas Lider zu flattern, offensichtlich gewannen ihre Lebensgeister langsam die Oberhand über die sedierende Wirkung der Medikamente.

Sie schien Andrés Hand zu spüren und drückte sie leicht, als wollte sie ihm damit ihre Dankbarkeit ausdrücken. »Ist … ist alles okay mit mir?«, fragte sie schließlich mit heiserer, tonloser Stimme.

»Ja, das ist es, du bist bald wieder gesund.«

»Ist es kein Krebs?«, fragte sie ängstlich.

»Nein, es ist alles gut, schlaf dich ruhig aus.« Sanft strich er ihr dabei mit seinem Daumen über den Handrücken.

Über Irinas blasses Gesicht huschte ein kaum wahrnehmbares Lächeln, und sie schlief erneut ein.

Kaffeekränzchen

Freitag, 5. Januar 2018, 14.35 Uhr

»Hallo, alter Mann. Du brauchst von Mal zu Mal länger, deine rheumatischen Glieder ans Telefon zu schleppen. Ich hatte schon Angst, ich krieg Spinnweben unter dem Arm, während ich mit dem Hörer in der Hand auf dich warte.«

André lachte laut auf. »Klingt so, als würde es dir besser gehen. Ich hatte schon gehofft, sie hätten dir die Haare von den Zähnen rasiert.«

»Ging nicht, du hast doch gesagt, ich soll sie zusammenbeißen.«

»Und was für einem subtilen Bedürfnis habe ich deinen freundlichen Anruf zu verdanken? Dürstet es die Dame nach Respektlosigkeit, oder ist es nur ein schnödes Hungergefühl nach Süßwaren aller Art?«

»Mach schon, schwing deine alten Knochen ins Auto und komm. Die Dame wünscht, ins Krankenhaus-Café ausgeführt zu werden. Wir haben zu feiern.«

»Klingt gut, und was gibt’s zu feiern?«

»Erfährst du gleich, beeil dich!«

»Wie könnte ich eine so charmant vorgetragene Bitte abschlagen. Würde es dir in 15 Minuten passen, meine Holde?«

»Ja, und vergiss dein Geld nicht, der Sekt hier ist teuer!«

Tatsächlich stand André nur knapp 20 Minuten später im Türrahmen von Irinas Krankenzimmer. Sie war wie ausgewechselt: Sie hatte sich einen Cardigan übergeworfen, ihr Haar war ordentlich frisiert, und ihr Teint war von einem Hauch vitaler Rosigkeit überzogen. Sie erhob sich von der Bettkante, kam auf ihn zu, umarmte ihn und hauchte ihm rechts und links ein Küsschen auf die Wange. »Danke, alter Mann.«

Im Augenwinkel nahm er wahr, dass sie die junge Frau vom Bett am Fenster mit traurigen Augen beobachtete. Als er ihr nach Irinas stürmischer Begrüßung zunickte, drehte sie sich, wie schon die Tage vorher, wortlos weg.

»Lass uns runter in die Cafeteria gehen, ich brauch ein Gläschen Sekt.«

André hakte sie unter und führte sie aus dem Zimmer.

»Was ist? Warum bist du so aufgekratzt?«, fragte er sie, als endlich ein Piccolo-Sekt vor ihnen stand.

»Na, was schon? Der Oberdoc war vorhin bei mir. Die Befunde der zum Pathologen geschickten Gewebeproben sind da. Du wirst mich wohl noch etwas bei dir im Haus ertragen müssen. Es war wirklich nur eine Zyste und sonst nichts!« Dabei drückte sie Andrés Hand, und eine Freudenträne kullerte ihr über die Wange.

»War das nicht schon nach der Operation klar?«, erkundigte sich André überrascht.

Irina lachte. »Dir vielleicht, aber ich glaube so was erst, wenn ich es schriftlich habe. Schon mal was von der russischen Schwermut und der Lust am Leiden gehört?«

»Ja, hab ich. Schließlich liest man in Deutschland Dostojewski in der Schule.«

»Angeber!«

»Wo wir gerade von Schwermut reden, was ist denn mit deiner Bettnachbarin los?«

»Sie scheint starke Schmerzen zu haben«, sagte Irina betroffen.

»Was tut sie eigentlich mit den Pflastern im Gesicht auf der Gynäkologischen?«

»Sie scheint weit mehr zu haben als diese Kratzer. Sie trägt einen riesigen Verband um den ganzen Oberkörper.«

»Oh, tut mir leid«, sagte André, der sich bei seiner Neugierde ertappt fühlte.

»Sie hat bisher kaum geredet – auch mit den Ärzten nicht. Erst nachdem ich heute mit einer aus Russland stammenden Krankenschwester auf Russisch gescherzt habe, ist sie etwas aufgetaut und hat sich mir, als die Schwester weg war, vorgestellt. Sie heißt Swetlana und kommt aus der Ukraine.«

Konfusion

Montag, 8. Januar 2018, 11.20 Uhr

Seit Tagen fühlte er sich innerlich zerrissen, von übermächtigen Gefühlen entzweit. Gefühle, die nicht gegensätzlicher hätten sein können. Auf der einen Seite standen Erleichterung und Genugtuung, auf der anderen Trauer und Angst. Wie ein hilfloses Kind, das nicht weiß, ob es das Richtige getan hat oder bei seinem strengen Vater endgültig in Ungnade gefallen ist und stündlich damit rechnet, bestraft zu werden. Ob er tatsächlich im Fegefeuer zu schmoren hatte oder, im übertragenen Sinne, lebenslang von Schuldgefühlen getrieben nach und nach an Selbstvorwürfen verbrennen würde. Seit 13 Tagen und Nächten hielten diese Seelenqualen an, und er fürchtete, keine Linderung mehr zu erfahren. Er musste handeln, um vom Herrn Gnade und Absolution zu erhalten. Er würde weiter gehen als bisher, das Größtmögliche, ans unüberbietbar Grenzende, tun. Nur so konnte er Milderung und Ablass erlangen.

Seine wöchentlichen Exerzitien mit der Geißel waren zu wenig. Sie waren durch die Gewohnheit profan und nicht mehr gottgefällig geworden. Welchen Wert mochten die Leiden, die zur täglichen Übung verblasst waren, in den Augen des Allmächtigen haben. Pein, und sei sie noch so stark, die man gelernt hatte zu ertragen, verlor an Gewicht. Er musste dem Gebieter zeigen, dass er, ohne zu zögern, bereit war, die Qual ins Unermessliche zu steigern, so lange, bis es Ihm gefiele und er die Buße annahm. Der Herr würde ihm ein Zeichen senden, wenn er bereit war, ihm die Vergebung zu gewähren, dessen war er sich sicher.

Er zog mit beiden Händen, so fest er konnte, an den Schnüren, die er an den Lederriemen genäht hatte. Er hatte – so wie es seine Brüder im Opus Dei taten – den selbst gefertigten Bußgürtel um seinen rechten Oberschenkel geschlungen. In der Weise, dass sich die daran befestigten Metallspitzen tief in das welke Muskelfleisch des Schenkels bohrten. Er würde ihn fortan 33 Tage durchgängig tragen, würde damit gehen, sich setzen und schlafen, gleich, ob ihm die Schmerzen den Verstand vernebelten. Dazu würde er sich an jedem dieser Tage allmorgendlich nach der Matutin nach den Regeln der Hospitaliter mit der Geißel selbst kasteien. Fast wohlig war ihm zumute, als die Qualen an seinem Bein ihm das Bewusstsein trübten. Mit einem Mal empfing er die Botschaft, die in diesem Wohlbefinden lag. Der Herr zeigte ihm auf seine Art, dass er das Richtige tat.

*

André zwang sich, nicht zu schmunzeln. Zu bizarr und klischeehaft klang das, was ihm Irina empört schilderte.

»Es war wie in einem dieser Krimis. Vorneweg marschierte der Arzt und dann folgten zwei stämmige Typen. Man hat ihnen sofort angesehen, dass es Bullen waren. Ich frage mich, wie die überhaupt je einen Verbrecher erwischen, wenn man ihnen immer gleich ansieht, dass sie Polypen sind. Warum lassen sie es sich nicht direkt auf die Stirn tätowieren. Der Doc meinte, ich könnte meinen Koffer nehmen und draußen auf dich warten. Die Behandlung sei eh abgeschlossen«, regte sich Irina auf.

André lachte. »Erst willst du nicht ins Krankenhaus, und dann bist du sauer, wenn sie dich gehen lassen.«

»Gehen lassen ist gut. Der hat mich hochkant rausgeworfen. Wäre ich so ein Privatpatientenschnösel, hätten die sich das nicht getraut.«

»Ja, und was suchten die beiden in deinem Zimmer?«

»Eigentlich waren sie sogar zu dritt. Hinter den zwei Bullen dackelte nämlich noch eine Frau rein.«

»Und was wollten die drei?«, fragte André mit rollenden Augen.

»Sie wollten zu Swetlana.«

»Swetlana? Du meinst das große Schweigen im Bett am Fenster?«

»Ja, wer sonst?«

»Und dann musstest du raus?«, bohrte er weiter.

Irina lachte. »Hätten sie gerne gehabt. Ich musste aber noch in unserem Badezimmer nachschauen, ob ich nichts vergessen habe.«

»Und das kann natürlich dauern, wenn du neugierig bist.«

»Du sagst doch immer, ich sei chaotisch und unachtsam. Ich wollte eben sicher sein, dass ich nichts liegen lasse.«

»Welch neuer Zug an dir. Und jetzt sag schon, was sie von ihr wollten.«

Irina grinste hämisch. »Aha, der alte Mann will’s nun auch wissen. So kenne ich dich gar nicht. Kaum ist von Polizei die Rede, erwacht dein Schnüfflerinstinkt.«

»Du bist es doch, die so wichtig tut. Ich stelle mich dir ja nur zur Verfügung, damit du nach Herzenslust Klatsch und Tratsch verbreiten kannst.«

»Püh«, hauchte Irina und wandte sich gespielt beleidigt ab. »Ich muss es dir ja nicht erzählen. Dann entgehen dir eben meine Exklusivinformationen.«

»Erzähl schon, du Aushilfs-KGB-Agentin!«

»Also, die Frau hat Swetlana auf Russisch begrüßt und sich als Übersetzerin vorgestellt. Dann machte sie die beiden Bullen als Kriminalhauptkommissar Soundso und Kommissar Dingsbums bekannt.«

»Russisch? Hast du mir nicht am Freitag erzählt, sie kommt aus der Ukraine?«

»Ja, kommt sie. Aber die meisten Ukrainer sprechen ebenso Russisch wie Ukrainisch.«

»Wow, ich liebe es, wenn du mich so exakt und dezidiert informierst. Und was wollten Soundso und Dingsbums?« André deutete ein gelangweiltes Gähnen an.

»Woher soll ich das wissen? Ich musste ja irgendwann raus. Ich konnte nicht stundenlang meine Zahnbürste suchen.«

»Wie, das war alles?«

Irina nickte nur grinsend.

»Ich denke, du solltest von einer Bewerbung beim KGB absehen. Ich kenne keinen lausigeren Agenten als dich.«

»Na immerhin hab ich mitgekriegt, dass es wirklich Bullen waren. Und als ich rausging, hab ich gehört, dass sie mit ihr über den Tathergang am 26. Dezember reden wollten.«

»Soso, und was war am 26. Dezember? Was hat sie denn angestellt, deine Swetlana?«

»Keine Ahnung, du bist doch der Hobbybulle von uns.«

»Hobbybulle, was soll das denn?«

»Na, du warst es doch, der im letzten Sommer so heldenhaft dein geliebtes Speyer vor dem internationalen Terrorismus beschützt hast.«

»Ich war eben nur zur rechten Zeit am rechten Ort.« André mochte es nicht, wenn sie darauf anspielte, was letztes Jahr bei der Beerdigungszeremonie für den Altbundeskanzler vorgefallen war. Es verursachte ihm jedes Mal Magengrummeln, sich vorzustellen, dass der Extremismus auch in seiner Heimatstadt angekommen war.

Schlagzeile

Dienstag, 9. Januar 2018, 9.05 Uhr

André pfiff leise die »Rhapsodie in blue« vor sich hin, als er den Milchschaum für ihre beiden Cappuccino aufschäumte. Er war zufrieden – zufrieden, dass bei Irina alles gut ausgegangen war, und zufrieden, dass sie wieder bei ihm war. Noch vor drei Jahren hätte er, der alte Eremit, es sich nicht vorstellen können, sein Haus mit einer anderen Person zu teilen, und nun gehörte sie zu seinem Leben wie eine Tochter. Er wagte es nicht, daran zu denken, was wäre, wenn ihr Studium zu Ende war und sie nach Russland zurückkehrte oder auszog, um bei einem Partner zu leben. »Schluss mit den trüben Gedanken«, sagte er sich. Sie war hier, und er wollte das gemeinsame Frühstück genießen.

»Alter Mann, vergiss bei deinem übertriebenen Barista-Getue nicht, dass eine junge Dame am Tisch auf dich wartet. Komm endlich her, du penibler Kaffeepulverabwieger und gescheiterter Latte-Art-Fetischist.«

»Wow, wie habe ich deinen besonderen Charme nur vermisst.«

»Man nennt mich nicht umsonst ›charming Irina‹!«, gab sie zurück und lachte unbeschwert.

André seufzte – wie schön es doch war, dass es ihr wieder gut ging. Die letzten beiden Wochen, in denen oft stundenlang das Ticken der Wanduhr das einzige Geräusch gewesen war, das es zu hören gab, hatten sich wie ein Albdruck auf seine Seele gelegt. Wie auf Kommando hatte sich der graue, für den Winter in der Rheinebene so typische Hochnebel, der wie ein schmuddeliges, angegrautes Laken über der Stadt lag, etwas verzogen und ließ einen sonnigen Tag erwarten.

Als er die beiden Tassen auf dem Tisch abgestellt hatte und Irina gegenübersaß, schob sie ihm die »Rheinpost« entgegen. »Das dürfte die Sache von gestern klären«, sagte sie und wies mit dem Finger auf eine Zeitungsabbildung, auf der ein gelbes Auto mit völlig zertrümmerter Frontpartie zu sehen war. Darüber stand in großen Lettern: »Steinwurf auf junge Osteuropäerin aufgeklärt!«

André schluckte. »Du meinst, das …«

»Ja, ich denke, hier ist von Swetlana die Rede. Lies mal weiter!«

André nahm die Zeitung und las den Text darunter laut vor: »Wie der Pressesprecher des Polizeipräsidiums Ludwigshafen auf Anfrage der ›Rheinpost‹ mitteilte, ist der Steinwurf vom 26.12.2017 aufgeklärt. Wir berichteten bereits in unserer Ausgabe vom 27.12. darüber. Durch die unbedachte Tat eines Jugendlichen, der von der Brücke über die B 9, unweit der Anschlussstelle Speyer-West, einen Stein auf die darunter verlaufende Fahrbahn warf, wurde eine junge Ukrainerin schwer verletzt. Ihre Windschutzscheibe wurde durchschlagen und die 24-jährige Fahrerin erlitt lebensbedrohliche Verletzungen im Brustbereich. Sie wird derzeit im Krankenhaus behandelt, schwebt aber nicht mehr in Lebensgefahr. Obwohl der Steinewerfer die Tat weiterhin abstreitet, gilt er nach Angaben der Behörden als überführt. Indizien und eine Zeugenaussage belasten den jungen Speyerer schwer.«

»Mein Gott, das ist ja fürchterlich. Unglaublich, welche Irren sich auf den Straßen herumtreiben.«

Irina nickte. »Kein Wunder, dass sie so eigenartig war. Sie muss völlig traumatisiert sein.«

»Und dabei hatte sie noch Glück. Hier steht, dass das Auto ins Schleudern kam und gegen die Leitplanke prallte.«

»Die Arme. Und sie hatte nicht mal Besuch. Sie scheint niemanden zu haben, der sich um sie kümmert«, erwiderte Irina ernst.

Sie rieb sich mit den Händen übers Gesicht. André sah, dass sie mit den Tränen kämpfte.

»Danke, dass du für mich da warst.« Sie blickte ihn mit feuchten Augen an.

»Das hättest du für mich auch getan.«

»Aber bild dir bloß nichts drauf ein, dass du jetzt mit meinem Eierstock auf Du und Du bist.«

André lachte. Sie war wieder ganz die Alte. Angst und Unsicherheit hatten sich verflüchtigt wie der Rauch eines erloschenen Streichholzes.

»Ich werd sie auf jeden Fall diese Woche besuchen«, sagte Irina nach einer kurzen Pause entschlossen.

*

André war gleich nach dem Frühstück zu einer Stadtführung aufgebrochen. Seit seinem vorzeitigen Ruhestand hatte er dies zum Broterwerb gemacht. Natürlich reichte es alleine nicht aus, um davon zu leben. Aber mit den Früchten einer kleinen Erbschaft und der Miete für Irinas Zimmer genügte es ihm, um die Jahre bis zur regulären Altersrente zu überbrücken.

Zu dieser Jahreszeit fanden sich nur zwei- oder dreimal die Woche ein paar Hartgesottene, die dem trüben und oft feuchten Wetter trotzten. Die Gruppen bestanden häufig nur aus einer Handvoll Interessierter, was ihm die Möglichkeit gab, intensiver auf Fragen einzugehen und den einen oder anderen Exkurs einzubauen. André mochte das. Er hatte viel Zeit darauf verwendet, jedes noch so kleine Detail der Speyerer Stadtgeschichte in sich aufzusaugen. Es freute ihn, wenn er hin und wieder Aspekte beleuchten konnte, die nicht zum Standardprogramm gehörten. Die Führung heute war so ein Anlass. Der Teilnehmerkreis beschränkte sich auf ein paar pensionierte Lehrer aus Baden-Württemberg. Sie waren wissbegierig und gut vorbereitet. Eine Kombination, die es zuließ, so etwas wie einen Expertendialog entstehen zu lassen.

Er hatte deutlich überzogen. Es war schon 12.30 Uhr, als er mit knurrendem Magen beim »Mediterraneo«, einer Mischung aus Feinkostladen, Café und Restaurant, eintraf. Hierhin zog es ihn oft. Entweder vor einer Führung, um zu frühstücken, oder danach, um einen Espresso zwischendurch zu konsumieren. Heute würde es mehr brauchen, um seinen Hunger zu stillen. Er freute sich schon auf ein frisches Pastagericht oder eine bunt gemischte Antipasti-Platte.

Er hatte Glück, sein Lieblingstisch gleich neben der Tür, mit dem Blick aus dem Fenster zur Straße, war frei. Er setzte sich. Vor ihm lag – wirr zusammengefaltet – die heutige Ausgabe der »Rheinpost«. Er hasste es, wenn seine Mitmenschen unachtsam mit Dingen umgingen und sie anderen unordentlich hinterließen. Er hielt es für respektlos. Umständlich brachte er die Zeitung mit mürrischem Gesichtsausdruck in die ursprüngliche Reihenfolge und glättete sie sorgfältig mit der Handkante. Er tat dies einem inneren Zwang folgend, auch wenn die Druckerschwärze einen grauen Film auf der Haut hinterlassen würde. Er bemerkte nicht, dass Camilla, die Eigentümerin, hinter ihn trat und nachsichtig lächelnd abwartete. Sie kannte ihn schon lange und wusste um seine Schrullen.

»Das war der kleine Albertella«, sagte sie und wies mit dem Zeigefinger auf das Zeitungsfoto von Swetlanas Auto, das er vorhin am Frühstückstisch studiert hatte.

»Was? Wer?«, fragte er aufgeschreckt.

»Na, der Steinewerfer soll Marco gewesen sein. Sie wissen doch, der Jüngste von den Albertellas, denen das Eiscafé auf der Maximilianstraße gehört.«

»Wie, Sie meinen den Marco?«

»Ja, den«, wiederholte sie schmunzelnd.

»Aber woher wissen Sie …?«

Camilla lächelte mild. »In einer kleinen Stadt wie Speyer kennt man seine Landsleute.«

»Verstehe«, brummte er.

»Aber wieso kennen Sie Marco?«

»Ich bin mit seiner Mutter zur Schule gegangen. Und fast jede Woche bin ich einmal im Eiscafé und gönne mir ein kleines Eis. Marco sitzt häufig an einem der hinteren Tische und macht Hausaufgaben.«

Camilla lächelte gequält. »Die nächste Zeit wird er wohl eher in Schifferstadt im Jugendgefängnis sitzen. Die armen Eltern.«

Erst jetzt wurde André bewusst, worüber sie gerade sprachen. »Ja, aber das kann unmöglich sein. Er ist doch kein hirnloser Idiot, der mutwillig Steine von der Brücke wirft. Ich kenne ihn etwas. Ich habe ihm erst kürzlich bei den Geschichte-Hausaufgaben geholfen. Er nimmt gerade die Salier durch. Er interessiert sich sehr für die Vergangenheit unserer Stadt«, merkte er mit einer Mischung aus Überraschung und Empörung an.

Camilla zog eine Augenbraue hoch. »Verstehe. Wer sich wie Sie für Speyerer Stadtgeschichte interessiert, kann kein schlechter Mensch sein.«

»Ja – das heißt nein. Natürlich kann man das, aber er ist doch so ein aufgeweckter, netter Kerl. Der wirft doch keinen Stein von der Brücke, ohne darüber nachzudenken, was dadurch passieren kann.«

»Das meint Gina, seine Mutter, auch. Aber die Polizei ist wohl anderer Meinung und sagt, die hätten einiges gegen ihn in der Hand.«

Botschaft

Mittwoch, 17. Januar 2018, 17.15 Uhr

In den letzten acht Tagen hatten Irina und er vollends in die Normalität zurückgefunden. Sie hatte ihr Studium in Mannheim wieder aufgenommen. Er hatte eine Weiterbildung in Mainz besucht und vereinzelt ein paar Reisegruppen geführt. Die Stadt lag in einer eigenartigen Lethargie. Obwohl die Temperaturen noch immer gut fünf Grad über dem Gefrierpunkt lagen, wollte niemand freiwillig das Haus verlassen. Alles war grau und trist. Die Sonne ließ sich täglich nur minutenweise wie eine viel zu schwache Glühbirne hinter dem dicken grauen Laken des Hochnebels erahnen.

André war gerade von einem ausgiebigen Mittagsschlaf erwacht, als er Irinas Schlüssel im Türschloss vernahm.

Sie trat ins Wohnzimmer und begrüßte ihn, der in eine dicke Wolldecke gewickelt auf dem Sofa vor dem dünn vor sich hin rauchenden Kaminfeuer lag.

»Geht es dir wieder schlechter?«, fragte er besorgt, als er in ihr blasses Gesicht blickte.

»Schon gut, alter Mann. Du beginnst mich zunehmend an meine Großmutter zu erinnern. Von der musste ich auch immer solche Sprüche ertragen. Und ja, ich ziehe meinen Schal an, wenn ich rausgehe.«

»Du bist unfair, so was würde ich mir verkneifen.«

Irina lachte spöttisch. »Aus Überzeugung?«

»Nein, aus Angst vor deinem frechen Mundwerk.«

»Aber Spaß beiseite, ich bin wirklich geschafft«, sagte sie.

»Dein Studium?«

»Nein, da passt alles. Ich war eben zwei Stunden mit Swetlana im ›Café Amalie‹.«

»Oh, schön. Wann wurde sie entlassen?«

»Gestern. Sie hat mir gesagt, sie würde mich um dich beneiden.«

André lachte. »Nun, das hat sie wohl mit etwa 3,5 Milliarden Frauen auf der Erde gemeinsam.«

»Angeber. Sie kennt dich schließlich nicht. Denk dran, Frauen mögen keine Wichtigtuer.«

»Wie geht’s ihr?«, fragte André besorgt.

»Na ja, beschissen. Sie hat mir vorhin in der Toilette ansatzweise ihre Wunde gezeigt. Ihr komplettes Dekolleté und die Brustpartie wurden vom Stein aufgerissen. Sie bräuchte dringend eine kosmetische Operation, aber ihre Krankenversicherung zickt rum.«

André verzog das Gesicht und sog geräuschvoll die Luft durch die Zähne. »Für eine so junge Frau ist das bestimmt sehr übel.«

Irina nickte abwesend.

»Wann wird sie wieder arbeiten können?«, hakte er nach.

»Ich glaube, ich geh hoch und schäl mich aus diesen dicken Sachen. Ich schwitze wie ein Braten«, murmelte Irina und verzog sich, ohne Andrés Frage zu beantworten, nach oben.

Er schüttelte den Kopf und brabbelte ihr »Danke für das Gespräch« hinterher.

20 Minuten später tauchte Irina in ihrem üblichen Freizeitoutfit aus Jogginghose und Schlabberpulli auf. »Ich soll dir übrigens das zeigen«, sagte sie und hielt ihm ein zerknülltes DIN-A4-Blatt, an dessen Rand noch einige schmutzige Klebestreifen hafteten, dicht vor die Augen.

»Was zur Hölle ist das?«, erwiderte er genervt angesichts des schmutzigen Papierfetzens so nah vor seinem Gesicht.

»Der ist von Swetlana. Sie weiß damit nichts anzufangen.«

»Entsorgst du nun auch noch ihren Müll?«, entfuhr es ihm. Noch immer vermied er es, den zerknitterten Fetzen anzufassen. Es bereitete ihm Ekel, Dinge, von denen er nicht genau wusste, wo sie herkamen, in die Hand zu nehmen.

»Mann, nimm schon, der beißt nicht! Schließlich hab ich ihn auch in der Hand gehabt.«

Widerwillig nahm er das Papier zwischen die Spitzen von Daumen und Zeigefinger.

Irina lachte. »Fast schon artistisch, wie du die Berührungsfläche herunteroptimierst.«

»Holla, was ist das denn?«, raunte André, als er erkannte, dass auf das gewöhnliche Blatt Druckerpapier ein knapp streichholzschachtelgroßer Zeitungsschnipsel aufgeklebt war. Abwesend las er das einzige auf dem Blatt stehende Wort laut vor: »peccato«.

»Wow, du kannst lesen«, hämte Irina.

»Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis«, rezitierte André in pastoralem Tonfall. Dabei legte er besondere Betonung auf das Wort »peccata«.

»Aha, wie war das doch gleich im Mittelteil, Euer Hochwürden?«

»Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünden der Welt, erbarme dich unser«, wiederholte er ebenso priesterlich die deutsche Übersetzung.

»Danke, dass ich an Eurer Weisheit teilhaben darf, oh Vater«, kommentierte Irina gespielt inbrünstig.

André lachte. »Entschuldige, das hat mich an meine Ministrantenzeit erinnert. Das war die erste Zeile des ›Agnus Dei‹. Der Pfarrer sagt es, während er bei der heiligen Messe das Brot bricht, auf. Und ›peccata‹ ist lateinisch und heißt ›Sünden‹.«

»Wow, der alte Mann brilliert mal wieder mit seinem enzyklopädischen Wissen.«

»Wie würdest du sagen, meine Liebe: Wer kann, der kann.«

Irina schüttelte grinsend den Kopf und zischte ihm lachend ein »Klugscheißer« entgegen.

»Swetlana hat den Zettel in ihrem Auto gefunden. Sie hat heute, bevor die Karre verschrottet wird, ihre persönlichen Sachen ausgeräumt und diesen Fetzen bei einem Haufen Abfall unterm Sitz ihrer alten Schleuder entdeckt. Sie war sich sicher, dass er vorher nicht da war und mit dem Stein in die Karre gekommen sein muss.«

»Und wie kommt es, dass ihn die Polizei nicht gefunden hat?«

»Das hab ich sie auch gefragt. Sie hat mir gesagt, dass es fürchterlich in ihrem Auto ausgesehen hat. Sie hat nie darin aufgeräumt und alles, was sie nicht brauchte, einfach unter die Sitze gestopft.«

André schluckte. »Ist dir klar, was du da gerade sagst?«

»Ich bin ja nicht blöd«, erwiderte sie.

André schaute sich das Blatt eingehender an, drehte es und suchte es dicht vor den Augen ab. Dabei behielt er seinen Pinzettengriff zwischen Daumen- und Zeigefingerkuppe sorgfältig bei.

»Das Wort ist scheinbar ausgeschnitten und mit einem Klebestift aufgeklebt worden. Sieht aus, als käme es aus einer Zeitung. Und an den Rändern des ganzen Papierbogens hängen Tesafilm-Reste. Als wäre er um etwas herumgewickelt worden«, sinnierte er abwesend vor sich hin.

»Sieht fast so aus, als gäbe es hier Spuren von einem Pflasterstein oder so was. Da, wo die Kanten waren, hat das Papier Risse.« Dabei deutete er mit der Zeigefingerspitze auf die jeweiligen Stellen. Eine Zeit lang starrte er stumm auf den Fetzen. Dann fuhr er, ohne eine Reaktion von Irina abzuwarten, fort.

»Ja, so muss es sein. Der Stein war darin eingewickelt. Siehst du, da scheint etwas Sand anzuhaften.«

Irina grinste. »So weit wie du Freizeit-Sherlock-Holmes waren wir auch schon.«

»Dann halten wir gerade ein wichtiges Beweismittel in Händen«, fügte er abwesend hinzu.

»Nicht wir, du«, sagte Irina lachend. »Und jetzt bist du überführt.«

»Das ist nicht witzig. Lauf lieber in die Küche und hol eine große Zipptüte.«

»Voilà«, entgegnete sie und reichte ihm eine transparente Plastiktüte, die sie hinter ihrem Rücken verborgen hatte. »Auch das haben wir geschnallt. Was meinst du, in was ich ihn hierhertransportiert habe?«

André nahm die Tüte und ließ den Zettel mit Irinas Hilfe, ohne ihn weiter zu berühren, hineingleiten.

»Und was hat dieses ›peccato‹ zu bedeuten?«, fragte Irina, als sie ihr Beweisstück sicher verstaut hatten.

»Sieht aus, als wäre es eine Botschaft des Täters«, antwortete André und wiederholte die deutsche Übersetzung: »Sünde«. Dabei legte er die Finger der rechten Hand um sein Kinn und rieb daran.

Irina heftete stumm ihren Blick auf ihn, als wartete sie auf eine umfassende Erklärung oder einen plötzlichen Geistesblitz.

»Kann Swetlana das irgendwie einordnen?«, erkundigte er sich schließlich mit gerunzelter Stirn.

Irina starrte ihn an und trat von einem Bein aufs andere.

»Das bedeutet?«, fragte André und breitete erwartungsvoll die Arme aus.

»Das bedeutet nichts«, erwiderte sie schnodderig und lief wortlos aus dem Zimmer.

Er schaute ihr entgeistert nach. Was war das denn? Hatte er mit irgendeiner Bemerkung ihren Ärger auf sich gezogen?

Visionen

Donnerstag, 18. Januar 2018, 5.45 Uhr, eine Viertelstunde vor der Laudes

Der Boden unter seinen Füßen vibrierte. Der Organist, der die mächtige Hauptorgel auf der Westempore des Domes spielte, tat dies in einer besonders gravitätischen Art und Weise. Genau so, wie er es ihm aufgetragen hatte, setzte er an der richtigen Stelle den Orgelpunkt, einen Dauerbasston, den er unter die eigentliche Melodie fügte. Er nutzte dazu die zehn Meter lange, auf das große C gestimmte Pfeife, deren satte Töne man eher fühlte, als sie wirklich zu hören. Damit gab er Schwere und Erhabenheit in sein Spiel, die sich wie ein kalter, ehrfurchtgebietender Odem auf die Brust der Gläubigen legte.

Nach einem improvisierten Vorspiel, das den Dom erbeben ließ, setzte er zum Choral »Großer Gott, wir loben dich« an. Die Gemeinde erhob hundertfach die Stimme und tauchte den Dom in eine fast tausendstimmige gottergebene Bewegtheit. Er stand aufrecht zu Füßen des großen goldenen Altarkreuzes, das vom hinteren Gewölbegurt der Vierungskuppel hing, thronte über seinen Schäfchen und war gerührt von der andächtigen Ergriffenheit des Auditoriums.

Er hatte es genossen, wie sie tief bewegt seiner lateinischen Predigt gelauscht und die weisen, mahnenden Worte, die vom tiefen Glauben und seiner völligen Ergebenheit gegenüber dem Herrn zeugten, in sich aufgenommen hatten. Die Orgel verstummte. Er kostete es aus, seine Zuhörer schweigend eine kurze Zeit warten zu lassen. Sog genussvoll die Atmosphäre in sich ein, wie sie ihn erwartungsvoll anstarrten, begierig, den Segen von ihm zu empfangen. Dann erhob er die Stimme: »Dominus vobiscum. Et cum spiritu tuo. Benedicat vos omnipotens Deus, Pater et Filius et Spiritus Sanctus. Amen.«

Ein wohliges Gefühl der Stärke und Vertrautheit breitete sich in ihm aus.