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Vor dem Neustadter Saalbau stirbt auf bizarre Weise ein Student. Zunächst sieht alles nach einem Unfall aus - eine tödliche Mischung aus jugendlicher Ausgelassenheit, Leichtsinn und zu viel Alkohol. Hauptkommissar Achill will den Fall schnell schließen. Doch Privatschnüffler André Sartorius und Oberkommissarin Bertling ermitteln auf eigene Faust entlang einer mysteriösen Blutspur weiter. Sie dringen in die Geheimnisse des Weinbaus vor und stoßen auf ein weiteres ungewöhnliches Verbrechen.
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Seitenzahl: 368
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Uwe Ittensohn
Winzerblut
Kriminalroman
Blutig im Abgang Vor dem Neustadter Saalbau stirbt nach der Krönung der deutschen Weinkönigin ein Student auf bizarre Art und Weise. Zunächst sieht alles nach einem Unfall aus – eine tödliche Mischung aus jugendlicher Ausgelassenheit, Leichtsinn und zu viel Alkohol. Während Hauptkommissar Achill den Fall bald zu den Akten legen will, ermitteln Privatschnüffler André Sartorius und Kriminaloberkommissarin Bertling auf eigene Faust entlang einer mysteriösen Blutspur weiter. Doch dies ist nur der Anfang einer Reise durch Vergangenheit und Gegenwart, bei der Sartorius und Bertling im Laufe ihrer Untersuchungen in die Tiefen des Weinbaus vordringen. Dort stoßen sie auf überraschende Erkenntnisse und ein weiteres, sehr ungewöhnliches Verbrechen, das sie unter anderem auch an den Weincampus – die Hochschule für Weinbau – in Neustadt führt.
Uwe Ittensohn, in Landau/Pfalz geboren, ist vielseitig engagiert: Krimischriftsteller, Autor für Weinliteratur, anerkannter Berater für deutschen Wein, Kultur- und Weinbotschafter der Pfalz sowie Dozent an einer Hochschule. Er lebt in Speyer, wo er ein denkmalgeschütztes Stiftsgebäude sanierte und sich um den historischen Klostergarten kümmert, in dessen schattigen Winkeln er auch die Muße zum Schreiben findet. Mit seinem schriftstellerischen Wirken will er die Kultur, Lebensart und den im Herzen der Pfälzer verankerten Hang zu Wein und Genuss über die Grenzen der Region hinaus bekannt machen. »Winzerblut« ist eine gelungene Symbiose zwischen Pfalz, Wein und Spannung.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Mark Borbely / shutterstock.com
ISBN 978-3-8392-7462-0
WEIN!
Weil keine große Geschichte je damit begonnen hat,einen Salat zu essen.
(Verfasser unbekannt)
Die Ermittler und ihr Anhang:
André Sartorius: privater Schnüffler und Stadtführer in Speyer
Irina Worobjowa: BWL-Studentin und Sartorius’ Mieterin
Frank Achill: Kriminalhauptkommissar bei der Mordkommission Ludwigshafen, daneben Andrés Freund
Verena Bertling: Kriminaloberkommissarin und rechte Hand Achills
Jonas: Mitglied in Achills Team
Bernd Scherer: Kollege und Freund von Achill im Kriminaldauerdienst (KDD) des Polizeipräsidiums Ludwigshafen
Professor DoktorAstrid Schmollinger-Backhaus: Direktorin des rechtsmedizinischen Instituts der Uni-Klinik Mainz
Professor Doktor: Arzt an der hämatologischen
JérômeNgora: Ambulanz der Uni-Klinik Mainz
Polizeidirektor Andreas Metzger: Polizeipräsident am Polizeipräsidium Rheinpfalz in Ludwigshafen
*
Die Winzerszene:
Konrad Bundschuh: Biowinzer
Marita (Rita) Bundschuh: seine Cousine und Mitarbeiterin
Thomas von Leinhardt: Mitbesitzer des renommierten Weinguts Ökonomierat Casimir von Leinhardt Nachfahren
Simon von Leinhardt: sein jüngerer Bruder und ebenfalls Mitbesitzer des Weingutes
Felix von Leinhardt: Simons einziger Sohn und »Säbelschwinger«
Anselm Yeboah: Mitarbeiter auf dem Weingut von Leinhardt
Professor Doktor Hasso von Lychow: Rechtsanwalt der Familie vonLeinhardt
Theo Keller: alter Hambacher Winzer
Gertrud Keller: Theos Ehefrau
Thorsten Keller: sein Enkel und Opfer
Marianne Keller: Thorstens Mutter
Marcel Picker: Altersgenosse von Thorsten Keller und Felix von Leinhardt
*
Weincampus Neustadt:
Professor Doktor Sauerkamp: Präsident des Weincampus Neustadt
Professor Doktor Philippe de Sanguigni: wissenschaftlicher Mitarbeiter amWeincampus Neustadt
Doktor Christoph Engel: Ampelograf (Rebsortenkundler) am Weincampus Neustadt
Samstag, 25. September 2021, 1.50 Uhr
Marcel Picker, oder Pickeldi, wie ihn die anderen nannten, lehnte gelangweilt an einer der Säulen des loggiaartigen Vorbaus, der das Portal des Saalbaus überspannte.
Diesen Spitznamen verdankte er nicht nur seinem ähnlich klingenden Familiennamen, sondern vor allem dem Pickelrasen, der sein Gesicht mit einem üppig sprießenden bläulich-roten Flor überzog.
Mit ihm war es ungefähr so wie mit einem Regenschirm. Hatte man ihn dabei und es regnete nicht, war er lästig und unnötiger Ballast.
Regnete es aber, kam seine Zeit.
Marcels Zeit würde heute noch kommen.
Drinnen bei der Krönung der Deutschen Weinkönigin war die Zeit der Schönen, Reichen und Prominenten gewesen.
Hier nun, bei der schon einige Stunden andauernden Fete auf dem Vorplatz des Saalbaus, war die Zeit der Wichtigtuer.
Erst wenn die ach so schneidigen Jungs kurz vor dem Alkoholkoma standen oder die sie begleitenden Mädchen die Müdigkeit übermannte, würde man sich seiner besinnen – seiner, des menschgewordenen Regenschirms.
Marcel trank nicht. Ihm schmeckte Wein nicht, und er hatte auch kein Geld dafür.
Dieser Eigenschaft verdankte er stets eine temporäre Beliebtheit am Ende rauschender Ballnächte, Feten und Gelage.
Kam seine Zeit, hatte er plötzlich Mädchen auf dem Beifahrersitz, die wenige Stunden vorher noch nicht einmal etwas von seiner Anwesenheit geahnt hatten.
Der Lohn für alles stille Warten und Beobachten. Verstohlene Blicke in verrutschte Dekolletees und hie und da eine warme Hand, in die er die seine legen konnte.
Aber soweit war es noch nicht. Noch wartete er stumm und einsam im Schatten der Säule.
Felix von Leinhardt, der Rudelführer der Clique, proklamierte undeutlich die Anfangszeilen des Hambacher Liedes, das einst 1832 beim sogenannten Hambacher Fest gesungen wurde. »Hinauf Patrioten zum Schloss, zum Schloss …«
Dabei starrte er auf die vergoldete Figur – die Hambacher Vorbotin – vorm Saalbau, so als müsse sie ihn verstehen. In der Hand schwang er seinen Verbindungssäbel, einen antiken Korbschläger, mit dem er den Abend über schon mehrere Sektflaschen geköpft hatte.
Niemand nahm Notiz von ihm.
Nur der picklige Marcel schüttelte angewidert den Kopf. Er hasste diesen aufgeblasenen Wicht, der im Geld seiner Eltern schwamm, sich, seit er begonnen hatte, Jura zu studieren, für rechtlich unantastbar hielt und mit dem hübschesten der Mädchen ging. Er zeigte sich gerne mit ihr, behandelte sie wie eine goldene Armbanduhr – als schmückendes, aber im Kern unwichtiges Beiwerk.
Von Leinhardt war offensichtlich des sinnlosen Proklamierens müde, zog eine Flasche Roséwein aus dem Leinenbeutel hinter sich und schrie laut: »Nachschub!«
Einige noch immer nicht restlos abgefüllte Kumpane wandten sich ihm zu.
Er hatte wieder das, was er suchte: Aufmerksamkeit.
»Mal sehen, ob die sich auch köpfen lässt!«, grölte er heiser, und schon stand er im Mittelpunkt.
Er legte die Klinge des antiken Säbels mit dem in den Farben seiner Verbindung gefütterten Griffkorb auf den Hals der Flasche und bewegte ihn auf und ab.
Er ließ alle das helle Klingen von Stahl auf Glas hören. »Auf drei!« Speicheltröpfchen flogen im Gegenlicht der Scheinwerfer, die die Fassade des Saalbaus anstrahlten.
»Eins!«
»Nein, lass das sein, das gibt Scherben!«, schrie Thorsten Keller, der wie Felix von Leinhardt aus Hambach kam, und ging auf ihn zu.
Marcel mochte den ruhigen Jungen, der am Weincampus in Neustadt Weinbau studierte.
»Zwei!«
»Nein! Stopp! Du verletzt dich!«
Keller schob sich vor ihn und hob abwehrend die Hände.
»Drei!«
Das singende Geräusch der Klinge, ein Klirren, ein Schwertstreich, der knapp an Kellers Kopf vorbei in den Nachthimmel zischte.
Keller wich aus, stolperte über den niedrigen Sockel der Figur, prallte an die Brust der vergoldeten Bronzeskulptur und strauchelte nach vorne.
Von Leinhardt brachte noch einen Satz über die Lippen, ehe sich ein weit abstehender Splitter des Flaschenstumpfes in die Seite von Kellers Hals bohrte.
Blut pulsierte hervor und spritzte in einer Fontäne aus der Halsarterie des Jungen in Marcels Richtung.
Blutsprenkel befleckten Marcels T-Shirt, der noch immer nicht glauben konnte, was gerade über von Leinhardts Lippen gekommen war.
Es wurde laut. Mädchen schrien panisch. Jungs stolperten herbei – versuchten linkisch und unbeholfen, Erste Hilfe zu leisten.
Marcel gähnte. Er wusste, dass dies alles nichts mehr nützte, und ging, ohne Aufsehen zu erregen, um die Ecke Richtung Hauptpost davon.
Nun stand fest: Sein Beifahrersitz würde heute leer bleiben.
Spätestens in zehn Minuten würde niemand mehr wissen, dass er in dieser Nacht dabei gewesen war.
Samstag, 25. September 2021, 2.30 Uhr
Die Nacht war sternenklar – ungewohnt kühl – ein Vorgeschmack auf den gerade angebrochenen Herbst. Kriminaloberkommissarin Verena Bertling fröstelte.
Ihr Vorgesetzter, Kriminalhauptkommissar Frank Achill vom Polizeipräsidium Rheinpfalz in Ludwigshafen, der neben ihr den Dienstwagen steuerte, wirkte wie immer bei ihren gemeinsamen Einsätzen gleichmütig und schien gar nicht zu bemerken, dass es viel zu früh war, um aufzustehen.
»Scherer klang ungewöhnlich aufgeregt«, brach sie das Schweigen.
»Hmm«, kommentierte Achill ausdruckslos.
»Er sagte, dort wäre die Hölle los, und wir sollten uns beeilen.«
»Kein Wunder. Todesfälle bei Großveranstaltungen sind so ziemlich das Blödeste, was dir bei einem Einsatz passieren kann. Aber wir haben noch Glück, dass dieses Jahr wegen Corona das Fest auf dem Vorplatz ausgefallen ist«, erwiderte Achill abgeklärt.
Verena Bertling zog den Reißverschluss ihrer leichten schwarzen Steppjacke hoch. Sie trug wie ihr Kollege stets Zivilkleidung bei ihren Einsätzen. Die Aussicht, die Wärme im Wageninneren gleich gegen die kühle Nachtluft tauschen zu müssen, war alles andere als angenehm.
Sie fuhren auf der Landauer Straße und waren noch rund 500 Meter vom Bahnhofsgelände entfernt, als ihnen das Wirrwarr zuckender Blaulichter einen Eindruck von dem vermittelte, was sie in Kürze antreffen würden.
»Großer Bahnhof!«, kommentierte Achill zweideutig und schnaubte genervt. Dabei bog er links ab und fuhr auf den Vorplatz des Neustadter Hauptbahnhofs.
»In der Tat«, antwortete Bertling kopfschüttelnd mit schiefem Grinsen und ließ ihren Blick über den weitläufigen Platz schweifen.
Ein wildes Chaos an Streifen- und Notarztwagen verstellte ihnen die Zufahrt zum Saalbau, jener Veranstaltungshalle, in der vor wenigen Stunden die neue Deutsche Weinkönigin gekürt worden war. An der Längsseite der Halle reihten sich mehrere Sattelzüge und Übertragungswagen des SWR, der die komplette Veranstaltung vorhin noch per Livestream gesendet hatte.
»Hoffentlich schlafen die schon.« Bertling wies mit dem Zeigefinger auf diese Fahrzeuge.
»Mit denen kannst du wenigstens reden, am schlimmsten sind die kleinen privaten Sender und Nachrichtenportale, die in so etwas ihre Gelegenheit sehen, endlich mal groß rauszukommen.« Achill parkte den Wagen am Rand auf einem der wenigen freien Parkplätze.
Sie stiegen aus und gingen auf die Stelle zu, wo bereits von den Kollegen der Spurensicherung große Scheinwerfer aufgebaut worden waren, die den Ort des Geschehens beleuchteten.
»Haben Sie irgendwo Bernd Scherer vom Kriminaldauerdienst gesehen?«, fragte Achill den erstbesten Beamten, der ungelenk versuchte, den Tatort vor Gaffern abzuschirmen, und hielt ihm dabei seine Polizeimarke unter die Nase.
»Ei, denn hann isch do vorne g’sien«, erwiderte er mit unverkennbar saarländischem Dialekteinschlag und wies auf einen Polizeitransporter, der einige Meter hinter der hell erleuchteten Stelle parkte.
Bertling und Achill machten einen Bogen um den Bereich, auf den die Scheinwerfer gerichtet waren. Mehrere »Maden«, wie sie intern die mit weißen Overalls mit Kapuzen und Füßlingen bekleideten Kollegen der Kriminaltechnik nannten, waren gerade dabei, mit Pinzetten Glassplitter und sonstige Spuren aus einer gewaltigen frischen Blutlache zu fischen.
Als sie die Tür des Kleinbusses öffneten, saßen Bernd Scherer und ein weiterer Beamter an einem kleinen Tisch einer tränenüberströmten jungen Frau gegenüber, die sie gerade befragten.
»Beruhigen Sie sich erst mal. Ich komme in zehn Minuten wieder«, sagte Scherer genervt und stieg aus dem Bus.
»Die Freundin von dem da«, erklärte er lakonisch und wies auf den zugedeckten leblosen Körper in der Blutlache. Dann reichte er Bertling und Achill die Hand.
»Und warum liegt der da?«, kam Achill gleich zur Sache.
Bertling konnte sich trotz der grausigen Umstände ein Lächeln über ihre beiden Kollegen nicht verkneifen. Die tägliche Konfrontation mit Tod und Leid hatte sie hart gemacht. Ihre Aufgabe war die Aufklärung von Fällen wie diesem und nicht die emotionale Aufarbeitung. Wenn überhaupt, geschah diese im Nachgang in schlaflosen Nächten oder in Situationen der Entspannung und Ruhe, häufig dann, wenn man nicht damit rechnete. Es war ihr schon oft aufgefallen, dass Achill an Tagen, an denen er wenig zu tun hatte, ins Grüblerische versank und unvermittelt über ein Opfer oder dessen Angehörige sprach.
»Er und seine angetrunkenen Freunde meinten wohl, eine Weinflasche mit einem Säbel öffnen zu müssen.«
»Ein Säbel?«, fragte Bertling verwirrt.
»Ja, scheint in Studentenkreisen gerade hipp zu sein. Zuerst hatten sie es bei zwei oder drei Sektflaschen erfolgreich praktiziert. Als die leer waren, war wohl eine Rosé-Flasche dran.«
»Aber bei Weinflaschen funktioniert das doch nicht«, unterbrach ihn Achill.
»So ist es, Frank. Unser toter Freund hier wusste das wohl auch und wollte den übereifrigen Säbelschwinger zur Räson bringen.«
»Aha, und da hat er den Säbel abgekriegt?«
»Nein, nicht ganz. Er kam zu spät. Die Weinflasche splitterte, er wich aus, stolperte gegen diese goldene Dame, stieß sich den Kopf und fiel nach vorne in den gesplitterten Stumpf der Weinflasche, die der Säbelschwinger noch in der Hand hielt.« Scherer wies auf die vergoldete Skulptur neben dem Eingang zum Saalbau.
»Ganz langsam!«, unterbrach Achill seinen Redefluss. »Und warum hat der Säbelschwinger die Hand mit dem Flaschenstumpf nicht schnell weggezogen, als er sah, dass sein Gegenüber fiel?«
»Das hat er angeblich, aber seine Reflexe waren, so besoffen wie er war, wohl nicht mehr die besten. Und bei der Halsschlagader auf der einen und rasiermesserscharfen Glassplittern auf der anderen Seite braucht’s keinen besonders hohen Andruck.«
»Hmm«, brummte Achill, den die Antwort noch nicht ganz zufriedenstellte. »Und warum liegt er dann rund zehn Meter weiter in der Blutlache?«
»Er torkelte anscheinend schwer angeschlagen einige Meter davon, eher er endgültig zu Boden ging.«
»Und woher weißt du das alles so genau?«
»Das war nicht sonderlich schwierig rauszukriegen. Da draußen steht immer noch die ganze Clique der beiden, inklusive dem Säbelschwinger. Und die Freundin des Toten hast du ja eben noch erlebt.«
»Und wie verlässlich sind ihre Aussagen?«
»Verlässlich?« Scherer lachte auf. »So verlässlich, wie Besoffene eben sind. Da hat garantiert keiner weniger als zwei Promille.«
Achill schnaubte unzufrieden auf.
»Unser Prof an der Polizeiakademie sagte immer: ›Kinder, Narren und Besoffene sagen die Wahrheit.‹ Die da draußen sind viel zu knülle, um anständig zu lügen.«
»Da draußen?«, fragte Achill verwundert. »Wo sind diese Typen jetzt?«
»Die sitzen unter der Überdachung vor dem Saalbau, und zwei Kollegen passen auf, dass sie sich nicht abseilen. Ich kenn dich doch. Und hätte mich gehütet, sie gehen zu lassen, bevor du kommst.«
»Habt ihr die Personalien aufgenommen?«
Scherer blies Luft durch die Zähne und rollte mit den Augen. »Nein, wir wollten sie gerade mit Fluchtwagen und Flugtickets ausstatten.«
Achill überging die Spitze. »Den Säbelschwinger sollten wir vorsichtshalber seinen Rausch in einer unserer Zellen auf der Wache in Ludwigshafen ausschlafen lassen. Ich will ihn sofort morgen Früh, sobald er einigermaßen nüchtern ist, befragen. Und von allen einen Alkoholtest bitte«, fügte er hinzu.
»Schon passiert, die Kollegen vom Roten Kreuz waren bereits am Werk. Und für die Freundin haben wir eine Polizeipsychologin hier. Die bleibt heute Nacht wohl besser unter Beobachtung.«
Etwa 13 Jahre vorher – Samstag, 4. Oktober 2008, 21.30 Uhr
»Einen Adelstitel zu tragen, ohne das nötige Geld zu haben, ist in etwa so, als käme Nico Rosberg mit einem alten VW Käfer daher. Du fühlst dich von allen angestarrt und wartest nur darauf, bis es wieder einmal jemand merkt«, klagte Thomas von Leinhardt gegenüber diesem Albert, einer flüchtigen Urlaubsbekanntschaft.
Nach ein paar Gläsern Amarone, hatte sich seine Zunge gelockert, und er hatte Dinge ausgesprochen, die er besser für sich behalten hätte. Trotz seines Alkoholpegels war ihm nicht entgangen, wie der protzige Albert, dem wohl einige Textilläden im Ruhrgebiet gehörten, seiner Begleiterin zuzwinkerte. Sie lächelte nur. Es war kein freundliches, sondern ein mitleidiges, geringschätziges Lächeln.
Soweit war es mit ihm gekommen – Besitzer eines halben, viel zu kleinen Weingutes, dessen Weine allenfalls taugten, sie irgendwohin für einen Spottpreis als Fassweine zu verkaufen.
Endkunden, die bereit waren, fünf oder gar zehn Euro pro Flasche zu zahlen, gab es kaum. Und die 90 Cent pro Liter, die der Fasswein einbrachte, reichten für rein gar nichts.
Keine teuren Maschinen, keine Neubestockung überalterter Rebanlagen, keine Kellereitechnik, keine qualifizierten Mitarbeiter – nichts, womit sich so ein Abwärtstrend aufhalten ließe.
Selbst diese kleine Flucht an den Gardasee war eigentlich unerschwinglich für ihn. Seine Ehefrau, die zu Hause geblieben war, um den Betrieb irgendwie notdürftig weiterzuführen, hatte ihn zu Recht gefragt, ob er noch bei Sinnen wäre.
Er zweifelte mittlerweile selbst an seinem Verstand. Was war nur aus ihm geworden? Sein Vater, der das Weingut jahrzehntelang erfolgreich geführt hatte, würde sich im Grab umdrehen. Seiner Frau sprang die Verzweiflung mehr und mehr aus den Augen. Und sein Bruder Simon machte sich nicht mal mehr die Mühe, über ihn zu lachen. Als er ihn im Sommer zu seinem 40. Geburtstag besucht hatte, hatte er nur ein stummes Kopfschütteln für seine Lage übrig.
Das war aus ihm geworden, ein Mann, über den man den Kopf schüttelte und dessen Adelstitel wie blanker Hohn wirkte.
Von Leinhardt nippte sparsam am fast leeren Weinglas, und eine Träne lief ihm über die Wange.
In diesem Moment öffnete sich die Tür der Enoteca in jenem palastartigen Gebäude am Rande des historischen Ortszentrums von Bardolino am Gardasee. Ein Pärchen betrat den mit edlem Interieur ausstaffierten Innenraum. Sie eine hochgewachsene Blondine in einem eng anliegenden Cocktailkleid, er ein ebenso stattlicher Mann in maritim angehauchtem sportlichem Dress.
Von Leinhardt wandte sich ab und verbarg sein Gesicht in den Handflächen, noch bevor er die beiden genauer erkennen konnte. Der Erfolg und der Reichtum, die man ihnen schon auf 50 Meter ansah, ekelten ihn an und verstärkten seine melancholische Stimmung.
»Ah, buonasera, Signor von Leinhardt«, hörte er den Herrn des Hauses und örtlichen Edelwinzer servil säuseln. Er fühlte sich angesprochen und hob den Kopf.
Doch der Winzer hatte sich abgewandt und begrüßte das soeben eingetretene Paar.
Wie ein Schlag fuhr es Thomas von Leinhardt in den Magen. Der, dem der Winzer gerade die Hände schüttelte, war sein Bruder Simon, offensichtlich mit einer neuen Flamme, die er noch nie an dessen Seite gesehen hatte.
Ehe er sich wegducken konnte, hatte ihn Simon bereits erkannt und steuerte auf ihn zu.
Auch das noch. Er war nicht aufgelegt für ein Gespräch mit ihm. Mit jedem Jahr, seit er von Hambach weg war, vergrößerte sich die Distanz zwischen ihnen. Er lebte mittlerweile in Frankfurt und war Marketingleiter irgendeiner Großbank.
»Brüderchen, was machst du hier – chillen oder Benchmarking?«, dröhnte Simon so laut durch die Vinothek, dass einige der Gäste den Kopf hoben.
So war er, großspurig und penetrant. Das hatte Thomas schon immer an seinem Bruder gehasst.
»Ich bin hier, weil ich Ruhe von der Familie brauchte«, erwiderte Thomas bissig.
Simon schien die Spitze zu überhören und winkte seine hübsche Begleiterin, die noch immer in einem süßlichen Zwiegespräch mit dem Hausherrn feststeckte, an den Tisch.
»Amélie, darf ich dir meinen Bruder vorstellen. Thomas, das ist meine Lebensgefährtin Amélie.«
Thomas deutete ein Aufstehen an und reichte ihr lustlos die Hand.
Simon zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und bot ihn ihr mit einer einladenden Geste an. Er selbst setzte sich über Eck zwischen die beiden.
»Und wie geht’s dir, Bruderherz? Du machst einen angeschlagenen Eindruck. Du bist doch nicht etwa krank?«
Thomas räusperte sich. »Ich sehe aus wie jemand, der schon sein Leben lang bei Wind und Wetter im Weinberg arbeitet oder seine Tage in feuchten Kellern verbringt. Ich sitze weder tagein, tagaus in luxuriösen Büros über den Dächern von Frankfurt noch segle ich über den Gardasee. So einfach ist das.« Die letzten Worte hatte Thomas förmlich ausgespien. Er hatte bewusst all seinen Frust und seine Ablehnung in sie gelegt. Er wollte dieses Gespräch mit seinem Bruder nicht jetzt und wahrscheinlich auch zu keiner anderen Zeit führen.
Simon war vor ziemlich genau 20 Jahren von zu Hause weggezogen, wollte nichts vom Weinbau wissen, hatte studiert und schnell in Frankfurt Karriere gemacht. Er brauchte ihn nicht, nur um durch sein Beispiel noch deutlicher die Fallhöhe seines eigenen Absturzes zu spüren.
Simon hingegen schien auch diese Spitze einfach weg zu atmen. »Du weißt, wie sehr ich deine Arbeit auf unserem gemeinsamen Weingut schätze – Bruderherz.«
Auch das noch. Er hasste es, wenn sein Bruder auf seine 50 Prozent Teilhaberschaft am Weingut anspielte, zu der er, außer irgendwann geerbt zu haben, nichts beitrug. Sie traf heute noch mehr. War er sich doch bewusst, dass in nicht allzu ferner Zeit der Tag kommen würde, an dem er seinem Bruder beichten musste, dass er das Weingut ihres Vaters abgewirtschaftet hatte.
»Wenn das so wäre, hättest du mich nicht mit all dem hängen lassen«, presste Thomas mit blitzenden Augen hervor.
Spätestens jetzt war das hartnäckige Grinsen aus Amélies Gesicht gewichen.
Auch Simon hatte nun offensichtlich entschieden, nicht mehr jede Spitze zu überhören. Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. »Hattest du je Interesse an meinen Ideen für unser Weingut? Du meintest, alles müsse so weiterlaufen wie bei Vater, und mich hast du immer als Spinner betrachtet.«
»Habt ihr was dagegen, wenn ich ins Hotel gehe? Ich will bei euren familiären Gesprächen nicht stören«, sagte Amélie und presste die Lippen zusammen, als hätte sie auf etwas Bitteres gebissen.
Simon erhob sich und ergriff ihre Hand. »Schatz, ich komme gleich nach.«
»Tu dir keinen Zwang an«, giftete Thomas. »Ich fühle mich jetzt schon ausreichend besucht.«
Samstag, 25. September 2021, 10.30 Uhr
»Wenn uns endlich der junge Herr in der Dreisternezelle die Freude machen würde aufzuwachen, sich sein Rechtsbeistand her bequemte, und dann auch noch beide die Güte hätten, uns zu empfangen, dann bringen wir’s hinter uns.«
»Sehr wohl, Herr von und zu Zorn«, flötete Bertling, die Achill bisher selten so missgelaunt erlebt hatte.
»Ist ja auch kein Wunder, erst schlägt man sich die Nacht wegen diesem besoffenen Wichtigtuer um die Ohren, und nun macht der Kerl noch Sperenzchen. Seit vorgestern sind meine Frau und Hannah endlich aus Nanjing zurück, und wir wollten heute mal alle drei ausgiebig brunchen, und nun das hier.«
Bertling nickte mitfühlend. Sie wusste, was es Achill bedeutete, nun endlich seine Familie wieder komplett zu haben. Obwohl er selten darüber sprach, hatte er anfänglich die einjährige Trennung durch die befristete Versetzung, oder wie es in Businessdeutsch hieß »Delegation«, nach China unterschätzt.
»Und nun, am Tag eins nach ihrer Rückkehr, sitze ich hier, statt zu Hause bei ihnen zu sein. Und ein verwöhnter Adelssprössling und Jurastudent, der sich zügellos besoffen hat und dabei einem unschuldigen Jungen, der ihn nur warnen wollte, die Halsschlagader aufgeschlitzt hat, und sein Anwalt lassen uns hier seit drei Stunden warten.«
Bertling lachte. »Das nenn ich auf den Punkt gebracht, aber vielleicht auch etwas voreingenommen. Ich würde das vor seinem Anwalt nicht wiederholen. Er ist eigens aus Heidelberg angereist. Professor Doktor Hasso von Lychow gibt sich höchstselbst die Ehre.«
»Auch das noch. Gegen den ist jeder Aal so griffig wie ein Winterreifen. Und ein Großkotz und Wichtigtuer ist er obendrein.«
»Selbst schuld. Du hattest es in der Hand. Ich hatte dir angeboten, das heute Morgen alleine zu machen. Bernd Scherer wollte mich sogar dabei unterstützen. Er hat ja gestern schon ordentliche Vorarbeit geleistet.«
»Ja, ich weiß das sehr wohl zu schätzen. Und dass ihr gute Polizisten seid, ist mir auch bewusst. Aber Bernd meint, dass Kriminaldauerdienst bedeutet, dass er dauernd im Dienst ist. Er hat sich nach der Schicht gestern auch etwas Schlaf verdient«, erwiderte Achill versöhnlich.
Insgeheim musste er sich eingestehen, dass Bertling recht hatte. Sie war nach dem Studium zu ihm ins Team gekommen und hatte sich hervorragend entwickelt. Trotzdem konnte er es sich nicht abgewöhnen, wichtige oder unangenehme Befragungen lieber selbst zu übernehmen. Dabei wusste er nicht einmal, ob er sie nur entlasten wollte oder ob er immer noch glaubte, es besser zu können.
Bertlings Smartphone vibrierte. Sie öffnete die Messenger-App und las. »Oh, es gibt gute Nachrichten. Die beiden sitzen schon im Befragungszimmer. Im Raum daneben heult sich noch die kleine Freundin des Opfers die Augen aus dem Kopf. Die Psychologin ist bei ihr. Die Arme.«
Achill beobachtete, wie sich über Bertlings Blick ein Schleier legte.
»Das geht dir sehr nahe, stimmt’s?« Er strich ihr mitfühlend über den Oberarm. Sie nickte nur und kämpfte mit den Tränen.
Wenige Minuten später betraten sie gemeinsam den erst kürzlich modernisierten Befragungsraum, der vor Technik nur so strotzte. Die Schallschutzpanels an der Decke, die von dort herunterhängenden Mikrofone und die frontal vor und seitlich vor dem Befragungstisch angebrachten fischäugigen Videokameras ließen ihn eher wie ein kleines Studio erscheinen. Die Zeiten, in denen sich hinter verspiegelten Glasscheiben der Staatsanwalt und die Kollegen drängten, waren wohl wenigstens hier endgültig vorbei.
Achill schätzte ganz besonders den verdeckt von einer blendfreien Scheibe unterhalb der Tischplatte montierten PC, auf dem der befragende Beamte Hinweise und Informationen aus dem Nebenzimmer erhalten konnte. Doch heute verzichtete er darauf, schließlich war der Fall nicht sonderlich komplex, und er wollte lieber Bertling die Chance geben, direkt hier an seiner Seite der Befragung beizuwohnen.
Rechtsanwalt Professor Doktor Hasso von Lychow und sein Mandant, Felix von Leinhardt, hatten schon am Befragungstisch Platz genommen und warteten.
Von Lychow war ein feister, kahlköpfiger Endfünfziger, dessen linke Wange eine lange Narbe, wahrscheinlich von einer Mensur aus Verbindungszeiten, zierte.
Er thronte selbstgefällig hinter dem Tisch, der in Anbetracht seiner Leibesfülle wie die Einrichtung eines Kinderzimmers wirkte. Im Gegensatz zu seiner ausladenden vitalen Erscheinung war von Leinhardt mager und sichtlich angeschlagen. Seine Gesichtsfarbe war gelblichweiß, was wohl auf den noch nicht ganz ausgestandenen Kater zurückzuführen war.
Der frische schwarze Rollkragenpullover und die gleichfarbige Stoffhose, mit denen ihn wohl sein Rechtsbeistand versorgt hatte, verstärkten noch den erbärmlichen Eindruck.
Achill hatte sich fest vorgenommen, von Lychow, den er bereits von anderen Fällen kannte, keinen Raum für eine zeitraubende Selbstdarstellung zu bieten. Er wollte daher nach einer knappen Begrüßung gleich zur Sache kommen und mit der Belehrung des Verdächtigten beginnen.
Doch von Lychow kam ihm zuvor. »Welche Ehre, der Leiter der Mordkommission höchstselbst. Ich hoffe doch, wir haben diesen Umstand nur einer temporären Personalknappheit zu verdanken. Kann doch in diesem Falle ein Tötungsdelikt sozusagen ab initio, also von Anfang an, kategorisch ausgeschlossen werden.«
Achill reagierte nicht auf von Lychows Einwurf. Er schob stattdessen das Mikro in die Tischmitte und begann in einem fast unbeteiligten Säuselton.
»Polizeipräsidium Rheinpfalz in Ludwigshafen, Samstag, 25. September 2021, 11 Uhr. Befragung von Felix von Leinhardt, geboren am 17.1.1998 in Neustadt an der Weinstraße, in Begleitung seines Rechtsbeistandes Doktor Hasso von Lychow.«
»Professor! So viel Zeit muss sein«, korrigierte von Lychow.
Achill fuhr ohne Pause fort: »Polizeiseitig sind anwesend: Kriminalhauptkommissar Frank Achill und Kriminaloberkommissarin Verena Bertling.«
Von Lychow griff in die Innentasche seines Jacketts und zog ein Smartphone hervor. »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mitschneide?«, merkte er an und war im Begriff, die Aufnahme-App zu starten.
»Doch das habe ich, ich bitte Sie ausdrücklich, das zu unterlassen!«, fuhr Achill streng dazwischen. »Sie haben jederzeit das Recht auf Einsichtnahme in die Ermittlungsakten, deren Bestandteil auch unsere Video- und Tonaufzeichnungen sind.« Dabei wies er mit der Hand auf die gegenüber von Lychow an der Wand montierte Kamera sowie das Deckenmikrofon, das über seinem Kopf hing.
»Wenn Sie erlauben, würde ich nun mit der Aufklärung Ihres Mandanten fortfahren.«
Er wandte sich nun dem jungen Mann zu. »Ihnen wird vorgeworfen, in der heutigen Nacht gegen 1.50 Uhr auf dem Vorplatz des Saalbaus in Neustadt unter Alkoholeinfluss mit einer Hieb- und Stichwaffe eine Weinflasche geöffnet zu haben. Dabei haben Sie in fahrlässiger Weise den dort anwesenden Thorsten Keller, wohnhaft in Neustadt-Hambach, tödlich verletzt.«
Achill machte eine kurze Pause und fuhr dann fort. »Sie dürfen die Aussage verweigern. Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Von dem Sie durch den heute anwesenden Rechtsanwalt Professor Doktor von Lychow Gebrauch machen.« Dabei legte Achill eine besondere Betonung auf das Wort »Professor«.
Was von Lychow mit einem wohlwollenden Nicken honorierte.
»Natürlich steht es Ihnen frei, Beweisanträge zu stellen. Worüber Sie Ihr Rechtsbeistand sicherlich bei Bedarf aufklären wird. Ich mache Sie ferner darauf aufmerksam, dass Ihre Aussage Ihrer Verteidigung dient, aber auch als Beweis gegen Sie Verwendung finden kann. Haben Sie das verstanden?«
Von Leinhardt nickte schlaff.
»Sie, werter Herr Professor Doktor von Lychow, möchte ich vorsorglich darauf hinweisen, dass Sie sich gemäß Paragraf 163a in Verbindung mit Paragraf 168c, Absatz 2, der Strafprozessordnung in keiner Weise an der Vernehmung beteiligen dürfen. Auch sind Sie nicht befugt, den Beschuldigten vor der Beantwortung von Fragen zu beraten.«
Von Lychow nickte gelangweilt.
»So, nun zur Sache. Ich möchte Sie bitten, die Umstände, die zum Tod von Herrn Thorsten Keller geführt haben, aus Ihrer Sicht zu schildern.«
Von Leinhardt schluckte und räusperte sich. Er setzte zu einer Erwiderung an, als von Lychow ihm die Hand auf den Oberschenkel legte und ihn mahnend anschaute.
Von Leinhardt brach ab und schluckte erneut.
»Herr Professor Doktor von Lychow, ich möchte Sie ausdrücklich auf das von mir eingangs erwähnte Verbot der Beteiligung an der Befragung hinweisen.«
Von Lychow hob abwehrend die Hände. »Ich wollte nur von meinem Beratungsrecht Gebrauch machen und Herrn Leinhardt, der sicherlich noch unter Schock steht, auf sein Aussageverweigerungsrecht hinweisen.«
Von Leinhardt schluckte erneut. Sein Adamsapfel zuckte in seinem langen schlanken Hals aufgeregt auf und ab. Dann begann er mit heiserer, krächzender Stimme: »Ich möchte von meinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen.«
Sein Rechtsanwalt nickte ihm anerkennend zu, als gelte es, eine besondere Leistung zu würdigen.
»Werte Frau Bertling, werter Herr Achill, ich habe meine Hausaufgaben gemacht und mich heute Morgen bereits im gestern anwesenden Freundeskreis von Herrn von Leinhardt umgehört. Wie Sie sich sicher auch schon selbst überzeugen konnten, trifft meinen Mandanten keinerlei Schuld am Tode von Herrn Keller«, dozierte von Lychow. Er saß nun aufrecht und schien sich in seiner Rolle zu gefallen.
Achill versteifte sich, und seine Züge gefroren. »Vorsicht, Herr von Lychow. Ich mache Sie ausdrücklich darauf aufmerksam, dass Sie die Beeinflussung von Zeugen teuer zu stehen kommen kann!«
Von Lychow fuhr unbeirrt fort, als hätte er Achills Drohung überhört. »Herr von Leinhardt ist ein geübter Sabreur, als Mitbesitzer eines Weingutes und Mitglied in der Studentenverbindung Germania hatte er bereits reichlich Gelegenheit, dies unter Beweis zu stellen. Im Klartext: Er besitzt Routine darin, Flaschen mit dem Säbel zu öffnen.«
»Aber wohl nur Sektflaschen und nicht Weinflaschen«, schob Achill ein.
»Fußt diese Erkenntnis auf gerichtsverwertbaren Gutachten oder sind es nur eigene Mutmaßungen, dass man das nur bei Sektflaschen tun kann?«, feixte von Lychow und fuhr mit seinem Plädoyer fort. »Des Weiteren ist er ebenfalls ein ganz passabler Fechter und im Umgang mit Hieb- und Stichwaffen vertraut. Selbstredend hat er auch einen ausreichenden Sicherheitsabstand zu den Anwesenden gewahrt. Insofern trifft ihn keinerlei Schuld. Im Gegenteil, wäre ihm dieser Keller nicht mit so einer Verve förmlich vor die Flasche gesprungen, wäre er auch nicht verletzt worden.«
»Sie wollen also sagen, das Opfer sei quasi der Täter«, sagte Bertling, die die ganze Zeit geschwiegen hatte, mit gereiztem Unterton.
»Ganz recht, junge Frau! Ich hätte es nicht treffender formulieren können.«
Bertlings Wangen färbten sich rosig. »Und dass es sich bei den Herren Keller und von Leinhardt um rivalisierende Fans der Kandidatinnen für das Amt der Deutschen Weinkönigin handeln könnte, schließen Sie aus?«, setzte sie trotzig nach.
»Aber meine Liebe. Ich bin ein ganz passabler Golfer und nehme regelmäßig an Turnieren teil, die ich auch nicht selten gewinne, aber umbringen wollte mich noch keiner der, wie Sie es nennen, ›rivalisierenden Fans‹. So was tut man selbstredend in den Kreisen, in denen ich und Herr von Leinhardt verkehren, nicht.«
Mittwoch, 29. September 2021, 9.30 Uhr
»Eine gute Seite hat diese Pandemie doch«, bemerkte André, ohne von der Tageszeitung aufzublicken, als sich Irina, seine Mieterin, ihm in verwaschenem Shirt und kurzer Schlafanzughose gegenüber an den Küchentisch setzte.
»Aha und welche?«, fragte sie irritiert.
»Na ja, sie gibt uns die Gelegenheit, fast täglich miteinander zu frühstücken.«
»Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber darauf würde ich gerne verzichten, wenn ich mal wieder richtig studieren könnte. Den ganzen Tag hier alleine Vorlesungsfilmchen angucken und niemanden neben sich sitzen zu haben, den man mal was fragen kann, ist auch nicht gerade das Gelbe vom Ei. Mir fällt die Decke auf den Kopf!«
»Vorlesungsfilmchen – passt doch zur Netflix-Generation.«
Sie rollte mit den Augen und stöhnte leise: »Haha«, erwiderte sie gedehnt. »Was hast du denn zum Frühstück gegessen?« Dabei griff sie nach der Bäckertüte vor ihm und schaute demonstrativ hinein.
»Wie, was?«, fragte er abwesend und ließ die Rheinpost sinken. »Hab Cornetti für uns eingekauft.«
»Dachte schon, da seien die Reste eines Clowns drin.«
»Äh, Clown?«, wiederholte er irritiert.
Irina rollte erneut theatralisch mit den Augen. »Der alte Mann ist mal wieder total lost.«
»Wie, was?«
»Boah, ey. ›Lost‹ im Sinne von verwirrt und ›Clown gefrühstückt‹ im Sinne von abgestanden witzig.«
»Sorry, dachte nur …«, begann André, dem es, wenn er gerade in etwas vertieft war, schwerfiel, ihrem spitzen Humor zu folgen.
Irina lachte. »Mach dich locker, alter Mann.«
»Ich war auf das da konzentriert. Und zugegeben, es hat mich erschüttert. Ich denke bei so was immer, wenn dir das passieren würde«, sagte er nachdenklich und hielt ihr die Rheinpost hin.
»Ausgelassene Siegesfeier geriet außer Kontrolle. 23-Jähriger vor dem Saalbau verblutet!«, stand auf der Umlandseite der Rheinpost geschrieben.
Wieder lachte Irina. »Wie würdest du jetzt sagen: ›Während Villabajo auf die Zeitung wartet, hat das Villariba längst gehört.‹ Ich kenne die Geschichte, die Freundin des Toten studiert einen Jahrgang unter mir. Sie ist völlig fertig.«
»Aber woher weißt du davon? Ihr habt doch keine Präsenzvorlesung.«
»Schon mal was von WhatsApp-Gruppe gehört?«, antwortete sie demonstrativ stöhnend und tätschelte ihm gleichzeitig den Arm.
»Trotzdem schön, dass du so denkst.« Dabei schaute sie ihn an, und er bemerkte, dass sich ein Tränenschleier über ihre Augen zog.
So war sie: nach außen wie ein Igel, der gegenüber allem, was in seine Nähe kam, die spitzen Stacheln ausfuhr, und nach innen eine höchst sensible, fast zerbrechliche 25-Jährige, der ihre Familie, die in Russland lebte, fehlte.
André, unverheiratet, kinderlos und ein ausgesprochener Eremit, hatte sich vor nunmehr sieben Jahren entschieden, die russische Austauschstudentin aus Speyers Partnerstadt Kursk bei sich aufzunehmen. Nach all der Zeit waren sie sich nähergekommen, und es war ein Vater-Tochter-Verhältnis zwischen ihnen herangereift, das, allen gegenseitigen Frotzeleien zum Trotz, beide genossen.
Auch wenn er nicht gerne darüber sprach, graute es ihm vor dem nicht allzu fernen Tag, wenn sie ihr Studium mit der Promotion abschließen würde und möglicherweise nach Russland zurückkehrte.
Etwa 13 Jahre vorher – Sonntag, 5. Oktober 2008, 10.40 Uhr
»Signore?«
Es klopfte.
»Signore?«
Dazu wieder dieses Klopfen – drängender, schmerzhafter.
Wo war er? Thomas von Leinhardt fasste sich an den Kopf. Oder besser dorthin, wo er den Kopf vermutete und sich die Quelle des dröhnenden Schmerzes befand.
»Signore von Leinhardt, wolle Sie heute keine Fruhstucke?«, rief es durch die Tür des Hotelzimmers.
»Jetzt nicht!«, krächzte von Leinhardt mit einer heiseren Stimme, die er nur schwerlich als die seine erkannte.
Warum diese fürchterlichen Kopfschmerzen? Was war geschehen?
Er traute sich nicht, die Augen zu öffnen.
Er war in einer seltsamen Stimmung. Da waren einerseits diese Kopfschmerzen, die sich anfühlten, als wäre sein Gehirn auf die doppelte Größe angeschwollen und würde demnächst seinen Schädel zum Bersten bringen. Andererseits war da ein ungewohntes Gefühl der Erleichterung, wie er es seit Monaten nicht gespürt hatte. So, als stünde er unter Drogen.
Noch war es zu anstrengend, nach Gründen zu suchen. Matt gab er sich seiner Müdigkeit hin, die sich bleiern auf Glieder und Gedanken legte.
Die folgende Viertelstunde verbrachte er in einer Art Wachschlaf. Noch war sein Geist zu schwach, um zu ergründen, was passiert war. Die Kopfschmerzen hatten etwas nachgelassen, das Gefühl der Erleichterung war geblieben.
Ein saurer Geschmack im Mund. So wie er ihn in letzter Zeit oft beim Aufwachen wahrnahm, wenn er wieder einmal seinen Kummer in Wein ertränkt hatte. Aber sonst waren da nur Leere und seelische Pein.
Dieses seltsame Hochgefühl wollte heute nicht weichen. Es fühlte sich an wie ein zartes Pflänzchen, das sich mit aller Kraft durch die Fuge zwischen zwei Kopfsteinpflastersteinen auf der Hambacher Schlossgasse drängte.
Langsam kam die Erinnerung zurück. Die Vinothek, zahllose Flaschen Wein. Man hatte ihn ins Zimmer schleppen müssen. Da war dieser Kellner und … und Simon. Für Sekunden wallte Wut in ihm auf, wollte aber nicht bleiben, verflog wie der gepaffte Rauch einer Zigarre.
Da war das Bild von Simon vor seinem noch halb blinden inneren Auge, dieser Schnösel, aber wo war der Zorn? Langsam nahm die Erinnerung Konturen an. Er hatte ihn angeblafft, ihm Vorwürfe gemacht, alles, was sich die letzten zehn Jahre angestaut hatte, über die vom Alkohol gelockerte Zunge ihm förmlich entgegengekotzt. Oh Gott!
Simon hatte sich wieder lange hinter dieser professionellen, scheinbar unbeteiligten Fassade, die er bei Angriffen immer auflegte und die Thomas so an ihm hasste, verborgen.
Dann war es auch aus ihm herausgebrochen. Starrsinnig, rückwärtsgewandt, altmodisch, unbelehrbar, waren nur einige der Adjektive, die ihm sein Bruder an den Kopf geworfen hatte.
Aber eines war anders als sonst gewesen. Thomas war zu schwerfällig, zu müde, zu angeschlagen und zu betrunken gewesen, um wutentbrannt aufzustehen und wegzulaufen. Er hatte es über sich ergehen lassen, zugehört und erklärt.
Nach der ersten Flasche Rotwein war auch bei Simon endlich die Fassade gefallen, er offenbarte sich. Sein nie erloschener Traum vom eigenen Weingut, die Angst vor der Dominanz seines älteren Bruders und die Gewissheit, dass er sich unter seinen Fittichen nie hätte selbst verwirklichen können.
Thomas musste schlucken, er spürte, wie ihm eine Träne über die Wange rollte und im gestärkten Bettlaken versickerte.
War er der Tyrann gewesen, von dem Simon sprach? War Simon nicht vom Weingut geflohen, sondern war es eher so, dass er ihn durch seine Sturheit, alles bewahren zu wollen, vertrieben hatte?
Für einen Augenblick wich das gute Gefühl und drohte, vom schlechten Gewissen verdrängt zu werden.
Dann kam es wieder wie jenes Pflänzchen zwischen dem Kopfsteinpflaster, das sich von den Rädern des schweren Schleppers, der darüber donnert, nur niederdrücken, aber nicht abtöten lässt.
Da war dieses WWW-Konzept, wie es Simon genannt hatte. Wein, Wingerte, Vinothek. Von Leinhardt spürte, wie sich ein Grinsen über sein Gesicht zog. So wie gestern, als sie in der eigenartig berauschten Stimmung Pläne geschmiedet hatten, und sich vor Lachen über den Schreibfehler in ihrem Slogan ausschütteten.
Von Leinhardts Grinsen verschwand. So schnell, wie es gekommen war. Schmerzlich wurde ihm bewusst, was das war, was ihm dieses Trugbild, diese Fata Morgana eingegeben hatte. Es war eine Schnapsidee, das Resultat von mehr Rotwein, als sie hatten vertragen können.
Mittwoch, 29. September 2021, 9.30 Uhr
»Es war verfrüht, diesen Säbelschwinger laufen zu lassen. Da steckt mehr dahinter!«, polterte Bertling mit geröteten Wangen.
Achill hatte sie selten so erregt gesehen.
»Was soll da denn dahinterstecken? Wenn schon die Freundin des Opfers bestätigt, dass sie den Täter nicht näher kannte, und dass ihr Freund auf ihn zugestürzt war, um ihn vor einem scherbenreichen Fehler zu bewahren«, hielt er dagegen.
»Und dass das Opfer angeblich Fan der badischen Kandidatin war, weil sie eine Bekannte seiner Freundin ist, und der Täter für die pfälzische Kandidatin jubelte? Das heißt, er hatte ein Motiv, schließlich war die Pfälzerin der Bewerberin aus Baden unterlegen«, hielt ihm Bertling stur entgegen.
»Du hast doch gehört, dass man sich in den Kreisen, in denen Herr von Leinhardt verkehrt, nichts tut.«
»Jetzt fängst du auch noch so an wie dieser aufgeblasene Fatzke. Ich verstehe nicht, warum du vor ihm einknickst!«
Achill lächelte und hob beschwichtigend die Hände. »Keine Sorge, ich mag ihn genauso wenig wie du. Aber ich wette, der Haftrichter hätte ihn sowieso laufen lassen. Und vor diesem aalglatten Anwalt auch noch das Gesicht zu verlieren, ist noch weniger erstrebenswert.«
»Hmm«, brummelte Bertling nicht völlig überzeugt.
»Aber falls dich meine Meinung noch interessiert, ich glaube tatsächlich an seine Unschuld. Das sieht mir nicht nach Vorsatz aus. Wenn er das gewollt hätte, hätte er es anders angestellt. Im Übrigen war er viel zu betrunken, um so einen perfiden Plan zu realisieren«, schloss Achill die Diskussion ab.
Freitag, 1. Oktober 2021, 10.30 Uhr
»Verena, kannst du mal in mein Büro kommen und bring deinen Terminkalender mit!«, brabbelte Achill, während er gerade noch eine Notiz verfasste, geistesabwesend, ohne Begrüßung ins Telefon.
Wie immer in solchen Situationen, war er viel zu beschäftigt, um eine Antwort abzuwarten, und legte sofort wieder auf.
Gleich nachdem er den Hörer niedergelegt hatte, reute ihn sein Verhalten. Er wusste, dass sie es ganz und gar nicht mochte, wenn er, wie sie es formulierte, mal wieder überpragmatisch war und an jedem überflüssigen Wort sparte. Ohnehin stand es mit ihrer Stimmung nach der, wie sie es wohl empfand, Niederlage im Säbelschwinger-Fall, nicht zum Besten.
Drei Minuten später öffnete sich seine Bürotür, und sie stand augenrollend vor ihm. »Was gibt’s?«, fragte sie einsilbig.
»Schmo-Ba hat angerufen.«
»Du meinst die Schmo-Ba höchstselbst?«
»So ist es. Frau Professor Doktor med. Astrid Schmollinger-Backhaus, ihres Zeichens Direktorin des Instituts für Rechtsmedizin an der Johannes-Gutenberg-Universität zu Mainz gibt sich die Ehre.«
»Und was will sie?«
»Sie lädt uns ein.«
»Aha. Uns?«
Achill hatte entschieden, nicht zuletzt, um die Wogen etwas zu glätten, diesen Besuch gemeinsam mit Bertling wahrzunehmen. Im Übrigen war es mehr als überfällig, sie künftig noch mehr einzubeziehen. Sie hatte sich in den letzten beiden Jahren hervorragend weiterentwickelt und war ohne Zweifel in der Lage, auch Fälle selbstständig zu bearbeiten.
Er hoffte nur, dass dieses Signal bei ihr richtig ankam. Er ertrug es nicht, wenn in seinem unmittelbaren Umfeld der Haussegen schief hing.
»Ja, wir fahren beide hin.«
»Aha«, sagte sie lauernd. Offensichtlich witterte sie einen Haken bei der Sache. »Wen wollen sie denn vor unseren Augen aufschlitzen?«
»Es geht um Thorsten Keller, das Opfer im Säbelschwinger-Fall.«
»Ich dachte, der war längst unterm Messer.«
»War er auch. Aber so wie sich Schmo-Ba ausdrückte, gibt es wohl neue Erkenntnisse, die sie uns mit einem Kollegen von der hämatologischen Ambulanz nahebringen will.«
Bertling legte fragend die Stirn in Falten. »Hämatologie? Was soll das denn? Braucht man jetzt schon einen Blut-Spezialisten, um ein simples Verbluten zu erklären?«
»Offen gestanden, ich weiß es nicht. Sie war wie immer am Telefon sehr zugeknöpft.«
»Na, dann bin ich aber gespannt.«
»Hast du deinen Terminkalender dabei?«
Bertling lachte. »Terminkalender? Wo lebst du denn? Hier ist alles drin, was ich brauche«, sagte sie und klopfte auf ihren Tablet-PC, den sie wie immer, lässig unter den Arm geklemmt, mit sich trug.
Etwa 13 Jahre vorher – Sonntag, 5. Oktober 2008, 11.30 Uhr
Als Thomas von Leinhardt den Frühstücksraum erreichte, war dieser fast leer. Nur an einem Tisch saß ein Mann hinter einer deutschen Tageszeitung vom Vortag. Es war Simon.
Auch das noch. Thomas fühlte sich zu schwach, um sich jetzt der Häme seines Bruders auszusetzen.
Simon ließ die Zeitung sinken, als er ihn kommen hörte. Ein Lächeln überzog sein Gesicht. »Du siehst aus, als hätte dich gestern ein Trecker überfahren.«
Thomas rollte genervt mit den Augen. Typisch, da war sie wieder, die smarte Fassade, die sich selbst nach einer durchzechten Nacht wie eine unzerstörbare Maske über Simons Gesicht legte. Alles beim Alten, du der smarte Banker und ich der dumme Winzer vom Land, dachte Thomas.
Doch dann legte sich so etwas wie Trauer auf Simons Züge. »Du bereust es?«, fragte er fast kindlich enttäuscht.
»Nein. Wieso? Warum sollte ich?«, hörte sich Thomas in einer geflissentlichen, unterwürfigen Art sagen.
»Ich hatte schon Angst, es wäre nur so gewesen, weil wir betrunken waren«, entgegnete Simon nicht weniger kleinlaut.
»Was meinst du mit ›so gewesen‹?«
»Dass wir uns einig sind, dass wir zusammen planen, dass du mich ernst nimmst, dass wir ein gemeinsames Ziel haben«, brach es aus Simon heraus. Wieder war schon wie gestern, mithilfe des Rotweins, jedwede Maske gefallen.
Thomas spürte zum ersten Mal seit fast 20 Jahren wieder so etwas wie Zuneigung zu seinem kleinen Bruder.
»Ich würde alles dafür geben, es mit dir zu versuchen, endlich wieder eine Perspektive für den Hof zu haben und …«
»… und?«, fragte Simon nach.
»… endlich wieder etwas gemeinsam, mit der Familie anzupacken … Aber du wirst sofort davonlaufen, wenn du erst unsere wirtschaftliche Situation kennst.«
Dienstag, 5. Oktober 2021, 8.30 Uhr
Das Rechtsmedizinische Institut der Universität Mainz war am Pulverturm, etwas außerhalb des Klinikgeländes, gelegen.
Achill hatte einen Parkplatz direkt gegenüber vom Institutsgebäude gefunden.
Bertling musterte enttäuscht das heruntergekommene Gebäude im verblassten Charme der 80er, dessen Betonwände schmutzig-grau waren und die umlaufenden Metallgeländer eine rosagraue Unfarbe angenommen hatten. »Was für eine Augenpeitsche. Etwas Farbe würde da auch nichts schaden«, brummte sie.
»Soviel ich weiß, hat sich noch keiner der Patienten beschwert.«
»Witzbold, da arbeiten aber auch Leute drin, und die müssen sich das jeden Tag anschauen.«
Sie überquerten die Straße, stiegen die vier Stufen empor und meldeten sich an der altmodisch verglasten Pförtnerloge direkt hinter der Eingangstür.
»Ich soll Ihnen sagen, dass Sie Frau Professor Schmollinger-Backhaus heute in ihrem Zimmer im zweiten Obergeschoss erwartet.«
»Da war ich auch noch nie«, kommentierte Achill im Flüsterton, während sie auf den Aufzug zusteuerten. »Sonst musste ich immer in einen dieser unterkühlten Sektionsräume im Keller.«
Als sie das Zimmer betraten, saß die etwas korpulente Mittfünfzigerin bereits mit einem etwa 40 Jahre alten, weißbekittelten Mann am runden Besprechungstisch und unterhielt sich lebhaft.