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Ein mysteriöser Todesfall in einem Speyerer Kloster. Die Polizei ist sicher, dass die Täterin unter den Nonnen zu finden ist, stößt jedoch auf eine Mauer des Schweigens. Derweil untersuchen der Privatermittler André Sartorius und die Studentin Irina den Fall auf eigene Faust. Irina lässt sich ins Kloster einschleusen und geht den mysteriösen Vorgängen als frischgebackene Novizin auf den Grund. Dabei entdeckt sie ein komplexes Gespinst aus Gier um Macht und Geld und wird am Ende selbst zur Zielscheibe.
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Seitenzahl: 384
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Uwe Ittensohn
Klostertod
Kriminalroman
Tatort KlosterAls in einem Speyerer Kloster ein mysteriöser Todesfall gemeldet wird, besteht für die Polizei kein Zweifel: Die Tat muss von einer Nonne begangen worden sein. In Folge der Ermittlungen stoßen Kriminalhauptkommissar Frank Achill und sein Team jedoch auf eine Mauer des Schweigens. Während sich die Beamten in einem scheinbar undurchdringlichen Dickicht aus fremden Regeln und Gebräuchen verstricken, untersuchen der Privatermittler André Sartorius und die Austauschstudentin Irina den Fall auf eigene Faust. Bald steht fest, dass nur »Ermittlungen von innen« Aussicht auf Erfolg versprechen. Mithilfe des Bistums wird Irina ins Kloster eingeschleust, um den Vorgängen als frischgebackene Novizin auf den Grund zu gehen. Doch wird die pfiffige junge Frau mit ihrem losen Mundwerk das Vertrauen der Schwestern gewinnen können? Nach etlichen Rückschlägen stößt sie auf ein komplexes Geflecht aus Machtstreben und finanziellen Verstrickungen. Und plötzlich gerät Irina selbst in tödliche Gefahr.
Uwe Ittensohn, in Landau/Pfalz geboren, ist vielseitig engagiert: Krimischriftsteller, Autor für Weinliteratur, anerkannter Berater für deutschen Wein, Kultur- und Weinbotschafter sowie Hochschuldozent. Er lebt in Speyer, wo er ein denkmalgeschütztes Stiftsgebäude sanierte und sich um den historischen Klostergarten kümmert, in dessen schattigen Winkeln er auch die Muße zum Schreiben findet.
Der vorliegende sechste Band seiner Krimireihe ist eine gelungene Symbiose zwischen Pfalz, Wein und Spannung. Mit seinem schriftstellerischen Wirken will er die Kultur, Lebensart und den im Herzen der Pfälzer verankerten Hang zu Wein und Genuss über die Grenzen der Region hinaus bekannt machen.
Uwe Ittensohn ist Mitglied der Schriftstellervereinigung Syndikat.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Frank Seidel_seidelsfrank
ISBN 978-3-8392-7106-3
Die Welt führt genauso wenig zur Hölle wie das Kloster zum Paradies.
Tschechisches Sprichwort
Die Ermittler und ihr Anhang:
André Sartorius: privater Schnüffler und Stadtführer in Speyer
Irina Worobjowa: BWL-Studentin und Sartorius’ Mieterin
Frank Achill: Kriminalhauptkommissar bei der Mordkommission Ludwigshafen, Andrés Freund
Verena Bertling: Kriminaloberkommissarin und rechte Hand Achills
Jonas: Mitglied in Achills Team
*
Die Vertreter des Bistums Speyer:
Doktor Ernst Hofreiter: Generalvikar des Bistums Speyer
Schwester Klara: Schneiderin im Haushalt des Speyerer Bischofs
*
Kloster Sankt Guido:
Schwester Alma: greise Priorin des Klosters Sankt Guido in Speyer
Schwester Gertrude: Subpriorin (Stellvertreterin von Alma) und Novizenmeisterin von Sankt Guido
Schwester Walburga: die verstorbene Schwester. Bürgerlicher Name: Anneliese Schropp
Schwester Hildegard: Infirmarin (für die Krankenstation zuständig), daneben betreut sie den Klostergarten von Sankt Guido
Schwester Ehrentrud: für die Küche und die Hauswirt-schaft des Klosters verantwortlich
Schwester Isolde: nach Walburgas Tod für die Pforte zuständig
Schwester Apollonia: Sakristanin und Bibliothekarin des Klosters
Schwester Innocentia: Cellerarin, für die Klosterfinanzen verantwortlich
Schwester Belén: Novizin, stammt ursprünglich aus Kolumbien
Schwester Eva: Deckname von Irina Worobjowa s.o.
Pfarrer Anton Kowarek: Klosterpfarrer
Pater Gruber: Vertretung des Klosterpfarrers
*
Sonstige:
Walter Schropp: Landwirt und Walburgas Bruder
Andreas Rudolph: Winzer in Rohrbach bei Landau, Schwester Ehrentruds Bruder
Kurt Kerbel: Speyerer Original, das André auch schon von vorhergehenden Fällen kennt
Herr und Frau Doktor Römling: Andrés Hausarzt und dessen Tochter
Vorblende, Montag, 23. März 2020, 13 Uhr
Irina fühlte sich, als würde sich ein Gespinst aus Zuckerwatte um sie legen. Jede ihrer Bewegungen verfing sich in den klebrigen Fäden, jeder Laut wurde geschluckt. Ihr Blick vernebelte.
Warum nur war sie so ungeschickt gestürzt? Warum waren die Beine unter ihr weggeknickt wie welker Lauch? Die Wände des Kirchturms, die vor ihr aufragten, verschwammen mehr und mehr. Sie war unendlich müde. Selbst die Schmerzen an ihrem Steißbein vom harten Aufprall auf dem Steinboden schienen unwirklich und zogen vorbei wie ein paar aufgeschreckte Tauben.
Man versuchte, sie aufzurichten. Sie wollte mithelfen, sich der Müdigkeit erwehren. Doch ihre Glieder widersetzten sich – die Beine wie mit Sandsäcken beschwert, die Arme wie trockene Äste, die unter ihrem Gewicht zu brechen drohten.
Als sie endlich angelehnt am Geländer in ihrem Rücken stand – ein Stoß gegen ihre Front. Ihre Brüste schmerzten, zwischen ihre Rückenwirbel zwängte sich unbarmherzig harter Stahl. Sie meinte, ein Knirschen zu hören. Der Schmerz nahm ihr den Atem. Ein Gefühl, als würde ihr Oberkörper einfach nach hinten abknicken. Das ächzende Gurgeln, das ihre Kehle hervorbrachte, um die Pein aus sich herauszuschreien, verhallte im Lärm eines weit unter ihr vorbeibrausenden Motorrades.
Wie Engelsschwingen nahm sie das Weiß der Kleidung der Person vor ihr wahr. Wer war das? Sollte sie den Menschen, der sie so peinigte, kennen? Erneut schoben sich kräftige Hände unter ihre Achseln und pressten sie wieder gegen die Balustrade hinter ihr. Ein sehniger Körper warf sich ihr entgegen und nahm ihr aufs Neue die Luft. Die schmiedeeisernen Stäbe in ihrem Rücken verursachten qualvolle Schmerzen an ihrem geschundenen Rückgrat. Längst hatten sich die hakenförmigen Teile des Zierrats durch ihre Kleidung gebohrt, und Blutströpfchen tränkten den weißen Stoff ihres Kleids. Sie gab sich verloren, kämpfte nicht mehr. Ihr Kopf fiel kraftlos hintenüber. Würde es knacken, wenn ihr Genick brach?
Wieder ein Ruck. Ein hässliches Scharren an den Seiten des Geländers. Es gab nach. Die Kloben schickten sich an, dem Sandstein, der sie Jahrzehnte gehalten hatte, zu entgleiten. Noch ein zusätzlicher Stoß und sie würde mitsamt der Balustrade in die Tiefe stürzen.
Krähen flatterten über ihr aus den morschen Holzlamellen des Glockenstuhls.
Schwarze Engel? Die Vorboten des Todes?
War das das Gefühl, wenn sich die Seele anschickte, ihre sterbliche Hülle zu verlassen?
15 Tage vorher, Sonntag, 8. März 2020, 8.30 Uhr
Es war jener Sonntag in der Fastenzeit, an dem landauf, landab in den katholischen Kirchen das »Reminiscere« gelesen wurde. So auch in der barocken Kapelle von Sankt Guido, einem traditionsreichen Klosterkomplex in der Speyerer Altstadt.
André Sartorius hatte sich wie immer, wenn er hier war, in der letzten Bank niedergelassen. Er sog die Atmosphäre der unaufgeregten Gelassenheit in dem heimeligen Gotteshaus wie ein beruhigendes Tonikum in sich auf. Hier, abseits der Touristenströme, wirkte alles authentisch und unspektakulär bescheiden. Man buhlte nicht um Gläubige, die die Kirchenbänke füllen sollten, heischte nicht durch künstlerisch hochklassige Orgeleinlagen nach der Aufmerksamkeit der Massen, wie man es von den monumentalen Messen im Dom kannte. Hier war neben den wenigen verbliebenen Nonnen von Sankt Guido nur eine überschaubare Anzahl von externen Besuchern anzutreffen. Die Stundengebete und Gottesdienste verliefen beschaulich. Selbst der Gesang der Ordensfrauen war leise und unaufdringlich, so als wolle man um keinen Preis auffallen.
Besorgt schaute die heute noch gebrechlicher als sonst wirkende Priorin Schwester Alma auf den freien Platz links neben ihr in der ersten Bank. Wo war ihre Mitschwester Walburga? Nervös räusperte sich Pfarrer Anton Kowarek, der wie angewurzelt mit dem Messbuch in der Hand hinter dem Volksaltar, nur wenige Meter vor ihr, stand. Er pflegte nie das Wort zu ergreifen und die Messe zu beginnen, ohne dass ihn die Priorin mit einem fast unmerklichen Nicken dazu ermutigte. Er wusste, wie wichtig es ihr war, bereit zu sein, um jeden Tag aufs Neue mit allen Sinnen in die liturgischen Abläufe einzutauchen.
Sie wandte sich um und richtete stumm den Blick auf die einzige Novizin des Klosters, Belén, in der Bank direkt hinter ihr. Sie war eine junge Kolumbianerin, die zur Unterstützung der Speyerer Klostergemeinschaft aus der Niederlassung des Ordens bei Medellin hierhergekommen war. Belén hatte den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen. Ins Gebet vertieft, ließ sie die Holzkügelchen ihres Rosenkranzes durch die schlanken walnussbraunen Finger gleiten. Trotz ihres, im Vergleich zu ihren Mitschwestern, jugendlichen Alters von 25 Jahren hob sie sich in ihrer tiefen Frömmigkeit von ihnen ab. Es wirkte fast, als sei ihre Beziehung zu Gott inniger und inbrünstiger als bei vielen anderen.
Erst ein derber Ellbogenstoß von Schwester Gertrude, der Novizenmeisterin und Subpriorin neben ihr, riss sie aus der stillen Andacht. Mit strenger Miene gebot ihr Gertrude, der Priorin ihre Aufmerksamkeit zu schenken.
»Lauf und schau nach Schwester Walburga. Ihr schien es gestern Abend schon nicht gut zu gehen«, flüsterte ihr die greise Alma kaum hörbar zu.
Beléns Wangen verfärbten sich rosig, wie immer, wenn sie direkt angesprochen wurde. Hektisch ließ sie den Rosenkranz aus ihren Händen gleiten, raffte ihren weißen Habit und folgte dem Wunsch der Priorin.
Sonntag, 8. März 2020, 8.40 Uhr
André spürte, dass etwas anders war als sonst. Auch wenn er nicht alles verstanden hatte, verrieten ihm die besorgten Gesichter der Schwestern, dass sie der Situation mehr Bedeutung beimaßen, als handle es sich nur um die Unpünktlichkeit einer Mitschwester. Nach gut zehn Minuten wurde die Tür zum Kloster aufgerissen. Krachend donnerte sie gegen die Kirchenwand dahinter. Die Altarkerzen flackerten. Belén stürzte herein. Ihr weißer Schleier war verrutscht, eine schwarze Haarsträhne hing ihr wirr in die Stirn.
Obwohl es verpönt war, in diesen Mauern zu rennen, hastete sie schwer atmend, mit zu einer Grimasse verzerrten Zügen, auf die Priorin zu. Sie warf sich vor ihr auf die Knie und schlug hastig ein Kreuz. »Es la … es la hermana Walburga. Es ist Swester Walburga.« Mit jedem Wort wurde ihre Stimme lauter und durchdringender. »Está muerta. Sie ist tot!«, schrie sie voller Entsetzen in einem Mix aus Deutsch mit spanischem Akzent und ihrer Muttersprache.
Ihr Schrei hallte von den hohen Wänden der Kapelle wider. André lief ein eiskalter Schauer über den Rücken.
Während Belén in Tränen ausbrach und mit ihren Fäusten fassungslos auf den Steinboden hämmerte, bekreuzigten sich die Nonnen. Der Pfarrer, der bis eben ungeduldig von einem Fuß auf den anderen getreten war, legte das Messbuch aus der Hand und sank aschfahl auf einen Stuhl seitlich des Altars.
André, dessen rationale Abgeklärtheit sich in solchen Situationen wie eine Rüstung um seine Seele legte, blieb ruhig und behielt den Überblick. Er realisierte die Überforderung der Ordensfrauen, fühlte, dass er gefordert war, ihnen zu Seite zu stehen. Er erhob sich, signalisierte der Priorin durch ein Kopfnicken, dass er sich um die weltlichen Erfordernisse kümmern würde, und ging vor die Tür. Dort alarmierte er mit seinem Smartphone einen Notarztwagen.
Als er wieder in die Kirche trat, hatten sich die Nonnen noch immer nicht gefasst. Die Subpriorin, die resolute, groß gewachsene Schwester Gertrude, stützte Alma, die wie vom Schlag getroffen auf der Bank saß und vornüberzukippen drohte.
Manch eine der Schwestern starrte apathisch ins Leere, andere suchten Trost im Gebet.
»Kümmern Sie sich um sie«, durchschnitt Gertrudes herrische Stimme die aufgeregte Stille, an ihre Banknachbarin gewandt, und wies auf die im Schock erstarrte Priorin. »Ich werde mit Schwester Hildegard nach ihr sehen. Vielleicht können wir noch etwas für sie tun!«
Ohne zu zögern, sprang Hildegard, die für die kleine Krankenstation des Klosters zuständig war, auf und folgte Gertrude durch die Seitentür ins Klostergebäude.
Sonntag, 8. März 2020, 9 Uhr
Es dauerte keine 20 Minuten, bis sich nahezu zeitgleich ein Notarztwagen und ein Zivilfahrzeug der Ludwigshafener Polizei mit wild zuckendem Blaulicht aus der engen Gasse vor dem Kloster ankündigten.
Beide fuhren auf den weiten Vorplatz der Kapelle und stoppten abrupt.
Nachdem er den Krankenwagen verständigt hatte, war André auf Schwester Alma zugegangen und hatte sie informiert. Sie nahm seine Hilfe bereitwillig an, war sie doch in diesen weltlichen Dingen reichlich unerfahren. Sie kannte ihn oberflächlich als sporadischen Gottesdienstbesucher und in seiner Funktion als Speyerer Stadtführer, was ihm offensichtlich einen Vertrauensbonus eingebracht hatte.
Kriminalhauptkommissar Frank Achill und Kriminaloberkommissarin Verena Bertling sprangen aus dem Wagen und steuerten direkt auf die Priorin zu.
André wusste zwar, dass bei plötzlichen Todesfällen häufig mit dem Notarztwagen automatisch auch die Polizei hinzugerufen wurde. Warum aber statt eines normalen Streifenwagens gleich die Mordkommission angerückt war, verwunderte ihn. Dass ausgerechnet sein langjähriger Freund Frank Achill und dessen engste Mitarbeiterin ausgestiegen waren, überraschte ihn zusätzlich.
Während die beiden die Schwester mit Handschlag begrüßten, schenkten sie André nur ein flüchtiges Nicken. Er wusste damit umzugehen. Sobald sein Freund im Einsatz war, hatte er wenig Sinn für Beziehungspflege. Wie immer galt all seine Aufmerksamkeit der möglichst effektiven und regelgerechten Erledigung der Polizeiarbeit.
»Guten Morgen, Schwester, Sie sind die Verantwortliche hier?«, fragte Achill.
Die nur etwa anderthalb Meter große, gebeugte 88-jährige Priorin stand noch immer unter Schock. Sie wankte und schaute sich verunsichert um, als spräche Achill mit einer hinter ihr stehenden Person.
»Grüß Gott!«, sagte sie schließlich mit brüchiger Stimme. »Ich bin in der Tat die Priorin unserer Gemeinschaft, Schwester Alma.« Dabei reichte sie ihm die kleine knochige Hand. Ihr Körper war durch das hohe Alter so stark gekrümmt, dass sich Achill vornüberbeugen musste, um sie zu schütteln.
»Und das ist Herr Sartorius, ein regelmäßiger Besucher unserer Stundengebete«, stellte sie André mit gütigem Lächeln vor.
Nach kurzem Zögern begrüßte Achill nun auch André mit Handschlag, vermied es aber, ihre freundschaftliche Beziehung zu erwähnen.
Bertling lächelte irritiert und nannte Namen und Dienstgrad.
»Können Sie mich nun bitte an den Auffindeort bringen«, bat Achill.
»Auffindeort?«, fragte Schwester Alma verwirrt.
»Na, das Zimmer, in dem Sie die Tote gefunden haben.«
»Zimmer?«, wiederholte Schwester Alma fragend. »Wir nennen das hier Zelle, Herr Kommissar.«
Achill räusperte sich. »Entschuldigung, ich bin mit den klösterlichen Fachbegriffen nicht sehr vertraut. Dann eben in ihre Zelle.«
»Die Zelle unserer Mitschwester befindet sich in der Klausur.«
»Kein Problem«, erwiderte Achill geschäftig und wandte sich in Richtung des Eingangs zum Klosterinneren.
André schmunzelte vielsagend. Zu gerne hätte er seinem Freund eine kleine Erläuterung klösterlicher Gepflogenheiten gegeben, aber Achill hatte ja selbst entschieden, ihre Freundschaft gegenüber der Schwester zu verschweigen.
»Klausur bedeutet, dass es ein von der Außenwelt abgeschiedener Bereich ist, zu dem Außenstehende, ganz besonders Männer, keinen Zutritt haben«, erläuterte die Priorin ruhig, aber mit Nachdruck.
Achill verbiss sich im letzten Moment eine der sonst üblichen abgenutzten Bullenrepliken, die er und seine Kollegen gebrauchten, wenn jemand versuchte, ihnen irgendwo den Zugang zu verwehren.
Stattdessen setzte er auf seine Überzeugungskraft und startete einen neuen Versuch. »Aber jemand muss doch nach der Schwester sehen. Vielleicht …«
»Schwester Walburga wurde zu unserem Herrn gerufen«, unterbrach ihn Alma und bekreuzigte sich, »unsere Infirmarin, Schwester Hildegard, die unser volles Vertrauen genießt, hat sich bereits davon überzeugt.«
Achill wirkte überfordert. »Infirmarin?«, stammelte er.
»Schwester Hildegard ist die Leiterin unserer Klosterinfirmarie, der Krankenstation.«
»Aha.«
André und Bertling konnten nur mühsam ein Schmunzeln unterdrücken.
»Äh, trotzdem wäre es sicherlich sinnvoll, wenn ein zweites Augenpaar uns Gewissheit verschaffen würde, dass wir hier überflüssig sind«, sagte Achill und wies auf die Notärztin, die sich mittlerweile zu ihnen gesellt hatte.
»Haben Sie etwa Zweifel an den Fähigkeiten unserer Schwester Hildegard?«, echauffierte sich Alma. Dabei legte sich ihre Stirn in Falten, was anzeigte, dass man gerade ihre Geduld über alle Maßen strapazierte. »Kommen Sie, in Gottes Namen. Aber der bleibt draußen«, sagte sie, an die Notärztin gewandt, und wies auf den bulligen Sanitäter in riesigen Sportschuhen, der sich mit einem nachttischgroßen Sanitätstornister neben der Ärztin aufgebaut hatte.
»Ich schaffe das alleine«, sagte die Medizinerin lächelnd zu ihm und folgte Schwester Alma mit einer kleinen Arzttasche in Richtung der Klosterpforte.
Als sie außer Hörweite waren, atmete Achill geräuschvoll aus. »Boah, kaum größer als eine Parkuhr, aber schlimmer als jeder russische Türsteher.«
André und Bertling lachten.
»Was macht eigentlich ausgerechnet ihr hier?«, fragte André.
Achill grinste. »Na ja, als im Polizeifunk die Durchsage kam, dass es hier in Speyer einen Todesfall gegeben hat, waren wir zufällig schon auf der B9 Richtung Süden unterwegs. Als ich dann noch vom Kollegen von der Leitstelle hörte, wer den Notruf abgesetzt hat, hab ich mich kurzerhand für zuständig erklärt. Ich wollte verhindern, dass du dich mal wieder in etwas versteigst, du unverbesserlicher Hobbyermittler.«
»Witzbold«, erwiderte André, verärgert über die Spitze seines Freundes. War er es nicht gewesen, der ihn in den letzten Jahren bei der Aufklärung von gleich drei Fällen unterstützt hatte?
»Ich hoffe nur, die Ärztin kann eine unnatürliche Todesursache sicher ausschließen, und wir können uns hier bald vom Acker machen«, warf Bertling ein, um jegliche Missstimmung zwischen den Freunden im Keim zu ersticken.
*
Nach einer halben Stunde trat die Ärztin aus dem Klostergebäude und marschierte zielstrebig auf Achill zu.
»Können wir kurz reden?«, fragte sie und schaute in die Runde, in der sich neben Bertling noch immer André aufhielt.
»Ja«, brummte Achill, offensichtlich scheute er sich, André wegzuschicken.
»Die Schwester ist zweifelsfrei tot«, verkündete die Notärztin.
»Können Sie uns schon was zur Todesursache sagen?«
»Verstehen Sie mich nicht falsch, aber wie Sie sicherlich wissen, ist das die Aufgabe der Kolleginnen und Kollegen der Rechtsmedizin.«
»Ich weiß, ich weiß«, wiegelte Achill ab und wedelte mit der Hand, als wolle er den Widerstand der Ärztin wegwischen. »Aber speziell in diesem Umfeld ist es wichtig zu wissen, ob wir einen unnatürlichen Todesfall ausschließen können. Wir wollen hier nicht unnötig stören, indem wir die Nonnen polizeilichen Befragungen unterziehen.«
Die junge Ärztin blies hörbar Luft durch die Lippen. »Bei der Todesursache bin ich mir nicht sicher. Sie hat sich vor ihrem Tod wohl mehrfach stark übergeben.«
Achill nickte. Er spürte, dass die Ärztin noch mit etwas hinterm Berg hielt. Er verkniff sich eine Antwort und sah sie erwartungsvoll an.
»Und …«, begann die Medizinerin, stockte dann aber.
»Und was?«
»Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will den Kollegen von der Rechtsmedizin nicht vorgreifen, aber …«
»Keine Sorge. Was ist Ihnen noch aufgefallen?«
»Na ja, sie hat auffallend rote Lippen«, platzte es aus ihr heraus.
»Rote Lippen?«
»Ja, und ich denke nicht, dass es Lippenstift ist.«
Achill lachte. »In der Tat, davon würde ich hier auch nicht ausgehen. Und was schließen Sie daraus?«
»Nichts Spezielles. Bei den sonst häufigen Todesfällen durch Herzinfarkt oder Kreislaufversagen ist es eher umgekehrt, die Lippen wirken farblos oder leicht bläulich.«
»Hm«, brummelte Achill unschlüssig.
»Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich würde eher auf einen Vergiftungstod als auf eine natürliche Todesursache tippen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass niemand etwas von einer akuten Erkrankung der Schwester weiß.«
»Vergiftung …«, brummelte Achill vor sich hin.
André blieb stumm, legte die Stirn in Falten und rieb sich versonnen das Kinn, wie immer, wenn er über etwas nachgrübelte.
»Auf ihrem Nachtisch steht übrigens so ein Glaskrug mit einem komischen Tee oder Kräutersud darin. Das sah nicht aus und roch auch nicht wie der übliche Pfefferminz- oder Fencheltee.«
In Achills Gesicht kam Leben. »Wir müssen sofort da rein und die Beweise sichern, egal ob es dieser Priorin passt oder nicht. Verena, ordere bitte die Rechtsmedizin und die Kollegen von der Kriminaltechnik, sie sollen sich beeilen!«
Das Detail mit dem Glaskrug hatte ihn wohl überzeugt, mit großem Besteck an die Sache heranzugehen.
Während Bertling ihr Handy zückte, preschte Achill mit André dicht hinter sich in Richtung Pforte.
»Du bleibst draußen, mein Freund«, sagte Achill resolut. »Das ist ein Polizeieinsatz. Danke, dass du den Notarzt verständigt hast, aber jetzt fährst du am besten nach Hause!«
André wusste, jeder Widerstand war zwecklos. Sein Freund war voll und ganz im Polizeimodus.
Widerwillig verabschiedete er sich und trat den Rückzug an.
Sonntag, 8. März 2020, 9.40 Uhr
Achill war im Begriff, die Klosterpforte zu passieren. Zu seiner Überraschung stellte sich ihm die Priorin breitbeinig, mit vor dem Körper verschränkten Armen, in den Weg. Er musste sich ein Grinsen verkneifen, wirkte dieser Auftritt der zierlichen Frau doch eher grotesk als abschreckend.
»Sie werden unsere Klausur nicht betreten!«, herrschte sie ihn erstaunlich resolut an.
»Ich muss es leider tun. Wir gehen, gestützt auf den vorläufigen Befund der Notärztin, von einem Vergiftungstod aus. Daher müssen wir von Amts wegen in dieser Sache ermitteln. Ich bitte Sie dafür um Verständnis.«
Alma sah ihn durchdringend an. Offensichtlich trug sie einen inneren Kampf mit sich aus.
»Es ist doch auch in Ihrem Interesse, dass wir den Tod Ihrer Mitschwester lückenlos aufklären.«
»Ich wüsste nicht, was es für Sie aufzuklären gibt. Wenn unser Schöpfer eine der Unsrigen zu sich ruft, dann hat es Gründe, die nur er versteht. Aber Menschen wie Sie leben wohl nur für den Zweck, das Unergründliche erklären zu wollen und ihm ins Handwerk zu pfuschen.«
Sie ging zögerlich einen Schritt zur Seite. Doch ihr Gesicht verriet ihre Missbilligung. »Aber ich bestehe darauf, dass Schwester Gertrude Sie begleitet. Die Klausur eines Klosters ist kein Ort, an dem man sich bewegen kann wie auf dem Jahrmarkt.«
Ehe Achill etwas entgegnen konnte, wandte sie sich zu Gertrude, die drei Schritte abseits dem Gespräch gefolgt war. »Sie bringen den Herrn Kommissar zu Walburgas Zelle, und zwar auf direktem Wege!«
*
Achill musste sich beeilen, um der hochgewachsenen Schwester, die im Stechschritt voranging, folgen zu können. Jeder ihrer Tritte in den groben, schwarzen gummibesohlten Schuhen verursachte ein enervierendes Quietschen auf dem auf Hochglanz gebohnerten Linoleumboden.
Eine der Zellentüren am Ende des kahlen Korridors im zweiten Obergeschoss war weit geöffnet. Von innen drang geschäftiges Poltern und Werkeln nach draußen.
»Ist das das Zimmer der Verstorbenen?«, fragte Achill teils überrascht, teils empört.
»Ja, das ist die Zelle unserer Mitschwester Walburga.«
Achills Wangen liefen zornesrot an. Unwillkürlich beschleunigte er den Schritt.
»Was tun Sie da?«, fuhr er die zwei Nonnen an, die gerade dabei waren, im Zimmer der Toten mit Lappen und Feudel sauberzumachen.
»Wir bereiten unserer Mitschwester, Gott hab sie selig, ein würdiges Umfeld. Der Guten schien es vor ihrem Tod sehr schlecht gegangen zu sein«, sagte die größere der beiden mitleidig.
Achill musterte ihren merkwürdigen Aufzug. Über den gepflegten feinen Stoff des Habits hatte sie eine grobe grüne Schürze gebunden.
»Ich bin Schwester Hildegard. Normalerweise ist mein Platz in der Krankenstation oder in unserem Kräutergarten«, verkündete die etwa 50-jährige stämmige Frau, die seinen fragenden Blick auf die grüne Arbeitsschürze richtig gedeutet hatte.
Achill stieg nun auch der unangenehme Geruch von Erbrochenem in die Nase. Er wurde selbst durch den scharfen Salmiakgestank aus dem Putzeimer, in den die andere Nonne gerade ihren Feudel tunkte, nicht überdeckt.
»Un was machenen Sie do in de Klausur?«, fragte ihn nun die Feudelschwingerin mit unverkennbar südpfälzischem Dialekt.
Achill zog den Dienstausweis hervor und hielt ihn ihr unter die Nase. »Mein Name ist Kriminalhauptkommissar Frank Achill, und ich ermittle in diesem Todesfall!«
»Aber doch nidd bei uns?«
»Ganz besonders hier, denn das hier ist vermutlich ein Tatort, und Sie hören sofort auf, hier alles zu verunreinigen.«
»Zu verunreinische? Ich butz doch nur mol schnell durch.« Die Nonne schien die Welt nicht mehr zu verstehen. »Verunreinische«, wiederholte sie immer wieder und schaute dabei fragend und ungläubig auf ihren Schrubber.
»Vielleicht hätte ich besser sagen sollen, Sie beseitigen Spuren.«
»Spure vunn was? Sie wern endschuldische, sie hodd halt äfach gebroche. Des kummt halt ämol vor, wonn’s ähm schlecht isch – a bei uns.«
»Ja schon, aber es geht um die Spuren der möglichen Täterin.«
Das Wort »Täterin« schien sich wie ein eisiger Bannstrahl in die Gemütslage der Ordensfrauen zu bohren und ließ ihre Züge gefrieren.
Die eben noch putzende Schwester ließ sich matt auf einen Stuhl fallen.
Gertrude, die noch immer in seinem Rücken stand, erlangte als Erste wieder die Fassung.
»Sie meinen doch nicht etwa im Ernst, dass …«, setzte sie an, bekreuzigte sich und ließ das, was sie sagen wollte, unausgesprochen.
»Ich meine gar nichts. Ich tue das, was in solchen Situationen routinemäßig getan werden muss. Beweise sichern und die Überführung des Leichnams in die Rechtsmedizin sicherstellen.«
»Aber Schwester Walburga würde nicht wollen …«, begann die grünbeschürzte Nonne matt.
»Es tut mir leid, im Falle eines unnatürlichen Todes muss die Verstorbene einer Obduktion unterzogen werden.« Kaum hatte er das ausgesprochen, dämmerte Achill, dass er sich gerade um Kopf und Kragen redete.
Die Grünbeschürzte schluckte. »Obduktion?«
»Natürlich, die Notärztin vermutet eine Vergiftung mit einem Kräutersud.«
Er registrierte einen rosigen Schimmer auf den Wangen der Schwester. Dabei fiel ihm auf, dass nirgends ein Glaskrug oder ein ähnliches Gefäß zu sehen war. »Und wo ist der Kräutersud, von dem die Ärztin gesprochen hat?«
Die Nonnen schwiegen und wechselten betretene Blicke.
Achill fragte sich, ob sie wirklich so weltfremd waren. Oder führte man ihn hier gerade hinters Licht?
»Noch mal: Wo ist der Krug?«
»Wir … also ich … also wir waren uns einig, dass wir ihn wegschütten sollten. Es sah alles so unordentlich aus«, stammelte die Grünbeschürzte nun sichtlich zerknirscht.
»Wohin haben Sie ihn geschüttet?«
»Halt ins Klo«, antwortete die andere.
»Und der Krug, ist der schon gespült?«, bohrte Achill weiter.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Schwester Hildegard kleinlaut. »Ich habe ihn in der Küche neben dem Spülbecken abgestellt.«
Achill schüttelte den Kopf.
»Kann ich helfen?«, hörte er nun Bertlings Stimme in seinem Rücken.
Er drehte sich zu ihr um. Sie schmunzelte. »Die Rechtsmedizinerin ist schon unterwegs, und die Kollegen von der Kriminaltechnik müssten in gut 20 Minuten hier sein.«
»Danke«, erwiderte Achill.
»Soll ich mich nach dem Krug umsehen?« Offensichtlich hatte sie die letzte Gesprächssequenz mitgehört.
»Gerne. Schwester Hildegard, bitte zeigen Sie meiner Kollegin, wo Sie den Krug hingestellt haben.«
»Und Sie, Schwester …« Dabei wies er mit dem Kopf in Richtung der Feudelschwingerin.
»Schweschder Ehrentrud«, ergänzte sie und rollte die beiden R in ihrem Namen.
»Sie verlassen bitte den Raum. Es darf hier nichts mehr verändert oder angefasst werden.«
Gertrude, die noch immer hinter ihm stand, setzte an, etwas zu erwidern.
»Bitte, Schwester Gertrude!« Er hatte versucht, allen Nachdruck und all seine Autorität in das Wort »Bitte« zu legen. »Bitte besorgen Sie mir eine Liste aller im Kloster anwesenden Nonnen. Sie sollen sich, sagen wir, so in einer Stunde zusammenfinden. Am besten in einem Raum, in dem wir alle Platz haben.«
»Das Refektorium im Erdgeschoss«, schlug Gertrude vor.
»In Ordnung, dann nehmen wir dieses Refektorium. Bereiten Sie dort schon mal alles vor.« Achill war zu dem Schluss gekommen, dass er sie beschäftigen musste, um sie hier loszuwerden.
»Aber wir sollten vor dem Mittagsgebet um 11.40 Uhr fertig sein. Danach brauchen wir den Raum, um dort das Mittagessen einzunehmen.«
»Na, dann in Gottes Namen nach dem Mittagessen«, brummte Achill genervt. »Dann zieht sich das alles eben bis in den Nachmittag hin. Wir sind erst fertig, wenn alle Fragen geklärt sind.«
Ohne weiteren Kommentar und mit zu einer dünnen Linie zusammengekniffenen Lippen zog Gertrude mit wehendem Habit und quietschenden Gummisohlen davon.
Nun, nachdem alle verschwunden waren, konnte Achill sich endlich auf das Zimmer und den Leichnam konzentrieren. Für einen Moment reute ihn die Pietätlosigkeit, mit der er, nur wenige Meter von der Toten entfernt, seinen kleinen Kampf mit den widerspenstigen Nonnen ausgefochten hatte. Aber so war Polizeiarbeit eben. Selbst der Tod verkam nach einigen Berufsjahren zur schlichten Kulisse.
Ihm war es stets wichtig, das Umfeld der Opfer, das in diesem Fall wahrscheinlich auch der Tatort war, sorgfältig zu inspizieren.
Hier war das einfach. Der Raum maß gerade mal etwa drei auf vier Meter. An der Schmalseite gab es gegenüber der Tür ein Fenster zum Garten. Die Möblierung war spartanisch. Ein Bett mit Nachttisch und ein Kleiderschrank an der rechten Längsseite. Links ein kleines Waschbecken, Stuhl und Tisch mit einem Bücherbord darüber. Daneben, an der Wand, ein schlichtes Holzkreuz.
Zuerst wandte er sich der Leiche zu.
Vorsichtig schlug er das Leintuch zurück, das man über sie gebreitet hatte. Mit Sicherheit war der tote Körper von der Notärztin schon bewegt worden. Und wahrscheinlich hatten auch die beiden Nonnen in irgendeiner Weise Hand angelegt, um der Entschlafenen ein würdiges Aussehen zu verleihen. Trotzdem war unverkennbar, dass Walburga unter großen Schmerzen und Krämpfen verstorben war. Ihre Züge wirkten verkrampft, worüber auch die wahrscheinlich durch ihre Mitschwestern post mortem geschlossenen Augenlider nicht hinwegtäuschen konnten.
Ihr dünnes, kurzes graues Haar war zerzaust.
Auffällig waren die schon von der Notärztin angesprochenen unnatürlich roten Lippen. Sie bildeten einen bizarren Kontrast zu der bleichen, wächsernen Haut des Gesichts.
Achill beugte sich über den Leichnam, um sich die Mundpartie genauer anzusehen. In der Tat, es war auszuschließen, dass die Farbe durch Lippenstift oder auf andere Weise aufgetragen worden war. Als er ihr näherkam, roch er den üblen Dunst von Erbrochenem. Die Schwester musste vor ihrem Tod schwer gelitten haben.
Dann streifte er sich ein paar Latexhandschuhe über und schlug die Bettdecke zurück.
Die Tote trug ein Nachthemd. Ein Zeichen dafür, dass sie nicht mehr die Kraft aufgebracht hatte, sich anzukleiden oder gar in den Morgenstunden bereits nicht mehr gelebt hatte.
Warum hatte sie nicht um Hilfe gerufen? Und warum waren ihre Zimmernachbarinnen nicht auf ihr Leiden aufmerksam geworden? Er war gespannt auf die Befragungen und beschloss, sich einen Gebäudeplan, auf dem die Zimmerbelegung vermerkt war, geben zu lassen.
Dann wandte er sich der Umgebung der Verstorbenen zu.
Er öffnete den schmalen Kleiderschrank, dessen Tür knarzte. Die Leere darin überraschte ihn. Außer einem schlichten dunklen Woll- und einem dünnen Regenmantel gab es lediglich noch eine Strickweste und zwei Habite mit Schleier und so etwas wie Hauben, die wahrscheinlich darunter getragen wurden. In einem Fach daneben lag ein kleiner Stapel einfache, vom langen Tragen und vielem Waschen vergraute Unterwäsche. Dazu einige Paare dunkle Kniestrümpfe und unten im Schrank je ein paar klobige schwarze Sommer- und Winterschuhe. An einem Haken an der Seitenwand hing ein grober brauner Ledergürtel.
In einem Fach fand er schließlich einige private Habseligkeiten. Ein Portemonnaie mit wenigen Münzen und einem Zehneuroschein, Familienfotos, Heiligenbildchen, eine Dose mit Handcreme und eine angebrochene Tafel Schokolade.
Dieses unerwartete Maß an Bescheidenheit, in dem diese Frau Jahrzehnte gelebt haben musste, bewegte ihn.
Er wandte sich dem Bücherregal zu. Neben einer abgegriffenen Bibel und einem Gesangbuch standen zwei weitere Bücher: eines über das Leben von Thomas von Aquin und interessanterweise ein weiteres mit dem Titel Bank- und Börsenwissen – kompakt.
Was für eine eigenartige Zusammenstellung, dachte Achill und schüttelte den Kopf.
Sowohl die Oberfläche des Tischs als auch die des Nachttischs waren von nahezu aseptischer Leere. Auf dem Nachtschrank lag eine Brille, auf der abgewetzten Resopaltischplatte eine Schreibunterlage und ein einfacher Kugelschreiber mit dem Werbeaufdruck einer Apotheke. Daneben lag die letzte Ausgabe des Pilgers, einer in Speyer gedruckten Kirchenzeitschrift.
An der Wand hing eine Fotografie von Edith Stein. Sie war eine Heilige, die einige Jahre in Speyer als Lehrerin gearbeitet hatte und schließlich wegen ihrer jüdischen Abstammung von den Nationalsozialisten in den Gaskammern von Auschwitz ermordet worden war.
Achill rieb sich über die Augen. Die armseligen Hinterlassenschaften der betagten Schwester rührten ihn.
Sonntag, 8. März 2020, 10.05 Uhr
Es sah linkisch und steif aus, als sich André aus Angst, ein weiteres Aufschieben des Tores könne die Schwestern auf ihn aufmerksam machen, durch das einen Spaltbreit geöffnete Rolltor in den Klostergarten zwängte.
Die Sache mit den roten Lippen, die die Notärztin vorhin von der Leiche berichtet hatte, beschäftigte ihn. Er war sich sicher, schon einmal über dieses Phänomen in einem seiner Gartenbücher gelesen zu haben.
Niemand nahm Notiz von ihm. Die Ankunft zweier grauer Transporter, aus denen eine Horde Kriminaltechniker mit ihren Alukoffern, Kameras und Stativen quoll, zog alle Aufmerksamkeit auf sich.
Der durch eine hohe Mauer umfriedete quadratische Garten des Klosters war weitläufig. Das Zentrum bildete ein Zierrasen. Um ihn erstreckten sich Rabatten mit Rosenbüschen, Tulpen und Osterglocken. An der Sandsteinmauer, immer wieder unterbrochen durch Beerensträucher und Obstspaliere, zog sich ein Heil- und Küchenkräutergarten entlang.
André baute auf seinem Altstadtanwesen selbst zahlreiche seltene Kräuter an. So waren ihm Heilpflanzen durchaus vertraut. Über die Jahre hatte er sich ein profundes Wissen über deren Eigenschaften angeeignet und einen regelrechten Hang zur Botanik entwickelt. Obwohl er nach einer ganz bestimmten Pflanze suchte, ließ er es sich nicht nehmen, aufmerksam von Beet zu Beet zu schlendern und die Vielfalt und fachkundige Auswahl der tüchtigen Nonnen zu studieren.
Da war Galgant, eine Ingwerart, der schon Hildegard von Bingen große Heilkräfte zugesprochen hatte und die man in heimischen Gärten so gut wie nie fand. Daneben Beinwell, Bertram, Quendel und Alant. André war fasziniert, am liebsten hätte er sich mit einer der kräuterkundigen Schwestern unterhalten und sich herumführen lassen.
Doch er war hier, um nach einem ganz besonderen Baum Ausschau zu halten. In einer Ecke des großflächigen Gartenkarrees entdeckte er schließlich den dunklen mehrtriebigen Nadelbaum, den er zu finden gehofft hatte. Eine Eibe oder botanisch Taxus baccata.
Er war sich sicher, irgendwo gelesen zu haben, dass Taxin, das hochwirksame Gift der Eibe, nach Einnahme zu einer auffallenden Rotfärbung der Lippen führte. Genauso, wie es die Notärztin bei Walburga festgestellt hatte.
Das Gift war außer im Fleisch der roten kleinen Früchte in allen Teilen des Baumes, vor allem aber in den Nadeln enthalten. Da kaum anzunehmen war, dass sich jemand mit der Verarbeitung von Samen, Stamm, Rinde oder Wurzel abgemüht hatte, konnte man davon ausgehen, dass sich der Verursacher der Vergiftung mit frischen Zweigen eingedeckt hatte.
André musste nicht einmal um den Baum herumlaufen, um zu erkennen, dass an den unteren, gut erreichbaren Ästen vor Kurzem Triebe entfernt worden waren. Aus den Schnittstellen trat noch der harzige Pflanzensaft aus. Nach seiner Erfahrung konnten die Schnitte nicht älter als drei Tage sein. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
War er etwa dem Täter oder der Täterin schon dicht auf den Fersen? Aber was, wenn sich der Mörder noch hier ganz in der Nähe aufhielt?
Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Mit einem Mal kam er sich beobachtet vor. Hektisch wandte er sich in Richtung des Klostergebäudes um. Er konnte gerade noch sehen, wie an einem der Zellenfenster eine Nonne hinter dem Vorhang verschwand. Verdammt, war er etwa aufgeflogen, und gleich würde ihn ein Haufen zeternder Nonnen aus dem Garten vertreiben?
*
»Diese Herrschaften haben nach Ihnen gefragt«, durchschnitt eine bissige Stimme die konzentrierte Stille in Walburgas Zelle.
Achill, der gerade dabei war, die Bücher nach Zetteln oder Buchzeichen zu durchsuchen, zuckte zusammen.
Als er sich umdrehte, erkannte er neben Schwester Gertrude seine in weißen Overalls steckenden Kolleginnen und Kollegen von der Kriminaltechnik und die Rechtsmedizinerin.
»Schön, dass es so schnell geklappt hat«, begrüßte er sie, ohne ihnen die bereits behandschuhten Hände zu schütteln.
»Bitte nehmt das Zimmer eingehend unter die Lupe. Aus meiner Sicht ist in diesem Fall der Auffindeort auch der Tatort. Die Notärztin geht von einer Vergiftung aus. Leider konnte ich nicht verhindern, dass hier bereits gewischt wurde. Verena konnte den Glaskrug, in dem sich nach Aussage der Notärztin der möglicherweise tödliche Kräutersud befand, nur noch leer, aber ungespült sicherstellen. Untersucht bitte die anhaftenden Reste des Inhalts im Labor nach Giftrückständen.« Dabei deutete Achill auf den in einem Plastikbeutel verpackten Krug, den Bertling auf dem Tisch abgestellt hatte.
»Eng hier«, klagte Franz Steiger, der Leiter des KTU-Trupps, und sah Achill auffordernd an.
»Lieber Franz, ich mag deine subtile Art, mich rauszuwerfen. Falls du mal einen anderen Job suchst, kann ich dich bestimmt an irgendeinen Klub als Rausschmeißer vermitteln.«
»Und ich mag deine schnelle Auffassungsgabe«, stellte der Kriminaltechniker grinsend fest und versetzte ihm freundschaftlich einen Stoß mit der Schulter.
»Wann kann ich mit eurem Bericht rechnen? Klappt es heute noch für einen Ersteindruck?«
»Bei uns schon«, antwortete Steiger.
»Bei mir wird es morgen«, ergänzte die Rechtsmedizinerin. »Momentan liegen meine Kunden Schlange. Der Frühling ist immer eine gute Zeit zum Sterben.«
Schwester Gertrude räusperte sich konsterniert. »Unser Schöpfer kommt offensichtlich besser als Sie mit Warteschlangen zurecht.«
Achill spürte, dass es Zeit war, Gertrude aus der Runde zu entfernen, bevor es noch zu einem offenen Konflikt kam.
»So, lassen Sie uns gehen, die Kollegen brauchen Platz«, sagte er an sie gewandt.
»Ich hoffe, dass Sie das, was auch immer Sie unserer verblichenen Mitschwester antun, bis um 11.40 Uhr beenden werden. Wir haben dann unser Mittagsgebet. Bis dahin sollte unsere Klausur wiederhergestellt sein«, erwiderte sie spitz und machte auf quietschenden Gummisohlen kehrt.
*
Als Achill unter den argwöhnischen Blicken von Schwester Gertrude das Erdgeschoss erreichte, stand Alma, die Priorin, im Gespräch mit der Novizin Belén auf dem Flur und hatte mütterlich ihre Hand auf deren Schulter gelegt.
Achill nickte der jungen Frau zur Begrüßung zu. Sie schlug die Augen nieder, als sei es ihr peinlich, einem Mann gegenüberzustehen.
»Schwester Alma, auf ein Wort.«
Die Novizin verabschiedete sich hastig und ließ Achill und Alma alleine.
»Schwester Alma, wie Sie sicherlich bereits wissen, kümmert sich die Rechtsmedizinerin gerade um Ihre verstorbene Mitschwester. Die Kolleginnen und Kollegen von der Kriminaltechnik widmen sich deren Zimmer. Ich hoffe, dass sie bis zu Ihrem Mittagsgebet das Gebäude verlassen können.«
»Danke«, sagte Alma und nickte.
Achill hatte mittlerweile eingesehen, dass es sinnlos war, gegen die wie in Beton gegossenen Gepflogenheiten des Klosters aufzubegehren.
»Meine Kollegin, Frau Bertling, und ich würden uns dann gerne nach dem Mittagessen noch mit Ihnen und den Schwestern unterhalten.«
Alma nickte mit einer Miene, als hätte sie gerade eine bittere Medizin geschluckt.
»Lieber Herr Achill, die Frauen, die sich hierher zurückgezogen haben, um ein spirituelles Leben für sich zu erwählen, taten dies aus guten Gründen. Einer war für viele, der Gewalt und Rohheit der Daseinsweise da draußen zu entfliehen. Sie haben – wie zum Beispiel unsere Novizin, die Sie eben kurz kennengelernt haben – schlimme Erfahrungen gemacht, waren oder sind traumatisiert und suchen hier Ruhe und Schutz. Ich bitte Sie eindringlich, dies bei Ihrer Befragung zu berücksichtigen.« Sie sah dabei mit fast flehendem Gesichtsausdruck zu ihm auf.
»Ich verspreche es Ihnen«, erwiderte er und nickte ihr zu.
»Danke, wir werden Ihnen um 13.30 Uhr im Refektorium, unserem Speisesaal, zur Verfügung stehen. Wir sind neun – Verzeihung – nach Walburgas Tod nur noch acht.« Dabei lief Alma eine Träne über die faltige Wange.
Sonntag, 8. März 2020, 11.40 Uhr
Achill war mittlerweile klar geworden, dass er und Bertling, während sich die Schwestern dem Mittagsgebet widmeten und aßen, das Kloster zu verlassen hatten. Er brauchte für die anstehenden Befragungen deren Wohlwollen und wollte die Stimmung nicht weiter belasten.
Trotz ihres lautstarken Murrens hatte er seine Kollegen von der KTU schließlich überzeugt, um 11.30 Uhr abzurücken. Walburgas Leichnam war kurz vorher von einem Bestatter abgeholt worden und wurde in die Rechtsmedizin der Universitätsklinik Mainz überführt. Pünktlich vor dem Mittagsgebet waren auch Bertling und er aufgebrochen, um sich die Beine zu vertreten. Sie wollten sich ohnehin über ihre Wahrnehmungen austauschen und eine Kleinigkeit essen.
Nun saßen sie im nahegelegenen Berzelhof, einem geschmackvoll gestalteten kleinen Café in der Speyerer Altstadt. Beide hatten sie je einen doppelten Cappuccino und ein Stück Rahmkuchen vor sich.
»Wenigstens scheint die Notärztin nicht ganz falschgelegen zu sein. So interessiert, wie sich die Rechtsmedizinerin die roten Lippen angeschaut hat, wittert sie was«, sagte Bertling.
»Im Gegensatz dazu wirkten die KTU-Leute ziemlich abgetörnt.«
»Kunststück. Ein Raum, der unmittelbar vor deren Ankunft ordentlich durchgewienert wurde, ist tatsächlich die volle Panne.«
»Ja, es war meine Schuld. Ich hätte direkt den Tatort absperren sollen«, bekannte Achill zerknirscht.
»Na ja, einfach sind diese Nonnen nicht gerade. Das wird nachher ein hartes Stück Arbeit.«
»Ich werde es das nächste Mal zu würdigen wissen, wenn ich nur ein paar serbokroatische Dealer vor mir sitzen habe. Mit denen ist es einfacher«, meinte Achill lachend.
Bertling grinste schief. »Interessanter Standpunkt. Den solltest du allerdings nicht mit den Schwestern teilen. Das könnte uncharmant rüberkommen.«
»Ungünstiger, als es schon ist, kann es kaum noch werden. Oder hast du etwa Erwartungen in ihre Aussagen?«
»Nein, hab ich nicht. Die eine Hälfte versteht gar nicht, um was es geht, und die andere ist eingeschnappt, weil wir in ihrer Klausur rumermitteln.«
»Ich frage mich zunehmend, ob die wirklich so naiv sind, wie sie tun, oder ob sie schon über uns lachen. Dass jemand feudelschwingend einen Tatort reinigt, noch bevor die Polizei vor Ort ist, und dabei keinerlei Unrechtsempfinden hat, ist ein starkes Stück.«
»Hast du dort irgendwo ein Fernsehgerät gesehen?«
»Nein, wieso?«
»Denen fehlt eben die Erfahrung aus 50 Jahren Tatort, die fast jeden Bundesbürger zum Hilfspolizisten gemacht hat.«
»Damit könntest du recht haben, die führen ein völlig abgeschottetes Leben und kriegen von Mord, Totschlag und Gewalt um sich herum nichts mit.«
»Irgendwie tun sie mir auch leid. Sie sind durch die Sache heillos überfordert. Du solltest mit ihnen weniger hart ins Gericht gehen. Bitte nimm mir diesen Hinweis nicht übel.«
»Keine Sorge, ich verfüge nicht über das nötige Maß an Narzissmus, um zu glauben, ich würde immer alles richtig machen.«
»Ich weiß, deshalb macht es ja auch Spaß, mit dir zu arbeiten.«
Achill huschte ein roter Schimmer über die Wangen. Es war ihm stets peinlich, wenn er von anderen gelobt wurde. »Und was schlägst du vor? Wie sollen wir vorgehen?«, überging er das Lob.
»Na ja, erst lassen wir sie in Ruhe ihr Mittagessen einnehmen. Ich denke, eine weitere Störung ihres Tagesablaufs würden sie uns verübeln. Und dann teilen wir sie uns auf und befragen sie einzeln. Du solltest ihnen vorher zusichern, dass wir bis um 17 Uhr die Fliege machen. Um 17.30 Uhr haben sie ihr Rosenkranzgebet, und du hast ja die Ansage der herben Gertrude vernommen, die uns lieber früher als später abrücken sehen will.«
»Harte Bandagen«, entgegnete Achill und lachte. »Okay, dann machen wir’s so. Ich möchte mich der Priorin und dieser Hildegard mit der grünen Schürze annehmen. Sie hat mir etwas zu voreilig den Krug ausgeschüttet. Im Übrigen ist sie als Sanitäterin, oder wie das hier heißt, wohl auch die, die sich von allen hier am besten mit Heilkräutern und Giften auskennt.«
»Okay, ich bastle uns einen kleinen Zeitplan und lege ihn nachher als vertrauensbildende Maßnahme der Priorin vor. Ich glaube, es hilft ihnen, wenn wir eine Struktur vorgeben.«
Sonntag, 8. März 2020, 13.30 Uhr
Sie hatten sich entschieden, einfühlsam und transparent vorzugehen. Die Nonnen zu gewinnen, statt einzuschüchtern, war die neue Devise. Deshalb wollten sie vorab ihr weiteres Vorgehen erklären und alle informieren.
Die räumlichen Voraussetzungen im Refektorium, dem Speisesaal, waren dazu perfekt geeignet.
Der Raum war wohl einst für weit mehr Personen ausgelegt gewesen, als ihn zurzeit nutzten. Er war, wie alles hier, spartanisch ausgestattet. Einige, durch die Jahrzehnte währende Nutzung reichlich angeschrammte Tische waren zu einer Tafel zusammengestellt. Wie Gertrude Bertling souffliert hatte, war der Platz am Kopfende der Priorin vorbehalten. Je vier Schwestern saßen üblicherweise an den Seiten.
Bertling war schon etwas früher im Raum und stellte an dem der Priorin abgewandten Tischende zwei Hocker nebeneinander. Auf einem davon ließ sie sich nieder. Gleich neben ihr nahm Achill Platz.
Er trommelte mit den Fingerkuppen ungeduldig auf der Resopaloberfläche des Tisches und beobachtete, wie die Schwestern umständlich ihre Plätze einnahmen.
Zur Rechten der Priorin hatte sich Gertrude niedergelassen. Der Stuhl zu ihrer Linken, offensichtlich Walburgas angestammter Sitzplatz, blieb leer.
Achill konnte sich nur mit Mühe ein Schmunzeln verkneifen. Es war alles wie bei ihm in der Polizeibehörde. Rechts neben dem Chef saß der Stellvertreter. Er fand es bemerkenswert, dass Walburga wohl immer links der Priorin, also an der Stelle, wo nach seiner Erfahrung der stille Favorit weilte, gesessen war.
Rechts neben Gertrude schlossen sich drei der Nonnen an. Links zwei Schwestern und am Ende, am nächsten zur Tür, die Novizin. Er wettete, dass auch das einen Grund hatte. Es war nicht nur symbolisch der Platz der Rangniedrigsten, die Nähe zur Tür ließ ihr mit Sicherheit auch die Aufgabe zufallen, mal eben schnell in die Küche zu huschen, wenn etwas fehlte.
Aus mehr als diesen acht Schwestern bestand die Klostergemeinschaft nicht.
Aufgrund der Überlänge der Tafel war ein Abstand zwischen den Nonnen und ihnen geblieben.
»Meine Damen«, begann Achill mit belegter Stimme.
»Damen«, äffte ihn die dickliche pausbäckige Nonne nach, die vorhin so dreist den Feudel geschwungen hatte, und lachte unverhohlen. Sie fing sich damit Almas strafenden Blick ein.
»Mittlerweile wissen Sie alle, dass Ihre Mitschwester Walburga heute Nacht verstorben ist – mein Beileid.« Achill legte bewusst eine kleine Pause ein, ehe er fortfuhr.
Die Schwestern bekreuzigten sich.
»Alle Anzeichen und Spuren deuten darauf hin, dass sie keines natürlichen Todes gestorben ist.« Wieder pausierte er, um das Gesagte wirken zu lassen.
In den meisten Gesichtern zeichnete sich ungläubiges Entsetzen ab.
»Dies zwingt uns, einige Maßnahmen einzuleiten, die Sie möglicherweise als unnötig oder gar störend empfinden werden. Ich bitte Sie dennoch um Ihre Unterstützung und Ihr Verständnis. Wir sind von Amts wegen gezwungen, diese Schritte einzuhalten, und haben nicht die Kompetenz, Ausnahmen zu machen. Wir müssen erstens das Zimmer, äh, die Zelle von Schwester Walburga für einige Tage, bis die Beweissicherung abgeschlossen ist, versiegeln.«
Die Schwestern rissen empört die Augen auf. Es war für sie wohl ein Novum, dass sich ein Externer anmaßte, das Hausrecht ihrer Priorin einzuschränken.
»Zweitens wurde der Leichnam von Schwester Walburga in die Rechtsmedizin nach Mainz überführt. Es ist zwingend notwendig, ihre Leiche zu obduzieren.«
Mit dieser Aussage erntete er eine Welle des Protests. Die sonst wohl sehr leidensfähigen Schwestern machten ihrem Unmut Luft.
»Nidd ämol verabschiede hän ma uns känne!«, quäkte die Pausbäckige.
»Wie würdelos«, stellte eine andere Nonne mit maskuliner Stimme spitz fest. Ihre rechte Wange zuckte dabei auffällig.
Die Priorin klatschte in die Hände.
»Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. Wichtig ist, dass ihre Seele den Weg zu Gott findet und dafür lasset uns beten, während die Behörden sich um ihre leibliche Hülle kümmern.«
Augenblicklich verstummte das Stimmengewirr.
»Drittens«, fuhr Achill unbeirrt fort, »möchten meine Kollegin und ich mit Ihnen allen anschließend ein kurzes Gespräch führen. Es dient dazu, Ihre jeweiligen Beobachtungen zu Protokoll zu nehmen. Das ist ein normaler Vorgang und entspricht der üblichen Polizeiroutine.«
Wieder setzte ein Wirrwarr an Kommentaren ein. »Ah jo, mir stehen jetzt all unner Verdacht«, blies sich die Pausbäckige auf.
»Ich hab sowieso nichts gesehen«, murmelte eine andere.
»Das ist eine bodenlose Unverschämtheit«, hörte er wieder die männlich klingende Stimme von vorhin.
Die Priorin klopfte mit der Fläche ihrer kleinen knochigen Hand auf den Tisch. »Ich erwarte, dass Sie den Kommissar und seine Assistentin nach Kräften unterstützen«, schrie sie mit brüchiger, kippender Stimme. Es war ihr deutlich anzumerken, dass ihr in ihrem hohen Alter für so etwas die Physis fehlte.
Sie machte eine Pause und blickte reihum jeder der Schwestern fest in die Augen. »Ich möchte, dass, wenn wir nachher zum Abendgebet zusammenkommen, diese Stimmung der Aufwallung vorüber ist und wir uns auf das konzentrieren, was unsere heilige Pflicht ist, nämlich für die Seele unserer verstorbenen Mitschwester zu beten. Dann wird auch die Klausur wiederhergestellt sein, und wir können uns unseren täglichen Aufgaben widmen. Herr Kommissar, nun dürfen Sie mit Ihrer Befragung beginnen. Ich hoffe, dass dieser Spuk bis zum Rosenkranzgebet vorbei ist!«, schloss sie mit strengem auf Achill gerichtetem Blick.
Nun ergriff Bertling das Wort. »Mein Kollege und ich werden je vier Gespräche führen, die etwa 20 Minuten dauern werden. Er wird mit der Priorin beginnen und ich mit Schwester Gertrude.«
Achill entging nicht, wie Gertrude die Lippen zusammenkniff und das Wort »Polizistengöre« vor sich hin zischte. Alma fasste sie energisch am Handgelenk.
Achill und seine Kollegin, die solcherlei Spitzen von ihren Kunden gewohnt waren, gingen kommentarlos darüber hinweg.