Abendstern - Nora Roberts - E-Book

Abendstern E-Book

Nora Roberts

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Beschreibung

A touch of romance …by Nora Roberts

Ein sieben Jahre alter Fluch, drei Freunde, eine große Liebe …

Seit Caleb Hawkins, zusammen mit seinen Freunden Fox O´Dell und Gage Turner als damals Zehnjährige eine Mutprobe am Pagan Stone machte, geschehen in dem kleinen Städtchen Hawkins Hollow in Maryland alle sieben Jahre unerklärliche Dinge. Mit jedem Mal wird es schlimmer und daher beschließt Caleb, dem Alptraum Einhalt zu gebieten. Aber er braucht Hilfe: seine zwei Freunde. Und die Kraft der Frau, die er liebt: die Journalistin Quinn Black ...

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Seitenzahl: 489

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BUCH

Alles begann, als Caleb Hawkins, Fox O’Dell and Gage Turner zusammen ihren zehnten Geburtstag feierten: mit einer Mutprobe bei ihrem Campingausflug im Wald. Sie radelten zum »Pagan Stone« – einem angeblich verfluchten Heidenstein. Niemand weiß genau, was dort wirklich geschah, aber seitdem nennen es die Bewohner des kleinen Städtchen Hawkins Hollow in Maryland nur noch »Die Sieben«. Alle sieben Jahre am siebten Tag des siebten Monats erlebt die Stadt verrückte, eigenartige, manchmal auch furchterregende Dinge. Jetzt, 21 Jahre später, wollen Caleb, Fox und Gage der Sache auf den Grund gehen. Alleine – nur hat Caleb nicht damit gerechnet, dass plötzlich die– sehr attraktive – Reporterin, Quinn Black, in der Stadt auftaucht.

Bei ihren Recherchen zu einem Buch über unerklärliche Ereignisse ist Quinn auf den dunklen Fluch von Hawkins Hollow gestoßen. Schon bei ihrem ersten Besuch in der kleinen Stadt wird Quinns Welt ganz gehörig erschüttert: Sie wird sofort mitten in die unheimlichen Geschehnisse hineingezogen. Aber es ist vor allem der gut aussehende Caleb, der Quinn von ihren Recherchen ablenkt. Schnell wissen die beiden, dass sie für immer zusammengehören – doch noch ahnen sie nicht, welche großen Prüfungen ihre Liebe bestehen muss …

AUTORIN

Durch einen Blizzard entdeckte Nora Roberts ihre Leidenschaft fürs Schreiben: Tagelang fesselte 1979 ein eisiger Schneesturm sie in ihrer Heimat Maryland ans Haus. Um sich zu beschäftigen, schrieb sie ihren ersten Roman. Zum Glück – denn inzwischen zählt Nora Roberts zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt. Mit derzeit ca. 280 Millionen verkauften Romanen weltweit, 124 »New-York-Times«-Bestsellern; monatlich ca. 2 Millionen Zugriffen auf ihre Homepage ist sie ein Phänomen.

Unter dem Namen J. D. Robb veröffentlicht Nora Roberts seit Jahren ebenso erfolgreich Kriminalromane.

Weitere Informationen finden Sie unter:

www.blanvalet.de und www.noraroberts.com

Vollständige Titelliste im Anhang des Buches

Nora Roberts

Abendstern

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Margarethe van Pée

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »Bloodbrothers« bei Jove Books, The Berkley Publishing Group, a division of Penguin Group (USA) Inc., New York.
Copyright © Nora Roberts, 2007 Published by arrangement with Eleanor Wilder Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 by Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück, Garbsen. Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com Redaktion: Regine Kirtschig MD · Herstellung: René Fink Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling ISBN: 978-3-641-02764-3 V002
www.blanvalet.de

Für meine Jungs,

die durch die Wälder streiften,

auch wenn sie es nicht durften.

Wo Gott einen Tempel hat,

hat der Teufel eine Kapelle.

Robert Burton

Die Kindheit zeigt den Mann

wie der Morgen den Tag.

John Milton

Prolog

Hawkins Hollow

Provinz Maryland

1652

Es kroch durch die Luft, die schwer wie nasse Wolle über der Lichtung hing. Durch die Nebelschwaden, die lautlos über den Boden waberten, glitt sein Hass. In der Hitze der Nacht kam es auf ihn zu.

Es wollte seinen Tod.

Während es sich seinen Weg durch die Wälder bahnte, die Fackel zum leeren Himmel gereckt, während es durch Flüsse watete, um das Dickicht herum, in dem sich die kleinen Tiere aus Angst vor seinem Geruch versteckten, wartete er. Höllenrauch.

Ann und das Leben, das sie in ihrem Leib trug, hatte er weggeschickt, in Sicherheit. Sie hatte nicht geweint, dachte er, während er die Kräuter, die er ausgewählt hatte, verstreute. Nicht seine Ann. Aber er hatte den Kummer in ihrem Gesicht gesehen, in den tiefen dunklen Augen, die er in diesem Leben und in allen anderen davor geliebt hatte.

Sie würde die drei Kinder gebären, aufziehen und unterrichten. Und von ihnen würde es, wenn die Zeit gekommen war, wieder drei geben.

Die Macht, die er besaß, würde er an sie weitergeben, an seine Söhne, die ihren ersten Schrei tun würden, lange nachdem diese Nacht vorüber war. Um ihnen die Waffen zu hinterlassen, die sie brauchten, riskierte er alles, was er hatte, alles, was er war.

Er vermachte ihnen sein Blut, sein Herz und seine Vision.

In dieser letzten Stunde würde er alles tun, um sie mit dem auszustatten, was sie brauchten, um die Last zu tragen und sich aufrecht ihrem Schicksal zu stellen.

Seine Stimme war stark und klar, als er Wind, Wasser, Erde und Feuer anrief. Die Flammen in der Feuerstelle flackerten, und das Wasser in der Schale brodelte.

Er legte den Opferstein auf das Tuch. Sein dunkles Grün war rot gesprenkelt. Er hatte diesen Stein in Ehren gehalten, wie alle vor ihm. Jetzt goss er Macht hinein, wie jemand Wasser in einen Becher gießt.

Er zitterte und schwitzte, und je stärker der Lichtring um den Stein wurde, umso schwächer wurde sein Körper.

»Für euch«, murmelte er, »Söhne der Söhne. Drei Teile von einem. In Treue, in Hoffnung, in Wahrheit. Ein Licht, vereint, um die Dunkelheit zu überwinden. Hier ist mein Gelübde. Ich werde nicht ruhen, bis das Schicksal erfüllt ist.«

Mit dem Athame, dem heiligen Dolch, ritzte er seine Handfläche, so dass sein Blut auf den Stein, ins Wasser, in die Flamme fiel.

»Blut meines Blutes. Hier harre ich aus, bis du zu mir kommst, bis du loslässt, was wieder in die Welt entlassen werden muss. Mögen die Götter dich behüten.«

Einen kurzen Augenblick empfand er Trauer. Nicht um sein Leben, dessen Sandkörner durch das Glas rannen. Er hatte keine Angst vor dem Tod. Keine Angst vor dem, was nicht der Tod war. Er trauerte nur darum, dass er in diesem Leben seine Lippen nie wieder auf Anns Mund drücken würde. Dass er die Geburt seiner Kinder, die Kinder seiner Kinder nicht erleben würde. Er trauerte, weil er das kommende Leid nicht aufhalten konnte, auch in früheren Leben nicht hatte aufhalten können.

Er verstand, dass er nicht das Instrument, sondern nur das Gefäß war, das nach den Bedürfnissen der Götter gefüllt und geleert wurde.

Also stand er, erschöpft von seinem Werk, voller Trauer über den Verlust, vor der kleinen Hütte, neben dem großen Stein, um seinem Schicksal entgegenzutreten.

Es kam in Gestalt eines Mannes, aber er war nur eine Hülle. So wie sein eigener Körper eine Hülle war. Er nannte sich Lazarus Twisse, ein Ältester der »Gottesfürchtigen«. Er und seine Anhänger hatten sich in der Wildnis dieser Provinz niedergelassen, nachdem sie mit den Puritanern in England gebrochen hatten.

Im Schein ihrer Fackel musterte er sie jetzt, diese Männer und die eine, die kein Mann war. Sie waren in die Neue Welt gekommen, um Freiheit zu finden, dachte er, und doch verfolgten und vernichteten sie jeden, der ihrem engen, für sie einzig möglichen Weg nicht folgte.

»Du bist Giles Dent.«

»Der bin ich«, sagte er, »in dieser Zeit und an diesem Ort.«

Lazarus Twisse trat vor. Er trug den formellen schwarzen Rock der Ältesten. Sein hoher Hut mit der breiten Krempe ließ sein Gesicht im Dunkeln, aber Giles konnte seine Augen sehen, und in seinen Augen sah er den Dämon.

»Giles Dent, du und die Frau mit Namen Ann Hawkins seid angeklagt und für schuldig befunden der Zauberei und der dämonischen Praktiken.«

»Wer klagt uns an?«

»Bringt das Mädchen!«, befahl Lazarus.

Sie zogen sie nach vorne, ein Mann an jedem Arm. Sie war klein und zierlich, und ihr Gesicht war wachsweiß vor Angst. Man hatte ihr die Haare geschoren, und sie blickte ihn ängstlich an.

»Hester Deale, ist das der Mann, der dich verführt hat?«

»Er und seine Frau haben Hand an mich gelegt.« Sie sprach wie in Trance. »Sie haben unzüchtige Handlungen an meinem Körper vorgenommen. Sie kamen als Raben an mein Fenster, flogen nachts in mein Zimmer. Sie hielt mir den Hals zu, so dass ich nicht sprechen oder um Hilfe rufen konnte.«

»Kind«, sagte Giles sanft, »was haben sie mit dir gemacht?«

Voller Angst blickte sie ihn an. »Sie bezeichneten Satan als ihren Gott und opferten einen Hahn, dem sie den Hals durchschnitten. Sie zwangen mich, sein Blut zu trinken. Ich konnte sie nicht aufhalten.«

»Hester Deale, schwörst du Satan ab?«

»Ich schwöre ihm ab.«

»Hester Deale, schwörst du Giles Dent und der Frau Ann Hawkins ab?«

»Ich schwöre ihnen ab.«

Tränen liefen ihr über die Wangen. »Ich schwöre ihnen ab, und ich bete zu Gott, dass er mich erlösen möge. Ich bete zu Gott, dass er mir verzeiht.«

»Das tut er«, flüsterte Giles. »Du hast keine Schuld.«

»Wo ist die Frau Ann Hawkins?«, wollte Lazarus wissen, und Giles blickte ihn mit seinen klaren grauen Augen an.

»Du wirst sie nicht finden.«

»Tritt beiseite. Ich werde dieses Haus des Teufels betreten.«

»Du wirst sie nicht finden«, wiederholte Giles. Einen Moment lang richtete er seinen Blick auf die Männer und die wenigen Frauen, die hinter Lazarus standen.

Er sah Tod in ihren Augen und mehr noch, den Hunger danach. Das war das Werk des Dämons.

Nur in Hesters Augen sah er Angst oder Schmerz. Er nahm alles, was er geben konnte, und richtete seine Gedanken auf sie. Lauf weg!

Er sah, wie sie zusammenzuckte, zurücktaumelte, und wandte sich wieder zu Lazarus.

»Wir kennen einander, du und ich. Schick die anderen weg, lass das Mädchen frei, dann tragen wir es unter uns aus.«

Einen Augenblick leuchteten Lazarus’ Augen rot auf. »Du bist erledigt. Verbrennt den Hexer!«, schrie er. »Verbrennt des Teufels Haus und alles, was darin ist!«

Sie kamen mit Fackeln und Knüppeln. Giles fühlte, wie die Schläge auf ihn einprasselten, und er spürte die Wut des Hasses, die die schärfste Waffe des Dämons war.

Sie zwangen ihn in die Knie und steckten die Holzhütte in Brand. Wahnsinnige Schreie gellten in seinem Kopf.

Mit letzter Kraft griff er nach dem Dämon in dem Mann, dessen dunkle Augen rot leuchteten, als er sich von Hass, Furcht und Gewalt nährte. Er spürte, wie er triumphierte, so sicher seines Sieges und des Festmahls.

Er riss an ihm, durch die raucherfüllte Luft. Er hörte den Dämon vor Wut und Schmerz schreien, als die Flammen in sein Fleisch bissen. Und er hüllte ihn damit ein, als das Feuer sie verzehrte.

Mit dieser Vereinigung brach der Brand erst richtig los, erfasste und vernichtete alle Lebewesen im Tal.

Einen Tag und eine Nacht lang brannte es, wie der Bauch der Hölle.

1

Hawkins Hollow

Maryland

6. Juli 1987

In der hübschen Küche des hübschen Hauses in der Pleasant Avenue bemühte sich Caleb Hawkins, ruhig zu bleiben, während seine Mutter ihm Proviant für eine Campingtour einpackte.

In der Welt seiner Mutter brauchten zehnjährige Jungen frisches Obst, selbst gebackene Hafermehlplätzchen (die allerdings so übel nicht waren), ein halbes Dutzend hart gekochte Eier, eine Tüte Ritz-Cracker, mit Erdnussbutter bestrichen und zusammengeklappt, ein paar Sellerie- und Karottenstifte (iiih!) und herzhafte Sandwiches mit Schinken und Käse.

Außerdem noch eine Thermosflasche mit Limonade, einen Stapel Papierservietten und zwei Schachteln Pop-Tarts fürs Frühstück.

»Mom, wir verhungern da nicht«, beklagte er sich, als sie vor dem offenen Küchenschrank stand und überlegte, was sie noch vergessen haben könnte. »Wir sind doch nur bei Fox im Garten.«

Das war eine Lüge, und er verknotete sich fast die Zunge dabei. Aber wenn er ihr die Wahrheit sagte, würde sie ihn nie gehen lassen. Und, Mann, er war doch schon zehn. Beziehungsweise, er wurde es morgen.

Frannie Hawkins stemmte die Hände in die Hüften. Sie war eine zierliche, attraktive Blondine mit sommerblauen Augen und einer flotten Dauerwelle. Sie hatte drei Kinder, Cal war ihr Jüngster und ihr einziger Junge. »Lass mich noch mal in deinen Rucksack sehen.«

»Mom!«

»Liebling, ich will nur sichergehen, dass du nichts vergessen hast.« Ungerührt zog Frannie den Reißverschluss an Cals Rucksack auf. »Frische Unterwäsche, sauberes Shirt, Socken, gut, gut, Shorts, Zahnbürste. Cal, wo ist das Pflaster, das du mitnehmen sollst, und das Autan gegen die Insekten?«

»Mann, wir fahren doch nicht nach Afrika.«

»Das ist egal«, erwiderte Frannie und streckte gebieterisch den Zeigefinger aus, damit er die Sachen holte. In der Zwischenzeit zog sie eine Karte aus ihrer Tasche und steckte sie in den Rucksack.

Er war– nach acht Stunden und zwölf Minuten heftiger Wehen– genau eine Minute nach Mitternacht zur Welt gekommen. Jedes Jahr trat sie um zwölf an sein Bett, sah ihm eine Minute lang beim Schlafen zu und küsste ihn dann auf die Wange.

Jetzt wurde er zehn, und sie konnte dieses Ritual nicht einhalten. Ihre Augen brannten plötzlich, und sie wandte sich ab, um ihre makellose Küchentheke zu wienern, als sie ihn wiederkommen hörte.

»Jetzt habe ich aber alles, oder?«

Fröhlich lächelnd drehte sie sich um. »Okay.« Sie strich ihm über seine kurzen, weichen Haare. Er war als Baby so blond gewesen, aber seine Haare wurden immer dunkler, vermutlich würden sie hellbraun.

So wie ihre ohne die Hilfe von Clairol.

Frannie schob ihm seine Brille mit dem dunklen Rahmen auf die Nase. »Denk daran, dich bei Miss Barry und Mr O’Dell zu bedanken, wenn du ankommst.«

»Ja.«

»Und noch einmal, bevor du morgen wieder weggehst.«

»Ja, Ma’am.«

Sie nahm sein Gesicht in die Hände, blickte durch die dicken Linsen in die Augen, die vom gleichen ruhigen Grau wie die Augen seines Vaters waren. »Benimm dich anständig«, sagte sie und küsste ihn auf die Wange. »Viel Spaß.« Sie küsste ihn auf die andere Wange. »Und herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Baby.«

Normalerweise war es ihm schrecklich peinlich, wenn sie ihn Baby nannte, aber in diesem Moment gab es ihm ein gutes Gefühl.

»Danke, Mom.«

Er nahm den Rucksack auf den Rücken und ergriff den schweren Picknickkorb. Wie sollte er mit dem schweren Ding bloß die ganze Strecke bis nach Hawkins Wood radeln?

Die Jungs würden ihn bestimmt auslachen.

Er schleppte den Korb in die Garage, wo sein Fahrrad ordentlich an einem Gestell an der Wand hing. Mit zwei Gummiseilen von seinem Vater sicherte er den Picknickkorb auf dem Gepäckträger.

Dann sprang er auf sein Fahrrad und fuhr die kurze Einfahrt hinunter.

Fox zog das letzte Unkraut aus seinem Teil des Gemüsegartens und sprühte ihn mit der Brühe ein, die seine Mutter jede Woche zusammenmixte, um das Wild und die Kaninchen fernzuhalten. Die Kombination aus Knoblauch, rohem Ei und Cayennepfeffer stank so entsetzlich, dass er den Atem anhielt, als er sie auf die Reihen mit Busch- und Stangenbohnen, Karotten, Radieschen und Kartoffeln verteilte.

Er trat einen Schritt zurück, holte tief Luft und betrachtete sein Werk. Seine Mutter war ziemlich streng in puncto Gartenarbeit. Ihr ging es darum, dass man die Erde respektierte und mit der Natur im Einklang war und so.

Allerdings ging es auch ums Essen, weil eine sechsköpfige Familie ernährt werden wollte– und auch jeder, der vorbeikam. Deshalb verkauften sein Dad und seine ältere Schwester Sage an ihrem Stand Eier, Ziegenmilch, Honig und selbstgemachte Marmelade.

Er blickte zu seinem jüngeren Bruder Ridge hinüber, der zwischen den Gemüsereihen lag und mit dem Unkraut spielte, statt es auszureißen. Weil seine Mutter drinnen gerade damit beschäftigt war, seine Babyschwester zum Mittagsschlaf hinzulegen, war er für Ridge verantwortlich.

»Komm schon, Ridge, zieh das blöde Unkraut raus. Ich will endlich los.«

Ridge blickte seinen Bruder aus verträumten Augen an. »Warum kann ich denn nicht mitkommen?«

»Weil du erst acht bist und noch nicht einmal zwischen den blöden Tomaten Unkraut jäten kannst.« Verärgert begann Fox, selbst zu jäten.

»Kann ich wohl.«

Wie Fox gehofft hatte, begann Ridge mit Feuereifer zu arbeiten. Fox richtete sich auf und rieb sich die Hände an den Jeans ab. Er war groß und dünn, mit dichten braunen Haaren, die in Wellen um sein kantiges Gesicht fielen. Seine goldbraunen Augen leuchteten zufrieden auf, als er die Sprühflasche in die Hand nahm.

Er stellte sie neben Ridge. »Vergiss nicht, alles einzusprühen.«

Er ging quer durch den Garten, vorbei an den drei Mauerstücken und dem eingestürzten Kamin, den Überresten der alten Steinhütte in der Ecke des Gemüsegartens, die jetzt völlig von Geißblatt und wilder Trichterwinde überwuchert waren.

Er ging am Hühnerhaus mit den Hennen vorbei, am Ziegengehege, wo die beiden Ziegen gelangweilt herumstanden, und am Kräutergarten seiner Mutter, der direkt am Haus lag, das seine Eltern fast ausschließlich allein gebaut hatten. Die Küche war groß, überall standen Einmachgläser, Dosen mit Wachs und Schalen mit Dochten herum.

Fox wusste, dass sie für die meisten Leute in Hollow komische Hippies waren, aber das war ihm egal. Sie kamen ganz gut klar, und die meisten Leute kauften ihre Produkte gerne, Eier und Gemüse oder die Handarbeiten seiner Mutter. Sie engagierten auch seinen Vater, wenn es irgendwo etwas zu bauen gab.

An der Spüle wusch er sich rasch die Hände, bevor er sich in der großen Speisekammer nach etwas Essbarem umsah, das nicht gesund war.

Keine Chance.

Er müsste zum Supermarkt fahren– am besten zu dem am Stadtrand–, um Little Debbies und Nutter Butters zu kaufen.

Seine Mutter kam herein und warf ihren langen braunen Zopf, der über ihrer bloßen Schulter lag, zurück. »Fertig?«

»Ich ja. Ridge beinahe.«

Joanne trat ans Fenster. Automatisch hob sie die Hand, um ihrem Sohn über die Haare zu streichen.

»Ich habe Carob-Brownies und Gemüseburger, wenn du was mitnehmen möchtest.«

»Äh, nein danke. Ich brauche nichts.«

Er wusste, dass sie wusste, dass er Fleisch und weißen Zucker zu sich nehmen würde. Aber sie würde ihm keine Vorwürfe machen. Mom ließ einem in dieser Beziehung alle Freiheit.

»Viel Spaß.«

»Ja, bestimmt.«

»Fox?« Sie stand an der Spüle, und ein Sonnenstrahl fiel auf ihre Haare. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«

»Danke, Mom.« Er lief hinaus und schwang sich auf sein Fahrrad, um das Abenteuer zu beginnen.

Der alte Mann schlief noch, als Gage seine Vorräte in seinen Rucksack packte. Gage konnte ihn durch die dünnen Wände der vollgestopften kleinen Wohnung über dem Bowl-a-Rama schnarchen hören. Der alte Mann putzte dort die Böden, die Klos und was Cals Vater sonst noch so für ihn zu tun hatte.

Er wurde zwar morgen erst zehn Jahre alt, aber Gage wusste, warum Mr Hawkins den Alten beschäftigte, warum sie mietfrei hier wohnen konnten, wobei sein Vater angeblich als Hausmeister für das Gebäude fungierte. Sie taten Mr Hawkins leid– vor allem Gage, weil er der mutterlose Sohn eines alten Säufers war.

Er tat auch anderen Leuten leid, und das ging Gage gegen den Strich. Bei Mr Hawkins allerdings nicht. Er ließ sich sein Mitleid nie anmerken. Und wenn Gage auf der Bowlingbahn half, dann bezahlte Mr Hawkins ihn in bar. Er steckte ihm das Geld heimlich zu, mit einem verschwörerischen Zwinkern.

Er wusste, ach zum Teufel, jeder wusste, dass Bill Turner seinen Sohn von Zeit zu Zeit verprügelte. Aber Mr Hawkins war der Einzige, der Gage jemals gefragt hatte, was er wollte. Ob er die Polizei oder die Fürsorge holen sollte oder ob Gage lieber eine Zeit lang bei ihm und seiner Familie wohnen wollte?

Die Polizei und die Sozialarbeiter hatte er nicht gewollt. Sie machten alles nur noch schlimmer. Und er hätte zwar alles dafür gegeben, in dem schönen Haus bei Leuten zu wohnen, die ein anständiges Leben führten, aber er hatte Mr Hawkins nur gebeten, seinen alten Herrn bitte, bitte nicht zu feuern.

Er bekam weniger Prügel, wenn Mr Hawkins seinem Vater Arbeit gab. Außer natürlich, wenn Bill auf Sauftour ging und sich zuschüttete. Wenn Mr Hawkins wüsste, wie schlimm es in solchen Zeiten tatsächlich war, würde er wohl doch die Polizei rufen.

Also erzählte er es ihm nicht, und er lernte, Prügel wie die von gestern Abend gut zu verstecken.

Gage bewegte sich vorsichtig, als er aus dem Vorrat seines Vaters drei kalte Bier nahm. Die Striemen auf seinem Rücken und seinem Hintern waren noch wund und brannten wie Feuer. Er hatte mit den Schlägen gerechnet. Das passierte immer um seinen Geburtstag herum. Und am Todestag seiner Mutter wurde er auch immer verprügelt.

Das waren die beiden großen, traditionellen Termine. Zu anderen Zeiten kamen die Schläge überraschend. Aber wenn sein Vater Arbeit hatte, beschränkte er sich auf Knuffen und Schubsen.

Gage brauchte nicht besonders leise zu sein, als er das Schlafzimmer seines Vaters betrat. Wenn Bill Turner seinen Rausch ausschlief, hätte ihn höchstens der Einsatz der Feuerwehr geweckt.

Im Zimmer stank es nach Schweiß und kaltem Rauch, Gage verzog das Gesicht. Er nahm die halbvolle Schachtel Marlboro von der Kommode. Der alte Mann würde sich bestimmt nicht mehr daran erinnern, dass er noch Zigaretten gehabt hatte, das war also kein Problem.

Ohne Gewissensbisse öffnete er die Brieftasche seines Vaters und nahm sich drei einzelne Dollar und einen Fünfer heraus.

Er betrachtete seinen Vater, während er sich die Scheine in die Hosentasche stopfte. Bill lag breitbeinig auf dem Bett, ausgezogen bis auf die Boxershorts, und schnarchte mit offenem Mund.

Der Gürtel, mit dem er seinen Sohn am Abend zuvor bearbeitet hatte, lag neben seinem Hemd, seiner Jeans und seinen schmutzigen Socken auf dem Fußboden.

Einen Moment lang, einen winzigen Moment lang, stieg das wilde Verlangen in Gage auf, den Gürtel zu ergreifen und ihn fest über den nackten, schwabbeligen Bauch seines Vaters klatschen zu lassen.

Wie würde dir das wohl gefallen?

Aber dort auf dem Tisch, neben dem überquellenden Aschenbecher und der leeren Bierflasche stand das Bild von Gages Mutter, die ihn anlächelte.

Die Leute sagten, er sähe aus wie sie– die dunklen Haare, die grünen Augen, der volle Mund. Zuerst war es ihm peinlich gewesen, mit einer Frau verglichen zu werden. Aber in der letzten Zeit, seit das Foto von ihr die deutlichste Erinnerung an sie war, da er ihre Stimme nicht mehr hören oder sie riechen konnte, gab es ihm Kraft.

Er sah aus wie seine Mutter.

Manchmal stellte er sich vor, der Mann, der sich die meisten Abende sinnlos betrank, wäre nicht sein Vater.

Sein Vater wäre klug, tapfer und wagemutig.

Aber dann blickte er seinen Alten an und wusste, dass das Blödsinn war.

Er zeigte seinem Vater den Stinkefinger, als er das Zimmer verließ. Seinen Rucksack musste er in der Hand tragen. Bei den Striemen auf dem Rücken war nicht daran zu denken, ihn umzuhängen.

Er ging über die Außentreppe nach unten und hinters Haus, wo sein altes Fahrrad angekettet stand.

Trotz seiner Schmerzen musste er grinsen.

Für die nächsten vierundzwanzig Stunden war er frei.

Sie wollten sich am westlichen Stadtrand treffen, wo der Wald bis an die Straße reichte. Der Junge aus der Mittelschicht, das Hippie-Kind und der Sohn des Säufers.

Sie hatten alle drei am gleichen Tag Geburtstag, am siebten Juli. Cal hatte seinen ersten Schrei im Kreißsaal des Washington County Hospitals ausgestoßen, während seine Mutter keuchte und sein Vater weinte. Fox war im Schlafzimmer des alten Farmhauses direkt in die wartenden Hände seines lachenden Vaters geschlüpft, während Bob Dylan sang »Lay, Lady, Lay« und lavendelduftende Kerzen flackerten. Und Gage war in einem Krankenwagen, der die Maryland Route 65 entlangraste, zur Welt gekommen.

Gage war als Erster da. Er stieg ab und schob sein Fahrrad zwischen die Bäume, wo niemand es sehen konnte.

Dann setzte er sich auf den Boden und zündete sich seine erste Zigarette an diesem Tag an. Ihm wurde immer ein bisschen übel davon, aber der Akt des Anzündens entschädigte einen dafür.

Er saß da und rauchte und stellte sich vor, er befände sich auf einem Gebirgspfad in Colorado oder im heißen südamerikanischen Dschungel.

Irgendwo, nur nicht hier.

Er hatte gerade den dritten Zug genommen und vorsichtig inhaliert, als er ein weiteres Fahrrad näher kommen hörte.

Fox schob Blitz durch die Bäume. Sein Fahrrad hieß so, weil sein Vater Blitze auf die Stangen gemalt hatte.

In dieser Hinsicht war sein Dad ganz schön cool.

»Hey, Turner.«

»O’Dell.« Gage streckte ihm die Zigarette entgegen.

Sie wussten beide, dass Fox sie nur nahm, weil er sonst als Weichei gegolten hätte. Er nahm einen schnellen Zug und reichte sie Gage dann zurück. Gage wies mit dem Kinn auf die Tasche am Lenker von Blitz. »Was hast du dabei?«

»Little Debbies, Nutter Butters und TasteKake Pie, Apfel und Kirsche.«

»Toll. Ich habe drei Dosen Bud für heute Abend.«

Fox fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Kein Scheiß?«

»Nein, kein Scheiß. Mein Alter war voll. Das merkt der gar nicht. Ich habe auch noch was anderes. Das Penthouse vom letzten Monat.«

»Nicht dein Ernst!«

»Er versteckt es immer unter der schmutzigen Wäsche im Badezimmer.«

»Lass mal sehen.«

»Später. Wenn wir das Bier trinken.«

Sie blickten auf, als Cal mit seinem Fahrrad über den unebenen Weg kam. »Hey, Schweinekopf«, begrüßte Fox ihn.

»Hey, Arschlöcher.«

Nach dieser freundschaftlichen Begrüßung schoben sie ihre Fahrräder tiefer in den Wald hinein.

Als sie die Fahrräder sicher abgestellt hatten, packten sie ihre Vorräte aus.

»Himmel, Hawkins, was hat deine Mom dir denn alles eingepackt?«

»Wenn du Hunger bekommst, beschwerst du dich bestimmt nicht mehr.« Cals Arme konnten das Gewicht kaum noch tragen. Er warf Gage einen finsteren Blick zu. »Warum nimmst du eigentlich deinen Rucksack nicht auf den Rücken und hilfst mir?«

»Weil ich ihn trage.« Aber er klappte doch den Deckel des Korbes zurück und schob ein paar der Tupperware-Dosen in seinen Rucksack. »Pack auch welche ein, O’Dell, sonst brauchen wir noch den ganzen Tag, um zu Hester’s Pool zu kommen.«

»Scheiße.« Fox zog eine Thermosflasche heraus und stopfte sie in seinen Rucksack. »Ist es jetzt leicht genug für dich, Sally?«

»Halt’s Maul. Ich habe den Korb und meinen Rucksack.«

»Ich habe den Einkauf aus dem Supermarkt und meinen Rucksack.« Fox nahm seinen teuersten Besitz vom Fahrrad. »Du trägst das Radio, Turner.«

Gage zuckte mit den Schultern und ergriff den Ghettoblaster. »Dann suche ich auch die Musik aus.«

»Aber kein Rap«, erwiderten Cal und Fox unisono, aber Gage grinste nur und drehte so lange am Sender, bis er Musik nach seinem Geschmack fand.

Stöhnend machten sie sich auf den Weg zur Schlucht.

Das Laub war so dicht, dass die Sommerhitze hier im Schatten der hoch aufragenden Pappeln und Eichen nicht so schlimm war.

»Gage hat ein Penthouse«, verkündete Fox. Als Cal ihn nur verständnislos anstarrte, fügte er erklärend hinzu: »Die Zeitschrift mit den nackten Frauen, Blödmann.«

»Oh, oh.«

»Na, komm schon, Turner, hol sie raus!«

»Erst wenn wir unser Lager aufgeschlagen haben und das Bier aufmachen.«

»Bier!« Instinktiv warf Cal einen furchtsamen Blick über die Schulter, als ob auf einmal seine Mutter hinter ihm stünde. »Du hast Bier?«

»Drei Dosen«, bestätigte Gage. »Zigaretten auch.«

»Ist das nicht toll?« Fox boxte Cal in den Arm. »Das wird der beste Geburtstag, den wir je hatten.«

»Ja«, stimmte Cal ihm zu. Insgeheim jedoch starb er vor Angst. Bier, Zigaretten und Bilder von nackten Frauen. Wenn seine Mutter das jemals herausfand, bekäme er Stubenarrest, bis er dreißig wäre. Und da hatte er noch nicht einmal mitgezählt, dass er sie angelogen hatte und durch den Hawkins Wood marschierte, um beim ausdrücklich verbotenen Heidenstein zu zelten.

Wahrscheinlich würden sie ihn in sein Zimmer einsperren, bis er in hohem Alter starb.

»Mach dir nicht in die Hose.« Gage nahm den Rucksack in die andere Hand. »Das ist doch alles cool.«

»Ich mache mir nicht in die Hose.« Aber Cal zuckte doch zusammen, als ein fetter Eichelhäher aufflog und wütend keckerte.

2

Hester’s Pool war in Cals Welt ebenfalls verboten, was nur einer der Gründe war, warum er und seine Freunde den Teich unwiderstehlich fanden.

In dem schlammigen braunen Wasser, das von dem Bach Antietam gespeist wurde und tief im dichten Wald lag, spukte es angeblich, weil dort irgendein Puritaner-Mädchen ertrunken sein sollte.

Seine Mutter hatte auch von einem Jungen erzählt, der dort ertrunken war, als sie noch ein Kind war, und das war für sie ein Grund, Cal absolut zu verbieten, jemals dort zu schwimmen. Angeblich lauerte der Geist des Kindes immer noch dort und wartete nur darauf, ein anderes Kind zu sich in die Tiefe zu ziehen, damit er jemanden zum Spielen da unten hatte.

Cal war in diesem Sommer schon zweimal dort geschwommen, ganz zitterig vor Angst und Aufregung. Und jedes Mal hätte er schwören können, dass knochige Finger über seine Knöchel strichen.

Die Uferregion war dicht mit Rohrkolben und den wilden orangefarbenen Lilien bewachsen, die seine Mutter so gerne hatte. Farne bedeckten den steinigen Abhang und Ranken mit Beeren, deren Saft beinahe wie echtes Blut aussah.

Als sie das letzte Mal hier gewesen waren, hatte er eine schwarze Schlange gesehen, die sich den Abhang am Ufer hochgeschlängelt hatte.

Fox stieß einen Schrei aus und ließ seinen Rucksack fallen. In Sekundenschnelle hatte er sich Schuhe, T-Shirt und Jeans ausgezogen und schoss wie eine Kanonenkugel ins Wasser, ohne auch nur einen Gedanken an Schlangen oder Geister zu verschwenden.

»Kommt schon, ihr Schwächlinge.« Fox tauchte und glitt wie ein Seehund durch den Teich.

Cal setzte sich und schnürte seine Converse All Stars auf. Seine Socken steckte er sorgfältig hinein. Dann blickte er zu Gage, der nur dastand und übers Wasser blickte, in dem Fox jubelnd plantschte.

»Gehst du nicht rein?«

»Ich weiß noch nicht.«

Cal zog sein Shirt aus und faltete es, aus reiner Gewohnheit. »Es steht aber auf der Liste. Wir können es erst ausstreichen, wenn wir es alle getan haben.«

»Ja, ja.« Aber Gage rührte sich nicht, als Cal sich bis auf die Unterhose auszog.

»Wir müssen alle hineingehen und die Götter herausfordern und so.«

Achselzuckend streifte Gage seine Schuhe ab. »Mach schon weiter. Bist du ein Homo oder was? Willst du mir beim Ausziehen zugucken?«

»Iiih.« Cal setzte seine Brille ab und legte sie in einen Schuh. Dann holte er tief Luft, insgeheim froh darüber, dass er alles nur noch verschwommen sah, und sprang.

Das Wasser war kalt, und Cal war kaum aufgetaucht, als Fox ihm auch schon Wasser ins Gesicht spritzte, so dass er praktisch nichts mehr sehen konnte. Gerade, als sich seine kurzsichtigen Augen ein bisschen an die Umgebung gewöhnt hatten, sprang Gage ins Wasser, und wieder war er blind.

»Mann!«

Gages Kraulstil wühlte das Wasser auf, deshalb brachte sich Cal erst einmal in Sicherheit. Von den dreien war er der beste Schwimmer. Fox war schnell, aber er hielt nicht lange durch, und Gage, na ja, Gage attackierte das Wasser, als müsse er dagegen kämpfen.

Cal fürchtete schon, eines Tages die Lebensrettungstechniken anwenden zu müssen, die sein Vater ihm beigebracht hatte, um Gage vor dem Ertrinken zu retten.

Er stellte sich gerade vor, wie Gage und Fox ihn dankbar und bewundernd anblickten, als eine Hand sich um seinen Knöchel schloss und ihn unter Wasser zog.

Obwohl er wusste, dass es Fox war, klopfte Cal das Herz bis zum Hals, als das Wasser über ihm zusammenschlug. Panik stieg in ihm auf. Es gelang ihm, sich loszureißen, und als er sich abstieß, um wieder nach oben zu gelangen, sah er links eine Bewegung.

Es– sie– glitt durch das Wasser auf ihn zu. Ihre Haare hingen um ihr bleiches Gesicht, und ihre Augen waren tiefschwarz. Als sie die Hand ausstreckte, um nach ihm zu greifen, öffnete Cal den Mund zu einem Schrei und schluckte Wasser.

Gelächter ertönte, als er auftauchte, es hallte blechern wie die Musik aus dem alten Transistorradio, das sein Vater manchmal benutzte. Keuchend schwamm er zum Rand des Teiches.

»Ich habe sie gesehen, ich habe sie gesehen, im Wasser, ich habe sie gesehen«, stieß er hervor, während er den Abhang hinaufkrabbelte.

In seiner Fantasie kam sie wie ein Hai auf ihn zu, mit offenem Mund und messerscharfen Zähnen.

»Raus! Kommt raus aus dem Wasser!« Rutschend und keuchend zog er sich hoch. Er sah seine Freunde, die im Teich Wasser traten. Fast schluchzend beugte er sich über seinen Schuh, um seine Brille aufzusetzen. »Sie ist im Wasser! Ich habe sie gesehen! Kommt raus, schnell!«

»Oooh, der Geist! Helft mir, helft mir!« Mit gespieltem Gurgeln sank Fox unter Wasser.

Cal sprang auf und ballte die Fäuste. Wut und Entsetzen mischten sich in seiner Stimme. »Verdammt noch mal, kommt raus!«

Gages Grinsen erlosch. Er kniff die Augen zusammen und packte Fox am Arm, als dieser lachend wieder auftauchte.

»Wir gehen raus.«

»Ach, komm! Er ist doch bloß sauer, weil ich ihn getunkt habe.«

»Er meint es ernst.«

Das drang auch bis zu Fox durch, der sich misstrauisch umblickte und gehorsam ans Ufer schwamm.

Gage folgte ihm so sorglos paddelnd, dass Cal unwillkürlich dachte, er wollte herausfordern, dass etwas passierte.

Als seine Freunde sich ans Ufer zogen, sank Cal zu Boden. Er zog die Knie an, presste die Stirn darauf und begann zu zittern.

»Mann.« Fox, der tropfnass in seiner Unterwäsche vor ihm stand, trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich ziehe nur ein bisschen an dir, und du rastest aus. Wir haben doch nur gespielt.«

»Ich habe sie gesehen.«

Fox hockte sich hin und schob sich die nassen Haare aus der Stirn. »Kumpel, du siehst ohne diese Coke-Flaschenböden gar nichts!«

»Halt den Mund, O’Dell!« Gage hockte sich ebenfalls hin. »Was hast du gesehen, Cal?«

»Sie. Ihre Haare schwammen um sie herum, und ihre Augen, oh, Mann, ihre Augen waren so schwarz wie die von dem Hai in Der weiße Hai. Sie hatte ein langes Kleid an, mit langen Ärmeln und so, und sie streckte die Hand aus, als wollte sie nach mir greifen…«

»Mit ihren knochigen Fingern«, warf Fox spöttisch ein.

»Sie waren nicht knochig.« Cal hob den Kopf. Wut und Angst standen in seinen Augen. »Das hatte ich auch gedacht, aber sie sah so… so wirklich aus. Gar nicht wie ein Geist oder ein Skelett. Oh, Mann, o Gott, ich habe sie wirklich gesehen, das ist nicht erfunden.«

»Oh, Mann.« Fox wich etwas vom Teich zurück und fluchte, als er sich den Arm an den Dornenranken aufriss. »Scheiße, jetzt blute ich auch noch.« Er riss ein Büschel Gras aus und wischte sich das Blut ab, das aus den Kratzern tropfte.

»Auf gar keinen Fall.« Cal sah, wie nachdenklich Gage das Wasser betrachtete. »Keiner geht da mehr rein. Außerdem kannst du gar nicht gut genug schwimmen, um es zu versuchen.«

»Warum hast du sie als Einziger gesehen?«

»Das weiß ich nicht, aber das ist mir auch egal. Ich will hier nur noch weg.«

Cal sprang auf und ergriff seine Hose. Bevor er hineinschlüpfen konnte, fiel sein Blick auf Gages Rücken. »Ach, du liebe Scheiße. Dein Rücken sieht ja übel aus.«

»Mein Alter war gestern Abend betrunken. Es ist nicht so schlimm.«

»Mann.« Fox trat um ihn herum, um es sich ebenfalls anzusehen. »Das muss doch wehtun.«

»Das Wasser war schön kühl.«

»Ich habe meine Erste-Hilfe-Tasche…«, begann Cal, aber Gage unterbrach ihn.

»Ich habe doch gesagt, es ist nicht schlimm.« Er zog sich sein T-Shirt über den Kopf. »Wenn ihr zwei nicht den Mut habt, noch einmal ins Wasser zu gehen, dann können wir eigentlich auch weitergehen.«

Fox verteilte Little Debbies und nahm eine Dose Coke aus dem Sixpack, das er im Supermarkt gekauft hatte. Weil der Zwischenfall im Teich und die Striemen auf Gages Rücken zu wichtig waren, redeten sie nicht davon. Stattdessen zogen sie sich an und machten sich kauend auf den Weg.

Auf halber Strecke überlegte Cal, was er eigentlich gesehen hatte. Warum war er der Einzige gewesen? Warum war ihr Gesicht im schlammigen Wasser so klar gewesen? Er hatte doch noch nicht einmal die Brille aufgehabt. Wieso hatte gerade er sie gesehen? Mit jedem Schritt, den er sich weiter vom Brunnen entfernte, fiel es ihm leichter, sich einzureden, dass er sich alles nur eingebildet hatte.

Er würde es zwar im Leben nicht zugeben, aber vielleicht war er wirklich nur ausgerastet.

Die Hitze trocknete seine feuchte Haut, und er begann zu schwitzen. Wie mochte Gage es wohl aushalten, dass ihm das T-Shirt am Rücken klebte? Mann, diese Striemen waren so rot und dick, das musste doch einfach wehtun. So schlimm wie dieses Mal war es noch nie gewesen. Er wünschte, Gage ließe sich von ihm Salbe daraufschmieren.

Wenn es sich nun entzündete? Wenn er nun eine Blutvergiftung bekam und anfing zu fantasieren, während sie auf dem Weg zum Heidenstein waren?

Dann würde er Fox losschicken, um Hilfe zu holen, ja genau, das würde er tun– Fox würde Hilfe holen, während er bei Gage blieb und die Wunden versorgte und ihm zu trinken gab, damit er nicht– wie hieß das noch mal?– dehydrierte.

Natürlich wären sie alle dran, wenn sein Dad sie abholen käme, aber auf jeden Fall würde Gage geholfen.

Vielleicht würde Gages Vater ja ins Gefängnis kommen. Und was würde dann passieren? Müsste Gage dann ins Waisenhaus?

Der Gedanke jagte ihm beinahe so viel Angst ein wie die Frau im Teich.

Sie machten Rast und setzten sich in den Schatten, um sich eine von Gages gestohlenen Marlboros zu teilen. Cal wurde davon immer schwindelig, aber er fand es ganz nett, mit seinen Freunden hier im Wald zu sitzen, während hinter ihnen Wasser über die Steine plätscherte und um sie herum die Vögel zwitscherten.

»Wir könnten ja hier unser Lager aufschlagen«, sagte Cal mehr zu sich selbst.

»Auf keinen Fall.« Fox boxte ihm an die Schulter. »Wir werden am Heidenstein zehn. Der Plan wird jetzt nicht mehr geändert. Es dauert keine Stunde mehr, bis wir da sind, oder, Gage?«

Gage starrte durch die Bäume. »Ja. Wir kämen schneller voran, wenn ihr Typen nicht so viel mitgebracht hättet.«

»Du hast die Little Debbies auch gegessen«, rief Fox ihm ins Gedächtnis.

»Ja, klar. Also…« Er drückte die Zigarette aus und legte einen Stein über die Kippe. »Auf die Pferde, Soldaten!«

Niemand kam hierher. Cal wusste, dass das nicht stimmte, weil es zumindest in der Jagdsaison hier von Jägern wimmelte.

Aber man hatte das Gefühl, dass niemand hierherkam. Das hatte er auch schon bei den beiden anderen Malen, als sie zum Heidenstein gegangen waren, so empfunden. Aber da waren sie früh am Morgen aufgebrochen und vor zwei Uhr wieder zurück gewesen.

Jetzt jedoch war es auf seiner Timex fast vier. Trotz des kleinen Kuchens knurrte ihm der Magen. Am liebsten hätte er in seinem Rucksack nachgeschaut, was seine Mutter ihm alles eingepackt hatte, aber Gage trieb sie an, weil er unbedingt zum Heidenstein wollte.

Die Erde in der Lichtung wirkte verbrannt, als ob ein Feuer dort alles in Asche gelegt hätte. Sie war fast perfekt kreisförmig, umgeben von Eichen und dem Gestrüpp von Beerensträuchern. In der Mitte war ein einzelner Felsblock, der etwa einen halben Meter aus der Erde ragte und oben abgeflacht war wie ein kleiner Tisch.

Manche sagten auch Altar dazu.

Die Leute sagten aber auch, der Heidenstein sei einfach nur ein Stein, der aus der Erde ragte, und der Boden hätte die Farbe, weil sich dort Mineralien oder ein unterirdischer Wasserlauf, vielleicht sogar Höhlen befänden.

Andere jedoch wiesen auf die ursprüngliche Ansiedlung Hawkins Hollow hin und auf die Nacht, in der dreizehn Personen genau auf dieser Lichtung bei lebendigem Leib verbrannt waren.

Hexerei, sagten einige, und andere sprachen von Teufelsanbetung.

Eine weitere Theorie war, dass eine Bande unfreundlicher Indianer sie getötet und ihre Leichen anschließend verbrannt hatte.

Auf jeden Fall ragte der hellgraue Stein wie ein Monument aus der dunklen Erde.

»Wir haben es geschafft.« Fox ließ Rucksack und Tasche zu Boden sinken und vollführte einen kleinen Freudentanz um den Stein herum. »Ist das cool? Ist das cool? Niemand weiß, wo wir sind. Und wir haben die ganze Nacht Zeit, um alles zu tun, was wir wollen!«

»Alles, was wir mitten im Wald tun wollen«, fügte Cal hinzu. Ohne Fernseher oder Kühlschrank.

Fox warf den Kopf in den Nacken und stieß einen weithin hallenden Schrei aus. »Siehst du? Keiner kann uns hören. Wir könnten von Mutanten oder Ninjas angegriffen werden, und keiner könnte uns hören.«

Das, stellte Cal fest, beruhigte ihn nicht gerade. »Wir müssen Holz für ein Lagerfeuer sammeln.«

»Der Pfadfinder hat recht«, erklärte Gage. »Ihr zwei sammelt Holz, und ich lege das Bier und die Coke-Dosen in den Bach, damit sie kühler werden.«

Auf seine ordentliche Art organisierte Cal zunächst den Lagerplatz. Das Essen in eine Ecke, Kleidung in eine andere und auch die Werkzeuge auf einen eigenen Platz. Mit seinem Pfadfindermesser und dem Kompass in der Tasche machte er sich dann auf, um Zweige und kleine Äste zu sammeln. Die Dornenranken zwickten und kratzten ihn, als er sich hindurchdrängte, aber da er die Arme voller Holz hatte, bemerkte er nicht, dass ein paar Tropfen Blut am Rand des Kreises zu Boden fielen.

Er merkte auch nicht, dass das Blut leicht brodelte, rauchte und von der ausgetrockneten Erde aufgesogen wurde.

Fox stellte den Ghettoblaster an, und zu den Klängen von Madonna, U2 und Bruce Springsteen bauten sie das Zelt auf. Dann errichteten sie nach Cals Anweisungen den Holzhaufen, den sie allerdings, solange die Sonne noch schien, nicht anzündeten.

Verschwitzt und schmutzig setzten sie sich auf den Boden und plünderten den Picknickkorb. Es hatte sich gelohnt, den schweren Korb die ganze Strecke über zu schleppen, dachte Cal, als das vertraute Essen seinen Bauch füllte.

Satt und zufrieden legten sie sich anschließend auf den Rücken und schauten in den Himmel.

»Glaubt ihr wirklich, dass diese Leute genau hier gestorben sind?«, fragte Gage.

»Darüber gibt es Bücher in der Bücherei«, erwiderte Cal. »Aus ›unbekannter Ursache‹ ist hier ein Feuer ausgebrochen. Und dabei sind die Leute verbrannt.«

»Warum waren sie denn gerade hier, an so einem komischen Ort?«

»Wir sind doch auch hier.«

Gage grunzte nur.

»Meine Mom hat gesagt, die ersten Weißen, die hier gesiedelt haben, waren Puritaner.« Fox blies eine riesige rosa Blase mit dem Kaugummi, den er im Supermarkt gekauft hatte. »So eine Art radikale Puritaner. Sie haben hier zwar religiöse Freiheit gesucht, aber eigentlich bedeutete für sie frei nur, wenn alles so war, wie sie es wollten. Mom sagt, in vielen Religionen sind die Menschen so. Ich kapiere das nicht.«

Gage wollte es ihm erklären. »Viele Leute sind gemein, und selbst wenn sie es nicht sind, denken die meisten doch, sie sind besser als du.« Er merkte das jedenfalls ständig, so wie die Leute ihn ansahen.

»Aber glaubst du, dass es Hexen und so waren, und die Leute haben sie damals auf dem Scheiterhaufen verbrannt?« Fox rollte sich auf den Bauch. »Meine Mom sagt, Hexe zu sein ist auch eine Religion.«

»Deine Mom ist bescheuert.«

Weil Gage es gesagt hatte und weil er es scherzhaft gemeint hatte, grinste Fox. »Wir sind alle bescheuert.«

»Ich würde sagen, jetzt ist der richtige Zeitpunkt für ein Bier.« Gage stand auf. »Wir teilen uns eins, damit die anderen noch kälter werden.« Cal und Fox wechselten einen Blick.

»Hast du schon mal Bier getrunken?«, wollte Cal wissen.

»Nein. Du?«

»Machst du Witze? Ich darf ja selbst Coke höchstens bei besonderen Gelegenheiten trinken. Und wenn wir jetzt betrunken werden und in Ohnmacht fallen oder so?«

»Mein Dad trinkt manchmal Bier. So gefährlich scheint es nicht zu sein.«

Sie schwiegen, als Gage mit der tropfenden Dose zurückkam. »Okay. Das ist zur Feier des Tages, weil wir ab Mitternacht keine Kinder mehr sind.«

»Vielleicht sollten wir es erst um Mitternacht trinken«, warf Cal ein.

»Das zweite trinken wir nach Mitternacht. Es ist… es ist wie ein Ritual.«

Es knallte laut, als er die Lasche abriss, fast wie ein Schuss, dachte Cal erschrocken. Das Bier roch sauer, und er fragte sich, ob es wohl auch so schmecken würde.

Gage hielt die Dose hoch, dann senkte er sie und trank einen tiefen Schluck.

Er konnte seine Reaktion nicht ganz verbergen und verzog leicht das Gesicht, als habe er etwas Fremdes, Unangenehmes geschluckt. Seine Wangen röteten sich, und er keuchte kurz auf.

»Es ist immer noch ziemlich warm, aber es…« Er hustete einmal. »Es geht voll ab. Jetzt ihr.«

Er reichte Fox die Dose. Achselzuckend nahm Fox sie entgegen und ahmte Gages Art zu trinken nach. »Uuh. Das schmeckt wie Pisse.«

»Hast du schon mal Pisse getrunken?«

Fox schnaubte nur und reichte Cal die Dose. »Du bist dran.«

Cal musterte die Dose. Ein Schluck Bier würde ihn bestimmt nicht umbringen. Also holte er tief Luft und trank einen Schluck.

Mit gekreuzten Beinen saßen sie auf der Lichtung und ließen die Dose von Hand zu Hand wandern.

Cal hob sich der Magen, aber schlecht war ihm eigentlich nicht. Auch sein Kopf hob sich, aber irgendwie fühlte sich alles lustig an. Und das Bier machte die Blase voll. Als er aufstand, schwankte die ganze Welt, und er lachte hilflos, als er auf einen Baum zutaumelte.

Er zog sich den Reißverschluss herunter und zielte, aber der Baum bewegte sich immer weiter.

Fox war gerade dabei, eine der Zigaretten anzuzünden, als Cal zurückkam. Sie reichten auch sie herum, bis Cals knapp zehnjähriger Magen revoltierte. Er kroch davon, um sich zu übergeben; als er wieder zu den anderen zurückkam, legte er sich flach auf den Rücken, schloss die Augen und wartete, bis das Drehen aufhörte.

Er kam sich vor, als würde er wieder im Teich schwimmen und langsam unter Wasser gezogen werden.

Als er wach wurde, dämmerte es schon.

Vorsichtig richtete er sich auf. Er fühlte sich ein wenig hohl im Magen und im Kopf, aber nicht, als ob er sich noch einmal übergeben müsste. Fox lag schlafend am Stein. Er kroch auf allen vieren zur Thermosflasche und spülte den Geschmack nach Erbrochenem und Bier aus seiner Kehle. Noch nie war er für die Limonade seiner Mutter so dankbar gewesen.

Danach ging es ihm ein bisschen besser. Er rieb sich die Augen und sah, dass Gage den Holzhaufen anstarrte, den sie noch anzünden müssten.

»Morgen, Sally.«

Müde lächelnd trat Cal auf ihn zu.

»Ich weiß nicht, wie ich das Ding zum Brennen kriegen soll. Ich habe mir gedacht, dass es langsam Zeit wäre, aber ich brauche einen Pfadfinder dazu.«

Cal nahm die Streichhölzer, die Gage ihm reichte, und zündete den trockenen Laubhaufen an, den er unter das Holz geschichtet hatte. »Das müsste eigentlich funktionieren. Es ist fast windstill, und hier in der Lichtung kann das Feuer nicht übergreifen. Wir müssen nur morgen, bevor wir aufbrechen, dafür sorgen, dass es aus ist.«

»Ja, klar. Geht es dir einigermaßen?«

»Ja. Ich glaube, ich habe das meiste ausgekotzt.«

»Ich hätte das Bier nicht mitnehmen sollen.«

Cal zuckte mit der Schulter und blickte zu Fox. »Wir sind doch okay, jetzt brauchen wir uns jedenfalls nicht mehr zu fragen, wie es schmeckt. Wir wissen ja jetzt, dass es wie Pisse schmeckt.«

Gage lachte ein bisschen. »Ich habe mich gar nicht gemein gefühlt.« Er ergriff ein Stöckchen und stocherte in den kleinen Flammen. »Ich wollte wissen, ob das passiert, und ich habe gedacht, mit dir und Fox könnte ich es ja ausprobieren.«

»Und wie hast du dich gefühlt?«

»Mir hat der Kopf wehgetan. Immer noch. Mir ist zwar nicht schlecht geworden, aber ich hätte mich auch am liebsten übergeben. Dann habe ich eine Coke getrunken, danach ging es mir besser. Warum trinkt er bloß so viel, wenn es ihm dabei immer so geht?«

»Ich weiß nicht.«

Gage ließ den Kopf auf die Knie sinken. »Er hat geheult, als er gestern Abend auf mich losgegangen ist. Gesabbert und geheult, als er mich mit dem Gürtel verprügelt hat. Warum sollte sich jemand so fühlen wollen?«

Cal legte seinem Freund den Arm um die Schultern, wobei er aufpasste, dass er nicht die Striemen berührte. Er wünschte, er wüsste, was er sagen sollte.

»Wenn ich alt genug bin, haue ich ab. Vielleicht gehe ich zur Army oder heuere auf einem Frachter an.«

Gages Augen glänzten, als er den Kopf hob, und Cal blickte weg, weil er wusste, dass es Tränen waren. »Du kannst immer bei uns wohnen, wenn du willst.«

»Wenn ich dann zurückginge, wäre es nur noch schlimmer. Aber in ein paar Stunden bin ich zehn. Und in ein paar Jahren bin ich genauso groß wie er, größer vielleicht. Dann lasse ich ihn nicht mehr an mich heran. Da kannst du Gift drauf nehmen.« Gage rieb sich übers Gesicht. »Komm, wir wecken Fox auf. Heute Nacht wird nicht geschlafen.«

Fox stöhnte und grummelte, stand aber auf, um pinkeln zu gehen und sich eine Dose Coke aus dem Bach zu holen. Sie aßen noch ein paar kleine Muffins. Und schließlich sahen sie sich gemeinsam die Ausgabe von Penthouse an.

Cal hatte schon nackte Brüste gesehen. Wenn man wusste, wo man nachgucken musste, konnte man sie sich in der Bücherei im National Geographic anschauen.

Aber die hier waren anders.

»Hey, Jungs, habt ihr schon mal daran gedacht, es zu machen?«, fragte er seine Freunde.

»Ja, klar«, antworteten beide.

»Wer es als Erster macht, muss den beiden anderen alles darüber erzählen. Auch, wie es sich anfühlt«, fuhr Cal fort. »Und wie es geht. Alles. Ihr müsst schwören.«

Ein Schwur war heilig. Gage spuckte auf seinen Handrücken, die anderen beiden taten es ihm nach und legten nacheinander ihre Hände auf seine.

»Wir schwören«, sagten sie gleichzeitig.

Sie saßen am Feuer, während am Himmel die Sterne herauskamen und tief im Wald ein Käuzchen schrie.

Der lange, anstrengende Marsch, Geistererscheinungen und das Bier waren vergessen.

»Wir sollten das jedes Jahr an unserem Geburtstag machen«, erklärte Cal. »Auch wenn wir alt sind, dreißig oder so. Wir sollten uns immer hier treffen.«

»Bier trinken und nackte Mädchen angucken«, fügte Fox hinzu. »Ihr müsst…«

»Nicht«, unterbrach ihn Gage. »Ich kann nicht schwören. Ich weiß ja gar nicht, ob ich dann überhaupt noch hier bin. Oder ob ich jemals zurückkomme.«

»Dann treffen wir uns da, wo du bist. Auf jeden Fall werden wir immer die besten Freunde sein.« Daran würde sich nie etwas ändern, dachte Cal und leistete im Stillen seinen eigenen, persönlichen Schwur darauf. Er blickte auf seine Armbanduhr. »Es ist bald Mitternacht. Ich habe eine Idee.«

Er zog sein Pfadfindermesser heraus, ließ es aufspringen und hielt die Klinge ins Feuer.

»Was hast du vor?«, fragte Fox.

»Ich sterilisiere es. So was Ähnliches wie reinigen.« Es wurde so heiß, dass er es hastig zurückzog und auf seine Finger pustete. »Gage hat doch das mit dem Ritual gesagt. Zehn Jahre sind eine Dekade. Wir kennen uns fast schon die ganze Zeit. Wir sind am gleichen Tag geboren. Es macht uns… anders«, sagte er. »Irgendwie besonders oder so. Wir sind die besten Freunde. Wir sind wie Brüder.«

Gage blickte auf das Messer, dann sah er Cal an. »Blutsbrüder.«

»Ja.«

»Cool.« Fox streckte bereits die Hand aus.

»Um Mitternacht«, sagte Cal. »Wir sollten es um Mitternacht machen und auch ein paar Worte dazu sagen.«

»Wir legen einen Eid ab«, sagte Gage. »Dass wir unser Blut mischen, äh, drei für einen? So was in der Art. In Treue.«

»Das ist gut. Schreib es auf, Cal.«

Cal zog Papier und Bleistift aus seinem Rucksack. »Wir schreiben die Wörter auf und sagen sie gemeinsam. Dann schneiden wir in unsere Handgelenke und pressen sie zusammen. Ich habe sogar Pflaster dabei, wenn wir das brauchen.«

Cal schrieb die Worte auf, für die sie sich entschieden, und Fox legte mehr Holz aufs Feuer, so dass die Flammen hochzüngelten.

Kurz vor Mitternacht standen sie erwartungsvoll am Heidenstein, drei Jungen, deren Gesichter vom Feuer und von den Sternen beleuchtet wurden. Auf Gages Nicken hin begannen sie feierlich ihren Eid zu sprechen.

»Wir sind vor zehn Jahren geboren, in derselben Nacht, zur selben Zeit, im selben Jahr. Wir sind Brüder. Am Heidenstein schwören wir uns ewige Treue, Aufrichtigkeit und Brüderlichkeit. Wir mischen unser Blut.«

Cal hielt die Luft an, als er die Klinge über sein Handgelenk zog. »Aua.«

»Wir mischen unser Blut.« Fox biss die Zähne zusammen, als Cal ihm ins Handgelenk schnitt.

»Wir mischen unser Blut.« Gage verzog keine Miene, als die Klinge in sein Fleisch schnitt.

»Drei für einen und einer für drei.«

Cal streckte seinen Arm aus, Fox und Gage pressten ihre Handgelenke an seinen Schnitt. »Brüder im Geiste, in Gedanken. Blutsbrüder für alle Zeit.«

Wolken zogen über den Vollmond und verdeckten die Sterne. Ihr Blut vermischte sich und tropfte auf die verbrannte Erde.

Ein heulender Windstoß fuhr über die Lichtung, und das kleine Lagerfeuer loderte zu einer hohen Flamme auf. Die drei wurden hochgeschleudert und zu Boden geworfen wie von einer riesigen Faust.

Als Cal den Mund öffnete, um zu schreien, spürte er, wie sich etwas in ihn hineinschob, sich schmerzhaft in ihm ausbreitete und ihm das Herz abdrückte.

Es wurde stockdunkel, eine eisige Kälte legte sich auf ihn. Der Wind heulte wie ein Tier, wie ein Monster, das es nur in Büchern gab. Die Erde bebte.

Aus der eisigen Dunkelheit kam etwas. Etwas Riesiges und Schreckliches.

Blutrote Augen voller… Hunger. Es blickte ihn an. Als es lächelte, glitzerten seine Zähne wie Silberschwerter.

Cal dachte, er müsste sterben, und es würde ihn mit einem einzigen Bissen verschlingen.

Als er wieder zu sich kam, hörte er sein eigenes Herz schlagen. Er hörte die Schreie und Rufe seiner Freunde.

Seiner Blutsbrüder.

»Jesus, Jesus, was war das? Hast du das gesehen?«, rief Fox mit dünner Stimme. »Gage, o Gott, deine Nase blutet.«

»Deine auch. Etwas… Cal. Gott, Cal.«

Cal lag flach auf dem Rücken. Auf seinem Gesicht spürte er warmes Blut. Aber er fühlte sich zu betäubt, um Angst zu haben. »Ich kann nichts sehen«, krächzte er. »Ich kann nichts sehen.«

»Deine Brille ist kaputt.« Fox kroch zu ihm. »Ein Glas ist zerbrochen. Mann, deine Mom bringt dich um.«

»Kaputt.« Zitternd zog Cal die Brille von der Nase.

»Etwas. Etwas war hier.« Gage packte Cal an der Schulter. »Es ist irgendwas passiert, ich habe in mir was gespürt. Dann… hast du es gesehen? Hast du das Ding gesehen?«

»Ich habe seine Augen gesehen«, sagte Fox, und seine Zähne klapperten. »Wir müssen hier weg. Wir müssen hier weg.«

»Wohin?«, fragte Gage. Er hob Cals Messer vom Boden auf und packte es fest. »Wir wissen doch nicht, wohin es gegangen ist. War es eine Art Bär? War es…?«

»Das war kein Bär.« Cals Stimme war auf einmal ganz ruhig. »Es war das, was hier schon immer war. Ich kann es sehen… Ich kann es sehen. Früher einmal sah es aus wie ein Mann, wenn es wollte. Aber es war keiner.«

»Mann, hast du dir den Kopf gestoßen?«

Cal wandte sich zu Fox. Seine Augen waren fast schwarz. »Ich kann es sehen, und den anderen auch.« Er öffnete die Hand, an der er den Schnitt vorgenommen hatte. Auf der Handfläche lag ein grüner Stein mit roten Flecken. »Das war seiner.«

Fox öffnete ebenfalls die Hand und Gage auch. Jeder hatte ein identisches Drittel des Steins in der Hand. »Was ist das?«, flüsterte Gage. »Wo zum Teufel kommt das her?«

»Ich weiß nicht, aber es gehört jetzt uns. Äh, einer für drei, drei für einen. Ich glaube, wir haben irgendetwas herausgelassen. Und damit ist auch noch etwas anderes befreit worden. Etwas Böses. Ich kann es sehen.«

Er schloss einen Moment lang die Augen, dann öffnete er sie wieder und blickte seine Freunde an. »Ich kann es sehen, aber nicht mit meiner Brille. Ich kann ohne sie sehen. Es ist nicht verschwommen. Ich kann ohne Brille sehen.«

»Warte.« Zitternd zog Gage sein T-Shirt hoch und drehte ihnen den Rücken zu.

»Mann, sie sind weg.« Fox fuhr mit den Fingern über Gages glatten Rücken. »Die Striemen. Sie sind weg. Und…« Er hielt sein Handgelenk hoch, wo der flache Schnitt schon fast verheilt war. »Heilige Kuh, sind wir jetzt etwa Superhelden?«

»Es ist ein Dämon«, sagte Cal. »Und wir haben ihn herausgelassen.«

»Scheiße.« Gage starrte in den dunklen Wald. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«

3

Hawkins Hollow

Februar 2008

In Hawkins Hollow, Maryland, war es kälter als in Juno, Alaska. Cal liebte es, solche Details zu wissen, auch wenn er im Moment in Hollow war, wo ihm im feuchten, kalten Wind beinahe die Nase abfror.

Seine Nasenspitze war so ziemlich das Einzige, was aus seiner Vermummung herausragte, als er mit einem Kaffee zum Mitnehmen in der Hand die Hauptstraße entlang zum Bowl-a-Rama ging.

Drei Tage in der Woche frühstückte er in Ma’s Pantry, und mindestens einmal in der Woche ging er zum Abendessen zu Gino’s.

Sein Vater glaubte daran, dass man die Gemeinschaft der lokalen Händler unterstützen musste, und jetzt, da sein Vater sozusagen im Ruhestand war und Cal die Führung der Geschäfte übernommen hatte, versuchte er, der Tradition der Hawkins zu folgen.

Er kaufte im Geschäft am Ort ein, obwohl der Supermarkt außerhalb der Stadt preiswerter war. Wenn er einer Frau Blumen schicken wollte, widerstand er der Versuchung, das mit ein paar Mausklicks am Computer selbst zu erledigen, und ging stattdessen in den Flower Pot. Wenn möglich engagierte er lokale Handwerker.

Abgesehen von der Zeit auf dem College hatte er immer in Hollow gelebt. Es war seine Stadt.

Seit seinem zehnten Geburtstag durchlebte er alle sieben Jahre erneut den Alptraum, der den Ort heimsuchte. Und alle sieben Jahre half er danach beim Aufräumen.

Er schloss die Tür zum Bowl-a-Rama auf, verriegelte sie jedoch hinter sich wieder. Die Leute neigten dazu, auch außerhalb der Öffnungszeiten einfach hereinzuspazieren, wenn die Tür nicht verschlossen war.

Früher war er lockerer damit umgegangen, bis in einer schönen Nacht, als er gerade mit Allysa Kramer Strip-Bowling spielte, plötzlich drei Halbwüchsige aufgetaucht waren, die gedacht hatten, dass vielleicht der Videoshop noch auf hätte.

Die Lektion hatte er gelernt.

Er ging an der Empfangstheke, der Sechs-Bahnen-Anlage, dem Schuhverleih und dem Grill vorbei und lief die Treppe in den ersten Stock hinauf, wo sich das Büro seines Vaters, ein winziges Klo und eine riesige Lagerfläche befanden.

Er stellte den Kaffee auf den Schreibtisch, zog sich die Handschuhe aus, Schal, Kappe, Jacke und Daunenweste.

Dann fuhr er seinen Computer hoch, schaltete das Satellitenradio ein, trank seinen ersten Schluck Kaffee und machte sich an die Arbeit.