Abenteuer Halbmond - Evadeen Brickwood - E-Book

Abenteuer Halbmond E-Book

Evadeen Brickwood

0,0

Beschreibung

Als ob Erwachsenwerden in den siebziger Jahren nicht schon schwierig genug wäre! Teenager Isabell Bertrand ist zu rebellisch und eine neue Behandlungsmethode mit Hypnose soll Abhilfe schaffen. Dr. Albrecht führt sie in ihre frühe Kindheit - und immer weiter - zurück. Kann diese in Seidensaris gekleidete Schönheit wirklich sie selbst gewesen sein? Jahre später wird Isabell zu einer Hochzeit in Pakistan eingeladen und die Erinnerungen drängen sich ihr auf. Mit unerwarteten Folgen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 391

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Als ob Erwachsenwerden in den siebziger Jahren nicht schon schwierig genug wäre! Teenager Isabell Bertrand ist zu rebellisch und eine neue Behandlungsmethode mit Hypnose soll Abhilfe schaffen. Dr. Albrecht führt sie in ihre frühe Kindheit - und immer weiter - zurück. Kann diese in Seidensaris gekleidete Schönheit sie selbst gewesen sein? Musste sie sich wirklich zwischen zwei Männern entscheiden? Jahre später wird Isabell zu einer Hochzeit in Pakistan eingeladen und die Erinnerungen drängen sich ihr wieder auf. Mit unerwarteten Folgen.

Besonderer Dank und Anerkennung

Meinem MannPeter und Phyllis Hyde für ihren Enthusiasmus, konstruktive Korrekturen und ständige Unterstützung. Dr. Brian Weiss für seine horizont-erweiternden Bücherüber Therapien mit Hypnose. Einen besonderen Dank auch an alle meine Testleser und an die Familie, die mich als Teenager im Pandschab so freundlich aufnahm.

Lesen Siemehrüber die Autorin, Evadeen Brickwood, am Ende des Buches...

EinAuszug aus diesem Buch...

Wir fanden den Eingang zu dem überdachten Basar - einen von vielen - und stürzten uns ins Gewimmel. Altafs Plan, mich als seine junge Cousine aus Kaschmir auszugeben, klapptezunächst hervorragend. Ein paar gewiefte Händler hatten uns zuerst nicht geglaubt und sprachen mich im Potohari Dialekt an. Altaf nannte es so. Ich sollte dann verständnislos dreinschauen, was noch nicht mal gespielt war.

“Nein, sie versteht das nicht,” log Altaf dann was das Zeug hielt. “Sie kommt von weiter oben, aus dem Norden.” Wir sprachen ein paar Worte Deutsch miteinander, um es ihnen zu beweisen.

“Ich hoffe, die verstehen hier kein Deutsch, sonst sind wir dran,” sagte ich. Bisher hatte unsere Masche ganz gut funktioniert.

“Ach Isabell, lass mich mal machen. Wenn sie anfangen zu feilschen, werde ich sie schon ‘runterhandeln.”

Wir bekamen diesmal wieder einen guten Preis und meine beiden Begleiter halfen mir die vielen Plastiktüten zu tragen. Stoffe, Gewürze, Modeschmuck und Khol. Sogar ein Gemälde hatten wir erstanden. Es war schwül und heiß in dem überdachten Basar und ich bekam Durst.

“Wir können uns gleich was zu trinken kaufen. Da drüben an dem Stand da gibt‘s Cola,” schlug Chacha Sardar vor.

“Ja, gute Idee. Es ist ganz schön heiß hier in Rawalpindi. Ich wünschte wir wären wieder in Kaschmir!” seufzte ich. “Murree war viel kühler.”

“Ja, die Luft war schön frisch dort,” stimmte Altaf mir zu. Er hatte sich zu einem vorbildlichen Gastgeber gemausert. Die Unstimmigkeiten zwischen uns waren vergessen.

Wir kamen an einem Stand mit Teppichen vorbei. “Oh, was hältst du von dem Teppich hier? Ist der nicht einfach wunderschön?” Ich streichelte begeistert den weichen Wollflor.

“Frauen…” stöhnte Altaf und rollte mit den Augen.

Der Teppichhändler zoomte sofort zu uns herüber und zählte die Vorteile seines überragenden, wertvollen Produktes auf. Auf Pandschabi natürlich. Ich lächelte verständnislos und Altaf übersetzte.

“Er sagt der Teppich kommt aus Kaschmir. Handgeknüpft.” Vieles hier im Basar kam aus Kaschmir, ich ja angeblich auch.

“Die Vögel sehen so richtig lebendig aus, und schau dir nur die Farben an, Altaf.” Vielleicht sollte ich mich ein wenig zurückhalten. Keine gute Idee zu viel Begeisterung zu zeigen, wenn man um den Preis feilschte.

“Der ist doch viel zu groß, um ihn im Flugzeug mitzuschleppen. Du musst ja schon dieses Bild hier mitnehmen.” Er hielt das Gemälde einer jungen Kaschmiri-Frau hoch, das er gerade spottbillig erstanden hatte. Er hatte ja recht, aber ich streichelte den Teppich trotzdem noch ein wenig.

“Kinnaa?” fragte Altaf den gerissenen Händler. Wie viel?

Der Mann nannte seinen Preis. Altafs aufgeregtem Gebaren nach zu urteilen, war der Preis viel zu hoch. Worte flogen hin und her. Nach ein paar ablehnenden Handbewegungen und verächtlichen Grimassen Altafs und Chacha Sardars gingen wir weiter.

“Was hat er denn gesagt?” wollte ich wissen.

“Er meinte, du kommst nicht aus Kaschmir, du siehst zu europäisch aus. Er wollte den normalen Preis haben, den er Ausländern immer abknöpft. Der meint wohl wir wären reich oder was.”

Einen Buchtrailer im Evadeen Brickwood Channel auf Youtube ansehen:

http://youtu.be/ECHIZeWbjA4

Abenteuer Halbmond

Evadeen Brickwood

Published by Evadeen Brickwood in digital format

at Smashwords, Kindle Direct Publishing, Tolino and in South Africa

Copyright 2015 Evadeen Brickwood

NLSA ISBNs 978-0-9946916-9-9 (pdf), 978-0-9946917-0-5 (mobi),

978-0-9946917-1-2 (epub)

Kindle: ASIN: B014DRWPF8

Smashwords ISBN: 978-13-11149749

Tolino EAN: 9783739323237

Veröffentlicht vonEvadeen Brickwood

Cover Design by Yvonne Less, www.art4artists.com.au

Bildquellen:‘Depositphotos.com' lizensiert

Buch-Layout: Birgit Böttner

Entdecken Sie weitere Titel von Evadeen Brickwood:

Singende Eidechsen

Ein Afrika-Abenteuer-Roman

In der englischen Ausgabe:

Singing Lizards

In der Jugendbuchreihe:

Children of the Moon

Remember the Future Book 1

The Speaking Stone of Caradoc

Remember the Future Book 2

Kinder des Mondes

Erinnerung an die Zukunft Buch 1

(Zeitreise-Abenteuer)

Dieses E-Book ist allein zu Ihrem persönlichen Lesevergnügen lizensiert und urheberrechtlich geschützt. Dieses E-Book darf nicht weiterverkauft oder an andere Leute verschenkt werden. Wenn Sie dieses Buch mit anderen Personen teilen möchten, kaufen Sie bitte eine zusätzliche Kopie für jeden Empfänger. Falls Sie dieses Buch lesen sollten, es aber nicht gekauft haben, oder es nicht allein zu Ihrem persönlichen Gebrauch gekauft haben, dann gehen Sie bitte auf die Kindle.com Webseite und kaufen Ihre eigene Kopie. Vielen Dank, daß Sie die Arbeit dieses Autors respektieren.

Alle Rechte vorbehalten.

Ohne die Rechte unter dem Copyright oben einzuschränken, darf kein Teil dieser Veröffentlichung reproduziert, in einem Datenabfragesystem gespeichert oder in irgendeinem anderen Formatübermittelt oder auf eine andere Weise (elektronisch, mechanisch, durch Photokopieren, Tonaufnahme oder andersweitig), geliehen, wiederverkauft, ausgeliehen oder andersweitig verbreitet oder in irgendeiner Form, mit irgendeinem Einband oder Umschlag ohne die vorherige schriftliche Erlaubnis des Urhebers sowie des obengenannten Verlegers dieses Buchs gehandelt werden.

Eshandelt sich hierbei um eine erfundene Geschichte. Namen, Charaktäre, Orte, Markenzeichen, Medien und Vorkommnisse sind entweder ein Produkt der Fantasie des Autors oder wurden in fiktivem Zusammenhang benutzt. Der Autor erkennt den geschützten Status und die Urheber der Marken verschiedener Produkte an, auf die in dieser erfundenen Geschichte hingewiesen wird und ohne Erlaubnis benutzt werden. Die Veröffentlichung/Benutzung der geschützten Markenzeichen wird von den Urhebern weder autorisiert oder mit ihnen verbunden noch von ihnen finanziert.

„Ich habe nicht die Hälfte von dem erzählt, was ich gesehen habe,

weil keiner mir geglaubt hätte.“

Marco Polo

ABENTEUER HALBMOND

Kapitel 1

Eine warme Brise trägt mich sanft hierhin und dorthin. Stille. Nichts. Nur Wärme. Eine Stimme dringt zu mir durch, holt mich zurück. Ruhig und bestimmt.

“Drei, Sie kommen zurück - zwei, Sie werden jetzt aufwachen - eins, Sie öffnen Ihre Augen und können sich an alles erinnern... ”

Dr. Albrechts Stimme erreichte mich wie aus weiter Ferne. Die Bilder hinter dem Nichts verblassten. Dr. Albrecht - ich erinnerte mich an ihn. Er hatte mich hypnotisiert.

Gerade noch hatte ich mich als zwölfjährige Version meiner Selbst gesehen. Dunkelblond, schlank, mittelgroß, volle Lippen und graue Augen. Jung und verletzlich. Traurig. Eigentlich mochte ich mich mit zwölf.

“Das haben Sie gut gemacht, Isabell,” lobte Dr. Albrecht und schaltete den Kassettenrecorder ab. Folgsam öffnete ich meine Augen und nahm einen tiefen Atemzug.

Dr. Albrecht sah auf seine Armbanduhr, dann auf die Wanduhr. Wahrscheinlich, um sicherzugehen, dass es tatsächlich schon so spät war. Es wurde kühler, roch nach Bohnerwachs. Der bequeme Liegesitz, auf dem ich die letzte halbe Stunde verbracht hatte, drückte mich auf einmal hier und da.

“Mhmm.” Ich reckte und streckte mich ausgiebig. Es dauerte immer eine Weile bis ich mich wieder an ‘Heute’ gewöhnt hatte.

‘Heute’ - das war im Sommer 1977, in meiner Heimatstadt Karlsruhe.

Ich war schon fünfzehn und meiner Meinung nach ein ganz gewöhnlicher Teenager. Ich machte Sport, mochte Musik, hatte ab und zu einen Pickel und lehnte mich gegen meine Eltern auf. Deswegen war ich hier. Meine Eltern waren nämlich der Meinung, ich sei zu ‘schwierig’. Rebellisch sogar. Dr. Albrecht sollte dem Abhilfe schaffen.

Verkehrslärm schallte zu uns herauf. Der Kaffee auf dem breiten Arztschreibtisch roch schal und die Uhr an der weißen Wand gegenüber zeigte 14.30 Uhr an. Eine Straßenbahn klingelte. Die Gegenwart hatte mich wieder.

Diese neuartige Hypnose-Behandlung dauerte nun schon ganze zwei Monate und förderte so einiges aus meiner frühen Kindheit zu Tage. In den siebziger Jahren wurden gern solche neuen Methoden ausprobiert - man fand das wohl modern. Mir sollte es recht sein.

“Wir haben noch Zeit, uns die wichtigsten Stellen auf dem Band anzuhören. Und ich habe da noch ein paar Fragen an Sie.”

“Klar doch Doc,” sagte ich keck.

Ich setzte mich auf und sah zu, wie er sich mit dem Kassettenrecorder zu schaffen machte. Soweit ich es beurteilen konnte, war Dr. Albrecht schon steinalt.

Mindestens dreißig. Sein schütteres Haar und die Krähenfüße um die bebrillten Augen waren ein klares Zeichen fortgeschrittenen Alters. Außerdem trug er einen weißen Arztkittel und sprach mich immer mit ‘Sie’ an. Er musste ziemlich clever sein und erinnerte mich an ein Poster von Albert Einstein. Nur dass er nicht so verrückte Haare hatte. Dr. Albrecht war der einzige Erwachsene, der mir richtig zuhörte.

Das mit der neuen Therapie war an sich ‘ne tolle Sache. Am Anfang hatte ich natürlich keine Lust dazu gehabt, aber dann gewöhnte ich mich dran. Unter Hypnose erlebte ich alles genauso wie damals, nur dass ich eben dabei die Kontrolle hatte. Hinterher redeten wir immer darüber. Diesmal hatten die Erinnerungen mit einem Telefongespräch begonnen, das ich als Zwölfjährige mit meinem Vater führte.

‘Papa, sie liegt einfach nur im Bett und sagt nichts und starrt die Wand an. Ich hab’ Angst. Komm’ nach Hause!’

‘Bist du sicher, dass sie nicht einfach nur wieder schmollt? Ich habe soviel Arbeit heute. Warst du wieder frech zu ihr?’

‘Nein, ganz bestimmt nicht. Wir haben nichts angestellt.’

Meine ältere Schwester Evelyn fing zu heulen an und meine kleine Schwester Paula verkroch sich unter dem Esstisch.

‘Hat sie was eingenommen?’

Das wussten wir nicht. Sie nahm immer so viele Pillen. Papa beeilte sich nach Hause zu kommen und ein Ambulanzfahrzeug nahm meine Mutter mit. Wir fühlten uns schuldig, weil Papa nicht mit uns redete. Meine Mutter war danach für zwei Monate in ‘Kur’ gegangen.

Während dieser Zeit schickte uns die Krankenkasse eine heftige Walküre von einer Pflegerin, die sich um die Familie kümmerte. Sie hatte eine unmoderne Hochfrisur und kommandierte uns mit schriller Stimme herum… Dr. Albrecht stoppte die Aufnahme.

“Wie empfanden Sie die Abwesenheit ihrer Mutter?” fragte Dr. Albrecht.

“Hmm, irgendwie schuldig und ich mochte die Pflegerin noch weniger als meine Mutter,” meinte ich und beantwortete noch drei oder vier weitere Fragen. Ich hatte es gelernt meine Gefühle in Worte zu fassen. Das war gar nicht so übel.

“So, ich glaube das reicht für heute,” sagte der gute Doktor auf einmal.

Ich sah verdutzt zur Wanduhr auf. Es war schon kurz nach drei. Höchste Zeit. Der Psychologe setzte noch einen letzten Kringel hinter seine Notizen und begab sich wie immer in den ledernen Stuhl hinter dem Schreibtisch.

“Tja, wir sind fast am Ende unserer Therapie angelangt,” meinte er auf einmal und warf seinen Kugelschreiber in eine flache Glasschale. “ Ein voller Erfolg. Sie können stolz auf sich sein, Isabell. Wir brauchen noch eine…vielleicht zwei Sitzungen.”

“Ja, vielleicht. Ich muss jetzt gehen,” sagte ich ungeduldig und schlängelte mich aus dem weichen Liegesessel heraus. “Morgen schreiben wir eine wichtige Klausur.”

Dr. Albrecht schob seine Goldbrille zerstreut den Nasenrücken hinauf. Er wollte anscheinend noch etwas sagen. Ich pflanzte mich zappelig auf den Holzstuhl vor dem Schreibtisch und sah ihn erwartungsvoll an.

Kaum jemand wusste von der Therapie und ich spreche eigentlich nie mit meiner Familie darüber. Das war mir zu peinlich. Die Mädchen in meiner Klasse waren viel zu unreif, um sowas wie Hypnose zu verstehen. Die hätten sich bestimmt über mich lustig gemacht. Nur meine beste Freundin Renate wusste davon und war okay damit.

‘Ist das nicht Klasse? Ein richtiger Psychologe,’ hatte ich ihr nach der ersten Sitzung begeistert berichtet.

‘Wozu brauchst du einen Psychologen?’ Sie sprach das Wort aus, als handle es sich um verdorbenes Essen.

“Na, du weißt ja, meine Mutter und der ganze Mist.”

‘Warum geht sie dann nicht zum Psychologen?’

‘Vielleicht weil sie erwachsen ist?’

Vielleicht sollte ich nicht mal mehr Renate von meiner Mutter erzählen. Sie könnte noch denken, ich sei genauso verrückt.

‘Das ist der einzige Grund? Erwachsene haben wohl immer recht, was?‘

‘Was denn sonst?’

‘Wie bekloppt. Ich bin froh, dass meine Mutter einigermaßen Ok ist.’

Ihre Mutter war geschieden und arbeitete halbtags. Renate war ein Schlüsselkind, das von Vollzeit-Müttern gebührlich bedauert wurde.

‘Ja, du hast’s gut.’

‘Trau’ keinem über dreißig,’ hatte Renate mich gewarnt. ‘Du kannst das nicht alles für bare Münze nehmen was der Typ dir verklickert.’

Ich vertraute Dr. Albrecht aber trotzdem.

Renate war dünn und hatte lange dunkel-gefärbte Haare. Einfach Klasse. Das einzige Mädchen in der Klasse, das es wagte sich die Haare zu färben. Ihre dunklen Augen waren fast zu groß für das kleine Katzengesicht und der schmale Mund zeigte oft einen zynischen Zug. Das war eben ihre Art mit einer unfreundlichen Welt umzugehen. Zynisch war gut. Renate war nicht so verbiestert wie andere Mädchen, nur ein wenig spröde eben. Es gab unserer Freundschaft genau die richtige Distanz.

‘Frau Beilstein ist hier,’ knarrte die Sprechanlage auf dem Schreibtisch. Dr. Albrecht drückte auf einen Knopf. “Danke Elisabeth. Eine Minute noch.” Was mir der gute Doktor in dieser ‚Minute‘ sagte, war verblüffend: weil ich ein so gutes Subjekt sei, wolle er die Sitzungen fortsetzen. Inoffiziell. Wie bitte?

“Sie würden sich hervorragend für meine experimentellen Versuche eignen, Isabell. Als Erweiterung meiner Arbeit mit Jugendlichen möchte ich Patienten weiter zurückführen. Vielleicht haben Sie schon mal was von Regression gehört.”

Ich dachte nach. “Nein, was ist das denn?”

Um die Sache zu beschleunigen, erklärte er es mir kurz und bündig. Wir hatten nur eine Minute Zeit! Ich rutschte auf dem Stuhl hin und her.

“Sie meinen – bevor ich geboren wurde?”

“Sozusagen. Ich werde ein Buch darüber schreiben.”

“Sozusagen? Aber das ist doch unmöglich! Wir leben doch nur einmal.”

“Das ist ja genau das, was ich erforschen möchte. Mit Ihrer Hilfe. Es gibt da schon einige dokumentierte Fälle in den Vereinigten Staaten. Dr. Stephenson zum Beispiel. Sie sind zwar noch minderjährig, aber wir könnten ihr Geburtsdatum und den Namen ändern. Nur zu Forschungszwecken.”

Aha, ein Geheimnis! Das nahm ja eine interessante Wendung. Dr. Albrecht hatte wahrscheinlich jedes erdenkliche Buch zu dem Thema gelesen. Er erzählte mir von einer Frau, die sich doch tatsächlich an ein früheres Leben erinnerte. Das konnte ich bestimmt auch.

“Was ist, wenn man in...Timbuktu gelebt hat, spricht man dann auch…”

“Arabisch? Vielleicht. Das heißt Xenoglossie. Wenn man unter Hypnose in einer Fremdsprache spricht, die man nie gelernt hat.”

Xenoglossie - ein ziemlicher Brocken von einem Wort. Dass es so etwas überhaupt gab! “Hmm, weiß nicht so recht. Hört sich ‘n bisschen komisch an. Außerdem muss ich viel auf die Schule lernen,” protestiere ich halbherzig.

“Ich überlasse Ihnen die Entscheidung. Wenn Sie nicht wollen, finde ich schon jemanden. Die Schule geht ja vor. Das ist vollkommen normal.”

Ich hasste das Wort ‘normal’.

“Warum ausgerechnet ich? Haben Sie die anderen Patienten auch gefragt? Ich bin doch erst Nummer 13 auf Ihrer Liste von ‘schwierigen Jugendlichen’.” Das war ironisch gemeint, das mit der 13.

“Ja, ich werde es auch mit anderen Patienten versuchen. Aber Sie eignen sich dazu bisher am besten, denke ich.” Denkt er!

“Klasse, Ihr bestes Versuchskaninchen.”

“Sozusagen.”

“Ich muss mir das erst mal überlegen.”

“Natürlich, nehmen Sie sich Zeit, Isabell. Nur nicht zu lange. Bis nächstes Mal? Elisabeth, Sie können jetzt —”

Das Gespräch hatte natürlich länger als eine Minute gedauert. Eher zehn. Ich war hervorragend geeignet und meine Mutter würde die Motten kriegen, wenn sie davon wüsste. Hah. “Ok, ich hab’s mir überlegt,” sagte ich schnell. “Ich mach’ mit.”

Der Doktor brauchte mich. Nicht als Patientin, sondern als sein bestes Versuchskaninchen. Nicht die anderen. Mich. Die fünfzehnjährige Isabell. Ich würde in seinem Buch vorkommen. Das machte mich irgendwie stolz. Nur unter einem anderen Namen und älter, aber das war ja egal. Durfte sowieso niemand was davon wissen.

Wir vereinbarten noch einen Termin am folgenden Donnerstag um die gleiche Zeit. Dann drängte ich mich an der fleischigen Frau Beilstein vorbei und sauste die breite Treppe hinunter. Unten angelangt öffnete ich flugs das Schloss an meinem Fahrrad und wollte mich schon auf den Sattel schwingen, da musste ich an die gerundete Figur meines anderen Ichs denken.

Ich sah kritisch an mir herab. Von Rundungen und einem wohl entwickelten Busen war an meinem schlanken Körper nicht viel zu sehen. Zwei sanfte Wölbungen wo andere Mädchen in meinem Alter schon ordentlich was drauf hatten. Egal, beschloss ich, wenigstens kann ich Sport machen!

Als ich so auf meinem Fahrrad durch den Nachmittagsverkehr nach Hause strampelte, dachte ich nochmal über alles nach. Ich musste kichern und wäre fast bei Rot über die Ampel gefahren. Eine Straßenbahn klingelte wie wild.

Dr. Albrecht machte sich viel Mühe, die frühen Erinnerungen aus mir herauszulocken. Endlich interessierte sich mal jemand für meine Gefühle. Eine tolle neue Methode, das mit der Hypnose. Dabei hatte ich mich am Anfang total dagegen gesträubt. Die Fahrradreifen knatterten über die Bordsteinkante. Ich nahm eine Abkürzung und fuhr zu dicht an einer alten Frau vorbei, die ihren Dackel spazierenführte.

“He, du Lümmel!”

“Tschuldigung!” rief ich halbherzig zurück.

Hier in der Gegend gab es nur Wohnungen. Ich mochte die alten Sandsteinbauten entlang der breiten Straße lieber. Hier wohnten die Reichen.

Bestimmt waren die Räume groß und elegant mit riesigen Fenstern und Balkonen, edlen Teppichen und Möbeln, von denen man nur träumen konnte. Wir dagegen wohnten in einer Sozialwohnung im billigen Viertel, weil meine Eltern drei Kinder hatten.

Ich bog um die vertraute Ecke in unsere Straße und dachte zum hundertsten Mal, wer wohl die idiotische Idee hatte das Haus Nummer 8 senfgelb anzustreichen. Wenn man hoch blickte bewegten sich Spitzengardinen von unsichtbarer Hand. Ich legte das Fahrrad an die Kette und stieg die Treppe hoch. Zwei Stufen auf einmal.

“Isabellsche!” Ich wäre fast in Frau Speidel hineingestolpert, die Tratschtante von ganz oben. Sie fügte meinem Namen immer ein -sche an. Eigentlich an die Namen aller, die sie als Kinder ansah. Frau Speidel gehörte zu der Gruppe Erwachsener, die es sich anscheinend zum Ziel gemacht hatten, mir mein Leben zu erschweren.

“Isabellsche! Wart e Momentle...”

Sie musste ihr halbes Leben im Treppenhaus verbringen, so oft wie man sie dort antraf. Das Treppenhaus war wie die Hauptstraße in einem senkrechten Dorf. Frau Speidel wusste so ziemlich alles über jeden im Haus. Ach was, alles über jeden in der ganzen Straße. Und über alle Filmschauspieler noch dazu.

“Oh, tut mir leid, wiederseh’n Frau Speidel.”

Ich schaffte es, mich auf den nächsten Treppenabsatz zu retten. Außer Sichtweite war es leichter sich aus dem Staub zu machen.

“Also... habt ihr denn so lang Schul’?” rief sie neugierig hinterher.

“Ja.”

“Also weisch,... zu meiner Zeit…” Da ließ ich schon die Tür zur Wohnung ins Schloss fallen. Der Geruch von Eintopf.

“Hast du was gegessen?” fragte meine Mutter aus der Küche. Sie wollte reden. “Ja,” log ich und verzog mich schnell ins Kinderzimmer.

Ich konnte auf keinen Fall die Therapie diskutieren. Nicht nur, weil ich keine Lust dazu hatte. Meine Eltern durften auch nichts von dem Experiment bei Dr. Albrecht erfahren. Mit denen konnte man sowieso nicht reden. Sie waren meiner Meinung nach total verbohrt. Konventionell und engstirnig.

Mit fünfzehn hatte ich schon eine gute Vorstellung davon, was das bedeutete. Schließlich redete jeder über Konventionen. Meine Eltern, das waren Walter und Hannelore Bertrand. Kein ideales Ehepaar.

Papa arbeitete an der Technischen Universität und kam jeden Tag zum Mittagessen nach Hause. Abends reparierte er oft noch Fernseher, um mehr Geld zu verdienen. Drei Kinder waren ein teurer Spaß. Er gab seinem ‘Vatersein’ die Schuld an denen sich lichtenden Haupthaaren und die Kochkunst meiner Mutter war für seine füllige Mitte verantwortlich. Königsberger Klopse vor allem, seine Lieblingsspeise. Am Anfang hatte ich sie auch mal gemocht, aber so oft wie die’s bei uns gab, hatte ich meine Meinung jetzt geändert. Ich wollte Müsli.

Hinter der Bezeichnung ‘technischer Angestellter’ verbarg sich der wichtigste Mann an der Uni. Als wir noch jünger waren, sieben oder acht, hatte er Evelyn und mich manchmal mit zur Arbeit genommen. Sein Auto hatte einen angestammten Platz in der Tiefgarage und Papa hatte sein eigenes Büro mit Werkstatt. Bunte Kabel mit Klemmen hingen von Regalen voller Werkzeuge und Schrauben herab.

Er erklärte uns geduldig, was er so machte. Papa konnte einfach alles und wurde oft angerufen. Dann musste er gehen.

Wir drehten uns auf dem Schreibtischstuhl links und rechts und tranken Cola für 50 Pfennige aus dem Flaschenautomaten im gebohnerten Gang. Die große schwenkbare Lupe über dem Schreibtisch war unser Lieblingsspielzeug. Wenn man die kleine Lampe daran anknipste, war darunter alles riesig zu sehen. Zigarrenstummel im Aschenbecher, Schrauben und Briefmarken. Papa hatte uns früher gern um sich gehabt. Etwas davon war manchmal noch zu spüren.

Er liebte seinen Schrebergarten, wo er in einem großen Beet die Atmosphäre von Masuren nachempfand. Mit Pflanzen aus dem nahen Schwarzwald. Papa war in Masuren aufgewachsen und sehnte sich oft nach seiner Heimat zurück. Der Schwarzwald erinnerte ihn an Masuren, sagte er.

Meine Mutter war Hausfrau. Eine, die immer adrette Schürzen trug, immer kochte und ständig unsere Vierzimmer-Wohnung putzte. Ihre blonden Haare hatten wohl mal füllig geglänzt, aber zu viele Dauerwellen, die jede anständige Hausfrau unbedingt benötigte, hatten ihnen den Garaus gemacht. Das Ergebnis erinnerte mich eher an Schafwolle. Manchmal kam ich aus der Schule nach Hause und fand das Wohnzimmer abgeschlossen vor.

‘Ihr macht mir nur alles wieder schmutzig und ich habe mich den ganzen Morgen mit den Sofas abgeplagt,’ sagte sie dann mit wenigen Variationen, und sowas wie ‘Isabell, du kannst gleich den Mülleimer runtertragen und dann das Geschirr spülen. Komm, komm, keine Müdigkeit vorschützen!” sagte sie mit so vielen Variationen, dass ich schon gar nicht mehr zuhörte. Sie putzte auch eifrig die Fassade der Familie, denn ‘was sollen denn die Leute denken...‘. Als ob das irgendwen interessierte.

Dabei war meine Mutter nicht immer Hausfrau gewesen. Sie trauerte ihren glorreichen Tagen als Oberschwester im Kurkrankenhaus Baden-Baden nach, von denen wir natürlich jede Einzelheit kannten.

‘Ja, Emmerich Kalman war einer meiner Patienten. Da, die Vase hat er mir zum Abschied geschenkt. Nein die mit den Fischen drauf. Nur die reichsten und wichtigsten Leute kamen zum Kuraufenthalt nach Baden-Baden.’ Wir hatten keine Ahnung wer Emmerich Kalman war. Oder die meisten anderen Namen, die sie immer einfließen ließ .

Unsere Mutter liebte so langweilige Radiomusik von Tschaikowsky und dem Holzschuhtanz, und sie liebte es, uns im Befehlston bei unseren häuslichen Pflichten anzutreiben. Am meisten hasste ich Fensterputzen. Sie duldete keine Widerrede.

Wenn wir es wagten krank zu werden, wurden wir tagelang ins Bett gesteckt und fachgerecht gepflegt. Wir bekamen Haferschleim und Kamillentee und Besuchszeiten waren begrenzt. Da war es besser gesund zu bleiben.

Mittlerweile wusste ich, dass meine Mutter wegen ihrer schwierigen Kindheit so war wie sie war. Anscheinend hatte sie so eine Art Vertrag mit Papa geschlossen, dass er sie immer gegen die Kinder unterstützen musste, egal was.

Wenn sie einen ihrer Wutanfälle bekam, hatte sich Klein-Isabell in Schränke verkrochen. Bestimmt hatten meine Magenkrämpfe und Kopfschmerzen etwas damit zu tun. Dann versteckte ich mich einfach so, auch wenn sie mal wieder gute Laune hatte. Ich traute ihr einfach nicht.

Als ich älter wurde, begann ich mich aufzulehnen.

‘Du hast jedes Recht dich zu wehren,’ hatte Renate gesagt, als ich ihr mal einen besonders blauen Fleck zeigte. “Warum sollst du ausgerechnet Fensterputzen, wenn du zu müde dazu bist und auf die Klausur lernen musst?”

Und das tat ich dann auch. Ich wehrte mich. Das heißt, ich flüchtete.

Bei jeder Gelegenheit fuhr ich mit meinem Klappfahrrad in den Schlosspark, der sich in meilenweiter Freiheit ausbreitete. Endlich Ruhe! Der Park nahm mich in seine grünen Arme, wenn ich Sorgen hatte, und tröstete mich. Ich liebte die Ruhe, ich liebte die Anlagen, den See und die bunten Azaleenbüsche. Hier spielte ein paar geduldigen Zuhörern auf meiner Gitarre vor. ‘If I had a Hammer’ und ‘Blowing in the Wind‘ und all so was.

Danach schwang ich mich wieder auf den Sattel und fuhr mit der baumelnden Gitarre am Lenkrad wieder nach Hause. Am liebsten hätte ich ja im Park gewohnt. In einem schönen Haus, viel kleiner als das Schloss. In einem der Teehäuser, vielleicht. Das wäre dann mein richtiges Zuhause gewesen.

Meine Schwester Evelyn war ein Jahr älter als ich und schon fast genauso launisch wie meine Mutter. Paula war drei Jahre jünger und das verzogene Nesthäkchen. Beide hatten im Gegensatz zu mir eine helle, sommersprossige Haut und hellblonde Haare. Genau wie unsere Mutter.

Kein Wunder also, dass ich ‘anders’ war. Ich sah anders aus, war unfügsam und aufmüpfig und hatte mich zum schwarzen Schaf der Familie entpuppt. Ein Teenager, der sich einfach nicht anpassen wollte. Ein Rebell.

Wir Kinder stritten uns meist genau wie unsere Eltern, aber oft handfest und unfair, mit Kinnhaken und Haareziehen. Irgendwann würde ich mein eigenes Haus haben, träumte ich, wenn ich im Schlosspark war. Dort würde es ruhig sein. Friedlich. Streiten verboten. Ich hatte die brillante Idee gehabt aus dieser Kriegszone wegzuziehen. Zu meiner Großmutter, die in einer kleinen Einzimmer-Wohnung zwei Häuser weiter wohnte.

Oma Bertrand war Papas 82-jährige Mutter. Eine ehrwürdige, calvinistische Witwe, die immer in lange schwarze Kleider und graue Schürzen gekleidet war. Oma Bertrand kam uns Kindern fast wie ein Dinosaurier vor, so alt war sie. Ihr dünnes weißes Haar war zu einem streng geflochtenen Knoten hochgenadelt, ihre Haut war verrunzelt und voller Altersflecken, aber ich liebte sie.

Mir machte es nichts aus. Sie mochte mich und meinte oft, wie sehr ich der Familie ihres gefallenen Mannes glich. Wie konnte ich sie da nicht lieben? “Es waren französische Hugenotten, mein Kind. Adelige, denen der Preußenkönig Friedrich Wilhelm II vor Generationen Land in Ostpreußen gegeben hatte. Dann mussten wir alles zurücklassen und vor den Russen flüchten.”

Die Geschichte mit der Flucht über die Danziger Bucht kannte ich schon auswendig. Angeblich waren die Bertrands ziemlich gutaussehende Adelige gewesen. Papa glich ein wenig einem jungen Marlon Brando. Das sagten zumindest alle. Nicht schlecht für mich.

Oma Bertrand lächelte zahnlos und seufzte, wenn sie sich an ihren Mann erinnerte, dem sie zehn Kinder geschenkt hatte. Sie sah dann fast wieder schön aus. In der Wohnung meiner Eltern ging derweil der Krieg für die Bertrands weiter.

“Sie zieht mir auf keinen Fall zu deiner Mutter. Du hast versprochen, sie in meinem Glauben zu erziehen. Außerdem ist Isabell viel zu jung, um auszuziehen,” hörte ich meine Mutter eines Abends aufbrausen, als ich mal wieder im Flur lauschte. Mein Herz sank. Ich durfte nicht zu Oma Bertrand ziehen.

“Na gut, Hannelore, wie du meinst.” Papa hatte offensichtlich keine Lust sich auf ein Streitgespräch einzulassen. “Dann zieht sie eben nicht zu meiner Mutter.”

“Vielleicht hat sie ja einen Gehirntumor.” Ich schnappte nach Luft.

“Hannelore, sie ist in der Pubertät. Da ist es doch normal rebellisch zu sein. Die Schule ist wohl auch anstrengend. Der Stoff wird ja immer schwieriger.” Papa faltete seine Tageszeitung zusammen und legte sie neben den Aschenbecher. Oje, ging jetzt wieder ein Streit los?

“Aber Evelyn und Paula schaffen ihre Schularbeit doch auch, und Magdas Tochter hat keine Probleme mit ihrer Schule. So ein braves Mädchen.”

Magda Pfeiffer arbeitete bei der Post und war ungeheuer langweilig. Außerdem war sie die einzige Freundin meiner Mutter. Wahrscheinlich, weil sie ihr nie widersprach. Papa hielt das auch für das Beste.

“Hast du gesehen, wie zornig Isabell mich heute angeschaut hat?” fuhr sie fort, so richtig schön in Fahrt. “Nach allem was ich für die Kinder tue. Undank ist der Welten Lohn. Sie meinte doch tatsächlich, dass Adam und Eva in der Bibel nur symbolisch gemeint seien. Kannst du das glauben?” zeterte meine Mutter weiter. “Wo sie nur solche Sachen herhat? Vielleicht sollte ich morgen gleich einen Termin beim Arzt machen.”

Ich hatte den Verdacht, dass es dabei weniger um mich ging. Sie hatte eine Schwäche für Ärzte.

“Na gut, wenn du meinst es sei unbedingt notwendig unsere Isabell wieder zu irgendeinem Quacksalber zu schleppen, dann mach’ das. Du hörst ja doch nicht auf mich.” Papa zündete eine Zigarre an. Süßlicher Rauch durchzog den Flur.

“Walter, wie kannst du so etwas sagen? Ich höre zu.”

“Ich habe dir doch gerade gesagt, dass mit ihr nichts verkehrt ist. Nur weil sie eine andere Meinung ist, hat sie noch lange keinen Gehirntumor. Vielleicht solltest du sie einfach in Ruhe lassen, dann gehen die Kopfschmerzen schon wieder weg.”

“Aha, jetzt ist es also wieder meine Schuld. Isabell bringt es immer fertig sich zwischen uns zu drängen. Wir zanken uns schon wieder wegen ihr. Ich arbeite mich schließlich in Grund und Boden für dich und die Kinder. Da darf ich wohl ein wenig Respekt erwarten.”

Meine Mutter fing an zu schluchzen. Es ging auf die gefährliche Grenze zu. Ich musste mich einschalten, sonst würden sie sich wieder stundenlang in die Haare kriegen. Ich platzte ins Zimmer und fing an wie ein Rohrspatz zu schimpfen.

“Könnt ihr euch mal einen Tag nicht streiten? Verdammt, da kann sich ja kein Mensch beim Lernen konzentrieren!”

Die beiden sahen mich verblüfft an.

“Da hörst du’s Walter,” rief meine Mutter. “Sie flucht und schimpft als wäre ich ihre Dienstbotin. Ihr gehört eine ordentliche Tracht Prügel!”

Mein Vater schickte mich mit einer Kinnbewegung aus dem Zimmer und musste sie trösten. Das Schluchzen verstummte. Mein Eingriff hatte gewirkt. Immerhin ging das Gespräch jetzt in normalem Ton weiter.

“Ich bin mir nicht sicher, dass Prügeln da einen Unterschied macht. Um ehrlich zu sein, glaube es macht es alles nur noch schlimmer.”

“Wieso? Mir hat das als Kind doch auch nichts geschadet.”

Mein Vater hüstelte wissend, aber es war sinnlos mit ihr zu diskutieren.

“Ich sehe schon, ich rede doch nur gegen die Wand. Ich brauche jetzt meine Ruhe,” sagte er. Papa nahm seine Pfeife und setzte sich hinten auf den Balkon, um wie so oft die Sterne anzusehen, während meine Mutter in der Küche mit dem Geschirr herumklapperte.

Meine Mutter setzte sich durch, sie war angeblich mit ihren ‘Nerven am Ende’. Ich musste wieder in die Klinik zu einer Untersuchung. Meine Patientenakte war sicher schon am Platzen. Mein schreckliches Benehmen wollte sich trotz der Schläge einfach nicht bessern. Außerdem ich hatte es gewagt, zurückzuschlagen. Das passte Papa wiederum nicht.

Alles nur wegen so einem blöden Buch.

Meine Mutter hatte das Buch ‘Die gute Ehe’, in dem Evelyn ein Kapitel über Sex entdeckt hatte, im Kühlschrank gefunden. Ich hatte es dort schnell versteckt, als sie zur Tür hereinkam. Über Sex wurde bei uns nie geredet und wir mussten uns eben anderweitig informieren.

‘Warum entschuldigst du dich nicht einfach?’ hatte mir Evelyn mal wieder vorgeworfen. ‘Du bist doch blöd, dich immer so stur zu stellen.’

Die hübsche, blonde Evelyn schluckte gewöhnlich ihren Ärger und Schmerz hinunter, was sie dann später an mir ausließ. Am liebsten verhöhnte sie mich vor ihren Freundinnen.

‘Was ist denn schon so schlimmes daran ein Buch zu lesen, das sogar noch ihr gehört?’

‘Darum geht es doch gar nicht. Du warst frech zu ihr. Willst du, dass sie Papa sagt, dass er dich schlagen soll, wenn er heute Abend von der Arbeit kommt?’

‘Ich werd‘s ihm erklären. Du kannst von mir aus nachgeben, aber ich werde das nicht tun!’ erwiderte ich trotzig und Evelyn gab seufzend auf.

‘Ach, lass sie doch einfach,” mischte sich Paula ein. “Die hat doch’n Knall.’ Paula verstand es hervorragend ihre eigenen ‘Sünden’ auf uns ältere Schwestern abzuschieben und wir mussten dann alles ausbaden.

‘Du musst gerade reden. Du Biest,’ rief ich aufgebracht.

Wir waren jetzt schon zu alt, um uns noch zu raufen, aber ich gab ihr meinen giftigsten Seitenblick.

Ich hatte das Buch dummerweise im Kühlschrank vergessen und es verschwand danach auf Nimmerwiedersehen. Unsere Aufklärung war damit noch lange nicht am Ende. Evelyn hatte schon ein anderes Buch über die Borgia-Päpste im Bücherregal entdeckt und es unter ihrer Matratze versteckt. Verwerflich, aber spannend. Meine Mutter schien nicht zu wissen, welcher Lesestoff da in ihrem Wohnzimmer lauerte. ‘Die gute Ehe’ war ein Kinderbuch dagegen.

Abends rastete unsere Mutter wie erwartet aus. Sie wartete noch nicht mal bis Papa von der Arbeit nach Hause kam. Das konnte ich mir nicht mehr gefallen lassen. Ich schlug zum ersten Mal zurück und es blieb natürlich nicht beim Hausarrest.

Der Kinderarzt konnte nichts Ungewöhnliches finden. “Kopfschmerzen und Magenkrämpfe sagen Sie, Frau Bertrand? Vielleicht sind die Symptome bei ihr ja psychosomatischer Natur. Und das aggressive Verhalten ist ja heutzutage nichts Neues. Gehen Sie mit Isabell zur Elternberatung, da kann man Ihnen vielleicht weiterhelfen.”

“Ja, wenn Sie meinen Herr Doktor,” säuselte meine Mutter. “Sie wissen ja wovon Sie sprechen.”

Wie zu erwarten war, befolgte sie den Rat des charmanten Arztes und ich wurde vorgeladen.

Die Sozialarbeiterin, die sich auf ‘schwierige Jugendliche’ spezialisierte, sah ganz und gar nicht so aus, wie ich mir eine Sozialarbeiterin so vorstellte. Im strengen Kostüm nämlich, mit hochgesteckten Haaren und verkniffenem Mund.

Diese Sozialarbeiterin in ihrem fließenden Kaftan, mit den langen blonden Haaren und klingelnden Armreifen aus Messing, glich eher einer coolen Folksängerin wie Joan Baez. Zuerst musste ich alleine zu ihr ins Büro. Meine Mutter schnüffelte beleidigt, nahm dann aber die Hand meines Vaters und blieb folgsam im schmucklosen Wartezimmer sitzen.

“Isabell,” begann Joan Baez nach einer kurzen Vorstellung. “Versuche dich doch mal daran zu erinnern, wann du zum ersten Mal diesen tiefen Ärger empfunden hast.”

“Weiß ich nicht,” sagte ich verstockt. Warum wollte sie das wissen und wieso sollte ich ihr vertrauen?

“Das weißt du nicht oder du kannst dich daran nicht mehr erinnern?” Sie kritzelte etwas auf mein Formular und betrachtete mich eingehend über dem Rand ihrer riesigen Brille. Die gab ihr das Aussehen einer Eule.

“Ich habe doch gesagt, dass ich es nicht weiß,” erwiderte ich patzig.

“Kein Grund zur Aufregung —” versuchte sie das schwierige Kind fachgerecht zu beruhigen und schrieb noch etwas auf, dass die Armreifen nur so klirrten. Dann rief sie meine Eltern herein.

Die Erwachsenen sprachen über mich, als sei ich nicht anwesend und ich schaltete erst wieder ein, als meine Diagnose bevorstand: beginnende Depression durch ein unbestimmtes Trauma in der frühen Kindheit. Oder so was ähnliches. Joan Baez empfahl einen angesehenen Psychologen, der innovative Hypnotherapie praktizierte. Einen gewissen Dr. Albrecht.

Ein Psychologe! Hatte ich etwa die Probleme meiner Mutter geerbt? War ich drauf und dran so zu werden wie sie? Ich panickte in aller Stille und mein Magen schmerzte.

“Sie sind stehen nicht allein mit diesem Problem, Herr und Frau Bertrand.” Die Sozialarbeiterin sah ermunternd über den Rand ihrer Eulenbrille. Sie sollte sich eine andere Brille zulegen.

“Wir sind hier um Ihnen zu helfen. Ich weiß wie ungewöhnlich sich das anhört – Hypnotherapie. Aber die Zeiten haben sich geändert. Es gibt einfach zu viele rebellische Jugendliche und die alten Methoden greifen nicht mehr. Wir müssen neue Wege finden, dem wachsenden Problem etwas entgegenzusetzen.”

Pah, wachsendes Problem, blah, blah! Brauchte man deswegen gleich einen Seelenklempner? Ich rollte mit den Augen und verkreuzte abwehrend die Arme.

“Oh, ich bin mir nicht so sicher, dass eine dieser neuen und teuren Hippie-Methoden es das richtige ist,” sagte meine Mutter mit einem tiefen Seufzer. “Wir wollen doch nur das beste für unsere Tochter, wissen Sie. Isabell soll doch nur lernen sich richtig anzupassen.”

Heuchlerin! Es war immer so einfach, Außenseitern was vorzuspielen. Mein Vater studierte den bunten Druck von Miló hinter der Frau und sagte nichts.

“Aber sicher, Frau Bertrand, wir verstehen Ihr Problem. Ich versichere Ihnen, Dr. Albrecht hat Erfahrung mit Jugendlichen.” Die Messingreifen klingelten Beifall. “Diese neue Methode ist seriös und hat nichts mit Hippies zu tun. Sie steckt zwar noch im Anfangsstadium, aber die bisherigen Erfolge sind vielversprechend.” Die Sozialarbeiterin schielte ernsthaft. “Zwölf Jugendlichen konnte bisher geholfen werden. Mit ein wenig Glück wird es langfristig in unser Programm aufgenommen.”

Dann war ich ja Nummer 13. Eine Glückszahl, dachte ich aufbegehrend. ‘Hypnose’ hörte sich ausreichend kontrovers an. “Ich würde sehr gern in eine Hypnose-Behandlung gehen,” meldete ich mich zu Wort, um meine Mutter zu reizen. Die Erwachsenen drehten sich erstaunt zu mir um.

“Wirklich? Die Krankenkasse trägt natürlich sämtliche Kosten,” stammelte Joan Baez. Das brachte die Sache unter Dach und Fach. Meine Eltern nickten ihre Zustimmung und die Dinge nahmen ihren Lauf.

“Ja wenn Sie meinen, dass es eine gute Behandlungsmethode ist… Sie kennen sich da ja sicher aus. Wir wollen doch nur das Beste für unsere Isabell.” Oh, wie wütend mich das machte! So ernst hatte es nun auch wieder nicht gemeint.

“Frau Bertrand, ich verspreche Ihnen, Dr. Albrecht wird sich gut um ihre Tochter kümmern.”

Ich begann die Behandlung am Montag nach der Schule. Zunächst sah ich den Psychologen nur feindselig an. Der stand ja auf der Seite meiner Eltern. ‘Wir verstehen Ihr Problem’ hatte die Sozialarbeiterin gesagt. Pah!

Dann überzeugte er mich langsam. Seine Methode war nicht von schlechten Eltern. Ein Erwachsener wollte wissen wie ich mich fühlte! Wir redeten und Dr. Albrecht machte Notizen.

Dann kam die Hypnotherapie. Beim ersten Mal hatte es geradezu ein Erinnerungsfeuerwerk gegeben, was uns beide überraschte. Es dauerte nicht lange bis Dr. Albrecht mich sozusagen eingeschläfert hatte. Ich fand mich sofort als Keinkind wieder.

‘Ich bin drei,’ sagte ich in einem hohen Stimmchen. ‘Mami hat mich in dem kleinen Zimmer bei der Küche eingeschlossen. Ich höre die Haustür zuschlagen.’ Es war mir peinlich, als ich mich später in der Aufnahme selbst hörte.

‘Was sehen Sie? Sie können sich an alles erinnern.’ Dr. Albrechts Stimme war eintönig und beruhigend. Mein unsichtbarer Freund im Hintergrund, während das Kleinkind einen Elefanten aus roter Knete rollte.

‘Evelyn ist im Kindergarten. Mir ist langweilig. In der Schublade ist eine große Schere. Mama braucht sie immer zum Nähen. Ich kann die geblümten Vorhänge damit schöner machen. Mami wird stolz auf mich sein. Die Schere ist schwer, aber ich schaffe es sie zu halten.’

Ich lachte und betrachtete mich dabei, wie ich breite Fransen in den dicken Stoff schnitt. Es machte einige Mühe, aber bald waren die Vorhänge rundherum mit lustigen Fransen verziert.

‘Mama kommt wieder und mag meine Fransen nicht. Papa wird böse sein, droht sie. Ich bin erschrocken.’

‘Lösen Sie sich aus der Szene. Möchten Sie zurückkehren?’

‘Nein.‘ Ich stürzte mich gleich in die nächste Erinnerung. ‘Der Fernseher läuft und ich bin allein zu Hause. Schwarz-weiße Blumen öffnen und schließen sich im Zeitraffer.” Ich war schon woanders ‘gelandet’.

‘Wie alt sind Sie?’

‘Zwei. Mir ist langweilig. Dann kommt eine Tanzgruppe in weiten Hosen und bunten Hemden an die Reihe. Grün und schimmernd.‘ Ich betrachtete das einen Augenblick lang. Hübsch. ’Die Frauen haben einen roten Fleck zwischen den Augenbrauen.’

‘Eine indische Tanzgruppe?’

‘Vielleicht, ich weiß das nicht. Ich bin zu klein. Aber ich will mittanzen. Ich klettere aus meinem Hochstuhl. Da ist Mamis Lippenstift! Ich brauche auch so einen roten Fleck. Ich schmiere mir einen grell-roten Punkt auf die Stirn. Dann lege ich den Lippenstift in die Frisierkommode zurück und watschle in den Flur, wo ich mich im langen Spiegel betrachte. Ich tanze zu der Musik im Fernseher.’

‘Warum lächeln Sie Isabell?’

‘Ich bin so glücklich und tanze vor dem Spiegel.’

‘Gut. Kosten Sie das Glücksgefühl aus… was geschieht als nächstes?’

‘Ich lausche. Ich habe Angst. Schritte im Treppenhaus. Der Schlüssel dreht sich im Schloss. Ich flüchte zum Hochstuhl zurück, aber ich bin zu langsam...’

‘Alles ist in Ordnung. Sie lösen sich aus der Szene. Gehen Sie zu einer anderen angenehmen Erinnerung zurück, wenn sie das möchten.’

‘Ja, meine Mutter lacht mit uns und singt Kinderlieder. Sie liest Märchen aus einem Bilderbuch vor. Mein Vater lehrt Evelyn und mich lesen und malt kleine Hasen und Gesichter, um uns zum Lachen zu bringen. Wir pflücken zuckersüße rote Kirschen im Garten. Ich bin glücklich. Mutti sieht nicht so verkniffen und bitter aus.’ Ich schwelgte in den angenehmen Erinnerungen.

‘Das ist gut, das ist sehr gut.’ Dr. Albrecht ließ mich verweilen.

‘Meine Schwester Paula ist ein Baby,’ sagte ich plötzlich. ’Evelyn und ich werden zu einem Nonnenkloster in den Schwarzwald verschickt.’

‘Sie sind… drei?’

‘Ja, meine Mutter soll sich erholen und um das neue Baby kümmern. Sechs Wochen lang müssen wir Salzbäder nehmen und Grießbrei essen.’

Ich schüttelte mich. ‘Ich bin in der ‘Kleinen Gruppe’ und sehe Evelyn nicht oft. Ich mag die Nonnen nicht. Sie haben einen der Jungs auf einen Stuhl gebunden und in den Gang gestellt, weil er vor Heimweh weint. Er schluchzt die ganze Nacht.’ Mir stiegen Tränen in die Augen.

‘Ich falle hin und mein Kopf tut weh. Die Nonnen nehmen mich in die Küche und holen ein riesiges Messer raus, um es auf die Beule zu drücken. Ich schreie und will davonlaufen, weil ich denke sie wollen mich erstechen.’ Mir lief eine Träne die Wange herunter und ich drehte meinen Kopf nach links und rechts, um die Nonnen abzuwehren.

‘Lösen Sie sich aus dieser Szene. Sie sind in Sicherheit, niemand kann Ihnen etwas anhaben.’ Ich beruhigte mich.

‘Ich zähle jetzt rückwärts. Wenn ich bei eins angelangt bin, wachen Sie auf. Drei, Sie kommen zurück…’

Ich brauchte eine ganze Weile, um zu begreifen, dass ich kein Kleinkind mehr war. Die Kassette wurde zurückgespult und das mittlerweile altbekannte Gespräch mit dem guten Doktor fand statt.

“So, das war mehr als genug für den Anfang, Isabell,” meinte der Psychologe.

“Wow, ich kann mich noch an alles erinnern,” hatte ich gestaunt. “Genau wie Sie es gesagt haben.”

“Ja, das ist meistens so. Wir werden beim nächsten mal mehr darüber reden.” Von diesem Tag an fühlte ich mich nicht mehr so wütend und hilflos. Dr. Albrecht war ein echter Zauberer.

Als wir heimlich mit der Regressionen anfingen, war ich schon ein alter Hase. Das war jetzt etwas ganz anderes.

Dr. Albrecht schien beeindruckt zu sein. “Sie haben zwischendurch in einer Fremdsprache gesprochen. Vielleicht können Sie mir das ein oder andere noch erklären.”

“Wirklich?” sagte ich verträumt. “Ok.”

Ich wusste ja, dass Leute manchmal in mittelalterlichem Französisch redeten, auf Quetschua oder auch Chinesisch. Ich war stolz, dass ich sowas konnte. Wie immer spielte Dr. Albrecht hinterher das Band ab. Die Bilder erschienen wieder vor meinem inneren Auge und ich befand mich mehr dort als hier und hatte Tränen in den Augen, als ich auf meine verträumte Stimme lauschte.

‘Ich trage eine... Uniform. Wir kommen in Warna an. Noch jung, vielleicht achtzehn und ich habe braune Haare. Mein Name ist Adam…’

Nach der Beschreibung des kurzen Lebens eines britischen Soldaten während des Krimkrieges, der an gebrochenem Herzen litt und sich deshalb absichtlich in Schusslinie begeben hatte, fand ich mich auf einmal an einem noch fremdartigeren Ort wieder.

Hügel mit spärlichen, rauen Grasbüscheln breiteten sich rings um mich herum aus. Aber nicht dort wo ich stand. Hier umgaben mich prachtvolle, farbige Blüten, gepflegte Rasenflächen, Springbrunnen und Bäume.

Ich sah eine junge Frau mit hellbraunen, geflochtenen Haaren, schön, wenn auch ungewöhnlich, mit grünen Mandelaugen und hohen Wangenknochen. Sie hieß Nusrat, die junge Frau. Das wusste ich einfach. Ich wusste auch, dass ich selbst irgendwie Nusrat war.

Sie saß auf einer geschnitzten Bank an einem klaren Fischteich, in dem sich Blätterschatten im Sonnenlicht spiegelten. Mandarinenten zogen ihre Kreise. Der Garten war von hohen Mauern umgeben.

Im Alter von fünfzehn Jahren fand ich mich selbst ziemlich unhübsch. Aber ich wusste einfach, dass ich es war, die auf dieser Bank saß. Ich konnte das Holz fühlen, roch den würzigen, harzigen Duft.

Es gab da eine gewisse Ähnlichkeit zwischen uns. Ihr Haar war auch hellbraun. Nur meine Augen waren graublau und kein bisschen mandelförmig. Leider hatte ich auch nicht ihre vollen Körperformen. Ich besaß den schlanken Körper eines Teenagers, der Sport liebte. Besonders Rudern.

Nusrat trug ein farbenfrohes Wickelgewand aus bestickter Seide und ziemlich viel teuer aussehenden Schmuck. Ich selbst trug als Schmuck nur einen billigen Anhänger aus grünem Glas an einem dünnen Lederband um den Hals. Teurer Schmuck bedeutete mir nichts. Mir gefiel einfach, wie Sand und Meereswellen das Glas rund geschliffen hatten. Ich versuchte mich wieder auf die Tonaufnahme zu konzentrieren und der Raum um mich herum verschwand im Hintergrund.

‘Ich höre Radschput. Radschput,’ sagte ich auf Deutsch. ‘Imran ist ein Freund aus Kindertagen. Wir haben manchmal heimlich draußen vor den Dorfmauern mit Pfeil und Bogen gespielt. Ich bin ein Mädchen und er gehört nicht zu unserer Kaste, aber wir sind noch so jung. Nicht einfach… die Dienstboten passen auf, aber wir sind gewitzt.’

Ich konnte fühlen, wie ich innerlich lächelte, als ich die Worte aussprach. ‘Mein Vater ist großzügig. Er hat keinen Sohn und lehrt mich sogar mit dem Khanda Schwert zu kämpfen. Mein Pferd heißt Kalyan. Wir gehören einem wichtigen Zweig des Klans an.’

Danach entstand eine Pause. Da war dieser junge Mann, mit dem ich mich unterhielt und der Imran hieß. Ich wusste einfach was gesagt wurde. ‘Wir sprechen. Es gibt ein Problem. Ich bin sechzehn und muss bald heiraten. Es geht um die Ehre der Familie. Ich bin die einzige Tochter.’ Sie war nur ein Jahr älter als ich, sah aber schon fast erwachsen aus. Und Nusrat musste heiraten!

‘Was bedeutet Radschput?’ fragte Dr. Albrecht ruhig auf Band.

‘Ich weiß nicht… unsere Familie, unser Klan… Krieger… Adelige vom Chandra Vamsch,’ stammelte ich, dann fuhr ich in einer fremd klingenden Sprache fort.

‘Die Villa gehört meinem Vater und Dienstboten halten sich im Schatten der Bäume auf, um ein Auge auf mich zu haben. Die Schatten werden schon länger.’ Was ich da gesagt hatte wusste Dr. Albrecht noch nicht, weil er natürlich nichts verstanden hatte. Ich sprach ja Ausländisch.

“Können Sie denn noch verstehen, was Sie da sagen?” Dr. Albrecht stoppte die Aufnahme und sah mich erwartungsvoll an.

“Ich weiß nicht, ob man das ‘verstehen’ nennen kann. Ich weiß es einfach.” Besser konnte ich es nicht erklären. Die Worte klangen guttural. Da waren Gefühle. Traurigkeit, Herzschmerz… ich hatte einen Kloß im Hals. Davon erzählte ich dem Therapeuten aber nichts. Es war mir ungeheuer peinlich. Diese ganzen Gefühle.

Die Kassette spielte weiter.‘…darf dich nicht länger sehen,’ brachte ich gequält hervor. ‘Mein Vater hat uns ein letztes Treffen erlaubt.’

Der junge Mann trug einen einfachen weißen Turban auf dem Kopf, wie es sich ziemte. Ein langes, weißes Seidenhemd, dunkle Brokatweste und weite Hosen. Unerfüllte Leidenschaft…

“Imran stammt aus einer guten Mogulen-Familie und wir lieben uns. Jedenfalls denken wir das,” erklärte ich Dr. Albrecht.

Was wusste ich schon von Leidenschaft? Renate hatte wenigstens schon Erfahrung mit Küssen. Ich wurde rot. Dr. Albrecht bemerkte mein Unbehagen und hielt die Kassette an. “Möchten Sie weitermachen oder wird es zu schwierig?”

“Ich weiß nicht. Man kann das nicht so genau übersetzen.”

“Das ist ja auch gar nicht notwendig. Ich will ja nur wissen, um was es so ungefähr geht. Wollen es mir sagen?”

“Ja Ok. Ich kann ihn nicht länger sehen, weil ich heiraten muss.”

“Aha.” Dr. Albrecht schrieb und schrieb. Die Kassette lief. Es war eine Weile still. Ich konnte mich atmen hören und Imrans Stimme.Ich werde sterben, wenn dein Vater darauf besteht.’ Imrans Ton war zornig. Seine nußbraunen Augen blitzten.

‘Wir haben nichts dabei zu sagen. Das weißt du doch. Unsere Sitten sind anders. Du bist Moslem. Wir dürfen nicht heiraten. Ich bin Mansur versprochen und muss mich an das Gesetz des Klans halten.’

‘Was sehen Sie jetzt?’ wollte Dr. Albrecht auf Band wissen. ‘Versuchen Sie es zu beschreiben.’

Die Worte machten nicht mehr so viel Sinn. ‘Bin mir nicht sicher. Er ist wütend.’ Ich redete wieder auf Deutsch. Dann wurde es still. Ich war zu sehr mit Imran beschäftigt. Die Kassette surrte.

‘Dann werde ich Mansur herausfordern müssen – zu einem Duell,’ sagte Imran hitzköpfig. ‘Ich werde dich nicht aufgeben. Nicht an einen Mann, den du nicht liebst.’ Hey, das war ja hochromantisch. Ein Duell!

‘Nein, Imran, Mansur ist ein guter Mann. Sie werden dich umbringen. Dann kommt es zur Blutfehde. Willst du das?’

‘Dann muss ich eben fortgehen und vor Einsamkeit sterben.’

Imran legte seine Hand auf meine Schulter und schoss einem der Dienstboten mit dem Namen Pratap, einen kommandieren Blick zu. Pratap hielt sich in unserer Nähe auf, um mich zu beschützen. Um wie seit meinen Kindestagen meine Ehre zu schützen. Der graubärtige Mann zog sich weiter in den Baumschatten zurück.

Swisch, Klick. Der Doktor hielt die Kassette an. Er fragte was ich erlebt hatte und kritzelte Notizen auf seinen Schreibblock.

“Hochinteressant. Dass Sie das noch verstehen können…,” staunte er. “Mein erster Fall von Xenoglossie. Das muss ich im Wörterbuch nachsehen – dieses Wort Radschput, das sie erwähnen. Dann noch Mogulen und Chandra Vamsch. Möglicherweise ist das in Indien… Wirklich hochinteressant.”

Über Indien hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht. Lag das nicht irgendwo bei China? Wo genau lag China?

“Kennen Sie diesen jungen Mann Imran?”

“Nein, ich kenne ihn nicht,” erwiderte ich bestimmt.

Dr. Albrecht meinte damit die Möglichkeit, dass ich Imran in der Gegenwart als eine andere Person erkannte. Die Frage war bei dieser Art von Hypnose üblich.

Zum Beispiel hatte ich einfach gewusst, dass ein Kamerad aus dem Krimkrieg einer meiner jetzigen Lehrer war. Einer von zwei Lehrern, die ich einigermaßen mochte. Ich kann nicht sagen, ob es die Augen waren oder der Gesichtsausdruck. Ich wusste es einfach. Das würde komisch werden in der Schule, wenn ich ihn wiedersah. Leider war mir dieser Imran noch nicht untergekommen. Schade, er sah wirklich gut aus.

Ich war in Gedanken vertieft, als ich die Praxis von Dr. Albrecht verließ. Wie verabredet wartete Renate im Café Wolf unten auf mich.

“Ist ja total stark!” staunte sie, nachdem ich ihr alles brühwarm erzählt hatte. Sie wusste ja noch nichts von den Regressionen, die wir jetzt machten. Aber ich musste es einfach jemandem sagen.

“Ja, nächste Woche gehe ich wieder hin. Er will ‘rausfinden was für ein Land das sein könnte. Dann machen wir wohl weiter,” erwiderte ich langsam.

“Wieso passiert mir nie sowas Cooles? Am liebsten würde ich Fliege an der Wand spielen und mir das ansehen, wie du in einer fremden Sprache redest und so.”

“Angeblich Radschput. Hast du schon mal was davon gehört?”

“Nein, ich kann’s aber ‘rausfinden. In der Bibliothek.”

Renate war mir etwas zu begeistert. Hoffentlich hielt sie dicht. Alles was ich jetzt brauchte, waren dumme Bemerkungen in der Schule. Ich beschloss abzuwiegeln. “Besser nicht. Was ist, wenn das alles gar nicht stimmt. Vielleicht habe ich ja mal einen Film über so was gesehen.”

“Klar, es kommen ja auch dauernd Filme über Radschput im Fernsehen.” Renate zog ihren Mundwinkel hoch, wie immer, wenn ihr was nicht passte.

“Hey, man weiß nie.” Natürlich machte Renate, was sie wollte.

Bei der nächsten Sitzung befand ich mich sofort wieder am gleichen Ort und fing an Ausländisch zu reden. Dr. Albrecht stoppte mich diesmal sofort. ‘Sie verlassen die Szene. Sie sprechen Deutsch... Sie könn—’

Ich sah dabei zu, wie Dr. Albrecht die Kassette vorspulte. Gut, ich konnte nämlich auch nicht mehr richtig verstehen was ich da sagte.

‘Ich sehe Imran nicht wieder.’ Ich sprach jetzt tatsächlich wieder Deutsch in der Aufnahme. ‘Oh, oh, er fordert meinen Verlobten heraus. Aber einer seiner eigenen Cousins erdolcht ihn, bevor das Duell stattfindet. Man sagt mir nichts davon… Ich verstehe erst später. Meine Schwiegermutter hatte die beiden aufgewiegelt. Ich habe sie noch nicht kennengelernt. Mansurs Familie lebt woanders. Es bricht mir das Herz. Ich denke Imran ist fortgegangen. Ich tue meine Pflicht.’

Meine Stimme war kaum noch hörbar und Dr. Albrecht spulte die Kassette weiter vor. Die quietschte unschön.

‘…nicht mehr wehtun. Gehen Sie weiter zum nächsten wichtigen Ereignis in diesem Leben,’ summte die einfühlsame Stimme des Psychologen. ‘Was sehen Sie jetzt?’

‘Ich heirate Mansur und lerne ihn zu lieben. Er ist Radschput. Wir essen kein Fleisch. Mansur ist nach dem Mann benannt, der seinem Vater einmal das Leben rettete. Ein Muslim. Mein Leben ist gut. Es fehlt mir an nichts. Uns sind drei hübsche Söhne beschert. Die Klan-Ältesten hatten eine gute Entscheidung getroffen. Das verstehe ich jetzt. Es gibt hier auch einen herrlichen Garten. Ich liebe die roten Blumen...’

Die roten Blumen lenkten mich eine Weile ab.

‘Sehen oder hören Sie einen Ortsnamen oder ein Datum?’ unterbrach der Doktor meinen Redefluss, ‘irgendetwas, was darauf hinweist, wo sie sind?’

‘Nein, nichts. Es ist lange her,’ kam meine Antwort.

‘Gehen Sie weiter zum letzten Tag ihres Lebens als Nusrat. Zu Ihrem Todestag.’ Die Szene erschien momentan.

‘Ich liege auf einem Kissenhügel und muss dauernd husten,’ keuchte ich. Meine Brust schmerzte.

‘Sie können wieder atmen. Sehen Sie sich die Szene von oben an, wenn es Ihnen leichter fällt.’ Mein Atem wurde ruhiger.

‘Man hat ein Bett auf die Veranda gestellt. Ich bin alt… Falten im Gesicht und Flecke… ich sage den Dienstboten sie sollen die Kletterpflanzen beschneiden. Ich liebe Blumen —’ Mein Blick schweift zu den grünen Zweigen hinüber, die sich um die Pfeiler rankten. ‘Die Nachmittagssonne wärmt mich. Meine Söhne und deren Familien sind hier.’ Ich wusste noch, dass ich mir die Szene von oben ansah.