Abenteuer im Gepäck: Grenzgänger und Weltreisende erzählen. - Erik Lorenz - E-Book

Abenteuer im Gepäck: Grenzgänger und Weltreisende erzählen. E-Book

Erik Lorenz

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Beschreibung

Reinhold Messner, Joey Kelly, Christine Thürmer und andere berichten vom Aufbrechen und Ankommen, von Erkenntnissen und Widerständen, von lebensverändernden Begegnungen. Sie erzählen von ihrer Faszination für Landschaften und Reiseformen, für Wälder und Wüsten, fürs Bezwingen von Bergen und Von-Deutschland-nach-Tibet-Laufen – dafür, in die Welt aufzubrechen und hinter das Offensichtliche zu schauen.

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Inhalt

Vorwort

von Erik Lorenz

Aufbruch

Joey Kelly – Zu den Wurzeln der Freiheit

Rolf Lange – Vom Mut, den ersten Schritt zu machen

Carmen Rohrbach – Am Anfang steht das Fernweh

Rüdiger Nehberg – Abenteuern einen Sinn geben

Wildnis

Reinhold Messner – Der Wert der Wildnis

Jerome Blösser – Nomade im Herzen

Uli Kunz – Die Geheimnisse der Tiefe

Ana Zirner – Das Wesen der Berge

Michael Martin – Zwischen Wintermärchen und Kälteschock

Dirk Rohrbach – Die Weite spüren

Widerstände

Hans Kammerlander – Die Kraft zu scheitern

Anselm Pahnke – Allein gegen den Wind

Andreas Pröve – Ein Leben gegen den Strom

Erkenntnis

Stephan Meurisch – Tibet vor der Haustür finden

Christine Thürmer – Vom Glück des Wanderns

Nadine Pungs – Wenn man den Kopf aus den Wolken zieht

Bruno Baumann – Der innere Kompass

Die Protagonisten

Expedition auf Baffin Island in der kanadischen Arktis: Wüstenfotograf Michael Martin begibt sich in eisige Gefilde.

Vorwort

Geklingelt wird per Knochen. Ich packe das abgegriffene Gebein, das an einer Schnur vor der Tür baumelt, ziehe einmal kräftig und höre innen, vom anderen Ende der Strippe, eine Glocke läuten. Dann vernehme ich Schritte, die eine Holztreppe hinuntertrippeln. Schließlich schwenkt die Tür auf und im Türrahmen erscheint ein über achtzigjähriges Gesicht, so strahlend und einladend, dass es mich sofort in seinen Bann zieht.

»Erik, schön, dass du da bist! Willkommen!«

Der Mann umarmt mich und führt mich hinein, die Treppe hinauf in ein Wohnzimmer, das ebenso eine völkerkundliche Ausstellung sein könnte: komplett holzverkleidet, ausgeschmückt mit Dolchen, Macheten, Speeren, Schlangenhäuten, handgeflochtenen Fischreusen, Pfeilen, Lampenschirmen aus Tierhaut, einem Haigebiss, allerlei Kunsthandwerk, dazu Fotos und Plakate mit Dschungelszenerien – und einer Vitrine mit mehreren Bundesverdienstkreuzen. Es sind die Lebenserinnerungen meines Gastgebers Rüdiger Nehberg, Deutschlands bekanntestem Survivalexperten, oder auch »Sir Vival«, wie ihn die Medien augenzwinkernd getauft haben. Seine Abenteuer sind zahlreich und legendär: Erstbefahrung des Blauen Nil. Erstdurchquerung der äthiopischen Danakilwüste. Mehrmonatige Atlantiküberquerungen per Tretboot, Bambusfloß und auf einer massiven Tanne, allein und ohne Unterstützung. 1000 km Deutschlandmarsch, ohne Nahrung. Dschungelexpeditionen. Er prägte Generationen von Naturfreunden und Reisenden. Und heute möchte er mir von all dem erzählen, hier, in seinem Haus in Schleswig-Holstein. Es ist eine vierhundert Jahre alte Mühle, die er in jahrelanger Arbeit aus Schutt zu neuem Leben erweckte, umgeben von Wäldern, Seen und Sümpfen, die von Ringelnattern, Eisvögeln, Fischreihern und Bisam bevölkert werden.

Nehberg bewirtet mich mit Kaffee und Kuchen und setzt zu einem vierstündigen Bericht aus seinem Leben an, einem Bericht, der mich an die Ufer des Amazonas führt, an dessen Sandbänken er einst eine Boa packte und sie wie ein Lasso um sich schleuderte, bis ihr übel wurde. Sie spuckte einen noch unverdauten Fisch aus, den er sich sofort einverleibte, um die Weiterreise durch den Dschungel – ohne Hilfsmittel, ohne Navigationsgeräte – gestärkt fortzusetzen. Der Bericht führt mich auch zum südamerikanischen Volk der Yanomami, das Nehberg kraft seiner Prominenz unterstützt, und in die arabischen Wüsten, wo er sich mit seinem Verein Target gegen die weibliche Genitalverstümmelung einsetzt. Ich lerne ein Leben kennen, das, wie Nehberg selbst sagt, »so drall und prall ist, dass man gar nicht merkt, wenn es plötzlich vorbei ist«.

Begegnungen wie diese haben mich veranlasst, die Online-Plattform www.weltwach.de (und später den englischsprachigen Ableger www.unfoldingmaps.com) zu initiieren. Ihr Herzstück, der Weltwach-Podcast, ermöglicht es mir, zusammen mit meinen Zuhörern in die Erlebnisse und Erkenntnisse Weltneugieriger einzutauchen und herauszufinden, mit welchen Hoffnungen sie sich in die Welt hinausbegeben. Mittlerweile haben weit über hundert Gesprächspartner ihren Schatz aus Erinnerungen mit mir und meinen Hörern und Hörerinnen geteilt und erzählt, welche Abenteuer sie durchlebt haben, wie sie an ihnen verzweifelt und gewachsen sind, und wie diese Abenteuer ihre Weltsicht geformt haben.

Dieses Buch ist die Essenz aus über hundert Folgen Weltwach: Gesprächsauszüge, die ich für dieses Buch gemeinsam mit meinen Gästen redaktionell aufbereitet und bebildert habe.

Wir begleiten darin leidenschaftliche Weltenwanderer auf ihren Streifzügen und erhalten Einblicke in ferne Orte und herausfordernde Momente. Dabei geht es keineswegs nur um das vordergründige, mitunter gefährliche Abenteuer. Vielmehr bietet das Buch einen Querschnitt durch das, was Abenteuer ausmacht. Es geht ums Aufbrechen und Ankommen, um Erkenntnisse und Widerstände, um lebensverändernde Begegnungen. Es geht um die Faszination meiner Gesprächspartner für Landschaften und Reiseformen, für Wüsten und Flüsse, fürs Bezwingen von Bergen und Von-Deutschland-nach-Tibet-Laufen – es geht darum, in die Welt aufzubrechen und hinter das Offensichtliche zu schauen. Daraus ist ein Panorama von Lebensentwürfen und Expeditionen entstanden: ein Buch, das Impulsgeber sein und uns zeigen kann, wie aus Trips aufregende Abenteuer werden, wie sich Reisen intensiver erleben lassen. Und wie sich schließlich daraus ein reicheres Leben entwickeln kann – so wie Rüdiger Nehberg es geführt hat, der wenige Tage vor der Drucklegung dieses Buches verstorben ist und dem ich es widme.

Erik Lorenz

Aufbruch

Ein Aufbruch kann viele Gesichter haben. Er kann zu einem weit entfernten Ort führen. Oder in einen neuen Beruf, eine neue Beziehung, eine neue Lebensphase. Allen Aufbrüchen gemein ist, dass sie eine gewisse innere Stärke erfordern. Denn in den allermeisten Fällen wäre es einfacher und bequemer, nicht aufzubrechen, sondern alles genau so zu lassen, wie es ist. Aber nur wer Neues wagt, erfährt, was hinter dem Horizont liegt, und schenkt sich die Gelegenheit, den Blick zu weiten und neue Erfahrungen zuzulassen.

Und plötzlich weißt du: Es ist Zeit, etwas Neues zu beginnen und dem Zauber des Anfangs zu vertrauen.

Meister Eckhart

Die Reise nach Osten führt unter anderem an die Ufer des gewaltigen Baikalsees.

Joey Kelly

ZU DEN WURZELN DER FREIHEIT

Joey Kelly: Als ich klein war, lebte meine Familie drei Jahre in Paris. Wir spielten auf den Straßen am Bahnhof, auch bei Minusgraden, und in den unterirdischen Gängen der Metro. Das war in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre. Wir waren pleite. Es ging uns finanziell richtig dreckig.

Am Gare du Nord, dem größten Bahnhof der Stadt, gab es einen Zug, der von Paris nach Osten fuhr. Eine mehrwöchige Reise – mit Umstieg in Moskau in die Transsibirische Eisenbahn. Bis nach Peking konnte man so gelangen! Als kleines Kind liebte ich das Thema Abenteuer und träumte davon, irgendwann, wenn ich groß wäre, in diesen Zug zu steigen. Darin gab es zum Beispiel eine Erste Klasse, in der Kellner mit weißen Handschuhen dreigängige Menüs servierten, umgeben von einer Einrichtung, die mit Samt und Plüsch überzogen war. Ein wahnsinniger Luxus! So habe ich das jedenfalls als Kind empfunden.

Dieser Zug weckte in mir den Wunsch, nach Peking zu wollen. Und eines Tages, Jahrzehnte später, beschloss ich: Das mache ich jetzt. Aber nicht per Zug, sondern mit einem alten VW-Bus. Das ist zwar nicht Erste Klasse, aber das wäre auch nicht mein Stil. Das würde nicht zu mir passen, wäre total langweilig. Du platzt vor Essen und kannst nichts genießen. Nein, viel spannender ist es, zu leiden und zu hungern.

Gelitten und gehungert hat Joey Kelly auf seinen Reisen viel. Der Musiker und Unternehmer ist seit Anfang der 2000er-Jahre vor allem als Ausdauersportler unterwegs. Er beteiligte sich an Dutzenden Marathons und Ultramarathons durch Wüsten, Regenwälder und Eislandschaften in aller Welt und bewältigte eine neunhundert Kilometer weite Wanderung durch Deutschland ohne Geld und Unterstützung – nach dem Vorbild von Rüdiger Nehbergs legendärem Deutschlandmarsch.

Meine großen Leidenschaften sind das Reisen und der Sport. Die Abenteuer und die Herausforderungen, die ich mir unterwegs selbst stelle, sind dabei zu einem großen Teil Mittel zum Zweck. Ich habe erkannt, dass ich ein Land aufgrund dieser zusätzlichen Herausforderungen völlig anders kennenlerne. Zuletzt erlebte ich das bei meiner Reise mit dem VW Bulli nach China. Wäre ich ganz normal mit meiner Kreditkarte in der Tasche nach Peking gefahren, wäre ich an den vielen Menschen, die ich entlang der Strecke kennengelernt habe, wohl einfach vorbeigefahren. Stattdessen habe ich beschlossen nicht nur mit einem uralten, klapprigen Gefährt aufzubrechen, sondern auch ohne Geld, und mir die Unterstützung der Menschen vor Ort zu verdienen. Zum Beispiel mit Geschichten. Oder vierblättrigen Kleeblättern, dem weltweiten Glückssymbol, die ich zu Hause gesammelt und eingeschweißt hatte.

Um weiterzukommen, war ich auf die Hilfe der Menschen angewiesen. So verband ich die Länder, die ich durchquerte, mit zahlreichen Begegnungen und Einblicken in die unterschiedlichen Kulturen. Ich traf Menschen, die anders tickten, anders glaubten, anders sprachen. Dass ich sie kennenlernen dufte, beflügelt mich bis heute.

Der VW T1, den Joey für diesen Zweck kaufte, war über fünfzig Jahre alt und hatte die letzten zwanzig Jahre unbewegt herumgestanden. Das Alter war ihm deutlich anzusehen.

In diesem Wagen wollte es Joey bis nach China schaffen, von Deutschland über Polen, Litauen, Lettland, Estland, Russland, Kasachstan und die Mongolei.

Der Bulli bewirkte, dass es für Joey nicht nur eine Reise gen Osten wurde, sondern auch eine Reise zu den eigenen Wurzeln.

Ich verbinde diesen alten VW T1 mit der Kelly Family. Bevor wir in unserem bekannten Londoner Doppeldeckerbus tourten und lebten, fuhren wir einen solchen Bulli. Das Cover unserer ersten Kassette zeigte uns und dieses Auto. Es war unser allererster Tourbus. Und für etwa anderthalb Jahre auch unser Zuhause. Darin lebte ich mit unserer Mutter, unserem Vater und acht Geschwistern. Nachts fanden wir natürlich nicht alle Platz. Dann kam meine Mutter mit den kleinsten Kindern im Auto unter, und wir anderen schliefen davor auf einem Rastplatz oder einer Wiese auf Plastikplanen und Decken. Ich kann mir das heute selbst kaum noch vorstellen: So ein T1 ist unwahrscheinlich klein, nicht zu vergleichen mit den heutigen VW-Bussen – und selbst darin wäre es mit rund zehn Leuten sehr eng. Es war ein einfaches Leben, aber auch die schönste Zeit.

Mittendrin in endlosen Panoramen, die sich in alle Richtungen entfalten

Und manchmal wurde es gefährlich.

Das war eine Schrottkarre, vollgeladen mit Kellys und Gepäck bis zur Decke. Sie hatte kaum noch Bremsen, der Motor, eine luftgekühlte Maschine mit 36 PS, streikte immer wieder und einmal schossen während der Fahrt Flammen aus dem Heck. Der Motor brannte und drohte zu explodieren! Wir löschten ihn gerade noch rechtzeitig – dann fuhren wir weiter. Das größte Wunder in all der Zeit, die wir auf der Straße lebten und stets pleite waren, ist, dass uns nie etwas passierte. Das ist mir bis heute ein Rätsel. Es gab so viele Situationen, die gefährlich waren oder es hätten werden können. Aber nie fügte uns jemand Schaden zu, nie hatten wir einen ernsthaften Unfall.

Inmitten der Bilderbuchlandschaft genießen Joey und Luke die Gastfreundschaft einer mongolischen Familie.

Auf diese Art aufzuwachsen zeigte mir, was es heißt, frei und ohne Angst zu leben. Auch nachdem meine Mutter – leider viel zu früh – verstorben war, widersetzte oder entzog sich mein Vater jedweden gesellschaftlichen Konventionen. Er war sehr mutig, nahm aber auch ein hohes Risiko in Kauf. Keines meiner Geschwister besuchte je auch nur für einen Tag eine Schule. Ich habe nie etwas gelernt. Nur learning by doing. Wir waren nirgends sesshaft, nirgends versichert. Wir hatten keine Krankenversicherung, keine Back-ups irgendwelcher Art. Zero. Wir waren quasi Illegale, sind immer weitergereist, unangemeldet, um der Schulpflicht zu entgehen. Mein Vater wollte es so. Das hatte natürlich Konsequenzen. Kein Kindergeld. Keine Stütze. Gar nichts. Mein Vater sagte: »Wir brauchen das alles nicht. Das bisschen Essen beschaffen wir uns schon. Wir sind keine armen Menschen. Geld ist langweilig.«

Manche meiner Geschwister können mit Geld bis heute nicht umgehen. Sie brauchen es aber auch nicht, um glücklich zu sein. Ja, für sie ist Geld langweilig. Wenn jemand von ihnen nach unserem aktuellen Erfolg irgendwann wieder pleite ist, macht das nichts, denn sie haben von unserem Vater gelernt auch mit wenig zufrieden zu sein. Er war so krass im Kopf, dass ihn Geld nicht im Geringsten interessierte. Und die Menschen waren, bei allen Problemen, mit denen er auch zu kämpfen hatte, fasziniert von seiner wirklichen Freiheit. Er hat es geschafft, sie in vollen Zügen zu leben. Er lebte frei und ohne Angst. Und das ist auch mein Ziel.

Ich verbinde das mit dem Thema Abenteuer. Mit Reisen und dem Besuch anderer Länder und Menschen. Deswegen werde ich, so lange ich Kraft habe und gesund bin und mein Motor noch brennt, damit weitermachen.

Wie auf der Fahrt im VW-Bus nach Peking. Zu ihr brach Joey nicht allein auf, sondern mit seinem 19-jährigen Sohn Luke. Während der Fahrt waren Gespräche wegen des lauten Dröhnens des Motors unmöglich, aber während der Pausen und in den Morgen- und Abendstunden, als sie gemeinsam versuchten Geld oder Nahrung aufzutreiben, wuchsen sie im Angesicht der gemeinsamen Aufgabe zusammen.

In den ersten fünf, sechs Tagen hatten wir ständig Ausfälle. Lichtmaschine kaputt, Batterie funktioniert nicht, Luftkühler defekt. Wir hatten nur mit Werkstätten zu tun, mit Ersatzteilen und Instandsetzung. Dabei waren wir gut vorbereitet, hatten alles, was man wechseln kann, doppelt und dreifach mitgenommen, inklusive Lichtmaschinen und Vergaser. Aber, warum auch immer: All die Teile gaben zügig ihren Geist auf, obwohl sie neu waren.

Ein paar Quadratmeter Platz: Der Bulli wird während der Reise zum Mittelpunkt des Lebens.

Im tiefsten Polen dachte ich, wenn das so weitergeht, werden wir niemals ankommen. Wir hatten nicht einmal tausend Kilometer geschafft, weil wir über die Hälfte der Zeit damit verbracht hatten, die Karre irgendwie am Laufen zu halten.

Irgendwann trafen wir in Polen jedoch auf einen Mechaniker, der das Auto so herrichtete, dass es ohne Pannen bis kurz vor Peking lief. Keine Ahnung, wie er das gemacht hat. Der hatte es einfach drauf.

Auf Polen folgten das Baltikum und Russland. Ich liebe diese Ostblockländer. Dort, in den typischen, ausgedehnten Ostblockstädten mit ihren grauen Gebäuden, großen Fabriken und dem Rauch überall, müssen viele Menschen wirklich ums Überleben kämpfen. Ich mag das, weil es die wahre Welt ist. Mich beeindruckt, was die Menschen daraus machen: dass sie zusammenhalten. Wie es ihnen unter schwierigen Umständen gelingt, mit ihren Familien ein glückliches Leben zu führen.

Einer der Höhepunkte in Russland war der gewaltige Baikalsee. Ihn hatte ich schon zweimal besucht, einmal im Winter für den Ultramarathon Sibirian Black Ice Race. Bei bis zu minus zwanzig Grad, kräftigem Wind und mit einem vollgepackten Schlitten, den ich hinter mir herzog, lief ich 250 Kilometer, viele davon mutterseelenallein, über den gefrorenen See. Ein hartes Rennen, bei dem es einige Gefahren gab, wie die Wölfe und Bären, die dort leben und an den Ufern des Sees nach Wasser suchen, auch wenn er zugefroren ist. Weil die Eisschollen in Bewegung sind, gibt es überall Risse. Das verschafft nicht nur den Tieren Wasserstellen, sondern bedeutete auch immer neue Hindernisse für uns Läufer. Übersiehst du einen Riss oder trittst auf eine Stelle, die nur leicht zugefroren ist, fällst dann ins Wasser und weißt nicht, wie du handeln musst, stirbst du. Es ist einfach zu kalt. Nach wenigen Minuten kannst du die Hände nicht mehr öffnen und schließen. Du kriegst keine Hose mehr an oder aus. Es ist vorbei. Aber ich habe am Südpol ein gutes Training erhalten, wie man sich in einer solchen Lage verhält. Innerhalb von zehn Minuten musst du dich ausziehen, das Zelt aufbauen, den Kocher anzünden, in den Schlafsack kriechen, Wärme produzieren. Angetrieben von einem Adrenalinschub und ausgestattet mit dem Wissen, was zu tun ist, kannst du das überleben. Ich überlebte nicht nur, sondern gewann diesen Irrsinn am Ende sogar.

Irgendwo in Russland: Rast vor idyllischer Kulisse

Baujahr 1967, 44 PS: Der T1 macht die Reise zu einer besonderen Herausforderung.

Im Vergleich zu diesen Widrigkeiten war es umso schöner, den Baikalsee auf der Bulli-Tour im Sommer zu genießen: eine ganz andere Szenerie, nicht kalt und vereist, sondern voller Blumen und Farben. Diese Natur zu sehen, in diesem Wasser zu schwimmen und stundenlang an den Ufern des Sees entlangzufahren, war herrlich. Wundervolle Weiten – genau wie in der Mongolei, die wir als Nächstes erreichten. Schon wenige Kilometer nach der Grenze bot sich uns ein ganz anderes Bild als in Russland. Über Stunden hinweg menschenleere Landschaften, und dann, hier und da, wie wir es aus den Büchern kennen, diese vereinzelten Jurten der Nomaden, die noch heute durchs Land ziehen und ihr Vieh weiden lassen. Dazu Millionen von Wildpferden, die sich frei durch die Ebenen bewegen.

Grandiose Landschaften, offenherzige und hilfsbereite Menschen – aber nicht zuletzt auch endlose Stunden hinter dem Steuer. War das nicht auch furchtbar langweilig?

Nein. Erstens genieße ich das Fahren, weil ich unser Auto liebe. Zweitens ist es so eine Art Livefernsehen. Wenn du Natur magst, neugierig auf fremde Länder bist und beispielsweise durch die Mongolei fährst, in der ich vorher noch nie war, dann bist du mittendrin in endlosen Panoramen, die sich in allen Richtungen entfalten.

Zum Teil war es für mich anstrengend – aber nie langweilig. Es lief sogar so gut, dass ich Luke am Ziel von meinem Vorhaben erzählte, in zwei Jahren die Pan Americana hinunterzufahren, auch ohne Geld, von Alaska bis Kap Horn. Über zwanzigtausend Kilometer, fünfzehn Länder. Das wird noch weiter, härter, krasser, und ich freue mich jetzt schon darauf. Als ich ihn fragte, ob er mitkommen wollte, antwortete er ohne zu zögern: Ich bin dabei.

Gibt es etwas, das Joey aus diesen Erfahrungen gelernt hat und anderen Menschen mit auf den Weg geben möchte?

Ich bin kein Prophet und will niemanden belehren oder erziehen. Jeder muss das finden, was er liebt – seine Berufung.

Die meisten Hindernisse, die dem entgegenstehen, gibt es nur in unseren Köpfen. Sie sind eine Frage des Willens. Wir setzen uns Grenzen, die eigentlich gar nicht da sind. Und selbst wenn mal etwas schiefgeht: Ist doch nicht schlimm. Ist sogar gut! Aus Niederlagen können wir unwahrscheinlich viel lernen. Ich kenne keinen erfolgreichen Menschen, der nur oben schwebt. Alle haben sie Pleiten hinter sich. Große und kleine. Jemand, der sich nie aus der Komfortzone herausbewegt und immer nur in Sicherheit lebt, wird nie richtig Erfolg haben, ob finanziell oder in Bezug auf den Grad des Glücks.

Worauf soll man also warten? Mach! Steh’ auf! Tue es jetzt! Das Leben ist morgen vorbei. Du vergeudest deine Zeit. Fort mit den Zweifeln. Erst Sicherheit, erst dies, erst das – wenn ich das schon höre! Das ist Bullshit. So ist jedenfalls meine Erfahrung.

Ankunft in Peking: Nach 12 000 Kilometern sind Vater und Sohn am Ziel. Joey Kelly und Erik Lorenz vor dem rostigen T1, der es trotz aller Widrigkeiten bis nach Peking schaffte.

Mir ist Freiheit sehr, sehr wichtig. Ich glaube, viele von uns leben in Angst, und Angst schränkt ein. Ich entziehe mich dieser Einschränkung und tue, was ich liebe. Wer denkt, diese Freiheit bedeute nur entspannt rumzuhängen, irrt gewaltig. Ich arbeite Tag und Nacht, aber ich mache das gern, denn ich habe das gefunden, wofür ich brenne. So gehe ich meinen eigenen Weg, jeden Tag eine Extrameile.

Man muss ja keinen Marathon laufen, sich unterwegs nicht gezielt Herausforderungen stellen, man muss auch nicht ohne Geld durch Deutschland gehen. Aber man sollte vielleicht versuchen das zu finden, was man liebt, und dem dann verstärkt nachgehen.

Das ist meine Freiheit.

Kirgistan ist malerisch und ideal zum Enduro-Wandern: Schotterpassagen führen durch einsame Täler, es gibt kaum Verkehr.

Rolf Lange

VOM MUT, DEN ERSTEN SCHRITT ZU MACHEN

Die beiden Freunde Rolf und Joe betraten das Tropeninstitut und verkündeten einer Mitarbeiterin: »Wir wollen uns impfen lassen.«

»Gegen was?«

»Ähm … Einfach gegen alles.«

Die Dame lächelte nachsichtig. »Sie werden nicht alles brauchen. Wo wollen Sie denn hin?«

Rolf räusperte sich und versuchte möglichst überzeugend zu klingen, als er antwortete: »Wir wollen überallhin.«

Schlussendlich ließ sich jeder der beiden, über mehrere Wochen verteilt, 22 Spritzen geben. »Wir wollten halt alles richtig machen!«, erinnert sich Rolf. Das wollten sie auch in jeder anderen Hinsicht. Sie informierten sich über Termine für Offroad-Kurse, Schrauber-Kurse, Survival-Kurse. »Für diese Reise zum Teil völliger Schwachsinn, aber wir hatten ja keine Ahnung!«

Rolf Lange ist gern vorbereitet und fühlt sich sicherer, wenn er weiß, was auf ihn zukommt. »Neues ausprobieren ist nicht mein Ding.« Das letzte Mal, dass er in einem Restaurant gegessen hatte, das er nicht schon kannte, lag Jahre zurück. Der Geschäftsführer einer Münchener Werbeagentur – Halbglatze, kleiner Kugelbauch, Typ Spießer, wie er selbst sagt – brachte alles mit, um ein gesellschaftskonformes, gutbürgerliches Leben durchzuziehen: »Ich war in meiner Komfortzone gefangen und keinesfalls unglücklich.«

Aber er hatte Blut geleckt – auf einer zehntägigen Motorradtour durch den Westen der USA zusammen mit Joe, einem befreundeten Diplominformatiker, der in Amerika lebte. Joe hat Rolf zu diesem ersten Abenteuer ermutigt.

Rolf Lange: Ich habe das erste Mal Freiheit geschnuppert und der Geruch gefiel mir extrem gut. Das hat etwas in mir geweckt. Doch bereits nach der Hälfte der Zeit zählte ich nur noch, wie viele Tage wir noch hatten. Ich war im Kopf eigentlich schon wieder beim Ende der Reise, nicht im Moment. Das hat mich enorm geärgert.

Nach der Rückkehr nach München war dann nichts mehr wie vorher. Ich war angesteckt. Ich arbeitete nicht mehr, um abends nach Hause zu kommen und wieder ins gleiche Restaurant zu gehen, sondern da war irgendwas passiert. Ich wollte mehr. Ich war unruhig. Ich war mit Reiselust infiziert. Das war wie so ein Wespennest, das in meinem Kopf aufgestochen worden war. Ich musste wieder los. Und ich konnte nicht damit leben, irgendwann in der Zukunft wieder Pläne zu machen, sondern es musste jetzt sein, dass da was passiert.

Joe und er tauschten Ideen aus, erwogen erst eine zweiwöchige Reise durch Europa, dann ein dreimonatiges Sabbatical, vielleicht für einen Trip durch Südamerika. Aber Rolf wusste, dass er auch nach anderthalb Monaten beginnen würde, herunterzuzählen: nur noch sechs Wochen, noch fünf, noch vier.

Dieses Enddatum war das Problem. In der Komfortzone hat man ja alles geplant. Man weiß, was kommt, es gibt kaum Überraschungen, und wahrscheinlich war es genau das: Ich wollte das nicht mehr. Ich wollte keine Deadlines haben.

Eines Abends schrieb er Joe eine Nachricht: »Was ist die beste Reise, die wir machen können?« – Rolf schickte die Antwort gleich mit: »Die beste Reise ist die, von der wir nicht wissen, wann sie endet.« Noch am gleichen Abend entstand zwischen den beiden diese Spinnerei:

Wir machen die ganz große Version, die ultimative. Alles hergeben, Job kündigen, Wohnung kündigen, den materiellen Besitz auf ein Minimum reduzieren, nämlich auf das, was auf so ein Motorrad passt, und dann ohne Enddatum aufbrechen. Ziel: einmal um die Welt fahren. Wir wollten irgendwann wieder an unserem Startpunkt ankommen, aber wann, das wussten wir nicht.

Von da an änderte sich mein Leben auf einen Schlag. Ich hatte einen komplett anderen Fokus. Nicht mehr die Karriere, nicht mehr die Komfortzone. Sondern es gab nur noch ein Ziel, nämlich den Tag, an dem ich mich auf das Motorrad setzen und losfahren würde.

Seine Wohnung verwandelte sich in ein Planungsbüro voller Flipcharts und Post-its, Routenbeschreibungen, Packlisten und Ausrüstungsübersichten.

Oft führte die Route durch einsame Landschaften, wie hier auf dem Weg über die Son-Kul-Ebene in Kirgistan.

Die dünne Besiedelung in den Bergen Kirgistans macht das Wildcampen einfach.