Abenteuer in Kanada - Hans-Peter Ackermann - E-Book

Abenteuer in Kanada E-Book

Hans-Peter Ackermann

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Beschreibung

Als die Hamburger Reporterin Valerie Brunner von Ihrem Verlobten Mario Hansdorf erfährt, der im Norden Kanadas eine Brücke bauen soll, entscheidet sie sich ihn zu begleiten und sie fliegen gemeinsam nach Hay River am großen Sklavensee. Marios Unerfahrenheit mit Menschen umzugehen, erweist sich schnell als Hindernis und führt zu Auseinandersetzungen. Als sich Valerie von Mario trennt, kommt es zu einer Entführung. Doch Valerie kann durch die Wildnis fliehen und wieder nach Hay River zurückkehren. Mario ist indessen in die Kriminalität abgerutscht und wird von der Polizei gesucht. Ihr neuer Freund Lukas und der Sheriff verfolgen Mario Hansdorf, der ihnen zweimal entwischt. Als Valerie von Lukas schwanger wird, muss sie sich entscheiden, ob sie in Kanada bleiben soll.

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Seitenzahl: 523

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis

Eine Überraschung

Das Abenteuer beginnt

Valerie ist verschwunden

„FLUCHT AUS KANADA“

Vier Wochen später

Fünf Monate später

Ein neues Abenteuer

Fort Providence

Die Entführung

Emilia und andere Aufregungen

Es wird geheiratet

Ankunft in der alten Heimat

Aufbruch in ein neues Abenteuer

Eine Überraschung

Eine ganze halbe Stunde wartete Valerie Brunner bereits auf ihren Verlobten Mario Hansdorf an der Bushaltestelle in Hamburg-Heimfeld in der Haakestraße. Das Wetter war zwar besser geworden und es regnete nicht mehr, aber nun fröstelte Valerie. Schon zweimal hatte sie versucht, ihren Verlobten mit dem Handy zu erreichen, doch jedes Mal vergeblich. Aber ein Bus kam auch nicht. Der abgerissene Fahrplan konnte ihr dabei keine Hilfe sein. Gerade als sie ein Taxi anrufen wollte, bog der rote BMW Z4 um die Kurve und hielt mit quietschenden Bremsen neben ihr an. Mario hob bedauernd die Arme.

„Schatz, entschuldige! Aber der Sesselmeier hat mich wieder zugequatscht wegen dem neuen Auftrag. Der Kerl ist unmöglich, jedes Mal vor Schluss fällt dem noch was ein“, entschuldigte er sich gestenreich. Valerie band sich ein Kopftuch über die blonden Locken, weil der Fahrtwind kühl war, und meinte dann leicht verschnupft:

„Na, zum Glück hast du immer eine Ausrede parat, wenn du zu spät kommst.“ Dabei lächelte sie aber schon wieder versöhnlich.

Nach zwanzig Minuten Fahrt hatten sie ihr Appartement in der Innenstadt im achten Stock erreicht und stiegen aus dem Fahrstuhl. Auf dem sonst sauber geputzten Flur lagen zwei matschige Aprikosen mitten auf dem Gang. Mario rümpfte die Nase.

„Seit dieser Achmed Sowieso hier oben eingezogen ist, liegt dauernd was auf dem Flur herum, und wenn`s die Schuhe seines Sohnes sind“, moserte er und schloss die Tür auf, während sie mit einem Papiertaschentuch das Obst aufhob und zum Abfalleimer brachte. Manchmal war ihr Verlobter ein richtiger Snob. Schon von klein auf von Mama und Papa verzogen. Ja nicht die Finger schmutzig machen, das war seine Devise. Andererseits war er ein spendabler Liebhaber, auch wenn sie sich die Miete und die Nebenkosten teilten. Immerhin verdiente er ja das Doppelte von dem, was Valerie am Monatsende als Assistentin des Direktors von ihrer Zeitschrift bekam. Ihr war das aber recht, denn so musste sie sich nie den Vorwurf machen lassen, dass er sie aushielt. Sie hatten von Anfang an darauf geachtet, dass jeder noch sein Privatleben hatte. Für Valerie bedeutete das, jede Woche einmal Westernreiten, Holzstämme schleppen oder auch mal um die Wette Holz hacken. Und das wiederum sah man der 1,78 Meter großen stämmigen Blondine auch an. Lange, stramme, kerzengerade gewachsene Beine. Etwas breiter in den Schultern, dazu schulterlange blonde Locken und himmelblaue Augen, die immer zu lachen schienen. Kein Wunder, dass Mario von seiner „Traumfrau“ sprach und sie in den höchsten Tönen lobte. Nach seiner Meinung hatte der liebe Gott einen guten Tag gehabt und jeden Zentimeter von ihr an die richtige Stelle gesetzt.

Valerie hörte das zwar gern, welche Frau freut sich nicht, wenn ihr Geliebter sie so lobt, aber sie hatte manchmal das Gefühl, dass er heimlich auch noch nach anderen schielte. Im Grunde war Mario Hansdorf ein Macho, von sich selbst überzeugt, oft überheblich, aber eben auch spendabel und ein guter Liebhaber im Bett. Da Valerie jeden Tag mit vielen Männern beruflich zu tun hatte, konnte sie gut Vergleiche anstellen. Und Alpha-Männchen kannte sie zur Genüge. Doch bis jetzt hatte es noch keine Gelegenheit gegeben, bei der Mario zeigen konnte, dass er ein Kerl war, ein richtiger Kerl.

Und so kam sein Vorschlag an diesem Abend umso überraschender und verschlug ihr fast die Sprache, was bei Valerie höchst selten vorkam. Er druckste schon eine Weile herum und bediente sie beim Abendbrot, was er sonst eigentlich nie tat.

„Hör mal, Schatzi, ich habe heute die Chance meines Lebens angeboten bekommen!“, begann er die Unterhaltung. Valerie sah ihn erstaunt an: „Was für eine Chance?“ Er lächelte etwas verlegen.

„Ich kann ein Projekt im Norden Kanadas übernehmen. Eine Brücke für Bahn und Autoverkehr über den Hey River bauen, mitten in der Wildnis. Dauer zwei Jahre und eine Bezahlung, zu der man eigentlich nicht nein sagen kann.“ Sie sah ihn starr an und legte das Messer beiseite.

„Das bedeutet, du willst zwei Jahre weg von Hamburg?“, fragte sie ihn erschrocken. Er nickte zögernd.

„Ja, Schatzi, aber du könntest ja mitkommen. Ich habe da schon mal angefragt und sie haben tatsächlich ja gesagt. Du wärst da oben für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich. Mein alter Herr hat zwar erst geknurrt, hat sich aber dann doch überzeugen lassen. Es gibt allerdings da oben Naturschützer, die gegen dieses Projekt sind, und die du möglichst überzeugen müsstest. Na ja, und reiten und Holzhacken kannst du ja sowieso!“, lachte er. Sie sah ihn sekundenlang ernst an mit ihren hellblauen Augen.

„Und bis wann musst du dich entscheiden?“, war ihre nächste Frage. Er zuckte mit den Schultern und verzog das Gesicht.

„Möglichst vorgestern!“ Damit stand für Valerie schon mal fest, dass er zugesagt hatte, ohne sie vorher zu fragen. Das jetzt war nur das Pflaster, damit es nicht so wehtat. Und da Valerie auch störrisch sein konnte, meinte sie:

„Und wenn ich nicht mitkommen will? Ich habe hier einen schönen und gut bezahlten Job.“ Mario verzog auf einmal genervt das Gesicht und meinte leicht gereizt:

„Und wenn du das Doppelte verdienst, von dem, was du jetzt bekommst? Überlege mal, auf zwei Jahre befristet. Dann geht es wieder in die Heimat mit einem gut gefüllten Konto. Denn was wir da oben zum Leben brauchen, bekommen wir gestellt. Es gibt eine Großküche, die Tag und Nacht arbeitet. Es gibt ein Casino und einen Friseur. Das ist wie ein Sechser im Lotto! Jetzt komm und zier dich nicht so! Das sind Chancen, die bekommt man nur einmal im Leben!“, redete er eindringlich auf sie ein und kam dabei immer mehr in Fahrt.

Valerie kam ins Grübeln. Eigentlich hatte er ja recht mit dem, was er vorbrachte. Sie stand auf, um den Tisch abzuräumen, und blieb einen Moment neben ihm stehen.

„Lass mir Zeit bis morgen früh, einverstanden?“ Er holte tief Luft und nickte dann doch. „Okay, bis morgen früh also. Ich zähle aber auf dich, Liebling! Das ist die Chance für uns beide.“ Den Rest des Abends verbrachten sie damit, dass ihr Mario nun Bilder von dieser Gegend da oben zeigte. Er hatte gut vorgesorgt mit seiner Auswahl. Kanada in den bunten Farben der Jahreszeiten. Im Bett lag Valerie noch eine Weile wach und überlegte das Für und Wider, um dann darüber einzuschlafen. Mario lag neben ihr und schnarchte schon längst.

Der Morgen begann wie jeder Morgen, wenn sie beide zur Arbeit mussten. Einer ging ins Bad, der andere richtete schon mal das Frühstück her, und das täglich abwechselnd, darauf legte Mario viel Wert. Wenn es nach Valerie gegangen wäre, dann wäre sie sicher auch mal ohne Frühstück aus dem Haus gegangen. Manchmal musste Valerie deswegen über ihn lachen. Und im Stillen dachte sie dann: „Ja, der Bub muss halt früh sein Müsli haben!“, so wie das die Mama immer gehandhabt hatte. Im Grunde waren sie eigentlich grundverschieden durch Elternhaus, Bildung und Lebenseinstellung. Bei Mario musste alles fest geplant sein, Spontaneität war ihm fremd. Doch Valerie dagegen konnte am Tag zweimal die Meinung ändern, wenn sie glaubte, dass dies notwendig wäre. Und sie war kurz entschlossen und ging dann auf ihr Ziel los. Was verband sie eigentlich? Diese Frage hatte sie sich schon öfters gestellt. Und sei es nun aus Bequemlichkeit, finanzieller Sicherheit und wegen gutem Sex, sie blieben halt zusammen. Obwohl Valerie schon mehrmals den Verdacht gehegt hatte, dass Mario nebenbei noch ein Pferdchen laufen hatte. Beweise dafür gab es keine, und sie suchte auch nicht danach. Doch Valerie hatte einen Entschluss gefasst, den sie Mario dann beim Frühstück mitteilte.

„Also, Mario-Schatz, ich komme mit! Aber nur für diese zwei Jahre, keinen Tag länger. Ich rede mit meiner Mutter. Das wird nicht einfach. Und dann muss ich mit meinem Chef reden. Ich könnte mir denken, dass er auf die Idee kommt, mich eine Reportage machen zu lassen.“ Sie sah, wie Mario aufatmete, und wurde sofort liebevoll von ihm umarmt.

Am Vormittag suchte Valerie das Gespräch mit ihrem Chef in der Frühstückspause. Holger Baumann hörte sich geduldig Valeries Erklärungen an und nickte ein paarmal zustimmend. Als sie fertig war und ihn erwartungsvoll ansah, meinte er:

„Also Deern, ich lass sie natürlich ungerne gehen, aber so ein Angebot ist auch verlockend, und ihr seid noch jung und kinderlos. Wir machen das so, wie Sie vorgeschlagen haben. Ich kriege jeden Monat eine schöne Geschichte, was ihr da oben so erlebt. Und natürlich auch ein paar Bilder über den Bau selbst.“

Und damit hatte Valerie alles erreicht, was sie wollte, und sie verdiente sogar noch Geld dabei. Sie rief sofort Mario an, doch eine Monique erklärte ihr, er sei gerade in einer Besprechung, sie richte ihm aus, dass er zurückrufen soll. Doch bis zum Dienstschluss meldete sich niemand bei ihr. Am Abend war dann aber die Freude groß und die Reise-Planung begann. Und Valeries größtes Problem war wie das jeder Frau – was ziehe ich da oben an?

Das Abenteuer beginnt

Am 16. Juni standen Valerie Brunner und Mario Hansdorf in der Abfertigung des Flughafens Frankfurt. Reiseziel war die Hauptstadt Kanadas Ottawa, und von dort nochmal knapp 4000 km Flug bis zum Zielort Hay River am Nordufer des Großen Sklavensees. Ein Kaff mit 3600 Einwohnern, nahe dem Wood-Buffalo-Nationalpark, wo es noch Bisons geben sollte. Valerie hatte sich vorgenommen, da oben in der Wildnis möglichst viele Orte zu besuchen, die beinahe einmalig auf der Welt waren. So zum Beispiel den Twin Falls im George Territorial Park. Sie würde herrliche Bilder machen mit ihrer Kamera und sie dem Verlag anbieten. Und noch einer freute sich sehr über Valeries Eifer, das war Mario. Er hatte es tatsächlich geschafft, Valerie von diesem Trip zu überzeugen. Und war sie einmal überzeugt, konnte sie niemand mehr aufhalten, das wusste er nur zu gut, auch wenn er ihren Durchsetzungswillen manchmal zähneknirschend tolerierte. Aber das alles war jetzt Schnee von gestern, das Abenteuer lockte.

In Ottawa kamen sie nach 10 Stunden Flugzeit am Morgen etwas müde an und hatten zwei Stunden Zeit, um umzusteigen. Als dann Valerie die nun weitaus kleinere zweimotorige Maschine sah, wurde ihr doch etwas mulmig, aber Mario lachte nur:

„Diese Maschinen fliegen im tiefsten Winter bei minus 40 Grad, da musst du keine Angst haben. Die Piloten sind alles alte Hasen. Es wird ein interessanter Flug und du kannst sogar etwas sehen. Bleib cool, Liebling! Und halte die Kamera bereit. Es wird sich lohnen.“

Und dann hoben sie von der Landebahn ab, überflogen das Häusermeer Ottawas in Richtung Nord-West. Unter ihnen kreuzten sie noch die Highways, aber langsam wurde die Landschaft eben flach und weit. Satte Grünflächen wechselten sich mit kleinen Flüssen oder Seen ab. Und immer wieder sah man wild lebende Tierherden. Valerie machte ihre ersten Bilder aus dem kleinen Fenster der Maschine. Dazu legte der Pilot sogar die Maschine ab und an in eine kleine Kurve, um ihr Schnappschüsse zu ermöglichen.

Pünktlich um 16:00 Uhr setzte die Maschine zur Landung auf der kleinen Landebahn in den Northwest Territories an. Unter ihnen lag Hay River am Nordufer des Großen Sklavensees. Atemlos starrte Valerie hinunter auf die immer näherkommende Landschaft rund um den kleinen Ort und den kleinen „Merlyn Carter Airport“. Endlich waren sie am Ziel. Müde und ein wenig zerschlagen stiegen sie aus und atmeten die frische saubere Luft ein. Im Flughafengebäude wurden sie schon vom Projektleiter Adams und seiner Sekretärin begrüßt. Liam Adams war ca. 50 Jahre alt, die Sekretärin Olivia McEnroe so ungefähr 25 Jahre alt. So genau konnte man das bei ihr nicht schätzen, geschminkt wie sie war. Mit einem Ford „Maverick“ brachte sie Adams zu ihrer neuen Bleibe. Valerie fiel aus allen Wolken, als sie das Haus sah. Ganz aus Holz, weiß gestrichen, mit einer Veranda und einem Wintergarten, ein Traum! Valerie war wunschlos glücklich. Man vereinbarte, dass sie noch einen Wagen zur freien Verfügung bekommen sollten und man sich am nächsten Morgen in der Zentralen Bauleitung im Ort treffen wollte. Eine Stunde später lagen beide auf dem großen breiten Bett und schliefen traumlos.

Pünktlich um 8:30 Uhr stand am nächsten Morgen ein PKW vor der Tür und hupte, um sie abzuholen. Zum ersten Mal trafen sich alle verantwortlichen Mitarbeiter. Liam Adams stellte die beiden Deutschen zunächst vor, um dann jeden der Anwesenden vorzustellen. Das Team bestand aus vier Männern und drei Frauen, alle aus der Baubranche mit einer einzigen Ausnahme, und das war natürlich Valerie. Aber das war überhaupt kein Problem. Als die Beratung sich auflöste und jeder seiner Aufgabe nachging, hatte Valerie ganz schnell Kontakt zu Amelia Smith, die im Team nur „Termingeier“ genannt wurde, weil sie für die Termine aller Leitungsmitglieder verantwortlich war und immer mit Olivia McEnroe im Clinch lag.

Am Nachmittag fuhren sie beide hinaus zur Baustelle am Hay River, einen Fluss etwa so breit wie die Elbe. Eine Bahntrasse hatte man schon bis zum Ufer gelegt und war dabei, auf der anderen Seite damit zu beginnen, das Gleisbett aufzuschütten. Dazwischen fehlte nur noch die Brücke. Und zum ersten Mal sahen Valerie und Mario Einheimische mit Spruchbändern dastehen, auf denen zum Beispiel stand: „Keine Eingriffe in das Ökosystem!“ Oder sogar: „Schert euch zum Teufel mit eurer Eisenbahn!“ Und die da standen waren nicht nur fünf oder zehn Leute, sondern fünfzig bis einhundert, zumeist einheimische Indianer. Denn diese Bahntrasse verlief durch ein ökologisches Schutzgebiet und das Problem hatte im Vorfeld schon eine Menge Ärger gemacht. Doch Marios Brückenmodell war inzwischen auf Plakaten in jedem Ort und in jedem Shop zu sehen. Es war eine formschöne Bogenbrücke mit zwei Bogen ohne Mittelpfeiler, die bei einer Ausschreibung den Sieg davongetragen hatte. Aber immer wieder wurden die Arbeiten durch Proteste oder Pannen aufgehalten.

Manche Tage sahen sich Valerie und Mario gerade zu den Mahlzeiten. Und auch da gab es kaum ein vernünftiges Gespräch, denn er wirkte fahrig und aufgeregt. Was Valerie vor allem auffiel, Mario hatte keine Geduld. Ging ihm etwas gegen den Strich, begann er plötzlich laut zu werden. Wenn er auf der Baustelle auftauchte, machten die Arbeiter möglichst einen Bogen um ihn. Der Aleman war nicht gerade beliebt. Und so merkte es auch Valerie erst nicht, dass sich Jack Brown von der Trasse sehr um sie bemühte. Alles begann damit, dass er ihr zu Mittag einfach einen Kaffee mitbrachte und ihn wortlos vor sie auf den Tisch stellte und sich dann setzte.

In der Mittagspause saßen sie meist noch eine halbe Stunde hinter der Baracke in der Sonne. Die einen rauchten, die anderen dösten oder genossen die wärmenden Sonnenstrahlen. Dabei kam sie mit Brown ins Gespräch und erzählte, dass sie unbedingt in den Ort fahren müsste, um dort eine Postsendung abzuholen, worauf Brown sich anbot, sie mitzunehmen, weil er ebenfalls etwas zu erledigen hätte. Und so fuhren sie wenig später gemeinsam die 8 Kilometer bis zu dem Ort, an dem sich das Post-Office befand. Während Valerie die drei Päckchen abholte, ging Brown in den nahegelegenen Shop. Sie sah ihn dort mit einem jungen Kerl vom Shop reden, der ihm etwas gab, was Brown schnell einsteckte. Wenig später fuhren sie wieder zurück. Brown sah sie von der Seite an, während er fuhr.

„Du schaust auch nicht gerade sehr fröhlich aus, Valerie“, meinte er mit seinem französischen Akzent auf Deutsch. Sie sah ihn ebenfalls an und schüttelte den Kopf.

„Ich mache mir Sorgen um meinen Freund. Mir scheint, er ist manchmal überfordert“, bekannte sie offenherzig. Jack lächelte und wiegte den Kopf hin und her.

„Das ist hier in der Wildnis nicht so einfach wie bei uns zu Hause in Europa. Die Leute sind störrisch, manche wollen nur das große Geld machen. Und das möglichst schnell“, erwiderte er. Wieder sah er zu ihr herüber.

„Du bist hübsch, Valerie. Lass uns doch mal zusammen was trinken gehen. Jeden Freitagabend ist im Saloon Tanz und Livemusik. Man muss doch auch mal raus aus dem Trott.“

Valerie spürte durch die Jeans, wie seine Hand plötzlich auf ihrem Knie lag. Sie schob sie sachte beiseite und meinte dann unmissverständlich:

„Jack, wie ich schon sagte, ich bin mit meinem Freund hier oben. Ich bin nicht auf Abenteuer aus. Wir sollten lieber Freunde bleiben, alles andere gäbe nur Ärger.“

Jack Browns Backenmuskel traten heraus und er sagte nichts mehr bis zur Ankunft auf der Baustelle. Als sie aus seinem Dodge ausstieg, stand Mario mit verschränkten Armen auf dem Parkplatz vor der Baracke und sah ihr entgegen. Sie trat auf ihn zu.

„Hier ist Post von zu Hause. Eins ist für dich und zwei sind für mich. Meine Freundin Lisette hat sich in Unkosten gestürzt, wie es aussieht. Und deins ist wohl von deiner Mutter, soweit ich gesehen habe.“ Ohne darauf einzugehen, meinte er plötzlich:

„Seit wann knutschst du mit dem Brown durch die Gegend? Will der was von dir?“ Valerie lachte und dachte gleichzeitig an die Hand auf ihrem Knie. Das war wohl eindeutig gewesen.

„Was redest du denn für einen Stuss, sag mal. Ich wollte zur Post und er in den Ort, also hat er mich mitgenommen. Du bist ja meist nicht da! Das Auto fährst nur du!“ Mario deutete auf den metallic-roten Ford „Explorer“, an dem er lehnte.

„Das ist jetzt unser Wagen. Den müssen wir uns teilen. Also wenn du mal wieder in den Ort willst, müssen wir das wohl zukünftig absprechen. Dann fährst du mich zur Baustelle und dann eben danach in den Ort. Klaro?“ Valerie war leicht genervt von seiner Art und Weise, wie er ihr das erklärte, und deshalb meinte sie:

„Klaro Papa! Das machen wir, wie du es willst.“ Er grinste auf einmal und lenkte ein: „Na komm, wir fahren nach Hause.“ Valerie lachte.

„Und wie kommen wir über den großen Teich? Oder kann das Teil schwimmen?“ Auf der Heimfahrt berichtete Mario wieder von seinen Schwierigkeiten auf der Baustelle, dass nichts klappte und er alles dreimal erklären müsse. Valerie schüttelte den Kopf.

„Mario, ich will dir ja nicht reinreden, aber vielleicht solltest du mal deine Bauleiter zusammennehmen und in aller Ruhe die Probleme ansprechen. Vielleicht auch mal nach dem Dienst bei ein paar Bier.“ Er sah sie von der Seite an und verzog das Gesicht.

„Ich soll mich anbiedern, ihnen in den Arsch kriechen? Ich denke doch nicht daran!“ Sie ärgerte sich insgeheim über seine sture Denkweise, sagte aber dann lieber nichts mehr. Und wie es das Schicksal wollte, kam es am nächsten Tag zum ersten Eklat. Verantwortlich dafür war mal wieder ihr Mario.

Zwei Arbeiter hatten gerade eine Betonmischung mit dem Kran über der Stelle positioniert, wo sie gießen sollten, als plötzlich ein lauter Knall eines der Stahlseile reißen ließ, welches die Mischbirne hielt. Sofort kam die Vorrichtung in Schräglage und das nun entstandene Übergewicht ließ auch das zweite Stahlseil reißen. Die Folge – die Mischbirne knallte aus 10 Meter Höhe in das bereits vorbereitete Gießbett. Zum Glück kam dabei niemand zu Schaden. Und dann kam Mario herangeprescht und brüllte mit voller Lautstärke:

„Welche Arschlöcher haben denn hier wieder gepennt?“ Worauf einer der Meister aufgebracht von Marios Ton zurückbrüllte: „Das Arschloch bist du, Aleman! Du hast uns gestern diese beiden Stahlseile gebracht, die wir austauschen mussten! Aber es waren die falschen, viel zu dünn, um diese zwei Tonnen zu halten!“ Und Mario, der gerade eine Schaufel in der Hand hatte, wollte auf den älteren Kollegen losgehen, wurde aber gerade noch zurückgehalten. Dabei schrie er den Mann an:

„Du kannst dir deine Papiere abholen!“ Doch der Kollege winkte ab und zeigte Mario den Stinkefinger. Henry Gorgon erzählte ihr zu Mittag grinsend den Ablauf der Geschichte.

Als einer der Bauleiter musste er nun einen Bericht schreiben. Er sah Valerie über den Tisch hinweg lächelnd an.

„Ist dein Mann zu Hause auch so aufbrausend?“, fragte er sie. Valerie wehrte ab. „Er ist nicht mein Mann. Er ist mein Freund. Und nein, zu Hause ist er nicht so. Aber bei euch geht ja auch dauernd was schief. Bei uns zu Hause fliegt man bei sowas ganz schnell raus.“ Gorgon nickte süffisant.

„Ja, ja, ihr gründlichen Deutschen! Ihr plant ja auch von der Wiege bis zur Bahre, wie man hört.“ Valerie musste sich eingestehen, dieser Gorgon sah verdammt gut aus. Er war nach eigner Aussage noch ledig mit seinen 53 Jahren. Er hatte kurz geschnittenes, graumeliertes Haar, eine sportliche Figur und gepflegte Manieren. Und sie musste zugeben, da konnte ihr Mario keinesfalls mithalten.

Am Abend war der Vorfall Gesprächsstoff am Tisch. Und da konnte sich es Valerie nicht verkneifen, sein Auftreten zu rügen.

„Mario, so geht man nicht mit Leuten um, mit denen man täglich noch zusammenarbeiten muss. Du hast dich aufgeführt wie einer der Sklaventreiber von früher! Und jeder kennt diese Geschichte jetzt. Du machst dich unmöglich.“

Mit einem Mal sprang Mario auf, knallte die Gabel auf den Tisch, so dass der Teller dabei entzwei ging und fing an zu brüllen:

„Du fehlst mir mit deinem Gesabber jetzt auch gerade noch, Blondie! Kümmere dich doch um deinen Scheiß!“ Er drehte sich um und verließ die Tür zukrachend das Esszimmer und später das Haus. Valerie hörte, wie er die Haustür zuknallte. Sie räumte das schöne Essen weg und überlegte, was sie nun tun sollte. Zum Telefonieren mit ihrer Freundin zu Hause war es schon zu spät. Also zog sie sich was drüber und ging ebenfalls raus. Valerie ging zum Saloon in der Hoffnung, Mario dort zu treffen, doch statt ihn traf sie Gorgon. Der stand sofort auf und rückte ihr einen Stuhl parat. Dann bestellte er ein großes Bier für sie. Sie stießen an und tranken. Nach und nach erzählte Valerie, was passiert war. Gorgon hörte wortlos zu und nickte ab und zu. Plötzlich kam eine Runde Whisky von einem der Kollegen von Gorgon. Valerie wollte sich nicht zieren und trank langsam mit kleinen Schlucken das Gesöff. Das Zeug brannte wie Feuer. Und weil man ja auf einem Bein nicht stehen kann, gab‘s noch eine zweite Runde, dann eine dritte und eine vierte. Dann aber wehrte sie ab, weil sie spürte, was der ungewohnte Alkohol anrichtete. Wie lange lag das schon zurück, seit sie mal so richtig besoffen gewesen war. In der Lehrzeit hatte sie mal zum Abschluss mit ihren Freundinnen einen drauf gemacht und die Polizei hatte sie dann alle aufgesammelt. Valerie versuchte aufzustehen und Henry stützte sie lachend.

„Na komm, Mädel, ich bring dich lieber mal nach Hause“, meinte er und zog ihr vorsorglich die Jacke über. Und dann kam die frische Luft und die Welt begann sich zu drehen. Valerie fand das alles saukomisch. Unterwegs mussten sie eine Pause machen und Valerie lehnte sich an eine Mauer. Und wer auch immer der erste war, sie küssten sich. Lange und anhaltend und immer intensiver. Sie spürte Henrys Hand über ihren nackten Po streichen in Richtung nach vorn zwischen die Beine. Da kam bei ihr dann doch noch das Stoppschild.

„Henry, aufhören! Du bist im Sperrgebiet!“, fauchte sie ihn an und stieß ihn von sich. „Den Rest gehe ich jetzt allein. Gute Nacht, Amigo!“, nuschelte sie und marschierte los. Henry sah ihr noch eine Weile hinterher und grinste vor sich hin.

„Ich kriege dich doch noch“, flüsterte er mehr zu sich selbst und marschierte dann in entgegengesetzter Richtung davon.

Als sich Valerie zu Hause angekommen auf das Bett setzte, um die Jeans auszuziehen, bemerkte sie, dass der Reißverschluss wohl kaputt war. „So ein Sauhund“, flüsterte sie und meinte Henry dabei. Sie überlegte. Hätte sie ihn nicht weggestoßen, dann hätten sie wohl an dieser Mauer im Stehen Sex gehabt. Valerie wurde es auf einmal schlecht und sie rannte ins Bad und übergab den Mageninhalt der Kloschüssel. Anschließend ging sie ins Bett und stellte fest, dass Mario noch nicht da war.

Irgendwann in der Nacht wurde sie plötzlich wach, weil jemand versuchte von hinten in sie einzudringen. Sie fuhr hoch, machte Licht und sah in Marios verquollene Augen, der sie angrinste.

„Was ist denn? Heute keine Lust auf Poppen, Blondie?“, lallte er volltrunken. Wutentbrannt nahm sie Kopfkissen und Bezug, verschwand ins Gästezimmer und schloss die Tür ab.

Am nächsten Morgen wurde kein Wort gesprochen beim Aufstehen. Es war Sonntag und damit Ruhetag. Valerie hatte gerade Spiegeleier gebraten, als Mario frisch geduscht hereinkam und sich wortlos hinsetzte. Sie gab ihm die beiden Spiegeleier auf den Teller und wandte sich wieder um zum Herd, um erneut zwei Eier zu braten. Sie sah ihn zwischendurch an.

„Diese Aktion heute Nacht, die hättest du dir aber auch sparen können, voll wie du warst“, meinte sie schon wesentlich sanfter. Plötzlich lachte er gehässig:

„Na klar, du hattest wohl schon deine Befriedigung vorher was? Muss ja ganz stürmisch gewesen sein, wenn der Reißverschluss dabei draufging. Hauptsache es hat Spaß gemacht.“

Da machte eine kleine Sicherung in ihrem Kopf „pling“. Und Sekunden später flog die Bratpfanne samt Spiegeleiern quer durch die Küche und dabei haarscharf an seinem Kopf vorbei. Und dann kam alles raus, was sich in den letzten vier Wochen so angesammelt hatte.

„Du aufgeblasenes Arschloch! Du spielst dich hier auf wie Graf Rotz von der Vogelweide, beleidigst wildfremde Menschen, machst dich zum Gespött auf der Baustelle und willst mich dann zu Hause besoffen noch vögeln! Das kannst du vergessen, du Windei! Hier wischt dir Mama mal nicht den Hintern ab und schon geht bei dir alles in die Hose! Was bist du denn für ein Kerl? Ich habe die Nase voll von dir!“ Sprach‘s und zog sich an, nahm den Zündschlüssel und haute die Tür hinter sich zu. Drinnen hörte sie ihn noch brüllen:

„Dann hau doch ab, du Schlampe! Fahr wieder nach Hause! Aber das Auto bleibt hier!“ Doch da war es schon zu spät.

Valerie trat das Gaspedal durch und der „Explorer“ schoss davon. Sollte er doch sehen, wie er auf Arbeit kam. Valerie überlegte. Was war jetzt zu tun? Einfach aufhören und ohne Bericht an die Zeitung nach Hause fahren? Das war nicht ihre Art. Sie musste bleiben. Mit Mario oder ohne Mario! Sie war sich sicher, dass sie sofort hätte umziehen können zu Henry. Aber wollte sie das? Aus einem Bett raus ins andere wieder rein? Nö, auch das war nicht ihre Art, und schon lange nicht wegen ein paar Nachtstunden mit Whisky. Sie ging in ihr Büro und traf auf Amelia, die Planerin. Die lachte, als sie zur Tür hereinkam, leicht zerzaust und nicht geschminkt.

„He, hattest du eine heiße Nacht, Darling?“, fragte Amelia sie noch immer lachend. Valerie winkte ab und setzte sich an ihren Schreibtisch. Plötzlich brachte ihr Amelia einen Kaffee und ein Brötchen mit Salami drauf.

„Komm, auf Whisky muss Salami drauf, das hilft mir immer. Hattest du dicke Luft zu Hause deswegen?“, fragte sie weiter. Und Valerie nickte. Dann erzählte sie, was am Morgen passiert war. Von der Nacht erzählte sie kein Sterbenswörtchen. Amelia schüttelte den Kopf.

„Männer! Aber wenn du willst, kannst du zu mir ziehen. Ich bin ganz alleine in dem Haus und fürchte mich manchmal nachts.“ Und da fasste Valerie einen Entschluss.

„Kann ich schon heute Vormittag bei dir einziehen? Ich will meine Sachen holen, aber nicht auf Mario treffen.“ Amelia sah sie bewundernd an.

„Du machst es gleich richtig, nicht wie ich. Ich bin zweimal ausgezogen und zweimal wieder eingezogen. Erst als er mich dann verdroschen hat, bin ich endgültig weg. Hat lange gedauert und tat sehr weh. Wir waren ja auch 11 Jahre zusammen.“ Amelia sah auf die Uhr und stand auf.

„Komm, wir holen jetzt deine Sachen! Wir fahren mit meinem Wagen, dann wird deiner hier auf dem Parkplatz stehen, wenn er vorbeikommt.“ Amelia hielt plötzlich inne und sah in Valeries feuchte Augen.

„Weißt du übrigens schon, dass die Bahngesellschaft deinem Mario den Vertrag gekündigt hat? Angeblich wegen unüberbrückbarer Gegensätze im Arbeitsalltag oder so ähnlich.“ Valerie war erst einmal sprachlos, doch dann nickte sie.

„Jetzt weiß ich auch, warum er sich gestern Abend volllaufen hat lassen. Kein Wunder, jetzt ist er am Ende. Ich will jedenfalls auch nix mehr mit ihm zu tun haben, das steht fest. Ich habe mir sein Gebaren lange genug gefallen lassen.“

Im Haus angekommen räumte Valerie ihre Sachen in die Koffer und schloss das Haus wieder ab. Den Schlüssel legte sie in den Briefkasten am Zaun. Gemeinsam fuhren sie zu Amelias Haus. Es war fast das Ebenbild von dem Haus, in dem sie die letzten vier Wochen schon gelebt hatte. Auch aus Holz gebaut, schön geräumig und hell, mit Wintergarten und Terrasse, und ringsum Wald. Es war ein Traumhaus hier in dieser Wildnis.

Als sie zu Mittag zum Essen in die Baracke kamen, wartete Mario schon auf sie. Als sie eintrat, stand er auf und sah sie fest an. Doch Valerie ging mit Amelia an ihm vorbei und sie setzten sich an einen anderen Tisch. Mario war blass geworden. Plötzlich stand er aber wieder auf und kam an ihren Tisch. Ohne zu fragen, setzte er sich hin und starrte sie an.

„Was soll das?“ Valerie nahm einen Schluck Wasser. Sie sah ihm in seine glitzernden Augen, die sie mal so geliebt hatte.

„Für den Fall, dass du es noch nicht gemerkt hast, ich bin heute ausgezogen! Ich wohne die nächste Zeit bei Amelia. Vielleicht kommst du ja mal wieder auf den Boden, dann können wir ja nochmal reden. Aber die nächste Zeit brauche ich etwas Abstand von dir. Was werden wird, werden wir dann sehen. Geh jetzt wieder!“ Mit versteinerter Miene stand er langsam auf. Mühsam sich beherrschend schob er den Stuhl wieder an den Tisch. Und dann zischte er auf einmal:

„Das wird dir nochmal leidtun, Blondie! Ich schwöre es dir!“ Dann wandte er sich ab und ging mit schweren Schritten zurück an seinen Tisch. Einige Augenpaare verfolgten ihn aufmerksam. Nach gerade mal vier Wochen hatte das große Abenteuer Kanada eine Wendung genommen. Und Valerie musste es sich letztlich eingestehen, dass es vorhersehbar gewesen war. Aber sie hatte geglaubt, es noch ändern zu können. Von diesem Tag an verlief einiges anders. Valerie und Amelia verstanden sich auch privat super. Manchmal gingen sie abends nochmal weg, manchmal blieben sie einfach zu Hause und sahen fern. Valerie begann, sich in Kanada wohlzufühlen. Doch eines machte sie noch ziemlich unsicher. Sie hatte Mario schon zweimal mit einem Kerl auf dem Parkplatz gesehen, von dem Amelia behauptete, er sei ein Dealer. Was für Geschäfte machte Mario mit diesem Kerl? Ihr Innerstes signalisierte ihr, dass Mario hier oben in der Freiheit auf einem schiefen Weg geriet. Zu Hause hatten Papa und Mama ihm die Regeln vorgegeben, ihn studieren lassen und dann auch in Papas Firma eingestellt. Und weil er Talent hatte, war er auch ziemlich erfolgreich geworden und hatte die Ausschreibung gewonnen. Aber jetzt von allen Fesseln befreit, zeigte er sein wahres Ich und begann, krumme Geschäfte zu machen.

Eines Tages überredete sie Amelia, einmal mit ihr in die Wildnis zu reiten. Ein Züchter, der Wildpferde zähmte und den Amelia kannte, bot ihnen an, bei ihm zwei zahme Pferde für einen Tag zu mieten. Schon früh fuhren sie raus zum Reitstall und nahmen ihre Pferde in Empfang. Valerie hatte eine braunweiße zweijährige Stute mit dem Namen „Storm Bride“, also „Sturmbraut“, und Amelie einen Falben mit dem schönen Namen „Rubio“. Aber beide waren ganz lieb und schmusten schon nach kurzer Zeit mit den beiden Frauen. Und so ritten sie hinaus. Alfredo hatte ihnen einen Transponder mitgegeben, damit sie jederzeit wieder auffindbar waren, für den Fall, dass sie sich verirrten. Ausgestattet mit zwei Satteltaschen voller Snacks für die Pferde und etwas Essen für sich selbst zogen sie los. Die Luft war kühl, die weiten Wiesen noch leicht mit Nebelschwaden überzogen, der Wald sehr offen und hell. Amelie hatte ein Gewehr mitbekommen und sie konnte damit umgehen. Und so stand fest, auch Valerie sollte den Gebrauch einer Waffe erlernen. In der Wildnis konnte das manchmal Leben retten.

Dann sahen sie den ersten Elch, dem folgte dann eine kleine Herde. Sie äugten zwar zu ihnen herüber, ließen sich aber nicht stören. Valerie entdeckte einen Luchs, der auf einem Felsen saß und zu ihnen heruntersah. Am Fluss stießen sie auf eine Biberfamilie, die gerade dabei war, ihren Bau weiter zu vervollkommnen. Valerie kam sich vor wie in einem Märchen. Ein großer grauer Uhu saß auf einer Astgabel und sah stoisch auf sie herab. Amelia grüßte ihn:

„Hallo Onkel Uhu! Das ist Valerie und ich bin Amelia, danke dass wir dein Revier betreten dürfen! Einen schönen Tag noch!“ Lachend ritten sie weiter. Und Valerie fragte ihre Kollegin:

„Amelia, grüßt du jedes Tier hier im Wald?“ Die Kanadierin mit spanischen Wurzeln nickte lachend.

„Ja klar! Mein Großvater hat mir als Kind mal erzählt, dass man alle Tiere des Waldes grüßen sollte, weil wir ja ihr Land betreten, und wenn wir freundlich sind, dann helfen sie uns auch, wenn wir in Gefahr sind.“

Am Nachmittag erreichten sie ein größeres zusammenhängendes Waldgebiet. Amelia zügelte ihr Pferd und wartete, bis ihre Freundin auf gleicher Höhe war.

„Ich denke, wir sollten umkehren. Wenn wir hier weiter hineinreiten, könnten wir uns verirren. Hier steht Baum an Baum und am Ende weißt du nicht mehr, ob du nicht schon mal dagewesen bist oder im Kreis geritten bist. Lass uns umkehren. Hier könnten wir auch einem Puma oder gar Wölfen begegnen. Die greifen zwar Menschen nicht an, aber ich möchte es auch nicht darauf ankommen lassen.“ Valerie stimmte ihr zu:

„Du hast bestimmt recht. Kehren wir lieber um.“ Sie waren kaum zehn Minuten geritten, als sie plötzlich mehrere Stimmen hörten, die sich etwas zuriefen. Amelia schloss zu Valerie auf.

„Das könnten Einheimische sein oder auch irgendwelche Strolche, die umherziehen und alles klauen, was nicht niet- und nagelfest ist. Meist sind sie auch bewaffnet.“ Kaum hatte sie das ausgesprochen, tauchten auf einmal auf einer Lichtung zwei junge Kerle mit Pferden vor ihnen auf. Beide sahen ziemlich verwahrlost aus.

Amelia wollte vorbeireiten, doch sie standen da und grinsten nur. Sie sah die beiden Kerle an.

„Würdet ihr uns bitte vorbeilassen?“, fragte sie halblaut, aber noch höflich. Die beiden grinsten breit und sahen sich an.

„He Ladys, warum denn so förmlich?“, rief der etwas Größere und wohl auch Ältere von beiden.

„Kommt, steigt ab, rauchen wir einen Joint und haben etwas Spaß.“ Dabei machte er eine eindeutige obszöne Geste mit der Hand vor seinem Hosenstall. Amelia schob ihren breitkrempigen Hut nach hinten und zog dann ruhig die Winchester aus dem Futteral am Sattel und lud laut hörbar durch. Und dann sagte sie bestimmt:

„Wenn ihr beiden Scherzkekse nicht auf der Stelle den Weg frei macht, schieße ich euch die Eier ab! Habt ihr das verstanden, ihr Affen?“ Überrascht von dem Gewehr, welches auf sie gerichtet war und der Aggressivität, mit der die Schwarzhaarige auf ihrem Pferd gesprochen hatte, traten die beiden auf einmal zur Seite. Valerie und Amelia gaben ihren Pferden die Sporen und ritten rasch vorbei. Einer der beiden Jungen rief ihr dann aber noch hinterher:

„Wir sehen uns schon nochmal, wenn ihr keine Flinte dabeihabt! Und dann geht‘s euch an den Kragen, Ladys!“ Die beiden Frauen sahen zu, dass sie wegkamen. Nach einer halben Stunde erreichten sie den Highway, der an ihrem Lager vorbeiführte, und ritten nun immer am Straßenrand entlang.

Zu Hause wieder angekommen bereitete Valerie erstmal einen Tee zu für beide. Auf der Veranda sitzend genossen sie die letzten Sonnenstrahlen. Valerie sah ihre Freundin an.

„Ich denke gerade darüber nach, was passiert wäre, wenn du kein Gewehr mitgenommen hättest“, sagte Valerie. Amelia nickte.

„Schwester, Lektion Nummer Eins in der Wildnis - gehe niemals unbewaffnet raus! Lektion Nummer Zwo - gehe nur dorthin, wo du dich auskennst! Ohne Knarre hätten wir eventuell im günstigsten Fall nur unsere Unschuld verloren. Aber jedes Jahr verschwinden auch Frauen einfach für immer spurlos, bis man irgendwann ihre Leichen durch Zufall findet. Das ist ein wildes Land und sehr groß und unübersichtlich. Hier kannst du nicht einfach mal den Sheriff rufen, wenn der 200 Kilometer weit weg ist.“

Valerie schüttelte sich leicht.

„Brrr, darüber habe ich nie nachgedacht, als ich das hier mal angefangen habe. Es klang alles so romantisch und abenteuerlich, aber an solche Gefahren habe ich wirklich keine Sekunde gedacht.“

Amelia nickte und erzählte ihr von einem Erlebnis, wo sie mit dem Auto in der Wildnis steckengeblieben war. Die einzige Rettung war ein kleines Dorf von Goldgräbern. Und dann kam da eine junge Frau von 21 Jahren unter etwa 15 bärtige Kerle jeden Alters. Sie sah Valerie an.

„Ich habe bei einigen schon an den Augen gesehen, was die gerade dachten, als ich auftauchte. Ich wäre dort zum Wanderpokal geworden, wenn nicht der Sheriff mein Auto gefunden und mich im Dorf gesucht hätte. Seitdem bin ich immer, wenn ich unterwegs bin, bewaffnet und das kann ich dir nur auch raten!“ Sie griff in eine Schublade und brachte eine Pistole zum Vorschein. Sie passte genau in die Hand einer Frau, war silbern und nicht sehr schwer.

„Hier, mein Geschenk für dich. Das Ding hat acht Schuss und haut jeden Angreifer um. Wir werden auf dem Schießstand mal testen, wie gut du bist“, lachte sie und drückte Valerie die Waffe in die Hand. Dann griff sie ein zweites Mal in die Schublade und brachte einen kleinen braunen Holster aus Leder zum Vorschein.

„Du brauchst einen Gürtel, um das Ding einzuhängen. Und immer schön unter der langen Bluse oder einer Jacke hinten auf der Pobacke tragen, damit sie niemand sieht. Oder hast du das bei mir schon mal gesehen?“ Valerie schüttelte den Kopf.

„Nö, ist mir nie was aufgefallen. Man kann denken, das ist ein Handy oder sowas“, meinte sie. Amelia lächelte.

„Siehst du Schwester, so lernst du langsam, wie man sich als Frau im Wilden Westen bewegt.“ Valerie lachte erst, dann erzählte sie ihrer Freundin von ihrem Westernreiten, Lasso werfen und Holzhacken. Amelia war begeistert und so machten sie mal Pläne, wie sie die nächste Zeit verbringen wollten neben der Arbeit. Und dabei war es nicht zu vermeiden, dass Valerie beinahe täglich mit Mario in Kontakt kam. Inzwischen hatte sich eine Art friedliche Koexistenz zwischen ihnen herausgebildet. Aber wenn es ging, versuchte Mario sich ihr wieder zu nähern. Nicht mehr so aufdringlich wie am Anfang, aber stetig bemüht, sie nicht aus den Augen zu lassen. Gelegentlich traf sich Valerie mit Henry und Amelie ebenfalls mit einem Franzosen aus Quebec. Aber seit ihrem alkoholisierten Absturz damals blieb Valerie eisern. Und auch Henry zeigte ihr stets, wie sehr er sie mochte. Manchmal war es Valerie beinahe selbst peinlich, immer so abwehrend zu sein. Und so ließ sie dann auch mal einen Kuss zu beim Tanzen. Und eines Tages kam es dann zum Aufeinandertreffen zwischen dem Franzosen Henry und Mario. Und wie nicht anders zu erwarten, zog der gute Mario dabei den Kürzeren und hatte am nächsten Tag ein ziemlich blaues Auge. Am Schluss des Abends hatte sie dann Henry ziemlich sauer gefragt:

„Sag mal, machte es dir eigentlich Spaß, hier die Eiserne Lady zu spielen, über die schon jeder Kerl im Lager spricht?“

Und obwohl ihr Amelia unter dem Tisch auf den Fuß trat, ging Valerie an die Decke:

„Warum verdammt nochmal denkt ihr Kerle immer, dass wir nur darauf aus sind, die Beine breit zu machen? Ich suche derzeit keinen Mann. Hast du das immer noch nicht begriffen! Ich will meine Ruhe haben, nicht mehr und nicht weniger, ohne Stress mit brunftigen Kerlen!“

Henry war aufgestanden, hatte etwas Geld auf den Tisch geworfen und war wortlos rausgegangen. Amelia sah sie von der Seite an und strich über ihre Hand.

„War das jetzt notwendig? Er war nur höflich und hat sich etwas geärgert über dich. Was er gesagt hat, musst du nicht so bierernst nehmen. Eigentlich war das ja ein Lob.“ Valerie sah ihre Freundin mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Na, du machst mir vielleicht Spaß! Die haben doch nur eins im Sinn, mit uns in die Kiste zu steigen! Und zu Hause haben sie dann noch Weib und Kind.“ Amelia lachte verhalten.

„Henry ist solo, er ist geschieden. Und außerdem, was ist denn schon so schlimm an einer kleinen schnellen Nummer, he?“ Das ist doch nur gut fürs Wohlbefinden, meinte jedenfalls meine Oma mal zu mir, da war ich gerade achtzehn geworden.“ Valerie schüttelte den Kopf.

„Nö, Mario liegt mir immer noch im Magen. Auf so ein Theater kann ich gut verzichten. Ich frage mich allerdings, was der immer noch hier macht. Immerhin hat man ihm ja den Vertrag gekündigt.“ Amelia grinste.

„Es gibt aber auch andere Männer als deinen Mario. Wenn du alle verprellst, sitzt du eines Tages mal als alte einsame grauhaarige Frau im Schaukelstuhl und hast gerade mal eine Katze als Lebenspartner. Willst du das haben?" Valerie verneinte:

„Nö, natürlich nicht. Du hast ja recht, Schwester! Lass uns nach Hause gehen und ins Bett – unschuldig und unberührt wie ein paar heilige Nonnen!“ Und so verließen sie lachend und Arm in Arm den Saloon und sahen dabei nicht den Mann, der auf der anderen Straßenseite im Dunkeln gestanden und sie heimlich beobachtet hatte.

Doch die Frage, was Mario noch hier oben machte, ging ihr nicht aus dem Kopf, und so nahm sie sich vor, mit dem Projektleiter mal in aller Ruhe zu reden.

Wie vereinbart hatte Valerie ihren ersten Reisebericht mit Bildern an die Redaktion nach Hamburg geschickt. Schon kurze Zeit später kam ein großes Lob zurück.

Eines Morgens wurde sie vom Chefplaner des Projekts, Mister Liam Adams, angerufen und gebeten, in sein Büro zu kommen.

Als sie eintrat, standen schon zwei Kaffeetassen und Gebäck auf dem Tisch und Liam Adams führte sie nach einer kurzen Begrüßung zu seiner ledernen Sitzecke. Sie setzten sich. Er musterte sie erst einen Moment, dann sprach er sie direkt an:

„Miss Brunner, wie Sie wissen gibt es eine Reihe von Leuten hier oben, die gegen unser Projekt sind. Morgen Abend findet in Enterprice eine Versammlung der Gegner unseres Projekts statt. Sie müssten mich dahin begleiten, da sie ja für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig sind. Bereiten Sie sich bitte gründlich darauf vor mit Zahlen und Fakten. Abfahrt ist 17:00 Uhr, hier vom Camp aus.“

Jetzt wurde es zum ersten Mal ernst und Valerie setzte sich an den Schreibtisch und begann, möglichst viele Fakten zu sammeln. Denn die neue Eisenbahnlinie brachte auch eine Menge Vorteile in diese öde Gegend, und diese musste sie den Leuten schmackhaft machen. Bis spät in die Nacht hinein arbeitete sie und Amelia staunte über Valeries Arbeitswut. Da sie noch den ganzen Vormittag dafür Zeit hatte, legte Valerie sich schließlich gegen 0:00 Uhr ins Bett.

Als sie am nächsten Tag kurz vor 17:00 Uhr am Camp ankam, warteten schon die beiden Bauleiter Brown und Gorgon. Henry begrüßte sie gewohnt höflich. Brown, der sich mit Mario angefreundet zu haben schien, war kurz angebunden. Dann kam Adams endlich mit dem Wagen und sie fuhren los. Eine halbe Stunde später kamen sie am Veranstaltungsort an und staunten. Jack Brown meinte:

„Na, sagt mal, wo kommen die alle her? Sind die alle aus ihrem Busch gekrochen.“ Eine Einstellung, die Valerie nicht gefiel. Als sie den Saal der Baracke betraten, begannen einige zu pfeifen, ein paar andere applaudierten. Ohne darauf einzugehen, gingen sie nach vorn zur Bühne und setzten sich.

Der Ortsvorsteher, ein Rancher mit zwei Elchherden, eröffnete die Versammlung und begrüßte die Gäste. Seine kurze Einführung zeigte, wo die Bedenken der Einheimischen lagen. Als er geendet hatte, sah Adams Valerie an und nickte ihr kurz zu. Oh je! Valerie rutschte das Herz ein Stück tiefer, als sie aufstand, um nach vorn zum Pult zu gehen. Doch dann konzentrierte sie sich auf das, was nun kam.

„Ladys und Gentlemen! Danke für Ihre Einladung, der wir gerne gefolgt sind. Es liegt uns viel daran, dass wir dieses Projekt im Interesse aller Beteiligten zu einem Erfolg machen. Diese Bahn bringt nicht nur Waren und Menschen, sie bringt auch Kunden, die hier Geld ausgeben wollen. Einerseits bei den ortsansässigen Händlern, andererseits aber auch als Urlauber, die sich an der tollen Natur erfreuen wollen. Wir müssen nur alle dafür sorgen, dass es keine negativen Auswirkungen geben wird. Und warum sollen ihre Kinder nicht einmal statt mit dem Auto mit der Bahn in die großen Städte reisen? Reden wir nicht immer alle von einer gesunden Umwelt, in der wir leben wollen? Und noch ein Argument spricht für die Bahn: sie bringt Arbeitsplätze in Ihre Gegend. Wenn Sie das alles zusammenrechnen, dann können Sie dabei nur gewinnen.“

Valerie sprach fast eine halbe Stunde und als sie geendet hatte, gab es plötzlich eine Reihe von positiven Wortmeldungen. Es gab aber auch welche, die vor der Kriminalität warnten, die damit verbunden sein würde. Am Ende war der Abend aber ein Erfolg und Valerie musste noch zahlreiche Fragen beantworten, nachdem die Veranstaltung schon beendet war. Und einer war total von ihr begeistert – und das war Liam Adams. Auf dem Rückweg getraute sie sich, ihn wegen Mario anzusprechen. Und Adams, der konzentriert auf die Straße sah, meinte übergangslos:

„Ich habe gehört, dass Mister Hansdorf Ihr Freund sein soll. Das verwundert mich eigentlich ein wenig. Aber er war für diese Aufgabe nicht mehr tragbar. Deshalb haben wir uns darauf geeinigt, dass er seinen Nachfolger noch einarbeiten soll, bevor er seine Zelte abbricht. Werden Sie mit ihm wieder nach Deutschland gehen?“

„Nein, Mister Adams. Ich habe mich von ihm getrennt und wohne derzeit bei Amelia Smith. Es war höchste Zeit und ich hätte es schon längst in Deutschland machen müssen, aber ich dachte, dass er hier mit seinen Aufgaben wächst. Aber das war wohl eine Fehleinschätzung. Er ist eigentlich kein schlechter Kerl. Man hat ihn von zu Hause aus sehr verwöhnt und er musste noch nie so eine Aufgabe allein bewältigen.“

Adams sah sie lächelnd von der Seite an und nickte dabei.

„Ich schätze, Sie werden Ihren Weg hier bei uns machen. Sie bringen alles mit, was man zum Erfolg braucht. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie bis zum Schluss unserer Aufgabe hierbleiben würden.

Am nächsten Morgen trafen Adams und Mario im Flur der Baracke aufeinander. Und Adams voll des Lobes meinte zu ihm:

„He, Mister Hansdorf! Ihre Verlobte hat uns gestern Abend einen vollen Erfolg beschert! Sie hat großes Potential und kann es noch weit bringen!“

Und als Mario etwas murmelnd entgegnete und einfach vorbeilief, schüttelte Adams den Kopf und meinte dann mehr zu sich: „So ein Benehmen ist doch unmöglich.“ Dann ging er weiter seines Weges. Der Deutsche war ihm irgendwie nicht sehr sympathisch im Gegensatz zu seiner Ex-Verlobten.

Seit Tagen herrschte ein echtes Festlandklima, Temperaturen um die 20 Grad, dafür aber auch Schwärme von Mücken, die sich besonders in Flussnähe wohl fühlten. Valerie musste wegen einer Lieferung von Plakaten zum örtlichen Büro der Landesregierung. Das „Rone wable Resources Office“ lag etwa 5 Kilometer vom Ortskern entfernt in einer kleinen Seitenstraße. Gleich daneben gab es einen Shop für Schneemobile. Und so fuhr Valerie an diesem Morgen die ausgefahrene Straße entlang, wo man bereits in etwa 250 Meter Entfernung begonnen hatte, ein erhöhtes Gleisbett aufzuschütten. Im Büro empfing sie eine ältere Dame mit Hornbrille und rotem Kostüm. Mrs. Wilson begrüßte Valerie sehr freundlich und übergab ihr die Plakate. Bei einem Kaffee hatten sie Zeit, sich ein wenig auszutauschen, und es stellte sich heraus, dass Mrs. Wilson schon vor vielen Jahren einmal in Hamburg gewesen war und die Stadt ganz gut kannte. Draußen auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein junger Mann an einem Baum gelehnt und beobachtete das Office schon eine ganze Weile. Als Valerie das Office wieder verließ, trat der Mann aus dem Schatten des Baumes heraus und kam über die Straße direkt auf Valerie zu. Gerade als sie in den Ford „Maverik“ einsteigen wollte, hielt er die Tür fest und grinste sie an. Valerie war sichtlich überrascht.

„Hallo! Was machst du denn hier?“, fragte sie Mario so belanglos wie nur möglich. Er stellte sich so hin, dass sie die Wagentür nicht schließen konnte.

„Ich wollte nur mal sehen, was du so den ganzen Tag treibst“, erwiderte er grinsend. Valerie deutete auf ihre Plakate.

„Die habe ich gerade abgeholt. Und du, hast du nichts zu tun?“, fragte sie zurück. Er winkte ab.

„Es klemmt wieder mal und wir kommen nicht vorwärts“, beklagte er sich, um dann sofort nachzulegen:

„Würdest du mit mir mal abends auf ein Bier ausgehen?“ Valerie musste lächeln. „Du gibst wohl nie auf. Ich habe ehrlich gestanden aber keine Lust, mit dir auszugehen. Da hat sich nichts geändert zwischen uns beiden.“ Mario nickte kurz.

„Klar, bei dem Andrang! Hast dich ja wohl schon längst wieder getröstet. Ich reiße mir den Arsch auf, dich hierher zu holen, und du gibst mir einen Tritt. Pass nur auf, dass du hier nicht zum Flittchen wirst!“ Valerie reichte es.

„Gehe bitte aus der Tür raus! Ich muss weiter. Und über meinen Ruf brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Auch wenn es dich nix mehr angeht, ich war noch mit keinem im Bett nach dir. Aber ich habe im Gegensatz zu dir hier gute Freunde gefunden. Du solltest vielleicht mal darüber nachdenken, warum du hier niemand findest, außer vielleicht diesen Suffkopf Brown!“ Dann warf sie die Tür zu, startete den Wagen und fuhr los. Im Rückspiegel sah sie noch, wie Mario ihr den Stinkefinger zeigte. Zornig ein- und ausatmend fuhr sie zurück zum Camp.

Im Büro angekommen, hörte sie ein Gespräch mit, welches hinter einer offenstehenden Bürotür geführt wurde. Adams, der Chef des ganzen Projekts, schien mit jemand zu telefonieren:

„Ja, Alex, sag mal, hast du den Hansdorf heute schon mal gesehen? Ich suche den Kerl schon seit Dienstbeginn. Er ist weder auf der Baustelle an der Brücke, wo er eigentlich sein müsste, noch im Store oder sonst wo. Der Kerl nervt mich langsam! Der denkt wohl auch, weil er der Konstrukteur der Brücke ist, ist er Gott persönlich! Aber wenn Hennesey endlich da ist, werde ich das Theater mit dem Deutschen beenden! Tschau!“ Dann war wieder Ruhe. Gerade als sie an dieser offenen Tür vorbei wollte, trat Adams heraus.

„Hallo Miss Brunner! Ich suche Ihren Verlobten. Haben Sie den heute schon gesehen?“, fragte er Valerie. Die schüttelte den Kopf und meinte dann kurz entschlossen:

„Da dürfen sie nicht mich fragen. Wir sind ja, wie ich schon sagte, kein Paar mehr. Wir haben uns vor vier Wochen getrennt.“ Adams nickte ein wenig. Plötzlich sagte er leiser:

„Vielleicht das Beste, was sie tun konnten! Keine Ahnung, was mit diesem Menschen los ist. Ein genialer Konstrukteur, aber als Mensch, na ja, schauen wir mal, wo er bleibt.“ Dann lief er weiter.

Valerie hatte Adams nichts davon erzählt, dass sie Mario erst vor einer halben Stunde getroffen hatte. Zu so viel Fairness fühlte sie sich schon noch verpflichtet. Aber was war mit ihm los? Seit sie hier oben in Kanada waren, war er wie verwandelt. Ab und an sah sie ihn mit einem Engländer hinauf zum Hafen am großen Sklavensee fahren. Wie sie erfahren hatte, traf er sich da oben am „Hy River Territorial Park“ mit irgendwelchen Leuten aus der Trucker-Transportbranche. Valerie hatte sich über diese Info bisher keine großen Gedanken gemacht. Um Holztransporte konnte es nicht gehen, denn das ganze Gebiet um Hy River war Naturschutzgebiet, hier oben durften nur ganz wenige Bäume gefällt werden.

An einem Sonntagmorgen ritten Amelia und Valerie wieder aus. Ihr Ziel war eine Bucht weiter südlich am Fluss, wo man sogar baden gehen konnte. Aber diesmal hatte Amelia Valerie dazu überredet, eine Waffe mitzunehmen, und ihr wieder ihren kleinen Revolver in die Hand gedrückt. Valerie hatte zuerst gelacht über Amelies Hartnäckigkeit, dann aber doch nachgegeben. Und so ritten sie nun schon seit einer Stunde durch den lichten Laubwald. Wieder sahen sie eine Reihe von Tieren. Zuerst begegneten sie einem Wolfspärchen, was nach Amelias Meinung doch recht ungewöhnlich war, da Wölfe ja bekanntlich in Rudeln unterwegs waren. Kurz darauf tauchte eine kleine Herde Elche auf, die zwei Kälber dabeihatten. Doch die beiden Frauen waren auf Abstand bedacht und ritten einfach weiter. Sie umrundeten gerade eine Felsenkuppe, als sie den Puma sahen, der oben auf dem Felsen geduckt dahockte.

Amelia zog langsam ihr Gewehr aus dem Futteral und lud durch. Dann legte sie die Waffe quer über ihre Oberschenkel. Die Pferde waren unruhig geworden und wollten weg. Valerie hatte alle Mühe, ihre Stute noch im Zaum zu halten. „Storm Brigde“ schnaufte und scharrte aufgeregt mit den Hufen. Valerie redete ihr leise beruhigend zu und streichelte sie. Amelias Falbe „Rubio“ dagegen war die Ruhe selbst. Der Puma hockte immer noch da und fauchte. Amelia sah zu Valerie hinüber und meinte leise:

„Lass uns rückwärts weggehen, aber ihm auf keinen Fall den Rücken zuwenden. Komm jetzt!“ Und schon begann Rubio langsam, rückwärtszulaufen. Valerie hatte einige Mühe, es nun Amelia gleich zu tun. Und so entfernten sie sich im Schritttempo von dem Felsen und dem Puma. Als sie weit genug weg waren, ritten sie weiter und Amelia meinte:

„Du kannst zwar reiten, wie ich gesehen habe, aber du musst es unbedingt mal üben, dass die Stute auch auf dein Kommando rückwärtsgeht. Pferde machen das zwar ungern, aber sie muss das können. Das kann sonst mal böse ausgehen, wie du gesehen hast.“ Valerie musste ihrer Freundin Recht geben.

Nach zwei Stunden erreichten sie ein altes kleines Holzhaus. Es schien unbewohnt zu sein. Und gerade als sie auf das Ufer zureiten wollten, hörten sie plötzlich Motorengeräusche im Wald. Hinter einem Gebüsch blieben sie stehen, um zu sehen, wer da hier mitten im Wald herumfuhr. Erst tauchte ein Ford auf, den Valerie sofort erkannte. Das war Marios Wagen! An der alten Holzhütte hielt der „Maverick“ an. Mario und der etwas ältere Engländer stiegen aus und gingen dann in die Hütte hinein.

Amelia und Valerie sahen sich fragend an. Was machte Mario hier? Inzwischen waren sie von den Pferden abgestiegen und hatten sich noch ein Stück weiter entfernt, um nicht aufzufallen. Wenig später hörte man dann Motorenlärm vom Fluss herauf und es erschienen zwei weitere Männer, die gemeinsam eine Kiste zur Hütte hinauftrugen.

Neugierig geworden hatten die beiden Frauen die Pferde angebunden und waren doch etwas näher an die Rückseite der Hütte herangeschlichen. Drinnen hörte man eine hitzige lautstarke Diskussion. Man schrie sich gegenseitig an und es polterte heftig. Plötzlich knallte es. Darauf ertönte Geschrei und kurz darauf flog die Tür auf und einer der beiden, der diese Kiste gebracht hatte, kam mit erhobenen Händen wieder heraus. Der Engländer brüllte ihm nach:

„Hau ab mit deinem Gemisch! Wenn du uns verarschen willst, musst du früher aufstehen! Lass dich ja nie wieder hier blicken!“ Der Mann nahm die Beine in die Hand und rannte zu seinem Boot zurück. Wenig später hörte man, wie es davonfuhr.

Aber was die beiden Frauen dann sahen, ließ ihnen das Blut in den Adern erstarren. Ihr Mario und der Engländer schleppten den schlaffen Körper eines Mannes aus der Hütte und einige Meter weiter in den Wald hinein. Dann kam Mario zurück und kam mit zwei Schaufeln und einer Hacke wieder aus der Hütte. Offenbar war der zweite Mann aus dem Boot erschossen worden und sollte nun eingegraben werden. Nach einer halben Stunde war die Aktion offenbar zu Ende und Mario und der Engländer fuhren wieder weg. Valerie war völlig fertig. Amelia hatte versucht, das Ganze mit dem Handy aufzunehmen.

„Wenn ich es nicht selbst erlebt hätte, ich könnte es nicht glauben. Einer von beiden hat den Kerl erschossen“, meinte Valerie. Amelia nickte und sah ihre Freundin ernst an, als sie fragte:

„Was machen wir jetzt?“ Valerie stand vom Waldboden auf. „Wir gehen jetzt genau dorthin, wo sie den Kerl vergraben haben, und ich mache ein Bild von dem Grab.“

Und schon machten sie sich auf den Weg. Nach kurzer Suche hatten sie das Grab gefunden. Valerie machte ein paar Bilder davon und Amelia legte ein paar Holzzweige so als Kennzeichen hin, dass man das Grab wiederfinden konnte. Zum Glück hatte aber Amelia die beiden aus dem Boot mit der Kiste mit dem Handy fotografiert. Sie sah Valerie an.

„Wenn wir das der Polizei schicken, sind die beiden dran!“ Doch Valerie schüttelte den Kopf und sah Amelia flehend an:

„Amelia, mach das noch nicht, bitte! Ich will erst mit Mario reden.“ Amelia sah sie entgeistert an.

„Bist du verrückt! Ich kann dir sagen, was passieren wird. Du wirst genauso enden wie dieser arme Kerl da im Grab!“ Doch Valerie schüttelte den Kopf.

„Nein Amelia, er wird mir nichts tun. Dafür kenne ich ihn zu gut. Bitte, lasse mich erst mit ihm reden!“ Amelia zuckte mit den Schultern.

„Du bist alt genug, aber das, was die beiden gemacht haben, war blanker Mord! Und selbst wenn dein Mario dich schonen wollte, sein Kumpan wird das nicht mitmachen. Denn du bist eine Gefahr für beide!“ Plötzlich meinte Valerie zu ihrer Freundin:

„Lass uns mal sehen, ob wir in die Hütte reinkommen. Diese Holzkiste muss ja noch drinnen stehen.“

Durch eine kleine Hintertür kamen sie tatsächlich in die Hütte hinein. Mit vorgehaltener Waffe schlichen sie sich den kurzen dunkeln Flur entlang, bis sie den Raum erreichten, in dem das Verbrechen stattgefunden hatte. Amelia sah Valerie an und meinte:

„Aber nix anfassen, damit wir keine Spuren hinterlassen!“ Mitten im Raum stand auf dem Tisch die geöffnete Kiste. Auf dem Fußboden sah man Blutflecken. In der Kiste lagen etwa zwei Dutzend kleine Päckchen mit einem weißen Pulverinhalt. Amelia nahm ihr Messer und öffnete eins davon, dann kostete sie vorsichtig eine Messerspitze voll davon. Sie verzog das Gesicht und nickte:

„Dein Mario und der Engländer wollten hier Stoff kaufen. Nur leider ist das Zeug mit Milchzucker und Backpulver gestreckt. Daher kam es wohl zum Streit. Das mit diesem Mist hier oben gehandelt wird, ist keine Sensation. Auch wenn die Polizei sehr streng ist, gehen immer wieder solche Deals über die Bühne. Meist kommt das Zeug von drüben, von den USA herüber.“ Sie machte noch zwei Bilder von der Kiste mit dem Inhalt. Dann verließen sie wieder die Hütte durch die Hintertür und Amelia wischte alles sorgfältig ab.

Da ihnen der Spaß zum Badengehen vergangen war, saßen sie wieder auf und ritten schweigsam heimwärts. Valerie überlegte die ganze Zeit, was sie nun tun sollte. Eigentlich mussten sie die Polizei informieren, da hatte Amelia wirklich recht.

Als sie wieder vom Reitstall heimwärts fuhren, meinte Valerie:

„Hör zu Amelia, ich werde mit Mario reden. Er muss sich der Polizei stellen. Wenn er nicht geschossen hat, kommt er mit einem blauen Auge davon. Aber man wird ihn wohl nach Hause schicken. Doch ich bleibe hier und erfülle meinen Vertrag.“ Amelia sah ihre Freundin mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Du musst wissen, was du tun willst. Ich rate dir davon ab. Aber du kannst dich auf mich verlassen. Ich werde schweigen, bis Mario sich gestellt hat. Ehrenwort, Schwester!“

Und so gaben sie sich die Hand. Valerie überlegte den ganzen Abend, wie sie vorgehen sollte. Am Ende kam sie zu der Überzeugung, dass sie Mario anrufen und sich mit ihm im Pub treffen wollte. Da der nächste Tag ein Sonntag war, konnte sie ihn am Morgen ja anrufen.

Zunächst war Mario Hansdorf ziemlich überrascht, als sich seine ehemalige Braut am Telefon meldete:

„Hei Mario! Ich hätte mich gerne einmal mit dir unterhalten. Hast du heute Abend Zeit?“ Für einen Moment war Ruhe in der Leitung, dann meinte er wortkarg:

„Was willst du noch von mir? Ich denke, wir haben uns nichts mehr zu sagen? Hast du es dir jetzt anders überlegt?“ Valerie holte tief Luft.

„Mario, ich muss mit dir was bereden. Es ist dringend! Warum, will ich jetzt nicht am Telefon erörtern. Also was ist?“ Er räusperte sich, druckste noch ein wenig herum und meinte dann:

„Na gut, um 20:00 Uhr im Hinterzimmer vom Pub. Sei aber pünktlich!“ Valerie versprach es und legte dann nachdenklich auf. Überglücklich hätte anders geklungen, das stand fest. Hatte er tatsächlich schon alles verloren geglaubt und war jetzt umso mehr überrascht? Na gut, sie würde sehen, wie er sich den Tatsachen stellen würde.

Valerie ist verschwunden

Kurz vor 20:00 Uhr betrat Valerie den Pub durch die Hintertür, weil der Nebenraum auf diese Art sofort zu erreichen war. Was sie jetzt überhaupt nicht brauchte, waren Bekannte oder Freunde. Amelia war am Nachmittag für drei Tage nach Edmonton geflogen, das lag 200 Kilometer westlich von Hay River im Bundesstaat Alberta. Sie wollte dort eine kranke Freundin besuchen.