0,99 €
»Video Killed the Radio Star«, sangen einst die Buggles. 19 Jahre später kroch Samara aus einem Fernseher, um Menschen, sieben Tage nach dem sie ein Video gesehen hatten, zu töten. In »Abgedreht und Aufgedreht« suchte ich diese Art von Geschichten. Geschichten, die unseren Umgang mit Medien kritisch hinterfragen und Szenarien aufzeigen, die jenseits des Vorstellbaren liegen. Tauche ein in die Welt von »Abgedreht und Aufgedreht« - wenn du dich traust.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Copyright © 2021 by Ben Kohler (Hrsg)
All rights reserved.
No part of this book may be reproduced in any form or by any electronic or mechanical means, including information storage and retrieval systems, without written permission from the author, except for the use of brief quotations in a book review.
Erstellt mit Vellum
1. Das MacBook
Karin Jacob
2. Die Plattensammlung
Marion Sauer
3. Das Diktiergerät
Vanessa-Marie Starker
4. Eden, 1986
Antje Bremer
5. Jungfernfahrt – mit dem Magnet-Express um die Erde
Nicole Siemer
6. Livestream
Markus Gottschall
7. Totenfotografie
Tanja Hanika
8. Gallu
Michael Hirtzy
9. Hilfe aus dem Hörspiel
Florian Krenn
10. Der Transkommunikator
Jessica Iser
11. Nennt mich nicht Boogieman
Rita Tiemann
12. Schlusswort
Ben Kohler
Andere Bücher der Autor:innen
Frustriert klappt Frank den Laptop zu und schlägt auf die Tischplatte. So wird das einfach nichts. Keine Ahnung, wie er die Deadline einhalten soll. Es ist zum aus der Haut fahren. Die Idee zu dieser Geschichte steht ihm glasklar vor Augen und doch will sie nicht aufs Papier kommen.
Sein Verleger wird ihn umbringen, wenn er den Termin schon wieder reißt. Und der Vorschuss ist auch schon weg. Warum ist es so schwer, diese Geschichte zu schreiben?
Er erhebt sich von seinem Schreibtischstuhl, wirft sich eine Jacke über den Arm und verlässt seine Wohnung. Vielleicht hilft ein wenig frische Luft dabei, seine Gedanken in strukturiertere Bahnen zu lenken.
Er schlendert durch die Gassen seines Viertels und grübelt über seine Geschichte nach. Überlegt, wie er die Handlung glaubhaft machen kann, spielt mit dem Wesen seiner Figuren. Auf seine Umgebung achtet er kaum. Als er nach einer Weile aufsieht, stellt er überrascht fest, dass er sich in einer ihm völlig unbekannten Gegend befindet. Ist er schon so lange unterwegs? Dem Stand der Sonne nach ist es später Nachmittag. Allzu weit kann er also eigentlich nicht gekommen sein. Jedenfalls nicht weit genug, um die ihm bekannte Umgebung hinter sich zu lassen, egal, in welche Richtung er sich gewandt hatte. Und doch: Nichts in seinem Blickfeld weckt auch nur die leiseste Erinnerung in ihm. Statt der gewohnten modernen Wohnblöcke sieht er heruntergekommene, altmodische Villen. Die Bäume, die den Straßenrand säumen, müssen schon seit mindestens 50 Jahren hier stehen.
Mit langsamen Schritten schlendert Frank weiter und betrachtet verträumt die alten Gebäude. Er atmet tief ein und stellt mit Verwunderung fest, dass der sonst allgegenwärtige Geruch nach Abgasen hier fehlt.
In der Nähe erklingt leise Musik und Frank hört Stimmen. Er nähert sich den Geräuschen und steht bald in einem kleinen Innenhof, in dem offenbar ein Flohmarkt stattfindet.
Die Musik stammt von einem alten Transistorradio, das an einem der Stände steht. Verzaubert von der Atmosphäre blickt Frank sich um. Knapp ein Dutzend Stände reihen sich an den Hauswänden auf.
Auf den Tischen steht der übliche Krempel. Aus der Mode gekommenes Porzellan, Pelzkleidung, alte Schuhe, zerlesene Bücher.
Er will sich gerade zum Gehen wenden, als sein Blick an einem Gegenstand hängen bleibt. Überrascht tritt Frank näher. Tatsächlich: ein altes MacBook. Ein sehr altes MacBook, vielleicht sogar eines der ersten Generation. Im Grunde nicht viel mehr als ein alter weißer Plastikkasten. Doch Franks Emotionen überwältigen ihn. Auf so einem MacBook hat er die erste Geschichte geschrieben, die er gewinnbringend veröffentlichen konnte. Viele Weitere waren gefolgt.
Er tritt an den Stand und streckt seine Hand nach dem MacBook aus.
»Funktioniert es noch?«, fragt er den Verkäufer, einen alten Mann mit zerzausten grauen Haaren.
»Ja, es funktioniert noch«, antwortet der Mann. »So alt ist es schließlich noch nicht.«
›Noch nicht so alt‹, wundert sich Frank. Immerhin war das Gerät bereits 2006 erschienen. Der Verkäufer hat eine komische Zeitvorstellung. Allerdings ändert das nichts daran, dass Frank das MacBook haben will.
»Was soll es denn kosten?«, fragt er. Im Grunde spielt der Preis keine Rolle, aber das muss er dem Verkäufer ja nicht auf die Nase binden.
»400 € müssen es schon sein«, lautet die Antwort. »Ist ja so gut wie neu.«
Frank schluckt. Das war fast der halbe damalige Neupreis.
»Hat meiner Tochter gehört«, nuschelt der alte Mann.
»Und warum möchte sie es loswerden?«, fragt Frank.
»Ist gestorben.«
»Tut mir leid«, sagt Frank verlegen.
»Ich kann ja mit diesem neumodischen Kram nichts anfangen«, erzählt der Verkäufer. »Aber meine Tochter war total besessen von diesem Ding. Hat immer behauptet, es könne Wunder vollbringen. Sachen entstehen lassen wie durch Zauberhand.«
›Das kann es auch, in gewisser Weise‹, denkt Frank. Ihm selbst ist es ebenso vorgekommen, als er auf seinem eigenen alten MacBook Geschichten geschrieben hat. Fast wie von selbst sind die Worte aufs Papier geflossen und haben sich zu einem gefälligen Ganzen verbunden.
Kurz überlegt Frank, ob er mit dem alten Mann handeln soll. Doch nach dessen Erzählung kommt ihm das pietätlos vor. »400 also«, sagt er stattdessen und zückt seinen Geldbeutel. Eigentlich wollte er mit dem Geld seine Schulden bei einem Freund zurückzahlen, aber das ist jetzt egal.
Seinen neuen Schatz unterm Arm macht Frank sich auf den Heimweg, begierig darauf, das MacBook auszuprobieren. Schon nach kurzer Zeit findet er sich in der ihm bekannten Umgebung seines Viertels wieder und erreicht bald seine Wohnung.
Das MacBook funktioniert, wie der Verkäufer behauptet hat. Selbst der Akku ist noch leistungsfähig. Mit dem Gerät auf den Knien sitzt Frank auf dem Sofa und lässt mit einer Mischung aus Bewunderung und Begehren die Finger über die Tastatur gleiten. Es fühlt sich fast an, als helfe das MacBook ihm dabei, zu schreiben. Angespannt öffnet Frank ein Dokument. Wie immer in letzter Zeit lähmt ihn der Anblick der leeren Seite und seine Finger verkrampfen sich. Mit gezielten Atemübungen zwingt Frank sich, zu entspannen. Er schüttelt seine Hände aus und lässt die Finger dann wieder sanft auf die Tasten sinken. Mit geschlossenen Augen fühlen seine Zeigefinger nach den Erhöhungen auf den Tasten F und J. Dann schreibt er.
Irgendwann während des Schreibens muss er eingeschlafen sein. Jedenfalls ist es mitten in der Nacht, als Frank zu sich kommt. Sein Rücken schmerzt höllisch und seine Beine sind taub. Das MacBook liegt noch immer auf seinen Knien, doch der Bildschirm ist dunkel.
Franks Kopf fühlt sich an, als sei ein Zug hindurchgefahren. Er wagt nicht, sich anzuschauen, was er fabriziert hat. Wenn er es überhaupt gespeichert hat. Stattdessen klappt er das MacBook zu, legt es auf den Schreibtisch und wankt ins Bett.
Als er das nächste Mal erwacht, ist es bereits später Vormittag. Frank quält sich aus dem Bett und steigt unter die Dusche. Er fühlt sich noch immer benommen, als hätte er ein starkes Schlafmittel genommen. Die Dusche hilft ein wenig, aber nicht genug. Vielleicht sollte er zuerst einen Spaziergang zum Bäcker machen und sich dort ein Frühstück holen, ehe er sich mit dem auseinandersetzt, was er letzte Nacht geschrieben hat.
Als er deutlich besser gelaunt mit zwei frischen Semmeln zurückkommt, sieht er einen seiner Nachbarn, der wutentbrannt vor dem Haus auf- und abläuft. Mit hochrotem Kopf brüllt er in sein Handy. Frank schnappt etwas auf von wegen »Auto abgeschleppt«.
›Na endlich‹, denkt Frank, dem das riesige Schlachtschiff, das ständig die Feuerwehranfahrtszone blockiert, schon lange ein Dorn im Auge war. Schlagartig verbessert seine Laune sich weiter.
Beschwingt betritt Frank seine Wohnung, macht sich eine Tasse Kaffee und setzt sich mit seinen Semmeln an den Schreibtisch.
Mit verkrampften Fingern klappt er das MacBook auf. Nichts rührt sich. Der Bildschirm bleibt schwarz.
»Verdammt«, murmelt Frank und wischt mit dem Finger auf dem Touchpad umher. Immer noch nichts.
Endlich kommt er auf die Idee, den Laptop an den Strom anzuschließen und siehe da: Der Bildschirm erwacht zu neuem Leben.
Das Dokument, an dem Frank letzte Nacht gearbeitet hat, ist noch geöffnet. Unglaublich! Er hat über 20 Seiten geschrieben! Für diese Menge Text hat er in letzter Zeit Wochen gebraucht.
Mit heftig pochendem Herzen beginnt Frank zu lesen. Wenn dieser Text auch nur halbwegs brauchbar ist, war er gerettet.
Was er liest, zieht ihn sofort in einen Bann. Sein Blick huscht über die Zeilen, bis er plötzlich stockt. Da steht etwas von einem abgeschleppten SUV. Frank schmunzelt. Offenbar hat er sich so sehr über den falsch geparkten Wagen seines Nachbarn geärgert, dass er das in seinem Text thematisiert hat. Und dann ist es auch noch tatsächlich geschehen.
Mit einem leisen Lachen liest Frank bis zum Ende seines nächtlichen Ergusses und hat schon wieder die Finger auf der Tastatur liegen, um weiterzuschreiben. Er bemüht sich, mit seinen Gedanken Schritt zu halten und die Geschichte aufs Papier oder vielmehr die Festplatte zu bannen.
Er schreibt den ganzen restlichen Tag. Erst das Schrillen des Telefons reißt ihn aus seiner Trance. Überrascht stellt Frank fest, dass bereits die Dunkelheit hereinbricht. Mit schmerzenden Fingern nimmt er den Anruf entgegen und stöhnt, als er sich vom Stuhl erhebt.
Er beruhigt seinen Verleger, der wissen will, wie es um die Geschichte steht und verspricht ihm, in den kommenden Tagen einen ersten Entwurf zu schicken.
Das lautstarke Knurren seines Magens liefert Frank eine willkommene Ausrede, das Gespräch zu beenden. Er tappt zum Kühlschrank, holt eine angebrochene Packung Scheiblettenkäse heraus und stopft sich den Inhalt direkt aus der Packung in den Mund.
Als sein Hunger so weit gestillt ist, dass er zumindest wieder klar denken kann, beschließt er, sich eine Pizza zu bestellen. Scharfe Salami mit Peperoni und extra Zwiebeln. Seine Ex hat sich immer über seinen Mundgeruch beklagt, wenn er sich diese Leckerei gegönnt hat. Doch die Schlampe hat ihn erst betrogen und dann komplett sitzen lassen. Noch immer schnellt Franks Blutdruck in die Höhe, wenn er daran denkt. Er stößt einen vulgären Fluch aus, boxt gegen den Türrahmen und heult vor Schmerz. Genug davon! Er braucht seine Hände unversehrt, so gut, wie es gerade mit dem Schreiben läuft.
Während er auf die Pizza wartet, überfliegt er, was er tagsüber geschrieben hat. Nicht schlecht, gar nicht schlecht. Scheinbar hat sein Unterbewusstsein sich an die altbekannte Autorenregel erinnert, über das zu schreiben, was man kennt. Frank erkennt in dem Text sein eigenes Leben, wenn auch sehr verfremdet durch die literarische Form des Horrorthrillers. Aber das ist seine Wohnung, seine Nachbarschaft, seine Vergangenheit. Er muss lachen, als er liest, dass er seine Ex in eine gewaltvolle Beziehung geschrieben hat. Nicht, dass er im echten Leben irgendjemandem so etwas wünscht. Und doch, es tut gut, den Gedanken zuzulassen, sich in der Sicherheit einer fiktiven Geschichte so eine Realität auszumalen.
Sogar die gleiche Pizza wie er hat die Hauptfigur seiner Geschichte bestellt. Kein Wunder, dass Frank plötzlich so einen Heißhunger darauf verspürt hat.
Es klingelt, und Frank öffnet die Tür. Als er den Pizzaboten sieht, überläuft ein eiskalter Schauer seinen gesamten Körper. Er spürt, wie sich die Haare an seinen Oberschenkeln an der engen Jeans reiben. Seine Eier schrumpfen zu heißen, pochenden Klumpen zusammen. Der Typ sieht genauso aus wie in seiner Geschichte. Was zum …?
»Stimmt was nicht?«, fragt der Pizzabote. Dem Tonfall nach zu urteilen nicht zum ersten Mal.
Frank beißt sich kräftig auf die Zunge, um den Krampf in seinem Hirn zu lösen.
»Nein, doch, ich meine, alles okay«, stammelt er und fummelt ungeschickt einen Geldschein aus seiner Börse, den er dem Boten in die Hand drückt. »Stimmt so«, nuschelt er noch, ehe er dem Typ den Karton aus der Hand schnappt und ihm die Tür vor der Nase zuschlägt.
Mit der inzwischen fetttriefenden Pappschachtel in der Hand hastet Frank zurück zum MacBook. Er scrollt im Text zurück und liest erneut. Tatsache! Der Pizzabote in seiner Geschichte und der Kerl, der vor seiner Tür gestanden hat, gleichen sich aufs Haar. Aber wie ist das möglich? Frank ist sich sicher, den Pizzaboten noch nie zuvor gesehen zu haben.
Er grübelt. Wie haben die Lieferanten ausgesehen, die ihm früher das Essen gebracht haben? Frank kann sich beim besten Willen nicht erinnern. Ist es vielleicht doch schon früher derselbe gewesen, und sein Unterbewusstsein hat die Erinnerung heraufbeschworen? Es muss so sein …
Das Schrillen des Telefons reißt Frank aus dem Schlaf. »Mhhh«, brummt er verpennt in den Hörer. Als er das gequälte Schluchzen einer Frau hört, ist er schlagartig wach. Seine Ex …
»Sandra, bist du das? Was zum …?«
»Frank, ich … Entschuldige, dass ich dich störe, aber ich weiß nicht mehr weiter. Thomas hat mich geschlagen. Nicht zum ersten Mal, aber heute ist er total ausgerastet. Ich weiß nicht, was ich tun soll!« Sandra weint haltlos.
»Wo bist du?«, fragt Frank. »Ist das Schwein noch in deiner Nähe?«
»Nein, ich bin abgehauen. Ich sitze im Kolping-Park. Aber ich weiß nicht, wo ich hinsoll.«
»Du kommst zu mir!«, entscheidet Frank. »Ich hole dich.«
Nachdem Frank Sandra so weit beruhigt hat, dass sie in seinem Bett eingeschlafen ist, geht er noch mal Detail für Detail seine Geschichte durch.
Es ist schockierend, wie exakt alles stimmt. Der Name von Sandras neuem Freund, sein Aussehen, sein Auftreten. Dass er sie nicht zum ersten Mal geschlagen hat. Und dass er heute ausgeflippt ist. Sandra kann froh sein, dass sie so glimpflich davongekommen ist. Glücklicherweise hat Frank es gestern nicht mehr geschafft, sie ins Krankenhaus zu schreiben. Er schaudert. Er muss mehr über das MacBook erfahren. Offenbar hat er die Erzählung des alten Mannes zu sehr auf die leichte Schulter genommen.
Krampfhaft versucht Frank, sich an den genauen Weg zu dem Hinterhof-Flohmarkt zu erinnern. Seit über 2 Stunden irrt er nun schon durch die Gegend, ohne Erfolg. Er ist sich sicher, dass sein Heimweg nicht sehr lang war. Auch einige Passanten hat er bereits belästigt, doch keiner hat je etwas von einem Flohmarkt in einem Hinterhof gehört. Zumindest nicht hier in der Gegend.
Bei einem Obdachlosen, dem Frank hin und wieder ein paar Euro zusteckt oder einen Kaffee ausgibt, wagt er einen letzten Versuch. Der Mann verbringt mehr Zeit in den Straßen und Gassen als die meisten. Vielleicht weiß er etwas.
»Flohmarkt, ja, doch. Is’ aber lange her«, brummt Rolf. »Da hat der alte Eiser noch gelebt. Aber dann sin’ paar merkwürdige Dinge passiert. Seine Tochter is’ unter ungeklärten Umständen gestor’m. Ganz plötzlich. Und kurz drauf war auch der Eiser hinüber. Danach gab’s keinen Flohmarkt nicht mehr.«
Die Geschichte kommt Frank verstörend vertraut vor. Der alte Mann, die verstorbene Tochter …
»Der alte Eiser«, fragt Frank, »wie hat der ausgesehen?«
»Tja«, murmelt Rolf, »wie’n alter Kerl halt. Graue Haare, grauer Bart, nichts Besonderes. Ah doch, wart mal, der hatte eine Narbe unterm rechten Augenlid. Nicht groß, aber in einem bestimmten Winkel fiel die echt auf.«
Frank schluckt. Das war der alte Mann, der ihm das MacBook verkauft hat.
»Und der ist gestorben, sagst du? Wann war das?«
»Puh, das muss so Mitte 2000 gewesen sein. 2006 vielleicht.«
»Danke Rolf, hast was gut bei mir«, sagt Frank und springt auf. »Ich komm bald wieder vorbei und revanchiere mich.«
Wieder zu Hause entdeckt Frank einen Zettel am Schlüsselbrett. »Danke für deine Hilfe. Ich bin vorerst bei einer Freundin untergekommen. Sandra.«
Gut, eine Sorge weniger. Hastig klappt Frank sein Notebook auf, sein altes, nicht das MacBook. Das will er vorerst lieber nicht anrühren. Mit fliegenden Fingern recherchiert er die Erscheinungsdaten von Apple-Geräten. MacBook, 1. Generation. 2006. Passt genau.
Nur: Was passt genau? Dass der alte Mann 15 Jahre später noch so getan hat, als handle es sich um ein neuwertiges Gerät. Und was bedeutet das jetzt für Frank?
Sein Kopf schmerzt vom Grübeln, doch er kommt einfach nicht weiter.
Schließlich nimmt er doch das MacBook auf den Schoß. Vielleicht kann er wenigstens einen Teil der Geschichte ändern. Umschreiben. Notfalls löschen.
Mit klopfendem Herzen und schweißnassen Fingern klappt er das MacBook auf. Das Dokument mit seiner Geschichte ist noch geöffnet. Grauen steigt in Frank auf. Es ist länger geworden. Der Text hat nun stolze 114 Seiten. Frank ist sich sicher, dass es gestern erst an die 80 waren, als er ins Bett gegangen ist.
Er scrollt so weit zurück, bis ihm der Text bekannt vorkommt. Dann liest er. Entsetzlich, furchtbar! Alles steht dort, Sandras Dilemma, ihre hastige Flucht aus ihrer Wohnung, wie er ihr geholfen hat.
Dann ändert sich der Verlauf der Geschichte. Sandra hat seine Wohnung nicht freiwillig verlassen, sie ist nicht bei einer Freundin. Thomas hat sie ausfindig gemacht.
Erleichtert seufzt Frank auf. Er ist also doch nicht schuld an dem, was geschieht. Es geschieht nicht, weil er es schreibt. Was für eine lächerliche Idee.
Ein Geräusch aus dem Schlafzimmer lässt Frank aufhorchen. Es klingt, als sei etwas gegen die Wand gefallen. Frank geht nachsehen, doch der Raum sieht aus wie immer.
Beruhigt kehrt er ans MacBook zurück und liest weiter. Immerhin gilt es nach wie vor, seinen Verleger zufriedenzustellen. Vielleicht kann er das hier trotz aller Merkwürdigkeiten verwenden. Mit einem guten Lektorat …
Thomas hat Sandra also aufgestöbert und sie am Telefon derart bedroht, dass sie ihm die Wohnungstür geöffnet hat. Dann hat er sie ins Schlafzimmer gezerrt, sie bewusstlos geschlagen und in den Kleiderschrank geschubst. Dort ist sie mit einem dumpfen Poltern zusammengeklappt.
Ein dumpfes Poltern. Das beschreibt das Geräusch, das Frank gehört hat, sehr gut.
Dann schleicht Thomas zur Tür. Er hat gehört, dass Frank inzwischen zurückgekommen ist. Dem will er einen würdigen Empfang bereiten. Einen Überraschungsempfang.
Frank fährt herum. Hat da nicht eben der Boden geknarzt? Diese eine spezielle Stelle in der Nähe der Schlafzimmertür? Da – es steht im Text. Dreht er jetzt völlig durch? Hört er Sachen, die es nur in der Geschichte gibt? Oder …?
Hastig versucht er, mehr Text auf einmal zu lesen, um dem Geschehen voraus zu sein. Wenn er einfach …
Er platziert den Cursor in einer Zeile und beginnt hastig zu schreiben. »Thomas verhedderte sich in Franks auf dem Boden verteilten Klamotten und kam ins Straucheln.«
Noch während Frank schreibt, verändert sich der Text. Statt zu stolpern, schleicht Thomas weiter leise zur Tür und bereitet sich darauf vor, ins Wohnzimmer zu stürzen. Was er vorhat, ist völlig klar. Außerdem sieht Frank es schwarz auf weiß vor sich. Thomas will ihn umbringen.
Löschen! Jetzt hilft nur noch löschen!
Hastig drückt Frank das Kommando zum Markieren des gesamten Textes. Er schluckt schwer, als er die Entfernen-Taste drückt. Bye, Manuskript.
Nichts passiert. Weiß auf Schwarz leuchten die Buchstaben im markierten Dokument Frank entgegen, als lachten sie ihn aus. Er drückt erneut die Entfernen-Taste. Nichts.
Dann geschieht doch etwas. Der Text verändert sich. Doch er verschwindet nicht, wie Frank gehofft hat, sondern wird länger.
Von allein schreibt die Geschichte sich fort. Thomas öffnet die Schlafzimmertür und späht auf Franks Rücken. Frank ist hin- und hergerissen, wem er seine Aufmerksamkeit schenken soll: Thomas oder dem Text auf dem Bildschirm.
Letztlich ist es egal. Noch während Frank sich nach Thomas umdreht, hatte dieser ihn erreicht und sticht ihm sein Filetiermesser in den Hals.
Das MacBook fügt einen Absatz ein und schreibt ein letztes Wort:
ENDE
Die Zufahrt war von einer Kastanienallee gesäumt, die er durch den starken Regen, der unaufhörlich gegen die Autoscheibe klatschte, nur als grobe Umrisse erkennen konnte. Nach der langen Autofahrt konnte er kaum noch sitzen und war froh, wenn er seine Beine endlich aus ihrer abgewinkelten Position befreien konnte, in der sie sich die letzten vier Stunden befunden hatten. »Sieh mal, Justin«, meinte seine Mutter und deutete auf ein Haus, das am Ende der Zufahrt aufgetaucht war, »dort vorne ist es.« Das Gebäude hatte ein Mansardendach, Fensterläden aus dunklem Holz und einen kleinen Erker auf der hinteren Seite. Durch den vielen Regen waren die Büsche vor der überdachten Veranda vollkommen durchnässt und ließen ihre Blätter hängen, und der wolkenverhangene Himmel gab dem Ganzen etwas Tristes und irgendwie Verlorenes. Justin war sich sicher, dass an einem sonnigen Tag das Haus weniger traurig ausgesehen hätte, doch so spiegelte es seine momentane Stimmung perfekt wider. Der Kies in der Auffahrt knirschte laut, als das Auto vor dem Eingang hielt. Als er ausstieg, die Kapuze seiner Jacke über den Kopf gezogen, roch er als Erstes den Wald, der direkt an das Grundstück grenzte. Nasser Waldboden und halb vermodertes Laub, um genau zu sein. Es war eine seltsame Mischung und er konnte sich nicht ganz entscheiden, ob er sie mochte oder nicht. Auf jeden Fall würde er sich daran gewöhnen müssen, so viel stand fest. Immerhin war dies hier eine Hundertachtziggradwende von der trockenen Asphalthitze im Sommer und dem unaufhörlichen Verkehrslärm der Stadt, in der er die gesamten fünfzehn Jahre seines bisherigen Lebens verbracht hatte.
»Kannst du das bitte ins Haus tragen?«, meinte Justins Vater und drückte ihm einen Karton in die Hand, der mit Deko/Wohnzimmer beschriftet war. »Die Umzugsleute müssten auch bald hier sein, aber wir können ja schon mal mit dem Kleinkram anfangen.« Den Karton so weit es ging vor dem Nieselregen schützend, stieg Justin die Stufen der Veranda hinauf zur Eingangstür. Die Doppeltür aus dunkel gebeiztem Eichenholz stand weit offen und aus dem Inneren des Hauses konnte er hören, wie seine Mutter bereits durch eine Handvoll Kisten kramte. Der Eingangsbereich war mit einem weiß-schwarz gemusterten Fliesenboden ausgelegt, auf dem seine Schritte in dem hohen Raum widerhallten. Auf der rechten Seite war eine Treppe mit einem Schmiedeeisengeländer, das zu eigenartigen Blumenornamenten geformt war und die in das obere Stockwerk führte.
»Sind das die Rahmen?«, fragte seine Mutter, die aus einem angrenzenden Raum links kam, der sich nach einem kurzen Blick durch die Tür als Küche entpuppte. »Das Wohnzimmer ist gerade durch.« Sie zeigte auf eine große Glastür gegenüber dem Eingang. Justin nickte und seine Mutter verschwand wieder in der Küche, um den Rest auszupacken.
Als Justin an diesem Abend im Bett lag, konnte er nicht einschlafen. Alles war neu und ungewohnt. Das Zimmer mit dem großen Erkerfenster, durch das das Mondlicht direkt auf sein Gesicht fiel, weil seine Fenster noch keine Vorhänge hatten. Der Geruch von leicht abgestandener Luft, den er trotz stundenlangen Lüftens nicht ganz herausbekommen hatte. Selbst das große Doppelbett, dessen Matratze zu hart war und das so viele Kissen hatte, dass er förmlich in ihnen versank. Alles war anders und er mochte es nicht. Genervt drehte er sich von einer Seite auf die andere, in der Hoffnung, endlich schlafen zu können. Es war seltsam ruhig im Haus und Justin wusste nicht, was er mit dieser ungewohnten Stille anfangen sollte. Was er gewohnt war, war der stetige Verkehr unten auf der Straße vor seinem Fenster und das weit entfernte Hupen von Autos, der Bass der Musikanlage seines Nachbarn, der um zwei Uhr nachts gedämpft durch die Wand zu hören war, wenn er eine seiner wöchentlichen Partys feierte und das Reden von nächtlichen Passanten unten am Gehweg, wenn er wieder einmal vergessen hatte, das Fenster zu schließen. Bevor er hierhergekommen war, war ihm nicht bewusst gewesen, wie sehr er sich an all das gewöhnt hatte, bis es plötzlich nicht mehr da war. Jetzt war das Einzige, das er hören konnte, das Knarren der alten Holzdielen und hin und wieder der Schrei einer Eule, die in einem nahe gelegenen Baum sitzen musste. Mittlerweile hatte es aufgehört zu regnen und der Himmel war klar und wolkenlos. Justin stellte fest, dass er das erste Mal wirklich den Sternenhimmel sehen konnte. In der Stadt war alles immer so hell erleuchtet gewesen, dass selbst der Himmel aussah, als wäre er von Scheinwerfern bestrahlt worden. Doch so sehr er auch die funkelnden Konstellationen draußen vor seinem Fenster bewundern wollte, er sollte besser schlafen, wenn er an seinem ersten Tag nicht als Zombie verkleidet an seiner neuen Schule aufkreuzen wollte.