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Heiko Thieß

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Beschreibung

Ab wann wird aus Sprüchen Mobbing? Im 13. Jahrgang des Ernst-Barlach-Gymnasiums Lübeck scheint das kaum jemanden zu interessieren. Auf der Abi-Fahrt nach Berlin im Sommer 99 wollen sie einfach nur zu Techno tanzen, schief Karaoke singen und im legendären Partykeller des "Haus der Schreberjugend" die 80er wiederbeleben. Rüdiger will vor allem die letzten Verbal-Attacken von René überstehen. Tobi will endlich Hautkontakt mit Tatjana aufnehmen. Juli will eigentlich Tobi. Der Herbergsvater will seine Ruhe. Und Herr Wilhelm will seinen Bildungsauftrag als Gemeinschaftskundelehrer bis zum Schluss übererfüllen. Doch was am Ende passiert, hat keiner gewollt.

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Seitenzahl: 294

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Heiko Thieß

ABIE 99

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Inhaltsverzeichnis

ANOTHER DAY IN PARADISE

SING HALLELUJAH

JOIN THE JOYRIDE

HOUSE OF LOVE

INSOMNIA

ZOMBIE

I WANT YOU TO WANT ME

HEROES

EVERYBODY DANCE NOW

LET ME SEE YOU STRIPPED

MORE AND MORE

RESCUE ME

WIND OF CHANGE

WINGS OF TENDERNESS

WON’T FORGET THESE DAYS

BACK FOR GOOD

Impressum neobooks

Inhaltsverzeichnis

ABIE 99

Impressum

Heiko Thieß c/o AutorenServices.de Birkenallee 2436037 Fulda

[email protected]

„O, nutze der Jugend schöne Stunden, sie wissen nichts von Wiederkehr …“

(Unbekannter Poet)

„Zum Glück!“

(Rüdiger)

Für alle Rüdigers

ANOTHER DAY IN PARADISE

Tobi parkte seinen fünfzehn Jahre alten Mitsubishi, der ungefähr so viel Öl wie Benzin soff, auf dem Supermarktparkplatz in der Nähe des Ernst-Barlach-Gymnasiums Lübeck. Was riskant war, seitdem es sich der neue Marktleiter zur Aufgabe gemacht hatte, den Parkplatz für seine Kunden zu verteidigen. Zumal auf der Heckscheibe von Tobis TÜV-Albtraum bereits der ironisch gemeinte Schriftzug „ABIE 99“ klebte. Dass keiner der Supermarktkunden in der hintersten Ecke parken wollte, spielte für den selbsternannten Blockwart keine Rolle. Als ob volljährige Fahrschüler etwas dafür konnten, dass man beim Bau der Schule um 19hundertdröffzig nicht an Schülerparkplätze gedacht hatte.

„Die letzten Tage vor den schriftlichen Prüfungen könnte man sich auch schenken“, stöhnte Flens, nachdem er seinen klapprigen Polo neben Tobis japanischer Antiquität abgestellt hatte.

„Bist du verrückt? Woher sollen unsere Mädels dann wissen, was in den Klausuren drankommt?“, spielte Tobi den Empörten.

Vor jeder Klausur ploppten dieselben bescheuerten Fragen auf – von den immergleichen, überspannten Leuten. Dabei hätte es so einfach sein können: Arbeitsblätter austeilen, bearbeiten, zwischendurch auf Toilette gehen zum Spicken, nach ein paar Stunden Arbeitsblätter abgeben und irgendwann mit viel roter Farbe zurückbekommen – bei manchen Lehrern früher, bei anderen später und bei Herrn Wilhelm kurz vor seiner Pensionierung. Aber nein, Tafelwischer, Laptop-Mitbringer, Sport-Asse und sonstigen Nervensägen mussten ihre Prüfungsangst mit Fragen bekämpfen, die so dumm waren, dass sie schon vor der Klausur eine Sechs gerechtfertigt hätten.

Erste Standardfrage: „Was kommt dran?“

Ja, was wohl?! Tobi spürte in solchen Momenten, wie hauchdünn die Decke der Zivilisation war. Ohne gewaltfreie Erziehung hätte er die Fragensteller sofort intensivstationsreif geschlagen. Stattdessen kam er seinen Lehrern manchmal zuvor und sagte so etwas wie:

„Also, ich bin kein Experte, aber ich schätze mal, dass genau das drankommt, was wir in den Unterrichtsstunden zwischen dieser und der letzten Klausur durchgenommen haben.“

Die nicht minder genervten Lehrkräfte versuchten daraufhin meist, ihr pädagogisch nicht ganz einwandfreies Grinsen zu unterdrücken und zählten resigniert alle Themen auf, die in exakt dieser Zeit durchgekaut worden waren. So lange, bis auch der Letzte, der nicht mit logischem Denkvermögen gesegnet war, beruhigt durchatmen konnte. Zumindest für einen kurzen Moment. Denn spätestens nach fünf Sekunden wurde jemand vom Geistesblitz getroffen:

„Das ist ja alles, was wir durchgenommen haben! Herr Wilheeelm!“ Alternativ wurden die Vokale eines anderen Lehrers in die Länge gequengelt. „Wie sollen wir das denn alles schaffen?“

Während der Klausuren wurde es leider nicht besser:

„Hier steht, wir sollen das anhand von drei Beispielen erläutern. Mir fallen aber nur zwei ein, reicht das auch? Und müssen wir die auch erklären?“

„Boah, nee, musst du nicht“, hätte Tobi am liebsten gerufen, „für deine Standard-Fünf reicht das locker.“

Die Krönung kam jedoch nach jeder Klausur:

„Ich hab doch aber geschrieben, dass das mit dem Krieg total blöd war und so. Wieso bekomm ich denn da keine Punkte? Die anderen haben doch auch welche bekommen!“

„Ja“, hätte Tobi als guter Pädagoge gern gesagt, „die anderen haben es aber auch richtig beschrieben. Und für Richtiges gibt es Punkte. Du hingegen hast verdammt nochmal keine Ahnung, also fang endlich an zu lernen!“

Vor der Schule bog Flens Richtung Raucherecke ab, um mit seinem Nikotinspiegel über die erste Doppelstunde zu kommen. Tobi nutzte die Gelegenheit für einen Besuch des Sanitärparadieses im ersten Stock. Die Toiletten waren noch maroder als der Rest der preußischen Schulkaserne. Das sollte was heißen. Gegen das Oeuvre der vergilbten, weil jahrzehntelang bepissten Fliesen in diesem Urinsteinbruch hätte auch ein Duftbaumwald nichts ausrichten können. Zum Leidwesen aller waren die Bahnhofstoiletten zu weit entfernt – sonst wären sie eine echte Alternative gewesen. Selbst das Wasser aus dem Hahn stank nach Gülle. Was dazu führte, dass sich einige völlig Verzweifelte kurz vor gefürchteten Klausuren unter den verseuchten Strahl hängten, um der nächsten Fünf zu entgehen. Lieber Durchfall als durchfallen.

Ein absoluter Insidertipp war die hinterste Kabine. Statt der üblichen Sichtschutzfenster gab es hier eine klare Fensterscheibe zum Hof. Wer den großen Auftritt liebte oder Anfeuerungsrufe aufmerksamer Schulhofbesucher brauchte, wenn es mal wieder etwas länger dauerte, war auf diesem Thron König.

Jeder ohne exhibitionistische Neigungen bevorzugte die etwas privateren Separees – hielt sich im natürlichen Lebensraum der gemeinen Hausratte aber nie länger als unbedingt nötig auf. Der einzige Vorteil eines solchen infernalen Verdauungsgasangriffs: Man wurde schlagartig wach. Was auch bitter nötig war, schließlich fing die erste Stunde bereits um halb acht an. In Worten: Siebenuhrdreißig!

„Warum nicht schon um sechs?!“, fluchte Tobi gern. Für ihn war alles vor neun Uhr das pure Morgengrauen.

Auf dem Weg zum Klassenraum wurde seine Laune selten besser. Der Flur war genauso dichtgeschissen wie die Klos – mit hunderten Schülern, die darauf warteten, dass die Klassenräume aufgeschlossen wurden. Dementsprechend war die Luft auch hier nur schwer zu verdauen. Wer immer noch an seinem Berufswunsch aus Kindertagen festhielt und Feuerwehrmann werden wollte, konnte immerhin den Einsatz ohne Sauerstoff trainieren.

„Wo haste denn deinen Freund gelassen?“ René hielt seinen Spruch – den er ungefähr jeden zweiten Morgen brachte – wie immer für sehr gelungen und grinste Tobi vor der Klassenzimmertür dümmlich an.

„Halt die Backen“, gähnte Tobi. Die bemühte Witzigkeit dieses Aufmerksamkeits-Junkies ging ihm schon lange auf die Nerven. „Rüdiger kommt zu Fuß, ich fahr mit dem Auto. Wie jeden Tag. Deinem Spruch fehlt also wie gewohnt die Pointe.“

„Uiuiui, Tobi ist im Krawallmodus“, tönte René effektheischend in die müde Runde.

„Nee, Tobi ist im Erwachsenenmodus. Einfach mal ausprobieren, René, tut nicht weh“, konterte Tobi und ließ sich erschöpft auf dem Linoleumboden nieder.

Kurz darauf bog Rüdiger um die Ecke und versuchte sich so lange wie möglich unsichtbar zu machen. Mit überschaubarem Erfolg.

„Da isser ja!“, jubilierte René. „Tobi hat dich schon vermisst.“

„Nur kein Neid, weil dich noch nie einer vermisst hat, René“, grätschte Tobi dazwischen und erntete ein paar verstohlene Lacher. Rüdiger stellte sich neben Tobi und hoffte, den Rest der Wartezeit ohne weiteren Spruch zu überstehen. Die Hoffnung auf einen ganzen Tag ohne Sticheleien und Mobbing hatte er längst aufgegeben.

Nach dem Klingeln kam Herr Möller wie gewohnt als einer der letzten Lehrer den Gang entlanggeschlurft. Natürlich zusammen mit Frau Schröder, seiner jungen Lieblingskollegin.

„Die haben was miteinander, ich sag’s euch“, sprach Tatjana aus, was alle dachten. Da sie aber gleichermaßen beliebt waren, gönnte ihnen jeder das vermeintliche Glück.

„Guck mal, die Scheintote grinst“, kommentierte Herr Möller Tatjanas wissendes Lächeln und stupste Frau Schröder in die Seite. Er hatte für fast jeden seiner Schützlinge einen Spitznamen. Tobi und Flens waren wegen ihrer Sprüche aus der hintersten Reihe Waldorf und Stadler. Madeleine taufte er wegen ihrer tadellosen Erscheinung und dem Perlweiß-Lächeln „Zahnarztfrau“. Die schüchterne Astrid war das quiekende Meerschweinchen-Küken, weil sie genauso klang, wenn sie mit der Hand vorm Mund lachte. Klaus war die Memme, da er ab dem Tag seiner Volljährigkeit immer neue Krankheitsgründe erfand, mit denen er seine selbstgeschriebenen Entschuldigungen veredelte – und Juli sein Lieblingskrüppel, nachdem sie vor ein paar Monaten mit Gipsbein und Krücken aus dem Skiurlaub zurückgekommen war.

„Herr Möller, ich bin nicht scheintot! Ich hab das gehört“, beschwerte sich Tatjana.

„Sagte die, die sich im Unterricht totstellt und nie meldet.“

„Ha, ha. Das heißt, wenn ich mich heute melde, hören Sie endlich auf, mich zu ärgern?“

„Nein. Dann erreichst du das Level der Untoten, so wie deine lieben Mitschüler“, grinste er und rief: „Na, Kinder, seid ihr alle wach?“. Das kollektive „Mmmhhh“ ließ ihn das Gegenteil vermuten.

„Gut, ich auch nicht“, seufzte er und schloss den Klassenraum auf.

„Also, ich bin wach, Herr Möller“, strahlte ihn der Einzige aus dem Englisch Leistungskurs an, für den er keinen kreativen Spitznamen brauchte. Paddy statt Patrick genügte vollkommen. In jedem Jahrgang gab es bekanntlich einen Bekloppten. Genauso wie es eine Jahrgangsschönheit wie Madeleine, eine vermeintliche Jahrgangsschlampe wie Tatjana und ein Jahrgangsarschloch wie René gab. Paddy war jedoch eine eigene Kategorie. Ein Typ, bei dem man sich immer fragte: Meinte der das jetzt ernst? Nur um Sekunden später verblüfft festzustellen: ja. Besonders seine selbstgeschriebenen Gedichte im Stile von Charles Bukowski, die er gern in großer Runde vortrug, sorgten für allgemeine Fassungslosigkeit und trieben jedem literweise Lachtränen in die Augen. Komischerweise wurde er trotzdem nicht gemobbt. Vermutlich, weil selbst Charakterschweine wie René mit liebenswürdigen Trotteln Mitleid hatten und sie irgendwie mochten.

Herr Möller lächelte milde: „Wie schön, dass wenigstens du wach bist, Paddy. Dann kann ich mich wieder auf deine ganz besonderen Fragen und kreativen Antworten freuen.“

„Mir fällt bestimmt was ein“, antwortete Paddy vergnügt.

„Hach, wegen euch bringen sie mich irgendwann noch in einen Raum, in dem die Wände nachgeben“, sinnierte Herr Möller und öffnete die Tür.

„Dafür würden wir sie in der Gummizelle aber auch alle besuchen kommen“, sagte Tobi im Vorbeigehen.

„Bloß nicht! Dann lassen die mich nie raus.“

Ohne einen Funken Feuereifer trotteten die anderen hinterher und ließen sich auf die zerschlissenen Stühle fallen. Das Standard-Mobiliar gab Tobi schon lange Rätsel auf. Wer suchte diese Knochenbrecher, Modell „Rücken-Tod“, bloß aus? Ein Kinderhasser? Ein Sadist? Oder einer, der von der Orthopäden-Lobby geschmiert wurde, um für einen nie versiegenden Strom neuer Patienten mit Haltungsschäden und Bandscheibenvorfällen zu sorgen? Immerhin passte die antike Einrichtung der Holzklasse perfekt zum baufälligen bis verschimmelten Gemäuer. Jede Mietwohnung wäre in einem solchen Zustand längst geräumt worden. Für Schüler reichte das noch locker. Zum Glück befand sich der Klassenraum nicht im „Neubau“: einem Anbau aus Presspappe, mit dem in den 70ern der Schulhof verschandelt wurde. Unnötig zu erwähnen, dass die Politik mit dieser Übergangslösung längst für die Ewigkeit plante. Oder zumindest, bis das Gesundheitsamt oder ein Statiker sich dazu durchringen konnte, seinen Job zu machen und die Baracke zu sperren.

„Herr Möller, bitte ins Sekretariat“, quäkte die Stimme der Schulsekretärin aus den Lautsprechern, die in jedem Raum hingen und wie immer auf Stadionlautstärke eingepegelt waren.

„Oh, das gibt ‘nen Anschiss“, unkte Flens.

„Ja, für dich, wenn du weiter so frech bist, Stadler“, konterte Herr Möller.

„Ich dachte, ich bin Waldorf.“

„Ruhe! Das gilt für alle. Ihr könnt schon mal eure Hausaufgaben rausholen, bis ich wieder da bin.“

„Wir hatten was auf?“, rief Annika entsetzt.

„Ach, Annika, du taubes Täubchen“, stöhnte Herr Möller.

„Davon haben Sie gestern nichts gesagt, ehrlich! Ich dachte, das sollten wir heute im Unterricht fertigmachen.“

Herr Möller winkte ab: „DU machst mich fertig.“

„Das tut mir jetzt wirklich leid. Das wusste ich echt nicht, sorry.“ Annika war eine von denen, die selten die richtige Antwort parat hatten, wenn sie drankamen – denen aber sofort einfiel, dass sie die Antwort doch wussten, nachdem sie ein anderer gegeben hatte.

Kaum hatte Herr Möller den Raum verlassen, übernahm René das Unterhaltungsprogramm – mit Rüdiger in der unfreiwilligen Hauptrolle.

„Sag mal Rüdiger, hat Dir Deine Mutti mal wieder die Klamotten rausgelegt?“ Wie alle Mobber lachte er extra laut, damit möglichst viele mitlachten – und keiner merkte, dass es gar nicht so viele waren. Rüdiger schwieg.

„Rüdiger, ich hab dich was gefragt“, setzte René nach.

„Und er hat offensichtlich keine Lust, dir zu antworten. Was ich sehr nachempfinden kann“, schaltete sich Tobi ein.

„Dich hab ich nicht gefragt.“

„Ich weiß. Dein fragwürdiges Verhalten beschäftigt mich trotzdem.“

„Oho, spielst du hier jetzt den Oberlehrer, oder was?“

„Nee, um sich anständig zu benehmen, muss man nicht studiert haben. Erziehung reicht. Schade, dass die bei dir nicht stattgefunden hat. Was uns zu der Frage führt, was deine Mutter eigentlich den ganzen Tag gemacht hat? Außer im Tennisclub Prosecco zu schlürfen.“

„Alter, bettelst du um Schläge?“

„Du bist so arm, das lohnt sich nicht.“

„Was?!“ René sprang auf und drückte sein Kreuz durch. „Wollen wir das direkt vor der Tür klären?“

„Mit Schlägen klärt man nix. Mit Schlägen stellt man sich ‘n Armutszeugnis aus. Was mich wieder zu meiner Aussage von eben bringt.“ Tobi hatte sich nur einmal in seinem Leben geprügelt: in der zweiten Klasse. Seine verbalen Giftpfeile waren deutlich wirkungsvoller als seine Schläge.

Als René gerade überrascht bis wütend seinen Stuhl beiseitetrat und auf Tobi zustürmen wollte, kam Herr Möller zurück.

„Was ist denn hier los?“ Es war einer der seltenen Momente, in denen er laut wurde.

„Der Arsch hat mich beleidigt“, rechtfertigte sich René.

„Welcher Arsch?“

„Tobi.“

„Du weißt aber schon, dass Arsch ebenfalls eine Beleidigung ist, oder?“, fragte Herr Möller. Zum Glück war der Rest deutlich schlauer als René. Und fleißiger als Annika. Sonst hätte selbst ein so ausgeglichener Lehrer wie er längst die Segel gestrichen. „Außerdem“, setzte Herr Möller nach, „frage ich mich, warum er dich beleidigt haben soll. Könnte es eventuell was mit deinem eigenen Verhalten zu tun gehabt haben? Ist nur eine Vermutung.“

René grinste übers ganze Gesicht. Erwischt.

„Schön, dann hätten wir das geklärt, meine Herren. Lassen Sie uns nun zum Unterrichtsstoff zurückkehren. Ich glaube, bevor die Stadionsprecherin mich ausgerufen hat, wollte uns Annika ihre Hausaufgaben vorlesen.“

„Was? Oah, Herr Mölleeer! Ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich …“

„Ja, ja, nicht gleich weinen. Wenn ich damals, während meiner Ausbildung zum Tischler, die gleiche Arbeitseinstellung an den Tag gelegt hätte wie du …“

„Jaha, dann hätten Sie es nie so weit gebracht, das wissen wir“, stöhnte Annika. Herr Möller liebte es, ausführlich von seinem kurzen Intermezzo in der echten Arbeitswelt zu berichten. Genauso wie vom lockeren Studentenleben mit seinem jetzigen Kollegen, Herrn Thiele, der die Informatikkurse an der Schule leitete. Aus diesem reichen Erfahrungsschatz schöpfte er unendlich viele Weisheiten, zum Beispiel über die Liebe: „Wer an der Uni keine abkriegt, sollte wirklich mal in den Spiegel gucken.“

Die Hausaufgaben waren ihm kurz vor dem Abi nicht mehr sonderlich wichtig. Ansonsten hätte er sicher eine härtere Gangart eingelegt. So beliebt er auch war – sein kleines rotes Büchlein, in das er unablässig Striche hinter die Namen seiner Schüler setzte, war gefürchtet. Doch in der letzten Woche vor den schriftlichen Prüfungen gehörten die Hausaufgaben nur noch zur freiwilligen Prüfungsvorbereitung. Annika schrieb sowieso immer Dreien.

„Sind denn bei denjenigen, die ihre Hausaufgaben gemacht haben, irgendwelche Fragen aufgetaucht?“, fragte Herr Möller und erntete allgemeines Kopfschütteln. „Gut, dann gehen wir jetzt ins Medien-Labor und bearbeiten mittels Internet-recherche ein wundervolles Arbeitsblättchen, dass ich extra für euch angefertigt habe.“

„Das wäre doch nicht nötig gewesen“, kommentierte Tobi aus der letzten Reihe.

„Doch, doch“, lächelte Herr Möller. „Besonders für dich, mein Lieber, habe ich mich ordentlich ins Zeug gelegt und ein paar knifflige Aufgaben zusammengebastelt. Schließlich bist du einer meiner Hoffnungsträger. Wehe, du schreibst in der Schriftlichen keine Zwei.“

„Das liegt ganz allein bei Ihnen und ihrer Aufgabenstellung“, sagte Tobi.

„Falsch. Das liegt einzig und allein bei dir und deinem Lerneifer. Auf geht’s.“

Das Medien-Labor war das Aushängeschild der Schule. Ein bedeutendes Zeichen für den rasanten technischen Fortschritt an dieser Bildungsstätte. Unterricht im Medien-Labor war etwas ganz Besonders. Vor allem etwas ganz besonders Langweiliges. Wenn zwanzig Rechner gleichzeitig auf eine heillos überforderte Internetleitung zugriffen, rückte die Zukunft nur in Superzeitlupe näher. Das installierte Windows 95 hätte Herr Thiele am liebsten längst aus dem Fenster geschmissen. Schließlich sollte bald die übernächste Version auf den Markt kommen. Aber so weit wollte es die Landesregierung mit der Digitalisierung dann doch nicht treiben. Sie hatte zwanzig Rechner angeschafft und mit Herrn Thiele einen Lehrer fortgebildet – das musste reichen. Halbgarer Aktionismus, wie üblich. So blieb das Ernst-Barlach-Gymnasium Lübeck vom Silicon Valley weiter entfernt als Modern Talking vom Grammy.

Kaum hatte Herr Möller die mit viel Liebe erstellten Arbeitsblätter ausgeteilt, wurden alle vom Feueralarm aus ihrem frühmorgendlichen Dämmerzustand gerissen.

„Schon wieder Probealarm?“, maulte Flens. „Langsam komm ich mir vor wie bei der unfreiwilligen Feuerwehr.“

„Okay, ihr wisst, was ihr zu tun habt: Taschen hierlassen und ohne Panik runter auf den Hof“, rief Herr Möller.

„Wer hat denn Panik?“, raunte Flens Tobi zu.

„Das frag ich mich auch. Ich spüre bloß Erleichterung. Vielleicht haben sich die Webseiten ja aufgebaut, bis wir wiederkommen.“

„Sicher. Und Tatjana schafft ihr Abi.“

„Das tut sie vielleicht auch! Ich hab sie nicht umsonst in meine Lerngruppe aufgenommen.“

„Du hast deine Lerngruppe allein wegen ihr gegründet. Und wegen Juli. Was bei mir für einen derart heftigen Knoten im Kopf sorgt, dass ich gar nicht sagen kann, wie bekloppt das ist.“ Flens wusste genau, dass Tobi bei Juli und Tatjana hin- und hergerissen war zwischen Herz und Hose.

„Das ist nicht bekloppt, das ist genial“, wehrte sich Tobi.

„Ach, was? Weil du die Eine mit der Anderen brutal eifersüchtig machen willst? Oder wie lautet dein teuflischer Plan?“

„So in etwa. Noch ist die Strategie nicht ganz aufgegangen, aber was nicht ist, kann ja noch werden.“

„Aber sicher doch“, sagte Flens kopfschüttelnd und ging tiefenentspannt auf den Flur.

Die regelmäßigen Feuerübungen waren noch sinnloser als ein Beichtstuhl im Bordell. Rollenspiele ausgenommen. Natürlich nahm dieses Ritual niemand mehr ernst. Jeder Zweite griff, trotz ausdrücklichen Verbots, zu seinem Rucksack – schließlich waren darin die Kippen und das Handy. Keiner wäre auf die Idee gekommen, in Panik zu verfallen. Oder in Eile. Gemächlich floss der Schülerstrom durch die Treppenhäuser in Richtung Schulhof. Einige überengagierte Referendare versuchten, ihren Schützlingen Feuer unterm Hintern zu machen. Aber welche Schülergeneration hat jemals Referendare ernstgenommen? Wer ernsthaft versuchte, mit Appellen wie „Für mich ist das auch die sechste Stunde!“ Ruhe in eine zwanzigköpfige Truppe spätpubertierender Jugendlicher zu bekommen, war eh nicht für den Job geschaffen.

„Hast du den Feueralarm ausgelöst, Rüdiger?“, rief René über den vollen Schulhof. „Stehst wohl auf heiße Feuerwehrmänner, was?“

Tobi stand mit Juli etwas abseits und verdrehte die Augen. „Der einzige Brandstifter ist René“, grummelte er.

„Ihr beide seid auch wie Hund und Katze.“ Juli zündete sich eine Zigarette an und blies Tobi den Rauch ins Gesicht.

„Willst du mich umbringen?“, hustete er.

„Mit Zigarettenqualm? Das dauert viel zu lange. Wenn ich dich umbringen wollte, würde ich einfach René auf dich hetzen.“

„Ach, und wie?“

„Indem ich ihm sage, dass du das Gerücht verbreitest, er würde Rüdiger nur ärgern, weil er in ihn verknallt ist. Nach dem Motto: Was sich liebt, das neckt sich. Der Rest ergibt sich dann von selbst.“

„Verstehe. Kurz und schmerzvoll.“

„Genau.“

„Hach, Juli, was hätte ich all die Jahre nur ohne dich gemacht?“

„Auf jeden Fall nicht dein Abitur.“

„Bitte? Wer hat dir denn Geographie beigebracht?“

„Ich glaub, der, dem ich versucht habe, Mathe beizubringen. Wobei ich zugeben muss, dass ich daran gescheitert bin.“

„Wohl wahr. Nur wegen dir komm ich nicht von meiner einzigen Vier runter.“

„Ja, nee, is‘ klar. An dir wäre selbst Graf Zahl verzweifelt.“

„Kein Wunder. Mir hätte ab der Achten höchstens Graf Buchstabe weiterhelfen können. Seitdem wir mit X und Y rechnen müssen, statt mit 1 und 2, bin ich raus.“

„Du hast es nicht leicht. Wollen wir uns was beim Bäcker holen? Ich glaub, das dauert hier noch ‘ne Weile.“

„Geniale Idee.“

Der Stamm-Bäcker von Juli, Tobi und dem Rest der Schule lag in unmittelbarer Nähe und hatte seinen ganz eigenen, heruntergekommenen Charme. Neben dem Verkaufstresen führte ein kurzer, schmaler Gang ins Hinterzimmer, das seit Jahrzehnten der Schülertreffpunkt Nummer eins war – während offizieller und selbst genehmigter Freistunden. Zur Auswahl standen fünf Tische mit Stühlen, die je nach Bedarf zusammen- oder auseinandergeschoben wurden, sowie zwei Stehtische mit Aschenbechern.

Juli bestellte sich einen Kaffee, Tobi bevorzugte eine heiße Schokolade. Kaffee machte zwar einen deutlich lässigeren und erwachseneren Eindruck, schmeckte dafür aber seiner Meinung nach beschissen. Den bitteren Geschmack von Bier mochte in Wahrheit auch keiner. Es taten nur alle so. Tobi blieb auf Partys lieber bei süßen Mischen, wenn er denn überhaupt Alkohol trank. Im Gegensatz zu René, der sich jedes Wochenende wegballerte und stolz davon berichtete, wenn er irgendwo in einer Hecke aufgewacht war. Wenn an einem Samstag mal keine Party stattfand, „feierte“ er allein – mit einer Flasche „Saurer Apfel“.

„Freust du dich schon auf die Abi-Fahrt?“, fragte Juli, nachdem sie sich mit ihren Getränken nach hinten verzogen hatten.

„Logisch. Wer nicht? Außer Rüdiger vielleicht.“

„Wieso? Weil er nicht so ‘n Party-Tier ist wie du?“

„Rüdiger ist noch nicht mal ‘n Party-Pantoffeltierchen. Vor allem ist er nicht besonders scharf darauf, eine Woche mit René zu verbringen. Mit Pech sogar in einem Zimmer.“

„Er hat‘s nicht leicht. Aber ‘n bisschen komisch ist er schon.“

„Er ist halt anders. Muss man jeden, der etwas anders ist, hänseln? Wieso kann man Leute, die man nicht mag oder komisch findet, nicht einfach in Ruhe lassen? Was hat man denn davon, die runterzumachen?“

„Tja, keine Ahnung. Musst du René fragen. Schätze aber, der weiß das selber nicht.“

„René ist ‘n Idiot. Ein verwöhntes Arschlochkind aus reichem Elternhaus, das mit allem durchkommt. Wahrscheinlich, weil sein Vater jeden verklagt, der seinem hochbegabten Stammhalter mit Konsequenzen droht.“

„Stimmt, der ist Anwalt, oder?“

„Ja. Aber nicht in der Lage, seinem Sohn den Unterschied zwischen Richtig und Falsch beizubringen.“

„So viel zur Diagnose, Herr Professor Freud. Und wie lautet Ihr Therapieansatz?“

„Zunge rausreißen und vorn Latz knallen. Ist aber leider nicht erlaubt.“

„Wir leben schon in einer verrückten Welt. Nix darf man mehr. Dabei wär es nur gerecht.“

„Eben. Alternativ würde es reichen, wenn wenigstens ein Lehrer mal Stopp sagt. Macht aber keiner. Macht nur Arbeit.“

„Er muss ja nur noch ‘n paar Wochen durchhalten.“

„Würde trotzdem helfen, wenn nicht nur ich was sage. Du kannst gern mit einsteigen ins Team Rüdiger.“

„Ich weiß. Mir fällt aber spontan nie was Gutes ein. Ich kann ja schlecht einen auf Frau Buchholtz machen und sagen: Also René, jetzt ist es aber genug“, ahmte Juli ihre alte Deutschlehrerin nach.

Tobi verschluckte sich fast vor Lachen an seinem Kakao.

„>Halt die Fresse<, würde schon reichen. Vielleicht lachen dann nicht mehr ganz so viele über Renés Sprüche und trauen sich sowas auch mal.“

„Ich werde mich bemühen“, gelobte Juli Besserung.

„Danke. Ich weiß das zu schätzen“, sagte Tobi milde lächelnd und stieß mit ihr an.

SING HALLELUJAH

„Heute ist ein historischer Tag“, verkündete Tobi.

„Wieso?“ Tatjana schaute ihn fragend an.

„Wir treffen uns das letzte Mal zum Lernen“, klärte Juli sie auf.

In einem Anflug von Ehrgeiz und Verantwortungsgefühl hatten sie auf Tobis Vorschlag hin vor zwei Jahren eine kleine, exklusive Lerngruppe gegründet. Seitdem trafen sie sich einmal pro Woche bei ihm und brachten ihre Synapsen im elterlichen Wohnzimmer zum Glühen. Geteiltes Leid war bekanntlich halbes Leid. Vor allem die obligatorische Kaffeepause zur Halbzeit machte das Büffeln deutlich erträglicher.

„Kinder, wat war dat schön mit uns“, seufzte Juli und legte ihren Stift beiseite.

„Aber auch anstrengend“, sagte Tatjana.

„Wohl wahr. Darauf ‘n Käffchen?“, fragte Tobi.

„Unbedingt“, antwortete Tatjana und sprang auf.

„Warum nicht. Wir sind ja fast durch“, beruhigte Juli ihr Gewissen.

„Eben“, sagte Tobi. „Was wir jetzt nicht draufhaben, kriegen wir eh nicht mehr in‘ Kopf.“

„In meinen Kopf passt sowieso nix mehr rein“, stöhnte Tatjana. Das glaubte Tobi ihr gern. Ihre Zulassung zum Abi hatte mächtig gewackelt. Ein Abi-Schnitt mit einer Drei vorm Komma wäre für sie schon ein Erfolg. Juli und Tobi konnten sich hingegen berechtigte Hoffnungen auf einen Schnitt von 2,0 machen. Je nach Ausgang der schriftlichen Prüfungen in der nächsten Woche und der mündlichen Prüfung nach der Abi-Fahrt.

„Und, Tatjana“, fragte Tobi, als sie in der Küche standen und der Kaffeemaschine bei der Arbeit zusahen, „freust du dich auch schon auf Berlin?“

„Was is‘ ‘n das für ‘ne Frage?“

„‘Ne rhetorische.“

„Na, dann bin ich beruhigt. Die Abi-Fahrt ist seit der Zwölften der einzige Grund für mich, überhaupt durchzuhalten.“

„Berlin ist bestimmt der Hammer“, freute sich Juli. „Wart ihr schon mal da?“

„Einmal“, sagte Tobi. „Mit meinen Eltern, ein Jahr nach der Wiedervereinigung. Damals sah der Osten aber noch aus wie ‘n Freilichtmuseum für die Nachkriegszeit. Mittlerweile müssten daraus ja blühende Landschaften geworden sein.“

„Wollens hoffen“, stöhnte Tatjana. „Unsere Jugendherberge ist nämlich in Kreuzberg. Die stand damals direkt neben der Mauer.“

„Echt? Na, dann kann uns Herr Wilhelm ja direkt vor der Tür lebendige Geschichte zeigen“, äffte Tobi seinen Gemeinschaftskundelehrer nach.

„Jetzt zieh das nicht ins Lächerliche“, ermahnte ihn Juli, „das ist eine Bildungsreise. Eine Kul-Tour, keine Sauftour.“

„Natürlich. Welcher Abiturient würde nach dreizehn Jahren Schule auf die Idee kommen, dass die Abi-Fahrt zum Feiern da ist? Wir lernen selbstverständlich bis zur letzten Minute, auch wenn wir das Abi längst in der Tasche haben.“

„So will ich das hören. Der Kaffee ist übrigens durch.“

Einige Tage später sollte sich der freiwillige Lerneifer und übermäßige Kaffee- und Kakaokonsum auszahlen. Die Woche der schriftlichen Prüfungen brach an. Für Tobi, Juli, Tatjana und viele andere bedeutete das: Montag Deutsch, Mittwoch Englisch und Freitag Gemeinschaftskunde. Damit keiner vom anderen abschreiben konnte, fanden ihre Klausuren im großen Musikraum statt. Deutsch und Englisch waren überraschend einfach, aber der gefürchtete Endgegner hieß Wilhelm.

Bevor am Freitag die Arbeitsblätter verteilt wurden, ließ Tobi seinen Blick noch einmal durch den Raum schweifen. Die Einzeltische seiner Sitznachbarn offenbarten auf den ersten Blick deren innere Verfassung. Es gab die Süßigkeiten-Junkies, die sich an die Vorstellung klammerten, dass Zucker ungeahnte Energien im Gehirn freisetzte und mangelndes Lernen ersetzen konnte. Im Schnitt lagen auf ihren Tischen mindestens 2.000 Kalorien. Die Stift-Elite hingegen platzierte mindestens fünf unterschiedliche Schreibgeräte parallel zur Tischkante. Obwohl sie die glasklaren Favoriten auf die Einser-Abis waren, hatten sie vor versagenden Schreibgeräten offensichtlich noch mehr Angst, als vor ihren Eltern, wenn es mit dem Medizin-NC doch nicht klappen sollte. Am nervigsten war jedoch die Streber-Fraktion: Leute, die ihre Arme so auf dem Tisch positionierten, dass niemand den Hauch einer Chance hatte, in einem unbeobachteten Moment abzuschreiben.

Ähnlich deutliche Unterschiede konnte man beim Aufsichtspersonal beobachten. Es gab die Adler, meist Mathe- oder Physiklehrer, denen weniger als nichts entging. Sobald einer den geringsten Anschein erweckte, dass sein Hals über das Normalmaß hinauswuchs und sich der Brennpunkt seiner Pupillen auf einen Nachbartisch verlagerte, stürzten sich die Adler auf ihr ahnungsloses Opfer. Sehr viel sympathischer waren die ZEIT-Leser. Ab und zu schauten sie von ihrer Akademiker-Lektüre hoch und taten ihrem Auftrag mit einem strengen Blick genüge, ehe sie sich wieder einer Reportage über Guatemala oder die Bildungskrise in Deutschland widmeten. Am beliebtesten waren die Bonbonverteiler. Lehrer wie Herr Möller, die Abschreibversuche nur mit einem Lächeln und einer Ermahnung quittierten wie: „Na, Tatjana, hat Sandra bisher alles richtig gemacht?“ Auch bei Nachfragen zu den gestellten Aufgaben konnten Verzweifelte bei ihnen auf letzte Hilfe hoffen und bekamen zur Aufmunterung noch einen Fruchtbonbon auf den Tisch gelegt. Was wiederrum zeigte, dass auch einige Lehrer an die magischen Placebo-Effekte von Zucker glaubten.

Apropos Verzweifelte: Tatjana hatte ihren Süßigkeiten-Vorrat schon vor dem ersten Pinkelpausenfenster halbiert. Damit sich die hinterlistigen Schüler nicht auf der Toilette absprechen konnten, gab es zwei Zeitfenster à zwanzig Minuten jenseits der regulären Pausenzeiten, in denen sie zumindest kurz auf den völlig nutzlosen Spickzettel, den jeder in einer Socke versteckt hatte, gucken konnte.

Tobi verzichtete auf derartige Verzweiflungstaten. Selbst der Endgegner, Herr Wilhelm, entpuppte sich als leichte Beute. Die Aufgaben entsprachen exakt dem, was er mit Juli und Tatjana gelernt hatte. Im Gegensatz zu Tatjana konnte er sich allerdings auch an alles erinnern. Vermutlich, weil er mehrfach versucht hatte, ihr alles zu erklären. Sowas übte enorm.

Rüdiger, der zwei Reihen hinter ihm saß, genoss vor allem die Tatsache, dass er am heutigen Freitag zum letzten Mal in der Schule sitzen musste. Nach den schriftlichen Prüfungen war es mehr oder weniger guter Brauch, nur noch bei Lust und Laune in die Schule zu kommen und dem Unterricht beizuwohnen. Für die restliche Zeit hatte der liebe Gott selbstgeschriebene Entschuldigungen erfunden. In der Regel ging man nur noch zu den Kursen, in denen eine mündliche Prüfung drohte.

„So, noch fünf Minuten“, rief Frau Buchholtz, die Herrn Wilhelm nach der Hälfte der fünf Stunden abgelöst hatte. Sie war in etwa so beliebt, wie das Fach, das sie neben Deutsch unterrichtete: Mathe. „Prüft bitte, ob ihr auf jedes Blatt euren Namen und die fortlaufende Seitenzahl geschrieben habt. In fünf Minuten fällt der Stift.“

„In fünf Minuten sind wir frei“, murmelte Tobi.

„Pst! Nicht reden!“, zischte die alte Buchholtz.

„Aber atmen darf ich noch, oder?“ Mit der Freiheit vor Augen sah Tobi keinen Grund mehr für unnötiges Duckmäusertum.

„Vorsicht, Tobi. Noch kann ich das als Betrugsversuch werten.“

Tobi lachte abfällig in sich hinein. Manche Lehrer merkten nie, wann sie sich mit ihrer übertriebenen Strenge völlig lächerlich machten. Bis zur letzten Minute ätzend, diese Frau. Passte zum Gesamteindruck der vergangenen neun Jahre. Tobi beeilte sich bei der Überprüfung seiner Arbeitsblätter, um ihr nicht den Gefallen zu tun, ihm in mittlerweile viereinhalb Minuten den Stift aus der Hand reißen zu können. Erleichtert lehnte er sich nach weiteren zwei Minuten zurück. Juli schien das Gleiche zu denken wie er.

„Freiheit“ formte sie mit ihren Lippen und strahlte ihn an.

„Freiheit“ flüsterte er lautlos und lächelte selig zurück.

„PAAARTY!!!!“, grölte René über die Wiese vor der Schule, auf der sich nach der Abgabe alle versammelten und entspannt in die Sonne blinzelten.

„Ich kann ihn nicht leiden, aber er hat recht“, sagte Tobi und ließ sich mit Juli und Tatjana neben den anderen auf den Rasen fallen.

„Stimmt. Raus mit dem guten Zeug!“, befahl Juli. Jeder hatte sich an die Verabredung gehalten und holte seine Lieblingsgetränke aus dem Rucksack. Die meisten hatten sich Alkopops oder Mischen eingepackt, manche ein Sixpack Bier und ganz Wenige „Saurer Apfel“, kleine Feiglinge oder vergleichbare Kotzmittel.

„Nie wieder Schule“, prostete Tobi den anderen euphorisch zu.

„Nie wieder die olle Buchholtz“, antwortete Juli.

„Nie wieder Zuckerschocks wegen ‘ner Klausur“, jammerte Tatjana und rieb sich den Bauch.

„Darauf einen süßen Alkopop“, sagte Tobi und versuchte, nicht auf Tatjanas gepiercten Bauchnabel zu starren.

„Flens, komm rüber.“ Tobi hatte seinen besten Freund sofort in der Menge entdeckt. Niemand sonst zündete sich bereits auf der Türschwelle die erste Kippe an. Mit zusammengekniffenen Augen trat Flens hinaus ins Tageslicht. Leicht orientierungslos schaute er sich um und trottete mit letzter Kraft zu Tobi.

„Na, wie lief’s diese Woche für dich?“, fragte ihn Juli.

„Mhm, ich sag mal so: Meine Bewerbung als Simultan-Dolmetscher bei den Vereinten Nationen muss ich wohl wieder zurückziehen. Aber wenn mich Günther Jauch was zum Föderalismus fragen sollte, bin ich hart dran an der Million“, sinnierte Flens.

„Das ist ja ‘n richtig nettes Sit-in hier“, schaltete sich eine bekannte Stimme in ihr Gespräch ein.

„Herr Möller, setzen Sie sich“, lud ihn Juli ein.

„Aber nur, wenn Sie auch was zu trinken dabeihaben“, schränkte Tatjana ein.

„Was? Nach allem, was ich für euch getan habe? Ohne mich würdet ihr jetzt nicht zur geistigen Elite dieses Landes gehören.“

„Da haben Sie vollkommen recht“, sagte Tobi. „Aber ohne Egoismus bleibt man nicht lange Teil der Elite, von daher …“

„… müsst ihr euch weiter wie Einzelkinder benehmen, ich weiß“, beendete Herr Möller den Satz. „Ich hab eh keine Zeit. Einer muss ja eure geistigen Ergüsse korrigieren. Wenn ich sie denn entziffern kann.“

„Ich hab extra in Schönschrift geschrieben“, beteuerte Juli.

„Das glaub ich dir sogar. Aber frag mal deine Mitschüler. Die haben das letzte Mal in der Grundschule was Leserliches zu Papier gebracht.“

„Bald ist doch sowieso alles digital“, verteidigte Tobi seine Sauklaue.

„Na, klar. Und wenn der Strom ausfällt, seid ihr wieder hilflos. Nee, nee, mit euch werden die Profs an der Uni ihre helle Freude haben.“

„So wie mit Ihnen, als sie zusammen mit Herrn Thiele bekifft zur Vorlesung gegangen sind?“, fragte Flens.

„Das war ein Mal!“, versuchte Herr Möller zu relativieren. „Na gut, zwei Mal. Sowas merkst du dir, ne? Aber englische Vokabeln sind zu viel verlangt.“

„Gar nicht wahr. Gras heißt auf Englisch weed.“

„Ich nehm‘ alles zurück. Trinkt nicht so viel. Ist noch nicht fünf Uhr.“

„Irgendwo auf der Welt ist immer fünf Uhr“, prostete ihm Tobi zu.

Als Herr Möller außer Hörweite war, wurde Flens sentimental. „Er wird mir fehlen.“

Dem konnte Tobi nur zustimmen: „Jep, er und Frau Schröder.“

„Die fehlt uns ja schon seit der Elften.“

„Stimmt.“

Frau Schröder wurde von allen heiß und innig geliebt. In der elften Klasse hatten sie das Glück, sie als neue Klassenlehrerin zu bekommen. Leider währte das Glück nur ein Jahr. Danach gab es Umstrukturierungen, die laut der Rektorin, Frau Schmidt, angeblich unumgänglich waren. Für die 12a wehte ab dem Zeitpunkt ein wilhelminischer Wind durchs Klassenzimmer. Vom zwischenmenschlichen Himmel in die pädagogische Hölle – mit Herrn Wilhelm als Klassenlehrer. Unterrichtsmethoden wie in den 60ern. Vermutlich trauerte er der Abschaffung der Prügelstrafe immer noch hinterher. Zumindest machte er den Eindruck, wenn er brüllend vor einem Delinquenten stand, der eine Frage nicht zu seiner vollsten Zufriedenheit beantworten konnte.

Damals waren sie drauf und dran, Frau Schmidt in einer ähnlichen Lautstärke deutlich zu machen, dass ihre Personalpolitik für die Tonne war. Aber was hätte das gebracht, außer einem noch angespannteren Verhältnis zu Herrn Wilhelm? Das zwölfte Jahr war ein einziger Kampf. Beide Seiten schenkten sich nichts. Herr Wilhelm war das genaue Gegenteil von Frau Schröder. Die vergangenen 50 Jahre des didaktischen Wandels waren spurlos an ihm vorbeigegangen. Frontalunterricht der alten Schule schien für ihn das Nonplusultra zu sein. Und wehe, jemand nickte bei seinen endlosen Monologen weg. Der Unglückliche war schneller wieder wach, als der Tafelstock auf seinen Tisch peitschte. Unter Schülern hieß Herr Wilhelm deshalb Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Auf den ersten Blick wirkte er relativ harmlos. Fast gutmütig. Doch sobald ihm etwas missfiel, verwandelte er sich in einen cholerischen Irren. Frau Schröder war umso herzlicher und humorvoller, ohne sich von faulen Schülern ausnutzen zu lassen wie Herr Möller. Zuckerbrot und Plüsch-Peitsche. Eine typische Jung-Lehrerin, die für ihren Job geboren war.

Es bedurfte diverser klärender Gespräche, zu denen hauptsächlich Tobi als Streitschlichter vorgeschickt wurde, um das Verhältnis zwischen der Klasse und Herrn Wilhelm einigermaßen zu stabilisieren. Anstatt sich im verbalen Kleinkrieg zu verzetteln, handelten sie einen Waffenstillstand aus – der von beiden Seiten immer wieder gebrochen wurde und neu gekittet werden musste. Ein Waffenstillstand war eben kein Friedensvertrag, aber immer noch besser als zwei Jahre offenes Gefecht.

„Wo haste denn deinen Freund gelassen, Tobi?“ René stellte sich vor die entspannt in der Sonne sitzende Runde und nahm sich eine von Flens‘ Zigaretten.

„Leg‘ doch mal ‘ne neue Platte auf. Und geh‘ mir aus der Sonne“, blaffte ihn Tobi an und schloss wieder die Augen.

„Dann gib mir ‘ne Antwort“, forderte René und stieß ihn mit dem Fuß an.

„Dann stell mir ‘ne vernünftige Frage.“

„Wo Rüdiger ist, will ich wissen.“

„Wozu? Um dich wieder vor ihm aufzublähen?“

„Aufzublähen? Im Gegensatz zu dir sorge ich wenigstens für gute Stimmung.“

„Wie bitte?“ Tobi öffnete die Augen. „Du vergiftest die Stimmung, das ist alles.“

„Jetzt bleib mal locker. Haste keinen Humor? Das kann Rüdiger schon ab. Wenn er was dagegen hätte, hätte er sich doch schon längst anders anziehen und normal benehmen können.“