Wir schreiben uns nur - Heiko Thieß - E-Book

Wir schreiben uns nur E-Book

Heiko Thieß

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Beschreibung

Beim Online-Dating gibt es nur die "Liebe auf den ersten Blick" – und deshalb für die allermeisten eine miese Erfolgsquote. Innere Werte sind komplett egal. Merle lässt sich nach ihrer Trennung beim therapeutischen Trinken von ihrer besten Freundin Ines dazu überreden, zur Ablenkung "FriendsFirst" auszuprobieren. Das Besondere an dieser neuen Dating-App: Es gibt keine Profilfotos. Was zählt, sind gemeinsame Interessen und die gegenseitige Sympathie beim Schreiben. Frühestens ab 100 Nachrichten kann im Chat ein Bild hochgeladen werden. Tom ist Merles erstes Match. Doch wie kommen sie beim Texten über den Small-Talk hinaus? Wie können sie sicherstellen, nicht mit einem Fake-Account zu flirten? Und wie sollen sie sich nur per Chatnachrichten wirklich kennenlernen? Merle und Tom finden dafür eine originelle Lösung. Doch die entscheidende Frage bleibt: Wie verhindern sie es, dass sie sich dabei nicht in ein Ideal verlieben, mit dem kein Foto standhalten kann?

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Heiko Thieß

Wir schreiben uns nur

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Ines, die Date Doktorin

Levi Story

Chat-Nachricht für Dich

Schokolade zum Abendbrot

Schlaflos in Helsinki

Frühstück bei Ines

Zwei an einem Abend

Eine ganze halbe Nacht

Save the first dance

Happy und Silly

Die fabelhafte Welt der Merle

Der Duft der Männer

Eine Brieffreundin zum Verlieben

Sweet Home Lübeck

Sunny Dancing

Bla Bla Land

Prettiest Woman

Frau mit Kater sucht Mann mit Herz

Darf ich bitten?

Was das Herz begehrte

Crazy, Stupid, Kurschlussreaktion

Liebe braucht Ferien

Vielleicht nur Freunde, vielleicht nicht

Das Schicksal ist ein mieser Wichser

Verrückt nach Merle (und Ines)

Impressum neobooks

Ines, die Date Doktorin

Wir schreiben uns nur

Impressum

Heiko Thieß c/o AutorenServices.de Birkenallee 2436037 Fulda

[email protected]

„Wie viel Wein muss man eigentlich trinken, um nicht mehr weinen zu müssen?“, fragte Merle und linste mit einem Auge in die leere Flasche Merlot.

Ihre beste Freundin Ines zuckte mit den Schultern und brach sich einen Riegel von Merles Liebeskummer-Schokolade im Duty-Free-Shop-Format ab.

„Ich schätze, du bist auf ‘nem guten Weg, alle Gehirnzellen mit Erinnerungen an Henning abzutöten. Insofern: nicht mehr allzu viel.“

„Sagte die Frau, die Wein für ein Grundnahrungsmittel hält.“

„Ist es ja auch! Zumindest in Frankreich. Außerdem war das gerade mal unsere erste Flasche.“

„Ja, heute! Aber eine Flasche Rotwein hab‘ ich noch.“

„Und warum iffft die noch nich‘ hier?“, fragte Ines mit dem gesamten Riegel Schokolade im Mund.

Merle unternahm einen halbherzigen Versuch aufzustehen, doch der Château de Tristesse in ihren Adern hatte etwas dagegen. „Weil ich die für einen besonderen Anlass aufbewahren wollte.“

„Hallo??? Du sitzt hier mit deiner allerallerallerbesten Freundin und stößt auf dein neues Leben an! Wieviel besonderer kann es noch werden?“

„Erstens bist du nur noch meine allerallerbeste Freundin, weil du meine ganze Schokolade wegmampfst, und zweitens versuche ich eher, mein altes Leben zu vergessen.“

„Die Weinflasche ist für dich immer halbleer, was? Jetzt denk doch mal positiv. Andere Mütter haben auch brauchbares Ablenkungsmaterial durch ihren Geburtskanal gepresst. Wir organisieren dir einfach ein paar Vergissmeinschnells.“

„Ein paar was?“

„Männer zum Spaß haben. Was du brauchst, ist Ablenkung. Wenn man aus dem Sattel gefallen ist, muss man schnell wieder aufs Pferd.“

„Ich hab mir beim Sturz aus dem Sattel aber das Herz gebrochen.“

„Ein Herz, das kann man reparieren“, sang Ines. „Wusste Udo Lindenberg schon in den 90ern. Also, wie wär’s mit Mike?“

„Wie kommst du denn auf Mike?“

„Hm, lass mich überlegen: Vielleicht, weil ihr auf jeder Party der letzten zehn Jahre heftig miteinander geflirtet habt?“

„Das war doch nur Spaß.“

„Eben. Genau darum geht’s ja. Du sollst Spaß haben.“

„Und was soll ich ihm schreiben? >Hey Mike, ich hab mich von Henning getrennt. Bock auf Bumsen?<“

„Nicht ganz so direkt, aber im Prinzip, ja.“

„Vergiss es.“

„Ok, dann Tinder?“ Ines sah Merle herausfordernd an.

„Nicht in dreitausend Jahren.“

„Ist das ein Ja?“

„NEIN!“

„Du musst dich mal was trauen, Merlilein.“

„Ich muss in Ruhe trauern. Henning und ich waren 18 Jahre zusammen.“

Ines seufzte. „Erwähntest du bereits.“

„Für immer, haben wir uns geschworen. Wenn auch ohne Trauschein.“

„Jup, auch das kommt mir bekannt vor.“

„Ich glaub, ich werde nie wieder einen Mann so lieben wie Henning. Zumindest nicht so, wie ich ihn am Anfang geliebt hab. Am Ende war durchaus Luft nach oben.“

„Die Luft war komplett raus. Kann es sein, dass deine Angst vorm Alleinsein größer ist als die Trauer um eure eingeschlafene Beziehung?“

„Möglich. Ich hab das Gefühl, mein Leben ist plötzlich eine riesige Black-Box. Bis vor sechs Wochen war alles vorhersehbar.“

„>Vorhersehbar< ist die pseudointellektuelle Schwester von >langweilig<.“

„Langweile gibt auch Sicherheit.“

„Du bist 35 und nicht 75, Merle.“

„Ich weiß. Wahrscheinlich ist es das Beste, dass wir uns getrennt haben. Fühlt sich aber trotzdem doof an. Vor allem, dass ER sich von MIR getrennt hat und nicht umgekehrt.“

Henning war Merles große Liebe gewesen. Allerdings wurde diese Liebe über die Jahre vom Alltag kräftig geschliffen. Seit Beginn ihrer Romanze auf dem Gymnasium war viel passiert. Damals hatte er das verwegene Image des coolen, älteren Jungen aus der Abschlussklasse. Mit Führerschein! Sie galt als die süßeste Siebzehnjährige des elften Jahrgangs. Ein Traumpaar. Doch in den letzten Jahren kamen sie sich vor wie ein altes Ehepaar. Irgendwann hatte Merle aufgehört, die Krisengespräche zu zählen. Das letzte verlief überraschend sachlich. Genauso überraschend war, dass Henning den Anfang machte und reden wollte – und eine „Trennung im Guten“ vorschlug. Merle hatte mehr als einmal mit dem Gedanken gespielt, Schluss zu machen. In 18 Jahren Beziehung blieb sowas nicht aus. Das hieß aber noch lange nicht, dass man es auch in die Tat umsetzte. Sie hätte durchaus versuchen wollen, die Beziehung zu retten. Zur Not mithilfe einer Paartherapie. Ob es etwas gebracht hätte, dieselben Probleme noch einmal unter professioneller Anleitung durchzukauen, wusste sie natürlich nicht. Aber sie hätte es wenigstens probieren wollen. Vielleicht.

Andererseits war sie am Ende genauso beziehungsmüde wie Henning. Wie oft hatte sie sich über seine Faulheit geärgert, wenn er das Wochenende lieber auf der Couch verbrachte, als etwas mit ihr zu unternehmen. In den letzten Jahren waren sie immer seltener miteinander ausgegangen. Seine Trägheit hatte ein Maß erreicht, dass kaum noch zu ertragen war. Eine Woche ohne Streit gab es zuletzt, als Wetten, dass…? noch regelmäßig lief. Mit Gottschalk, nicht mit Lanz. Offenbar hatten sie sich ganz unoriginell auseinandergelebt. Ihr gemeinsamer Humor war einem permanenten Angriffsmodus gewichen. Fast jeder zweite Spruch landete beim anderen im falschen Hals.

Auch der Sex war längst zur Routinegymnastik geworden. Soweit sie sich daran erinnern konnte. Der letzte „Koitus Langweilus“ war viel zu viele Nächte ohne feuchte Laken her.

Unterm Strich war es eine Erleichterung, dass endlich einer von ihnen gewagt hatte, das Unausweichliche auszusprechen. Eine Trennung schien die einzige Möglichkeit zu sein, ihre Freundschaft zu retten – oder das, was davon übriggeblieben war. Sie hoffte wirklich, dass sie Freunde bleiben würden. Dass sie in Zukunft mehr als nur Floskeln austauschten. Dass sie sich nicht erst in fünf Jahren zufällig beim Einkaufen wiedersahen und verkrampften Wie-geht’s-dir-Small-Talk führten. Doch vor all diese Dinge hatte der Teufel Ines‘ Quatschidee mit Tinder gesetzt. Der Antichrist im Körper ihrer angeblich besten Freundin atmete tief durch.

„Wir reden seit vier Stunden über Henning. Zum achten Mal in sechs Wochen. Das ist auch völlig okay. Jeder muss sich nach einer Trennung gründlich ausheulen. Auch ein Vollbad im Selbstmitleid ist absolut richtig und wichtig. Aber lange macht das meine Leber nicht mehr mit.“ Ines stürzte den letzten Schluck Merlot auf ex hinunter. „Außerdem bringt dich Selbstmitleid nicht zum Orgasmus.“

Merle brach ihren erneuten Versuch aufzustehen lachend ab. „Wie bitte?“

„Nach einer Trennung gibt es nichts Besseres, als einen hübschen Mann, der mit seinem kleinen Freund umzugehen weiß. Und mit seinen Fingern. Und mit seiner Zunge.“

„Ich hab’s verstanden. Ich glaub, die nächste Flasche Wein trinke ich lieber allein. Du hattest offensichtlich genug.“

„Ich werde gerade erst warm. Wir richten dir jetzt ein Tinder-Profil ein. Das wird lustig.“

„Für wen?“

„Ich denke dabei nur an dich. Wenn dir einer gefällt – und du ihm – fühlst du dich gleich viel besser.“

„Ich hör‘ dir überhaupt nicht zu.“

„Wo ist dein Handy?“ Ines schaute sich suchend um. Merle riss in gespielter Panik die Augen auf. Blitzschnell stürzten sie sich beide auf Merles iPhone, das neben der Schokolade lag.

„Wenn du das machst, bist du nur noch meine allerbeste Freundin!“, versuchte Merle das Schlimmste zu verhindern.

„Wenn ich dir damit zu einer unvergesslichen Nacht verhelfe, bin ich die Freundin des Jahres!“, rief Ines und erkämpfte sich den digitalen Schlüssel zum Single-Supermarkt.

Merle gab sich vorerst geschlagen und gewann dafür den Kampf gegen ihr promillegeschwächtes Gleichgewicht. Während sie den Rotwein aus der Küche holte, startete Ines den Download der Abschlepp-App.

„Hast du ‘n paar sexy Bilder von dir aufm Handy?“, rief sie in Richtung Küche.

„Untersteh‘ dich!“ Die Panik in Merles Stimme war dieses Mal nicht gespielt. So schnell sie konnte, rannte sie mit der Flasche Château de Teuer zurück ins Wohnzimmer. „Ich präsentiere mich doch nicht wie ein Stück Frischfleisch!“

„Ha, das heißt also, du hast versaute Fotos auf deinem Handy, du kleines Luder.“

„Rotwein gegen iPhone.“

„Das ist unfair“, jammerte Ines.

„Das ist Verhandlungsgeschick.“

„Ja, ja, da hast du deine Playboy-Fotos. Jetzt gib die Flasche her. Mama hat Durst.“

Erleichtert umklammerte Merle ihr Smartphone. Die Tinder-App war bereits geöffnet. Was soll’s, dachte sie sich. Sie konnte das Profil ja jederzeit löschen. Auf die perversen Nachrichten irgendwelcher „Verehrer“, die sowieso nur das Eine wollten, musste sie nicht antworten. Beruhigt von diesen Gedanken durchforstete sie ihre Bildergalerie nach einem möglichst wenig aussagekräftigen Foto. Um genau zu sein, suchte sie ein ganz bestimmtes. Das Foto, das Henning von ihr bei einem Herbstspaziergang am Strand aufgenommen hatte. Auf dem dank der untergehenden Sonne im Hintergrund nur ihre Silhouette und ihre langen Haare im Wind zu erkennen waren. Das sollte die meisten hormongesteuerten Typen auf Abstand halten.

„DAS Foto willst du als Profilbild nehmen?“, quietschte Ines, als sie sich zur Schokolade hinüberbeugte und dabei einen Blick auf den Bildschirm erhaschte. „Dir ist schon klar, dass Tinder über die Optik funktioniert?“

„Genau deswegen ja. Wer mich wirklich kennenlernen will, braucht keine Fotos mit tiefem Ausschnitt.“

„Wer dich bei diesem Foto nach rechts wischt, macht das bei jeder, um seine Chancen zu maximieren. Mit Speck fängt man Mäuse, Merle!“

„Ja, aber auch Ratten. Und was heißt hier eigentlich Speck? Bin ich etwa fett geworden?“

„Zickchen. Wobei, ‘n bisschen zugelegt hast du schon in den letzten Jahren.“

„Sagte die Frau mit hundert Gramm Schokolade im Mund.“

„Ja, deiner Schokolade! Ich helf‘ dir beim Abnehmen. Da siehste mal, wie lieb ich dich hab. Wirste mir noch dankbar für sein.“

„Wann?“

„Wenn du im Schlafzimmer deines ersten Tinder-Dates nicht daran denken musst, den Bauch einzuziehen.“

„Als ob ich da überhaupt hinwill. Wer nur auf der Suche nach einem One-Night-Stand ist, soll mich bitte sofort nach links wischen. Wer mich kennenlernen möchte – als ganze Persönlichkeit – kann mir gern schreiben.“

„Bei dem Foto? Merlilein, du hast echt keine Ahnung, wie es auf dem Single-Markt zugeht.“

„Ich war auch 18 Jahre glücklich vergeben.“

„Ja, nicht gleich wieder in den Depri-Modus umschalten, Süße. Wir sind gerade dabei, dich abzulenken.“. Ines seufzte. „Merle, du siehst aus wie gemalt. Das solltest du den Männern dieser Welt nicht vorenthalten.“

„Ich sehe aus wie gemalt?“

„Ja, und zwar wie von einem, der richtig gut malen kann. Nicht wie von ‘nem Dreijährigen gekritzelt.“

„Danke. Hoffentlich auch nicht wie von Picasso.“

„Nein, und auch nicht wie von Rubens. Obwohl du, wie gesagt, zwei, drei Pfund – aber egal. Mein Rat als Dating-Expertin lautet: Nimm wenigstens ein Foto, auf dem man dein Gesicht sieht.“

„Bin ich irre? Nachher erkennt mich einer und erzählt rum, dass ich auf Tinder unterwegs bin.“

„Wir haben 2019. Du tust so, als wär das ein anrüchiges Seitensprungportal aus der Frühzeit des Internets. Wobei …“, Ines runzelte die Stirn. „Egal. Das ist mittlerweile absolut normal. Die Welt hat sich in den letzten 18 Jahren weitergedreht, mein kleines Mauerblümchen. Wir wollen jemanden finden, der dich bestäubt, um sprachlich im Bilde zu bleiben. Du weißt doch noch, wie das funktioniert, mit den Blumen und den Bienen, oder?“

„Ich war 18 Jahre lang in einer Beziehung.“

„Eben. Wir wissen beide, dass schon länger nix mehr zwischen dir und Henning lief. Es sei denn, du zählst seine routinierten Begrüßungsschmatzer zu deinen erotischen Erlebnissen.“

„Ich nehm‘ dieses Foto und basta!“, versuchte Merle die Diskussion zu beenden. Sie lud das Bild hoch und schaltete das Handy zurück in den Stand-by-Modus. „Fertig.“

„Wie, fertig?“ Ines schaute sie ungläubig an.

„Na, das Bild ist hochgeladen. Jetzt können mich die Typen gern liken.“

„Das bringt aber nix, solange du nicht ein paar Typen zurücklikest. Erst wenn sich beide liken, kann man Nachrichten und irgendwann Körpersäfte austauschen.“

„Ich will gar keine Körpersäfte austauschen.“

„Aber ich. Also, ich will, dass du ... und so weiter. Ich selbst bin ja leider vergeben.“

„So klingt wahres Glück.“

Ines seufzte. „Ja, wie du weißt, ist bei Bernd und mir die Ekstase auch nur noch ein seltener Gast im Schlafzimmer. Ich möchte, dass es dir besser geht als mir. Und dass du für ein paar Momente nicht an Henning denken musst. Du wirst sehen: Das beschleunigt den Abnabelungsprozess.“

„Danke für den Tipp, Frau Doktor Freud.“

„Gern, die ersten hundert sind kostenlos.“

„Und was kostet es, damit du die restlichen 99 für dich behältst?“

„Kannst du dir nicht leisten. Jetzt nimmst du bitte wieder das Handy in deine Patschehändchen und likest ein paar heiße Typen.“

„Lässt du nie locker?“

„Hab‘ ich das jemals?“

„Nein.“

„Und deswegen liebst du mich so.“

„Tue ich das?“

„Ja, du vergisst es nur manchmal. Macht aber nix. Bin ich gewohnt. Ran an die Schnuckis!“

Widerwillig griff Merle nach ihrem Handy und wischte einen potenziellen Verehrer nach dem anderen nach links.

„Du musst die Hübschen nach rechts wischen, Merle, sonst wird das nix.“

„Die gefallen mir aber alle nicht.“

„Merle! Wenn du noch drei Typen nach links wischt, wisch ich für dich die nächsten fünf blind nach rechts.“

„Das tust du nicht!“

„Wollen wir wetten?“

„Lieber nicht.“

„Dann gib ein paar von denen eine Chance. Du musst dich ja nicht gleich mit denen treffen. Erstmal nur schreiben. Das lenkt schon super ab. Nicht, dass ich das aus eigener Erfahrung wüsste.“

„Natürlich nicht.“

„Im schlimmsten Fall findest du einen guten, neuen platonischen Freund.“

„Klar. Auf einer Dating-Plattform, auf der alle nur das Eine suchen.“

„Ach, was. Es gibt auch normale Männer.“

„Ja, aber die verirren sich nicht auf Tinder. Ich fühl mich einfach nicht wohl damit.“

„Elite Partner ist auch nicht viel besser. Kostet nur unnötig Geld.“

„Ich muss mich ja nicht unbedingt auf einer Dating-Plattform anmelden.“

„Doch. Und wir finden jetzt eine passende für dich.“

Ines war in ihrem Eifer nicht zu bremsen und googelte nach neuen Dating-Portalen, die besser zu Merles Schüchternheit passten.

„Das wär doch was: FriendsFirst. Wie für dich gemacht. Da lädt man keine Fotos hoch, sondern matched nur nach gemeinsamen Interessen und schreibt sich. Hier steht: >Liebe auf den ersten Blick gibt es – aber nur äußerst selten. Liebe braucht Zeit. Leider bekommt beim Online-Dating keiner die Chance, mit seinen inneren Werten zu faszinieren, wenn die Fotos nicht innerhalb von Sekundenbruchteilen für Schmetterlinge im Bauch des anderen sorgen. Wir finden: So kann es nicht weitergehen – und drehen den Dating-Spieß um. Bei uns stehen die inneren Werte im Mittelpunkt. Wir tricksen Euer übliches Beuteschema aus. Hier könnt Ihr digitale Brieffreunde finden und frühestens nach 100 Nachrichten ein Foto teilen – nach weiteren hundert das zweite usw. Unser umfangreiches Identifikationsverfahren und der detaillierte Fragebogen bieten dafür die nötige Vertrauensgrundlage. Gebt der Liebe auf den zweiten Klick eine Chance.<“

„Hm, klingt nicht verkehrt. Es sei denn, man wird dort tatsächlich von Fake-Profilen verarscht“, gab Merle zu bedenken.

„War klar, dass du fieberhaft nach einem Haken suchst. Aber das kann man ja mit ein paar gezielten Fragen schnell rausfinden.“

„Ach, echt? Und mit welchen Fragen?“

„Die denken wir uns dann gemeinsam aus. Erstmal melden wir dich da an.“

„Ich weiß nicht.“

„Aber ich. Komm, darauf stoßen wir an. Auf deinen ersten Orgasmus unter Zuhilfenahme eines Mannes seit laaaanger, langer Zeit. Das wird super!“

Levi Story

„Wie viele Umdrehungen hat der?“ Tom warf einen skeptischen Blick auf das Schnapsglas. Es war der letzte Abend seiner einwöchigen Recherchereise durch Finnland. Um diesen Anlass gebührend zu feiern, saß er wie üblich mit dem gesamten Team – einem Fotografen, dessen Assistenten, zwei örtlichen Tour-Guides und den Auftraggebern – in einem landestypischen Restaurant. In diesem Fall handelte es sich um ein Steakhouse 150 Kilometer oberhalb des Polarkreises im angesagten Wintersportort Levi. Empfehlung der Küche: Rentierfleisch. Offensichtlich konnte der Weihnachtsmann Rudolph, Donner und Blitzen entbehren.

Yussi, einer der Tour-Guides, sah Tom amüsiert an.

„Drink, drink!“

Widerwillig stürzte Tom den selbstgebrannten Blindmacher hinunter. Geschmacklich bewegte sich das lokale Nationalgetränk irgendwo zwischen Stroh 80 Rum und reinem Alkohol. Der Alkoholgehalt lag vermutlich im selben Bereich. Die bei allen am Tisch ausgelösten Schüttellähmungen erinnerten an Parkinson-Patienten im Endstadium. Wahrscheinlich hielt ein derart unkontrolliertes Zittern in der Polarkälte wärmer als der Alkohol.

Als freier Redakteur und Werbetexter, der auf Folgeaufträge angewiesen war, galt es, gute Miene zum lukrativen Spiel zu machen. Wenigstens war es die letzte Reise vor seinem langersehntem Osterurlaub. Abgesehen von solchen Pflichtveranstaltungen mochte er seinen Job. Wer bekam schon Geld dafür, an Orte zu reisen, die sich weit über der eigenen Gehaltsklasse befanden? Tom schrieb unter anderem für exklusive Reiseanbieter und deren Magazine, um reichen Menschen zu zeigen, wo sie einen ansehnlichen Teil ihres von Anderen hart erarbeiteten Vermögens auf den Kopf hauen konnten. Aktuell empfahl sich dafür eines der luxuriösesten Ski-Ressorts Finnlands. Schneesicherheit: 100 Prozent. Schnöselsicherheit: 110 Prozent.

Tom nutzte die erstbeste Gelegenheit zur Flucht und schlich sich auf sein Hotelzimmer, um dem obligatorischen Absturz an der Hotelbar im Anschluss an das Dinner zu entkommen. Die Nacht drohte sowieso viel zu kurz zu werden. Sein Flieger Richtung Heimat startete um acht Uhr früh. Die anderen konnten ausschlafen und entspannt gegen Mittag zum Flughafen fahren. In Toms Fall hatte die zuständige Agentur vergessen, seine Flüge rechtzeitig zu buchen. Konnte auch keiner ahnen, dass zum Saisonfinale über Ostern alles ausgebucht sein würde und nur noch die Verbindungen übrig waren, die sonst keiner haben wollte. Deshalb wartete am Flughafen Helsinki eine siebenstündige „Erholungspause“ bis zum Anschlussflug auf ihn.

Wie immer bewies sein bester Freund Christian optimales Timing und rief ihn via Facetime an, bevor Toms Stimmung angesichts der miesen Reise-Aussichten den Nullpunkt erreichen konnte.

„Na, wie ist Finnland?“

„Kalt.“

„Geht’s noch etwas genauer?“

„Arschkalt.“

„Ha, ha. Leidest du wieder unter Luxusproblemen?“

„Ich muss morgen um fünf Uhr aufstehen! Weil die Agentur zu dämlich war, mir rechtzeitig einen Sitz in der Mittagsmaschine zu buchen.“

„Das ist hart. Als wäre es nicht schlimm genug, dass du den weiten Weg zum Nordpol auf dich nehmen musstest. Während Leute wie ich im verregneten Hamburg in ihren warmen und trockenen Büros bleiben durften.“

„Du sagst es. Von diesen Reisestrapazen machen sich die meisten kein Bild. Heute musste ich zum Beispiel Rentiere essen. Also, wenn’s dieses Jahr keine Weihnachtsgeschenke gibt...“

„Trägst du auch noch diese Last auf deinen Schultern. Is‘ klar. Und wie sieht’s da oben aus?“

„Weiß. Der Schnee ist hüfthoch. Gefühlt kommt jede Nacht zwanzig Zentimeter Neuschnee dazu. Sieht sehr heimelig aus. Kleine Holzhäuschen mit verschneiten Giebeln, alles beleuchtet – steh ich drauf. Kommt man selbst im April in Weihnachtsstimmung.“

„Klingt doch nett. Und wie sind die finnischen Frauen? Genauso blond wie ihre skandinavischen Schwestern?“

„Keine Ahnung, ich hab nur russische Oligarchen-Gattinnen gesehen.“

„Dein Ernst? Hast du etwa vergessen, den Suchradius bei Tinder zu ändern, du Depp?“

„Passiert das nicht automatisch?“

„Nee, ‘n bisschen was musst du selbst tun.“

„Egal. Wenn ich die ganzen skandinavischen Blondinen im Suchradius sehe, will ich wahrscheinlich gar nicht mehr weg. Lass ich lieber. Außerdem war ich hier, um zu arbeiten.“

„Abends und nachts?“

Tom setzte sich auf die Hotelcouch. „Tinder ist out.“

„Sagt wer?“

„Typen wie ich, die dort keine abbekommen.“

„Wieso das denn nicht? So scheiße siehst du doch gar nicht aus.“

„Danke. Ich bin wohl eher der Typ, der im persönlichen Gespräch überzeugt. Auf Fotos komm ich nicht so geil rüber wie in echt.“

„Klar. Aber wenn du glaubst, aufgrund der Plattentektonik schon genug Bewegung aushalten zu müssen, irrst du. Man muss sich auch mal selbst bewegen und Frauen ansprechen.“

„Ja, ja. Jedenfalls hab ich mein Profilfoto bei Tinder grad auf geheimnisvoll umgestellt.“

„Will ich wissen, was das bedeutet? Guckst du mysteriös in die Kamera?“

„Nee, ich guck gar nicht in die Kamera. Bin kaum zu erkennen. Hab vom Fotografen ein Bild am Ski-Hang machen lassen – mit Sonne und glitzerndem Schnee im Hintergrund. Kannst nur mein markantes Profil und meine muskulöse Statur erkennen.“

„Bitte was? Kann ich das mal sehen? Nicht deine makellose Statur, sondern dein markantes Profil. Dreh mal den Kopf zur Seite.“

Tom drehte den Kopf nach links und setzte einen betont männlichen Gesichtsausdruck auf.

Chris nickte. „Du hast Recht, Tinder ist nichts für dich.“

„Du mich auch. Mich wischen nur die Gesichtsgrätschen nach rechts. Falls jemals eine Hübsche dabei sein sollte, ist die garantiert in einer festen Beziehung. Wie immer.“

„Was ja furchtbar wäre, wenn du auf Tinder eine hübsche Frau kennenlernen würdest, die fest vergeben ist. Die will bestimmt nur einen One-Night-Stand. Mag man sich gar nicht vorstellen.“

„Ich bin nicht der Typ für One-Night-Stands“, behauptete Tom.

„Jeder Typ ist der Typ für One-Night-Stands.“

„Ich könnte mir langsam eher wieder was Ernsthaftes vorstellen, glaub ich.“

„Klingt überzeugend. Warst du nicht der, der immer gemault hat, dass ihm seine Freundinnen zu dicht auf die Pelle gerückt sind?“

„Das stimmte ja auch. Es müsste halt eine sein, die nicht so klammert. Ein gesundes Maß aus Nähe und Distanz.“

„Gibt’s nicht.“

„Sagt wer?“

„Der Mann, der neun erfolgreiche Beziehungen geführt hat.“

„Die alle von dir beendet wurden.“

„Exakt!“, antwortete Chris triumphierend. „Weil ich lieber raus wollte, als bräsig auf der Couch zu hocken. Draußen zieht das Leben vorbei. Im Vollsprint! Tatort gucken kann ich, wenn ich scheintot bin.“

„Und was machen wir zwei wilden und unzähmbaren Hengste bis dahin?“

„Jagen. Sobald du wieder im Lande bist.“

„Klingt anstrengend.“

„Nee, klingt aufregend. Ich muss auflegen. Die zehntausendste Wiederholung von irgendeinem Tatort mit der Furtwängler fängt gleich an.“

„Ach?“

„Die ist heiß, das ist was anderes.“

„Die ist über fünfzig.“

„Das ist Age-Shaming!“

„Ja, ja. Deine Konsequenz ist jedenfalls bewundernswert. Viel Spaß.“

„Danke. Und das alibimäßige Tindern auf finnischem Boden kannst du dir an deinem letzten Abend sparen.“

„Logisch. Als ob ich jetzt damit anfangen würde.“

„Mhm, ich kenn dich. Vielleicht solltest du es mal mit einer anderen App ausprobieren. Hab neulich was von einer gelesen, bei der man sich erst ewig schreibt, bevor man Fotos hochlädt oder sich trifft. Schreiben kannste ja.“

„Klingt nicht schlecht. Wie heißt die?“

„Irgendwas mit Friends. Von wegen digitale Brieffreundschaft und so.“

„Google ich mal.“

„Mach das. Aber gib nicht mir die Schuld, wenn du da wochenlang mit einer Gesichtsgrätsche chattest und das erst viel zu spät merkst.“

„Natürlich kriegst du dafür die Schuld. Vielleicht wirst du aber auch unser Trauzeuge.“

„Mit Sicherheit. Wir hören voneinander.“

Kaum hatte Chris aufgelegt, googelte Tom besagte App und lud sich FriendsFirst herunter. Das Identifikationsverfahren mit Personalausweis und aktuellem Webcamfoto sowie das Ausfüllen des ellenlangen Fragebogens dauerte über eine halbe Stunde. Aus Erschöpfung gab er allen empfohlenen Profilen ein Like. Die 13. Empfehlung mit angeblichen 99% Gemeinsamkeiten war ein Match. Eine deutsche Schüchternheit namens Merle. Blieb nur die Frage: Wer schrieb wem zuerst? Im ungeschriebenen Gesetzbuch für Online-Dating stand bekanntlich: Wer zuletzt likt, schreibt zuerst. Die noch ungeschriebenere Ausnahme dieses Paragrafen lautete: Likt die Frau zuletzt, schreibt trotzdem der Mann zuerst. Weil Frauen eh mehr Angebote bekamen als Männer. Weil sie nicht wie verzweifelte Spätgebärende mit Nestbaupanik wirken wollten – oder wie leicht zu haben. Selbstredend sollte die Anmache originell und witzig sein. Aber nicht zu bemüht. Wer auf abgegriffene Komplimente wie „Süßes Foto“ zurückgriff, konnte gleich eine Kontaktanzeige im örtlichen Werbeblättchen aufgeben. Ein bisschen mehr Mühe als mit einem „Hallo“ oder einem „Wie geht’s?“ musste man sich ebenfalls geben. Der Grat war recht schmal. Wie für einen FDP-Politiker in der Roten Flora. Immerhin gab es hier keine Fotos, die man kommentieren musste. Und die Tatsache, das zunächst eine digitale Brieffreundschaft im Vordergrund stand, nahm ein wenig Druck aus der Sache. Trotzdem tigerte Tom mehrere Runden durch sein großzügig geschnittenes Hotelzimmer. Nach jeder Umrundung des Fernsehsessels starrte er für ein paar Sekunden auf die romantische Winterlandschaft vor seinem Fenster, in der Hoffnung, dass ihn die Muse küsste. Leider ließ sie sich nicht blicken. Was soll’s, dachte er. Nur Amateure warteten auf Inspiration. Profis setzten sich hin und machten ihren Job.

Chat-Nachricht für Dich

Tom

Hi, auch keine Lust mehr auf Tinder? Wurdest du da wegen deiner verblüffenden Ähnlichkeit mit Cindy Crawford oder einem anderen Top-Model mit zu vielen Nachrichten überschwemmt?

Es vergingen quälend lange vier Minuten und einunddreißig Sekunden. Nicht, dass Tom auf die Uhr geschaut hätte. Aber nach vier Minuten und zweiunddreißig Sekunden bekam er endlich eine Antwort.

Merle

Cindy Crawford? Du glaubst, ich sehe mit 35 aus wie Mitte fünfzig? Oder hast du das Konzept dieser App nicht ganz verstanden und schreibst nur Frauen, die aussehen wie Top-Models?

Die Frau hatte Humor. Und was viel wichtiger war: Sie hatte geantwortet. Keine Selbstverständlichkeit im digitalen Liebesgroßhandel.

Tom

War nur ein Testballon, um sicherzugehen, dass hinter deinem Profil kein Fake-Account oder ein Typ steckt. Bei deiner Antwort ist klar: Du bist eine Frau. Aus Fleisch und jeder Menge Östrogenen.

Diesmal kam die Antwort deutlich schneller.

Merle

Du weißt wirklich, wie man eine Frau um den Verstand schreibt. So intelligent hat mich noch keiner als Zicke bezeichnet.

Tom

Dafür nicht. Und warum biste nun so wie ich bei dieser neuen App gelandet?

Merle

Willst du eine ehrliche Antwort?

Tom

Natürlich. Beim Online-Dating wird nicht gelogen.

Merle

Richtig ... Tinder ist nichts für mich. Im echten Leben freundet man sich ja auch meistens an, bevor mehr daraus wird. Von daher finde ich das Konzept mit der digitalen Brieffreundschaft ganz spannend. Und du?

Tom

Ich sehe leider nicht aus wie Ryan Gosling. Das muss man aber als Mann, um beim Online-Dating erfolgreich zu sein. Guter Durchschnitt reicht nicht.

Merle

Guter Durchschnitt, soso. Ist das Konzept dieser App nicht, dass die Optik keine Rolle spielt?

Tom

Hast recht. Ich muss dich mit was anderem beeindrucken: Bin grad 150 Kilometer überm Polarkreis. Auf Geschäftsreise!

Merle

Wie aufregend! Erzähl mir mehr von szzzzz… Ups, jetzt wäre ich fast eingeschlafen. Könnte aber auch am Wein liegen.

Tom

Du hängst an der Flasche?

Merle

Nur wenn ich versuche, mir Mut für solche Apps anzutrinken. Und wenn ich mit meiner besten Freundin Ines auf mein neues Leben in Freiheit anstoße.

Tom

Du wurdest grad aus dem Knast entlassen?

Merle

Genau. Und als erstes brauche ich einen Mann. Stört dich doch nicht, dass der Letzte nicht überlebt hat, oder?

Tom

Kein Stück. Hatte er bestimmt verdient. Wäre mir trotzdem lieber, wenn ich bloß in einen harmlosen Mädelsabend geraten bin. Hallo, Ines! Bist du nur die beste Freundin oder auch die Bewährungshelferin?

Merle

Nur die beste Freundin, soll ich schreiben. In Wahrheit – wer weiß …. Auf jeden Fall liest sie interessiert mit. War ihre Idee mit dieser App.

Tom

Selbstverständlich. Du machst sowas normalerweise nicht. Dich mit fremden Männern unterhalten. Das willst du mir doch damit sagen, oder?

Merle

Ganz genau. Ich bin ein anständiges Mädchen.

Tom

Wo freundet sich denn ein anständiges Mädchen wie du mit einer wie Ines an, die solche schmuddeligen Dating-Apps kennt?

Merle

Jedenfalls nicht im Knast, falls du das denkst. In der Schule. Wir sind seit der siebten Klasse beste Freundinnen.

Tom

Verstehe. Dann war sie früher die unanständige Herzensbrecherin und bei dir haben sich die Typen auf dem Schulhof ausgeheult?

Merle

So ungefähr. Stehst du auf der anderen Seite und brichst reihenweise Frauenherzen?

Tom

Du sagst es. Allein schon, weil ich mich selten mit einer von ihnen treffe.

Merle

Dann kann Tinder auch nix für deine miese Erfolgsquote.

Tom

Möglich. Aber der Hauptgrund ist, dass 99% aller Frauen, die mich gelikt haben, nicht mein Typ waren.

Merle

Da hab ich ja Glück, dass es hier keine Fotos gibt.

Tom

Wer weiß. Das ist ja das Spannende. Außerdem muss es nicht gleich die große Liebe sein … Finde unseren Chat auch so sehr unterhaltsam.

Merle

Ich auch. Für einen One-Night-Stand musst du dir aber eine andere suchen. Sowas mach ich nicht.

Tom

Ich weiß, du bist ein anständiges Mädchen. Auf einen One-Night-Stand bin ich gar nicht aus. Auf eine richtige Beziehung allerdings auch nicht. Glaub ich. Keine Ahnung. Wahrscheinlich hab ich mich deswegen hier angemeldet.

Merle

Hab ich kein Problem mit. Ich bin nämlich noch lange nicht bereit für was Neues. Ines erschlägt mich zwar, wenn sie von der Toilette wiederkommt und das liest, aber egal.

Tom

Wenn sie genug Wein intus hat, haut sie eh daneben. Das heißt, du bist frisch getrennt?

Merle

Ja.

Tom

Und seit wann ist dein Ex dein Ex?

Merle

Seit 6 Wochen.

Tom

Wie lange wart ihr zusammen?

Merle

18 Jahre.

Tom

Wow. Klingt fast nach Ehe, gemeinsamem Nest und Kindern.

Merle

Gemeinsames Nest stimmt. Wir wohnen in einem schnuckeligen Dorf. Noch. Zur Heirat ist es aber nie gekommen. Und ob ich Kinder will, weiß ich nicht.

Tom

Hat er dir nie einen Antrag gemacht? Oder hast du ihn mehrfach abgelehnt, damit sich endlich ein Mann bei Ines ausheulen musste?

Merle

Gegönnt hätte ich’s ihr. Er hat mich aber nie gefragt. Ihr Männer habt bekanntlich Angst vor zu viel Nähe.

Tom

Angst würde ich das nicht nennen. Wir brauchen nur unseren Freiraum. Hab noch nie verstanden, warum viele Frauen ihren Männern ständig auf die Pelle rücken. Zweisamkeit ist gut und schön, aber ihr Frauen neigt zur Überdosierung.

Merle

Und ihr Männer zum Microdosing. Was verstehst du denn unter einer Beziehung? Freundschaft Plus?

Tom

Nee. Keine Ahnung. Ich hab nur keine Lust auf den üblichen Beziehungsstress, der fast zwangsläufig entsteht, wenn man zu viel aufeinanderhockt. Auf die Streitereien um Nichtigkeiten. Die aufgezwungenen Besuchsprogramme bei befreundeten Pärchen oder der Familie. Die durchgeplanten Wochenenden bis zum Jahresende. Das schlechte Gewissen, wenn man lieber mit Kollegen loszieht, als neben seiner Freundin auf der Couch zu vergreisen. Die ständigen Nörgeleien. Das Rumgezicke, weil Frauen das Drama lieben. Und Käseaufläufe. Eine Fernbeziehung auf kurze Distanz, das wär’s vielleicht.

Merle

Ich bin verwirrt. Aus drei Gründen. 1. Warum warst du dann bei Tinder? 2. Was stellst du dir unter einer Fernbeziehung auf kurze Distanz vor?? 3. Käseaufläufe???

Tom

Zu Frage 1: Tinder war nur die schwache Hoffnung, eine Frau zu finden, die nicht vom Klammeraffen abstammt. Zu Frage 2: Jürgen von der Lippe ist seit Jahrzehnten mit derselben Frau zusammen, wohnt aber in einem anderen Berliner Stadtteil als sie. Ideal, wenn du mich fragst. Jeder behält seinen Freiraum und ist trotzdem nicht allein. Zu Frage 3: Leidgeprüftes Zitat eines verheirateten Freundes: „Du glaubst gar nicht, was man alles mit Käse überbacken kann.“ Frauen wollen ihren Männern mit Kartoffel-Gemüse-Aufläufen was Gutes tun – Männer wollen Fleisch. Deswegen gibt‘s vor jedem Baumarkt ‘ne Wurstbude.

Merle

Aha, das muss ich erstmal verdauen. Erstens gibt es auch Männer, die klammern. Ihr verpackt das nur in Eifersuchtsanfälle. Zweitens klingt das Lippsche Beziehungsmodell in meinen beziehungsgeschädigten Ohren ganz gut. Und drittens mag ich keinen Käse.

Tom

OK. Dann machen wir die Probe aufs Exempel – auch um absolut sicher zu gehen, dass wir beide keine Fake-Profile sind: Kennst du „Gut gegen Nordwind“?

Merle

Klar, du etwa auch? Als Mann?

Tom

Natürlich. Ich bin ein Mann mit vielen Facetten. Tagsüber karriereorientiert und überaus erfolgreich, abends romantisch und einfühlsam – und nachts…

Merle

…müde?

Tom

Leider ja. Vom ganzen Flennen bei romantischen Komödien.

Merle

 Find dich lustig.

Tom

Ich dich auch.

Merle

Ines macht neben mir unanständige Knutschgeräusche.

Tom

Du findest Knutschen unanständig?

Merle

Ich bin ein anständiges Mädchen.

Tom

Wie du nicht müde wirst zu betonen. Vor der Ehe nur Händchenhalten?

Merle

Küsschen auf die Wange sind auch in Ordnung.

Tom

Du bist also nicht nur anständig, sondern auch verklemmt. Dann könnte dir mein Gut-gegen-Nordwind-Vorschlag umso mehr gefallen.

Merle

Mich zerreißt es fast vor Spannung ... Erzähl!

Tom

Gut, Folgendes: Ich hab keine Lust auf ein Klammeräffchen. Du bist noch wund von deiner Beziehung (und ziemlich verklemmt). Was hältst du – als Ziel unseres Kennenlernens – von einer „Beziehung Minus“? Frag mich bitte, was das ist. Bin grad extrem stolz auf den Begriff. Ist mir eben eingefallen. Copyright @ Tom.

Merle

Du bist stolz darauf, dass dir ein seltsamerer Begriff als „Digitale Brieffreundschaft“ eingefallen ist? Okay, wenn‘s dich glücklich macht: Was ist eine „Beziehung Minus“?

Tom

Eine Beziehung Minus ist digitales Rosinenpicken. Das Lippsche Beziehungsmodell, verrührt mit einer digitalen Brieffreundschaft und „Gut gegen Nordwind“. Wir machen fast alles, was man in einer normalen Beziehung zusammen macht, aber treffen uns nicht. Wir schreiben uns nur – und testen beim Kennenlernen schon mal, ob sowas überhaupt funktionieren kann. Wir gehen also virtuell zusammen essen, fahren zeitversetzt an dieselben Orte, gucken gleichzeitig Netflix, gehen getrennt aber irgendwie doch zusammen ins Kino und kaufen zur selben Zeit ein. Wir klemmen uns nur den ganzen Beziehungsstress.

Merle

Erzähl ruhig weiter. Ich hör dir zu.

Tom

Eigentlich war’s das schon. Ich meine, warum führt man Beziehungen? Doch nicht nur wegen dem Sex. Sondern, weil viele Sachen zu zweit mehr Spaß machen. Das heißt aber nicht, dass man zur selben Zeit am selben Ort sein muss. Stichwort: Smartphone. Den ganzen Alltagsstress braucht kein Mensch. Wir machen was zusammen und texten uns dabei. Mehr nicht. Alles ganz entspannt.

Merle

Wir treiben das Konzept dieser App also auf die Spitze. Und weil wir zusammen Dinge unternehmen, wissen wir, dass der andere kein professioneller Troll ist, der in Uganda vorm Rechner sitzt und bei passender Gelegenheit nach Geld fragt.

Tom

Exakt. Genial oder genial?

Merle

Ines schüttelt heftig mit dem Kopf. Ich find‘s gut. Besser gesagt, bevor du wieder heulst: GENIAL! Bin ehrlich gesagt sogar erleichtert.

Tom

Erleichtert, dass du mich nicht treffen musst?

Merle

Irgendwie ja. Würde mich aktuell zu sehr stressen. Schlimm?

Tom

Nee, gar nicht. Geht mir genauso. Ich bin kein Draufgänger – auch wenn ich völlig anders rüberkomme, vor allem optisch.

Merle

Da fällt mir vor lauter Überraschung fast das Weinglas aus der Hand, Ryan.

Tom

Als ob du nicht längst die Flasche am Hals hättest. Also, nochmal ganz offiziell: Willst du mit mir texten?

Merle

Ja! Du kannst das Kreuz für mich im obersten Kästchen machen.

Tom

Toll! Dann muss ich nur noch den drei finnischen Blondinen absagen, die mich über Tinder nach heißen Dates gefragt haben.

Merle

Ist die Blindenrate in Finnland noch höher als die Blondinenquote?

Tom

Ich nehme zu deinen Gunsten an, dass der Spruch von Ines stammt.

Merle

War er nicht. Aber Ines findet, du solltest mich schon ein bisschen mehr umwerben. Flirten ist hier ja nicht verboten.

Tom

Wie? Ich soll mir aus dem Stand was Originelles einfallen lassen?

Merle

Klar, streng dich an.

Tom

Junge, wat anstregend. Also gut: Charme-Offensive! Wischt du hier öfter hoffnungsvolle Männer ins digitale Nirwana? Nee, warte, das war schlecht. Kann ich besser: Als wir gematched haben, hat’s geregnet. Also, der Himmel hat geweint. Weil er wusste, dass er bald seinen schönsten Engel verlieren wird. Wobei wir ja erstmal nur Freunde werden wollen. Moment, daran muss ich noch kurz schrauben.

Merle

Ein gewisser Dilettantismus ist beim Texten ganz süß, aber dir stellt jeder Flirt-Coach sofort einen Schwerbehindertenausweis aus.

Tom

Sagte die Frau, die seit 18 Jahren keine Dates mehr hatte. Ich bin höchstens maximal gehandicapt. Und das nur, weil du misch ganz Karussell machst in meine Kopf. Meine Synapsen fahren gerade Achterbahn. Weil ich glaube, dass die Zeit mit dir viel mehr Spaß machen kann als ein dreifacher Looping. Und weil ich dich nicht weg-langweilen will. Also: Ich hab noch nie eine Frau getroffen, die so pointierte Konter abfeuert. Die so kunstvoll Buchstaben aneinanderreiht. So, dass jedes A bis Z bei mir die ersten Kleinflugzeuge im Bauch durchstarten lässt. So, dass hinter jedem zweiten Satz ein süßes, verschmitztes Lächeln aufblitzt. So, dass ich nichts mehr will, als diese Buchstabenjongleurin mit leichtem Alkoholproblem näher kennenzulernen. So nah, wie es mit kunstvoll aneinandergereihten Buchstaben möglich ist.

Merle

Du hattest mich schon beim Karussell … Beim leichten Alkoholproblem hab ich sogar leise „Ja, ich will“ gelallt.

Tom

Danke. Da wird mir selbst überm Polarkreis warm ums Herz.

Merle

Meins steht in Flammen! Und jetzt? Small Talk über Filme, Musik und unsere Kindheit, um uns näher kennenzulernen?

Tom

Im Prinzip gern. Aber in 5 Stunden klingelt mein Wecker. Können wir das auf unsere erste Verabredung verschieben? Außerdem würde ich dich gern pur und ungefiltert kennenlernen. Nur wir beide. Sonst weiß ich nie, welche Antwort von dir kommt und welche von Ines. Nicht persönlich nehmen, Ines.

Merle

Bis eben mochte dich Ines noch. Jetzt findet sie dich doof. Aber ich kann’s verstehen. Würde auch nicht wollen, dass deine Kumpels neben dir sitzen und ständig kommentieren, was ich schreibe.

Tom

Danke. Hatte Bammel, dass das falsch rüberkommt. Dann freue ich mich auf unser erstes virtuelles Date – oder wie auch immer wir das nennen wollen – und sag für heute: Gute Nacht. Und trinkt nicht mehr so viel.

Merle

Ines hat sowieso schon wieder die halbe Flasche leergetrunken. Aber dank meiner extragroßen Frustschokolade hat sie eine gute Grundlage. Dann schlaf gut.

Merle

PS: Und träum was Schönes.

Tom

Könnte sein, dass ich von Cindy Crawford träume.

Merle

Cindy aus Marzahn wäre mir lieber. In jedem Fall sind dir aber die ersten Punkte auf deinem Minuskonto sicher, wenn du von anderen Frauen träumst.

Tom

Das sind nur Traumfrauen. Kein Vergleich mit dir.

Merle

Sei froh, dass du weit genug weg bist.

Tom

Zum Glück weißt du nicht, dass ich morgen mit der 17-Uhr-Maschine aus Helsinki in Hamburg lande. Sonst würde ich mich gar nicht aus dem Flieger trauen.

Merle

War das der Versuch, unser gerade zurechtgezimmertes Arrangement zu brechen und mich zum Flughafen zu locken? Auf dass ich mit selbstgemaltem Pappschild im Ankunftsbereich sehnsüchtig auf dich warte?

Tom

Bloß nicht! Bitte keine Klammeraffen-Attacke.

Merle

Dann träum gefälligst von mir und nicht von irgendwelchen Top-Models.

Tom

Ma‘am, ja, Ma‘am! Wird erledigt, Ma‘am! Geht aber nur, wenn Sie mich endlich schlafen lassen, Ma’am. Mein Wecker klingelt nämlich um null fünfhundert.

Merle

Dann ab ins Bett, Marsch! LIIICHT AUS! AAAAAUGEN ZU!

Tom

Rrrrrrzzzzzz…

Schokolade zum Abendbrot

„Ich kann nich‘ mehr.“ Ines lag vor der Couch auf Merles geliebtem Premium-Flokati und rieb sich den Bauch.

„Kein Wunder, nach dem Koma-Naschen. Du hast meine ganze Schokolade weggefuttert.“ Merle rutschte von der Couch auf den Teppich und setzte sich neben Ines.

„Du hast mir ja nichts Vernünftiges zu essen angeboten. Super Gastgeberin.“

„Ich dachte, du hattest schon zu Hause was.“

„Ja, aber das ist sechs Stunden her! Egal, ich verzeihe dir. Die Schokolade war einfach zu gut. Trotzdem ist mir jetzt schlecht.“

„Sachen gibt’s … Aber ich weiß deine Gnade zu schätzen.“

Merle legte Ines‘ Kopf auf ihren Schoß und streichelte ihr übers Haar. Ohne ihre beste Freundin hätte sie die letzten sechs Wochen nicht überlebt. Mehrere Nächte hindurch hatte sie Ines ihr Herz mit dem Kipplaster ausgeschüttet und tonnenweise Gefühlsschrott und Gedankenmüll abgeladen. Ohne, dass Ines ein einziges Mal die Augen verdreht hatte. Ohne einen dummen Spruch statt einer hilfreichen Antwort.

Erst heute hatte sie sie zum ersten Mal angepiekst. Vermutlich, um sie zu provozieren, damit sie nicht völlig im Gefühlsmorast versank. Ines wusste genau, wo bei Merle die Triggerpunkte saßen. Gegen die Anmeldung bei einer Dating-App hätte sie sich im nüchternen Zustand noch sehr viel heftiger gewehrt. Sie hasste es, als „kleine süße Merle“ bevormundet zu werden. Sie wusste aber auch, dass ihr manchmal ein kleiner Schubser guttat. Vielleicht war dieser Tom tatsächlich dazu geeignet, um sie von ihrer Trennung abzulenken. Für ein paar Lacher schien er auf jeden Fall gut zu sein. Reichte fürs Erste. Schließlich sollte keine richtige Beziehung daraus werden. Nicht mal eine flüchtige Affäre. Es war nur Spaß, sonst nichts.

„Schon ‘n netter Typ, dieser Tom.“ Ines grinste und schob das allerletzte Stück Schokolade, das sich unter der leeren Packung vor ihr versteckt hatte, in den Mund.

„Jao, ist ganz lustig.“

„Mhm, lustig.“

„Ja, lustig!“

„Sag ich ja! Ist halt lustig. Und vielleicht wird doch mehr draus.“

„Ja, eine Beziehung Minus.“

„Beziehung Minus, so ‘n Quatsch. Wohl eher ‘ne digitale Brieffreundschaft Plus.“

„Im Leben nicht! Wir werden uns schreiben, bisschen Spaß haben und gut is‘.“

„Spaß haben ist ein seeehr dehnbarer Begriff.“ Ines breitete die Arme aus, um ihre Aussage zu unterstreichen.

Merle griff nach den Armen ihrer Freundin und drückte sie wieder zusammen. „Mag sein, aber er dehnt sich definitiv nicht bis zu meinem Schlafzimmer aus.“

„Muss er auch nicht. Den besten Sex meines Lebens hatte ich nicht im Schlafzimmer, wie du weißt.“

„Ja, das hast du im Laufe der letzten Jahre mehrfach erwähnt.“

„Ich konnte danach kaum die Zigarette halten!“

„Ja, ich weiß. Und nein, mir ging es noch nie so.“

„Hach, Süße. Genau deshalb engagiere ich mich für die Optimierung deines Sexlebens. Aber bevor ich weiter am Orgasmus deines Lebens schraube, mach ich kurz Bubu, okay?“

Ines schloss die Augen und kuschelte sich bei Merle ein, die ihr mütterlich über die Wange strich.

„Jao, schlaf gut, meine kleine Orgasmus-Fee.“

Merle bettete Ines‘ Kopf auf einem weichen Kissen, deckte sie mit einer Fleecedecke zu und krabbelte zurück auf die Couch. Im Hintergrund jaulte James Blunt seiner verflossenen Liebe hinterher. Henning käme nie auf die Idee, ein Lied über sie zu schreiben. Geschweige denn einen Hit. Bei ihm hatte es noch nicht einmal zu einem Liebesbrief gereicht. Er hat sie geliebt, daran bestand kein Zweifel. Nur konnte er seine Liebe nicht in poetische Worte verpacken. Auch die Taten waren nicht im klassischen Sinne romantisch. Es sei denn, man fasste alle prompt ausgeführten handwerklichen Tätigkeiten im Haus unter dem Stichwort Liebe zusammen. Lieb gemeint waren sie auf jeden Fall. Ein eingelassenes Bad mit Rosenblättern, Kerzen und sanfter Musik wäre aber deutlich romantischer gewesen als ein reparierter Abfluss. Ein überraschendes Candle-Light-Dinner im Wohnzimmer nach einem anstrengenden Tag im Büro hatte es auch nie aus ihren Tagträumen in die von Henning geformte Realität geschafft. Selbst Blumen grenzten für Henning an Geschäftemacherei, weil sie nach wenigen Tagen verblühten. Sein Gespür für gutes Timing war ebenfalls ausbaufähig. Als Merle gerade die Abzweigung ins Reich der Träume nehmen wollte und ihr letzter Gedanke nicht ihrem Exfreund, sondern ihrer neuen digitalen Romanze galt, zerrte Hennings Stimme sie zurück ins Hier und Jetzt.

„Was ist denn mit Ines los? Ist die besoffen?“ Er stand im Türrahmen und ließ seinen Blick über den Boden zur leeren Weinflasche schweifen.

„Was?“ Merle rieb sich die Augen und richtete sich auf. „Wir haben nur einen leichten Schwips.“

„Klar.“

Merle seufzte. „Und du? Wolltest du nicht wieder bei Volker übernachten?“

„Ja, aber der muss morgen früh aufstehen und ackern. Jasmin will, dass er sich endlich um das versprochene Hochbeet kümmert.“

„Aha, war’s denn gut?“

„Wie immer halt. Bisschen Karten gespielt, bisschen was getrunken, bisschen gequatscht.“

„Über was?“

„Merle! Über was Männer halt so quatschen.“

„Autos und Fußball?“

„Genau.“

„Und Frauen?“

Jetzt war es Henning, der tief seufzte. „Ja, das auch. Müssen wir das heute besprechen? Ich bin müde.“

„Frag mich mal! Ich war gerade dabei, einzuschlafen.“

„Ines ist dir offensichtlich weit voraus. Habt gut gebechert, wie ich sehe.“ Henning deutete auf die leere Weinflasche. Die andere in der Küche hatte er offenbar auch schon gesehen.

Merle legte sich wieder hin und zog die Decke bis unters Kinn. „Hab auch allen Grund dazu“, entgegnete sie und schloss die Augen.

„Ich weiß, ich bin der Böse. Wünsch dir einen erholsamen Schlaf im Delirium.“ Henning drehte sich um und schloss die Tür.

„Danke, den werde ich haben! Wenn du mich irgendwann schlafen lässt“, rief ihm Merle hinterher.

Freunde zu bleiben konnte schwieriger werden als gedacht. Sie beschloss, in Zukunft noch öfter bei ihren Eltern oder Ines zu übernachten, um bis zum Umzug unnötige Treffen mit Henning zu vermeiden.

Kaum hatte Henning das Wohnzimmer verlassen, vibrierte Merles Handy. Genervt tastete sie den Fußboden ab und tatschte dabei mit geschlossenen Augen in Ines‘ Gesicht, die unbeeindruckt weiterschlief. Schließlich wurde sie fündig. Auf ihrem Display leuchtet eine neue Nachricht von Tom auf.

Tom

Kann nicht schlafen und du bist schuld.

Merle

Dito. Kann auch nicht schlafen und DU bist schuld. Aber anders als du denkst.

Es dauerte keine dreißig Sekunden, bis ihr Handy wieder eine Nachricht aus dem hohen Norden empfing.

Tom

Du sprichst in Rätseln. Noch ein Zeichen dafür, dass du eine echte Frau bist und kein Fake­-Account.

Merle

Ich bin absolut echt. Gleich bin ich sogar echt stinkig, wenn du mich nicht schlafen lässt. Bist ja schlimmer als Henning.

Tom

Wer ist Henning? Nenne mir Zeit und Ort und ich fordere ihn zum Duell um deine Gunst.

Merle fiel beim Kichern fast das Handy auf Ines‘ Bauch. Gemerkt hätte ihre schnarchende Freundin das sicher auch nicht.

Merle

Du bist bekloppt. Henning ist mein Ex. Hat mich eben gestört, als ich auf der Couch einschlafen wollte. Genau wie du!

Tom

Du schläfst auf der Couch? Wäre das nicht klassischerweise sein Platz?

Merle

Davon kannst du ausgehen. Aber Ines ist auf dem Wohnzimmerteppich eingeschlafen. Als gute Freundin nehme ich deshalb mit der weichen Couch vorlieb. Trotzdem nett vor dir, dass du mir das Bett gönnst.

Tom

Ich gönne vor allem Henning die Couch. Wobei: Eigentlich noch nicht mal den Teppich. Unglaublich, dass er dich vom Schlafen abgehalten hat. Ohne ihn wärst du längst im Reich der Träume und nie von meiner Nachricht aufgewacht.

Merle

Netter Versuch. Du trägst eine satte Mitschuld an meiner traumlosen, weil schlaflosen(!) Nacht.

Tom

Richtig, so kannst du gar nicht von mir träumen. Mein Fehler. Und ich verpasse womöglich meinen Flieger. Nur noch vier Stunden bis zum Weckerklingeln. Daran bist du ausnahmsweise nicht schuld.

Merle

Danke, da bin ich erleichtert. Darf ich jetzt schlafen?

Tom

Gern. Aber nur, wenn du mir vorher noch einen Geheimtipp zum Einschlafen gibst.

Merle

Mach die Augen zu, das wäre ein Anfang. Das blaue Licht vom Handy hemmt die Serotoninproduktion.

Tom

Danke, Frau Professorin. Augen schließen – probiere ich gleich aus. Dann mach dein Handy auch mal aus. Sonst weckst du Ines mit dem blauen Licht.

Merle

Du mich auch. Schlaf gut. BITTE! JETZT!

Tom

98, 99, 100 Schafe. Bin weg.

Selig lächelnd legte Merle das Handy wieder neben Ines auf den Boden. Wer hätte gedacht, dass diese Schnapsidee mit dem Online-Dating so gut war. Sie selbst bestimmt nicht. Zum ersten Mal seit sechs Wochen grübelte sie vorm Einschlafen nicht über die Trennung von Henning. Was auch immer aus der Geschichte mit diesem Tom werden würde – allein dafür hatte es sich gelohnt. Dummerweise fing sie nun aus einem anderen Grund an zu grübeln. Warum hatte ihr Tom gesagt, mit welcher Maschine er nach Hamburg flog? Wollte er wirklich, dass sie zum Flughafen kam und ihm schrieb, wo sie auf ihn wartete? Oder sollte sie heimlich hinfahren? Nur, um zu gucken, ob überhaupt ein einigermaßen gutaussehender Typ in ihrem Alter aus dem Flieger stieg. Allerdings würde sie damit noch vor Beginn ihrer Beziehung Minus die wichtigste Abmachung brechen: keine Treffen. Selbst heimliches Beobachten konnte der Sache jeglichen Reiz nehmen. Wie früher als Kind, wenn man im November versteckte Weihnachtsgeschenke fand und sich die Vorfreude in Luft auflöste. Je weniger sie über Tom wusste, desto besser. Geheimnisse machten das Leben spannender. Über Henning wusste sie alles. Leider. Am aufregendsten war die Aussicht, noch einmal selbst neu entdeckt zu werden. Geheimnis für Geheimnis. Anekdote für Anekdote. Zentimeter für Zentimeter. Letzteres natürlich nur in ihrer Fantasie. Oder?

Schlaflos in Helsinki