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Die Türkei verehrt offiziell weiter ihren Gründer Atatürk, doch tatsächlich hat sich das Land unter Präsident Erdogan vom "Vater der Türken" verabschiedet. Die Türkei-Experten Günter Seufert und Christopher Kubaseck beschreiben, wie die Republik autoritär umgepolt wird und dabei keinen Konflikt scheut: Konfrontationen innerhalb der NATO und mit der EU häufen sich, türkisches Militär operiert in immer mehr Ländern, Minderheiten werden unterdrückt und Oppositionelle verfolgt. Die "Alte Türkei" ist Vergangenheit, doch die "Neue Türkei" hat, wie das Buch eindrucksvoll zeigt, noch keinen Weg aus ihren vielen Krisen gefunden. Am 29. Oktober 1923 rief Atatürk die Türkische Republik aus. Der neue Staat schrieb sich Modernisierung und Säkularisierung auf die Fahnen und orientierte sich kulturell und politisch am Westen. Das Militär sorgte für die Einhaltung dieses Kurses, notfalls durch Putsche. Um die Jahrtausendwende war die Türkei auf dem Weg in die EU – doch davon kann unter Erdogan keine Rede mehr sein. Das Buch zeigt anschaulich, wie Atatürks Türkei verabschiedet wird: Die Trennung von Staat und Religion gilt nur noch pro forma und könnte bald ganz fallen. Ernst zu nehmende Opposition wird unterdrückt. Man kehrt dem Westen den Rücken, blickt selbstbewusst nach Osten und Süden, lässt Truppen in Syrien und Nordafrika operieren und beansprucht das halbe östliche Mittelmeer. Doch auch in der türkischen Gesellschaft entsteht Neues: eine junge, liberale, demokratische, ökologische Zivilgesellschaft, die bereit ist zum Widerstand.
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Günter Seufert Christopher Kubaseck
Abschied von Atatürk
Die Krisen und Konflikte der Neuen Türkei
C.H.Beck
Am 29. Oktober 1923 rief Atatürk die Türkische Republik aus. Der neue Staat schrieb sich Modernisierung und Säkularisierung auf die Fahnen und orientierte sich kulturell und politisch am Westen. Das Militär sorgte für die Einhaltung dieses Kurses, notfalls durch Putsche. Um die Jahrtausendwende war die Türkei auf dem Weg in die EU – doch davon kann unter Präsident Erdoğan keine Rede mehr sein. Die Türkei verehrt offiziell weiter ihren Gründer Atatürk, doch tatsächlich hat sich das Land unter Erdoğan vom "Vater der Türken" verabschiedet: Die Trennung von Staat und Religion gilt nur noch pro forma und könnte bald ganz fallen. Ernst zu nehmende Opposition wird unterdrückt. Man kehrt dem Westen den Rücken, blickt selbstbewusst nach Osten und Süden, lässt Truppen in Syrien und Nordafrika operieren und beansprucht Rohstoffe im Mittelmeer. Doch auch in der türkischen Gesellschaft entsteht Neues: eine junge, liberale, demokratische, ökologische Zivilgesellschaft, die bereit ist zum Widerstand.
Günter Seufert ist Soziologe. Von 2020 bis Juni 2023 leitete er den Aufbau des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) in der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.
Christopher Kubaseck ist Turkologe. Er arbeitet als Journalist und Schriftsteller.
Vorwort
Erster Teil: Das Ende von Atatürks Republik
1. Ein neues Selbstverständnis, ein neues politisches System
Modell für die Islamische Welt?
Polarisierung statt Liberalisierung
Schleichende Entmachtung: Das Militär
Ein Präsidialsystem «türkischer Art»
Die Opposition in neuer Einigkeit?
Die Schicksalswahl im einhundertsten Jahr der Republik
2. Erdoğanomics: Korruption, Manipulation und Fehlentscheidungen
Vom Wirtschaftswunder in die Krise
Regeln und wie sie unterlaufen werden
Klientelismus und Vorteilsnahme
Die Erdbeben vom Februar 2023
3. Bildung im Schatten der Ideologie
«Mit Gottes Hilfe ziehen wir eine gläubige Generation heran»
Ungeliebtes Handwerk und Prüfungsmarathon
Säuberungswelle an den Universitäten
4. Geschichte umgeschrieben
Göbekli Tepe: Neue Erkenntnisse zur sozialen Entwicklung
Am Friedhof scheiden sich die Geister
Ein «neuer Befreiungskrieg»?
Zweiter Teil: Putsch, Protest und Propaganda
1. Fethullah Gülen und der Putschversuch von 2016
Der Aufbau einer frommen Gegenelite
Scheinbar harmlos: Der Aufstieg einer Bewegung
Millionen in Schuhkartons – ein verkappter Staatsstreich?
2. Die Gezi-Proteste von 2013: Euphorie und Ernüchterung
Symbol für eine schützenswerte Umwelt
Der Funke fliegt
Was bleibt von Gezi?
3. Die türkische Regierung und die Kurden
Die Konflikte zwischen PKK und Militär
Abdullah Öcalan: Charismatischer Führer und Feindbild
Selahattin Demirtaş: Der kurdische Obama
4. Zahmer Mainstream, wilde Medien
Pressefreiheit?
Kurze Blüte: Die sozialen Medien
Die Ausschaltung der unliebsamen Berichterstattung
5. Die Frauen: Stark in der Elite, schwach an der Basis
Weibliche Lebenswelten
Gewalt gegen Frauen
6. Kunst und Kultur: Entfesselt in Ketten?
Harmloser Scherz? Der Fall Gülşen
Repression und Selbstzensur
Türkische Serien erobern die Welt
Noch zu entdecken: Türkische Opern
7. Umweltschutz und Wachstum
Kernkraft trotz erneuerbarer Energiequellen?
Der Goldabbau und seine Folgen
Ein neuer Bosporus: Kanal Istanbul
8. Syrer in der Türkei: Gäste oder Besatzungsmacht?
Steigende Zahlen, Entfremdung und Konkurrenz
Zwischen Frommen und Säkularen, Regierung und Opposition
Die inszenierte «Massenflucht» vom Frühjahr 2020
Der Wunsch nach Rückführung
Dritter Teil: Auf Augenhöhe mit den großen Mächten
1. Die Bedeutung der NATO
Die goldenen Jahre
Die USA: Vom Sicherheitspartner zur Bedrohung
Kriegsmaschine Türkei: Regionalmacht mit globaler Bedeutung
2. Die Türkei als ewiger EU-Kandidat: Aus der (Alb)Traum
Das Ende des Kalten Kriegs
Das Ende der türkischen Reformbemühungen
Spielball in der Politik von EU-Mitgliedstaaten
Beitrittskandidat, Sicherheitspartner oder Gegner?
3. Außenpolitische Neuorientierung: Kein Anhängsel Europas
Globale und regionale Machtverschiebungen
Das Osmanische Reich als Vorbild?
Die arabischen Aufstände als Einladung zur Großmachtpolitik
Vorwärtsverteidigung: Die Militarisierung der Außenpolitik
Der Putschversuch und seine Folgen
Außenpolitik als Instrument der Innenpolitik
Expansionismus als zentraler Auftrag der Geschichte
Das «Blaue Vaterland»: Exklusive Wirtschaftszonen
Auf der Suche nach neuen Partnern in Afrika
4. Türken außerhalb der Türkei: Eine Geschichte der Einflussnahme
Die türkische Religionsbehörde in Europa
DITIB wird zum Instrument des Staatspräsidenten
Eine neue Qualität der Einmischung
Anhang
Die Türkei und ihre Provinzen
Zeittafel
Anmerkungen
Erster Teil: Das Ende von Atatürks Republik
Zweiter Teil: Putsch, Protest und Propaganda
Dritter Teil: Auf Augenhöhe mit den großen Mächten
Literaturhinweise
Politisches System
Die Türkei im Nahen Osten
Zypern
Beziehungen zu Deutschland und Europa
Politische Geschichte seit dem späten Osmanischen Reich
Gesellschaft
Politisierte Religion
Kurden
Balkan
Verhältnis zu Russland
Türkische Diaspora
Migration
Bild- und Kartennachweis
Personenregister
2023, zum einhundertjährigen Jubiläum der Republik Türkei, nimmt das Land wohl endgültig Abschied von seinem Gründer und politischen Übervater Mustafa Kemal Atatürk. Nichts zeigt das besser als der Auftritt Recep Tayyip Erdoğans nach seinem Wahlsieg vom 28. Mai 2023. Erdoğan, der das Land seit 2002 ununterbrochen regiert und nun für weitere fünf Jahre als quasi Alleinherrscher bestätigt wurde, trat nicht gleich nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses auf den Balkon seines Präsidentenpalastes in Ankara. Er wartete mit seiner Ansprache bis kurz nach Mitternacht, bis in die ersten Minuten des 29. Mai. Denn der 29. Mai 2023 ist der Tag, an dem vor 570 Jahren der osmanische Sultan Mehmet II. Konstantinopel einnahm, das heutige Istanbul. Und Erdoğan sieht sich in einer Linie mit den osmanischen Sultanen – und nicht mit Atatürk.
Kemal Atatürk, der «Vater der Türken», hat nach dem Ersten Weltkrieg in den 1920er Jahren den «nationalen Befreiungskrieg» der Türken angeführt, hat Griechen und Armenier aus Anatolien vertrieben und ganz Kleinasien erneut unter türkische Kontrolle gebracht. Er hat den Staat modernisiert, mit Zuckerbrot und Peitsche eine ethnisch-türkische und säkulare Kulturrevolution durchgesetzt, kurz, Atatürk hat die Türkei sowohl innen- als auch außenpolitisch auf das Europa seiner Zeit ausgerichtet. Jahrzehntelang war seine Weltanschauung, der Kemalismus, die amtliche Ideologie der Republik. Für Atatürk und seine Schüler war das Reich der Osmanen unwiderrufliche und unrühmliche Vergangenheit. Denn unter den Osmanen, so sah es Atatürk, seien Wissenschaft und Fortschritt unter dem Diktat der Religion verkümmert und der türkischen Nation der Weg in die Zukunft verbaut worden.
Nicht so für Recep Tayyip Erdoğan. Vom Balkon des Palastes herab trägt er am 29. Mai auf Arabisch die Sure des Koran vor, die die Eroberung Konstantinopels durch ein muslimisches Herr weissagt, und richtet sich dann an seine Anhänger mit den Worten: «Für mich seid ihr die Enkel dieser großen Ahnen.» Abschließend rezitiert er ein Gedicht des konservativen Poeten Arif Nihat Asya, in dem Gott angefleht wird, er möge der mit dem Islam getränkten Heimat die Gläubigen, die Krieger und den Anführer erhalten. So wie für Atatürk die Zeit der Osmanen endgültig vorbei sein musste, so muss heute für Erdoğan die Zeit der kemalistischen Republik zu Ende gehen. Für Erdoğan ist diese Zeit, sind die letzten einhundert Jahre, nur eine Art Betriebsunfall der türkischen Geschichte, den es zu reparieren gilt.
Kein Wunder, dass für Erdoğan der Vertrag von Lausanne, mit dem die junge türkische Republik im Jahre 1923 ihre internationale Ankerkennung errungen hat, ein Dokument der Niederlage ist und kein Dokument des Sieges. Denn der Vertrag, so Erdoğan, besiegele den Verlust von vier Fünfteln «unseres» Landes, sprich: des Territoriums der Osmanen. Im Grunde müsse Lausanne nachverhandelt werden, besonders in Bezug auf die Grenze mit Griechenland. Das ist das Gegenteil der Politik von Atatürk, der mit dem Motto «Frieden im Land, Frieden auf der Welt!» pantürkischen Träumen eine Absage erteilte und Expansionsbestrebungen entgegentrat. Erdoğans Slogan dagegen lautet: «Die Türkei geht über die Türkei hinaus!» Er sieht sein Land als Regionalmacht. Sich selbst schreibt er die Rolle zu, im Nahen Osten die Interessen der Muslime zu vertreten, in Zentralasien die Einigung der Turkvölker voranzutreiben, in Afrika den westlichen Imperialismus zu besiegen und auf dem Balkan das Erbe der Osmanen zu bewahren.
Doch auch im Inneren gibt es viel zu tun. Es gilt, erneut eine fromme Generation heranzuziehen, weshalb in der Schule die religiösen Fächer ausgeweitet werden und Theologen und Imame zunehmend die sozialpädagogische Betreuung der Schüler übernehmen. Das unter Atatürk gegründete Staatliche Amt für Religion (Diyanet), das darauf achten sollte, dass mit dem Islam keine Politik gemacht wird, ist unter Erdoğan zum Instrument seiner Partei geworden. Der Chef des Amtes tut nichts dagegen, dass religiöse Orden und Vereine die politische Opposition als Werkzeug des Bösen und des Unglaubens verteufeln, einzelne seiner beamteten Imame in der Moschee Propaganda für die Regierungspartei betreiben und Politiker von Erdoğans AKP die Interessen ihrer Partei mit denen des Islam gleichsetzen.
Einer der Hebel Atatürks für die Zurückdrängung religiöser Normen im Alltagsleben und für die Veränderung konservativer Lebensformen war es, den Frauen politische Rechte zu gewähren, ihre Bildung zu fördern und ihnen den Einstieg ins Berufsleben zu erleichtern. Das Bürgerliche Gesetzbuch der jungen Republik schaffte die Polygamie ab, gewährte Frauen das Recht, die Scheidung einzureichen, und sicherte Töchtern dasselbe Erbteil zu wie Söhnen.
Auch für Erdoğans Politik spielt die Lage der Frauen eine zentrale Rolle, jedoch in umgekehrter Richtung. Um konservative NGOs an seiner Seite zu halten, veranlasste er den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention, ein Vertragswerk des Europarates zum Schutz der Frauen vor (häuslicher) Gewalt. Bei seiner Rede auf dem Palastbalkon waren die Vorsitzenden von zwei extrem islamischen Parteien an Erdoğans Seite, die ihn im Wahlkampf unterstützt hatten und verlangen, dass das Recht von Frauen auf Unterhalt beschränkt wird. Politiker der Regierungspartei und ihre Verbündeten schießen sich gern auf selbstbewusste Frauen ein. Erdoğan selbst verleumdet Canan Kaftancıoğlu, die Vorsitzende der säkularen Oppositionspartei CHP in Istanbul, droht der prominenten Sängerin Sezen Aksu, ihr die «Zunge auszureißen» und spricht den Popstar Gülşen Çolakoğlu öffentlich schuldig, noch bevor ein Gericht darüber entschieden hat, ob sie wirklich Gläubige beleidigt hat. Seine Parteikollegen äußern sich unverbrämt sexistisch, zum Beispiel gegen Meral Akşener, die Vorsitzende der oppositionellen Mitte-Rechts-Partei.
Auf allen diesen Feldern geriert sich der heutige Präsident praktisch als Anti-Atatürk. Doch traut er sich noch nicht, den Gründer der Republik offen und direkt zu kritisieren. Nicht als Kulturevolutionär, aber als Führer im türkischen «Befreiungskrieg» wird Atatürk auch von Erdoğans Wählern noch geachtet. Um aus dem großen Schatten Atatürks zu treten, behauptet Erdoğan, er hätte es ihm längst gleichgetan, ja ihn als Führer eines «zweiten Befreiungskriegs» sogar noch übertroffen. Es ist der fehlgeschlagene Putschversuch von Teilen des türkischen Militärs vom 15. Juli 2016, den Erdoğan für dieses abenteuerliche Argument ausschlachtet. Der versuchte Staatsstreich hätte nicht nur seiner Herrschaft gegolten, sondern sei ein Versuch des Westens gewesen, das Land erneut auch militärisch zu besetzten. So wird die Niederschlagung des Putsches von Teilen des eigenen Militärs zur Vaterlandsverteidigung und Erdoğan zu Atatürk 2.0.
Und das Verhältnis zu Europa? Dass die Türkei schon lange keinen Kurs mehr auf Europa nimmt, ist keineswegs allein die Schuld von Recep Tayyip Erdoğan. Daran haben Politiker wie Nicolas Sarkozy, Angela Merkel und Sebastian Kurz, die der Türkei die größten Steine in den Weg nach Europa gelegt haben, einen großen Anteil. Doch dass im Juni 2023 der Europarat über den Ausschluss der Türkei nachdenkt, weil Ankara die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ignoriert, ist ein Ergebnis der Politik Erdoğans. Das trifft auch auf die Worte von Nacho Sánchez Amor zu, Berichterstatter für die Türkei im Europäischen Parlament. Er meinte direkt nach den Wahlen vom Mai 2023, die Umstände der Wahl, die die Chancen der Opposition massiv beschnitten worden hätten, zeigten, dass der Beitrittsprozess zur Europäischen Union mit der Türkei nicht funktioniert. Tatsächlich rutscht das Land, anstatt sich zu demokratisieren, in die Autokratie ab.
Auch Atatürk war alles andere als ein Demokrat. Er war Kind seiner Zeit und hat sein Land mit eiserner Hand modernisiert. Dass die Türkei nach einhundert Jahren Abschied von ihm nimmt, könnte auch ein positives Zeichen sein. Dass dieser Abschied über die Herrschaft eines neuen starken Manns geschieht, ist keine gute Nachricht.
Günter Seufert & Christopher Kubaseck
Berlin und Jugenheim in Rheinhessen
12. Juni 2023
Erster Teil:
Die Republik Türkei feiert 2023 ihr hundertjähriges Bestehen. Und mehr als fünfzig Jahre ist es her, seit 1950 zum ersten Mal eine frei und fair gewählte Regierung ihr Amt antrat. Denn von 1923 bis 1950 war die Türkei ein Einparteienstaat, in dem sich Wahlen auf die Akklamation der Kandidaten beschränkten, die dem Wahlvolk von der damals allmächtigen Republikanischen Volkspartei (CHP) vorgegeben wurden. Nichtsdestotrotz kann das Land 2023 auf 100 Jahre moderner Staatlichkeit und fünfzig Jahre geregelter politischer Beteiligung seiner Bürger zurückblicken. 2023 indes scheint weder der säkulare Charakter der Republik noch ihre demokratische Verfasstheit garantiert. Im Gegenteil, nicht wenige im Land fürchten, dass die kommenden Wahlen der letzte freie Urnengang sein könnten,[1] dann nämlich, wenn die Regierung am Ruder bleibt. Fast ebenso groß ist die Besorgnis, die Regierung könnte die Wahlen aus fadenscheinigen Gründen verschieben, das Wahlergebnis manipulieren oder es – im Falle ihrer Niederlage – schlicht nicht anerkennen. Schon werden im Regierungslager die ersten Stimmen laut, die eine solche Möglichkeit ansprechen.[2] Gemeinsam ist allen diesen Szenarien, dass, sollten sie eintreffen, dies das Ende der säkularen Republik, einen tiefen Einschnitt in die türkische Demokratie und wohl auch die Auflösung der Westanbindung der Türkei bedeuten würde.
Tatsächlich befindet sich das Land heute nicht nur in einer schweren und bereits lang anhaltenden Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Probleme erschöpfen sich auch nicht darin, dass die Grund- und Bürgerrechte weitgehend zur Disposition stehen. Vielmehr betrifft die Krise die Grundlagen der Republik Türkei als eines Landes, das bisher, was Wirtschaft, politisches System und Sicherheitspolitik angeht, trotz aller Defizite westlich ausgerichtet war und jenseits aller Rückschläge eine entsprechende Reformagenda verfolgte. Von alledem ist heute wenig übrig geblieben, zunehmend ähnelt das Land anderen Staaten des Nahen Ostens. «Wird die Türkei zu einem zweiten Irak?»[3] fragte im Juni 2022 ein bekannter Kommentator und warnte davor, dass sich angesichts der starken innenpolitischen Polarisierung religiöse, konfessionelle und ethnische Bruchlinien verstärken und die damit zusammenhängenden Konflikte eskalieren könnten.
Geographisch liegt die Türkei an der Schnittstelle von Europa und dem Nahen Osten. Jahrzehntelang sorgten ihre innenpolitische Entwicklung und außenpolitische Einbindung dafür, dass sie Teil der westlichen Staatengemeinschaft war. Doch heute ist Europa geschwächt und der Nahe Osten in fundamentaler Umwälzung begriffen. Eingeläutet wurde der Umbruch im Nahen Osten 1979 durch die Islamische Revolution im Iran. Mit den Protesten, Aufständen und Revolutionen in den arabischen Ländern um das Jahr 2011 fand dieser Umbruch seine Fortsetzung. Denn unabhängig vom jeweiligen Verlauf der Ereignisse wurden im Iran, wie Jahre später in Tunesien, Ägypten oder Libyen, autoritäre Regime gestürzt, die ethnisch-nationalistisch, säkularistisch und modernistisch sowie in aller Regel militaristisch ausgerichtet waren. Zu Fall gebracht wurden die Regime dieser Staaten von Volksbewegungen, in denen sich letzten Endes religiös-konfessionelle politische Strömungen mit einer antiwestlichen Rhetorik durchsetzten, die den zahlenmäßig größten identitären Block ihrer Gesellschaft repräsentierten. Die Umbrüche kamen relativ plötzlich als Resultat einer politischen Mobilisierung der Massen, und mit ihnen einher gingen in aller Regel gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Bevölkerung und Regime, aber auch zwischen kulturellen Mehr- und Minderheiten.
Die Türkei ging einen ganz anderen Weg, war sie doch in der Lage, muslimisches Selbstverständnis mit einer parlamentarischen Regierungsform und Demokratie sowie mit prowestlicher Orientierung zu vereinigen. So außergewöhnlich war dieser Erfolg, dass das Land in den Jahren um 2010 allerorten als Inspiration oder gar als Modell für den Nahen Osten gefeiert wurde.
Abb. 1: «Die Zukunft liegt über den Wolken!» Eine der Anweisungen Kemal Atatürks für die junge türkische Nation auf einem Mosaik in der Hauptstadt Ankara
Dass es in der Türkei zu keinem vergleichbaren Aufstand religiös-konservativer Kräfte gekommen war, hatte seine Ursache darin, dass konservative Parteien und damit auch ihr Anhang bereits seit dem Ende der 1940er Jahre Schritt für Schritt ins politische System integriert worden waren. 1946 erfolgte der zögerliche Übergang zum Mehrparteiensystem. Von 1950 bis 1960 regierte die konservative Demokratische Partei (DP) unter Ministerpräsident Adnan Menderes. Nach dem ersten Staatsstreich des Militärs im Jahre 1960 übernahm 1965 die konservative Gerechtigkeitspartei (AP) unter Süleyman Demirel das Ruder. Zwar wurde Demirel 1971 durch das Militär zum Rücktritt gezwungen, doch es dauerte nur vier Jahre, bis er mit seiner Partei erneut zur bestimmenden Kraft in der türkischen Politik wurde.
Ab 1973 konnte die islamistische Nationale Heilspartei (MSP) unter ihrem Vorsitzenden Necmettin Erbakan, der als der Ziehvater des heutigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan gilt, ins Parlament einziehen und sich von 1974 bis 1979 an drei kurzlebigen Koalitionsregierungen beteiligen. Nachdem die türkischen Generäle 1980 ein weiteres Mal geputscht hatten, setzte sich, als sie nach drei Jahren die Macht an eine gewählte Regierung abgaben, erneut eine konservative Partei durch: die Mutterlandspartei (AnaP) unter Ministerpräsident Turgut Özal. Danach folgten oft kurzlebige Koalitionsregierungen. Schließlich gelangte 2002 nach einer schweren Wirtschaftskrise die noch heute regierende Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) unter Führung von Recep Tayyip Erdoğan an die Macht, die aus der islamistischen Wohlfahrtspartei (RP) hervorgegangen war. Damit stellten nach dem Ende der Einparteienperiode ganz überwiegend konservative Parteien mit bisweilen demonstrativ frommen Führern die Regierung.
Gleichzeitig jedoch blieb die bürokratische Elite, die das Land seit der Republikgründung 1923 autoritär modernisiert und verwestlicht hatte, ein bestimmender politischer Akteur. Ihre Ideologie war der Kemalismus, eine Mischung aus Säkularismus, Nationalismus und Etatismus, die ihren Namen vom Gründer der Republik, Mustafa Kemal, dem späteren Atatürk, bezog. Die kemalistische Elite, die sich aus Mitgliedern des Militärs, der hohen Justiz sowie den Professoren der Universitäten und einem Großteil der Medien zusammensetzte, war in der Lage, den Handlungsspielraum konservativer Regierungen wirkungsvoll zu begrenzen und unerwünschte Entwicklungen notfalls mit Gewalt zu beenden. So richteten sich die drei großen Interventionen des Militärs von 1960, 1971 und 1980 allesamt gegen konservative Regierungen und setzten den Primat der kemalistischen Bürokratie in der Politik immer wieder durch. Sogar noch während der ersten beiden Regierungsperioden der AKP war eine entsprechende Einflussnahme zu beobachten. Zu nennen ist hier das Memorandum des Generalstabs vom 27. April 2007, in dem die Generäle sich gegen die Wahl des AKP-Politikers Abdullah Gül zum Staatspräsidenten wandten und einen Kandidaten verlangten, «der sich den Lehren Atatürks, dem Laizismus und den Grundprinzipien der Republik verpflichtet fühlt».[4] Ein weiteres Beispiel ist das Verfahren vor dem Verfassungsgericht zum Verbot der AKP (die auch damals mit absoluter Mehrheit im Parlament allein regierte), dem die Partei 2008 nur um Haaresbreite entgehen sollte. So etablierte sich seit dem Ende des Einparteiensystems 1950 eine zwar immer fragile, aber letzten Endes doch dauerhafte Machtbalance zwischen der von säkularen Kräften beherrschten Bürokratie und dem Militär und einer in aller Regel von rechts-konservativen Parteien geführten Regierung und ihrer Parlamentsmehrheit.
So sehr sich konservative Regierungen in diesem politischen System unter der Vormundschaft der Bürokratie befanden, so sehr konnten sie doch auch Veränderungen durchsetzen, Ressourcen des Staates an ihre Wählergruppen ausschütten und ihre Klientel allmählich in den Staatsdienst integrieren. Infolgedessen schienen sich radikale politische Positionen der Konservativen allmählich abzuschleifen. Als die noch heute regierende AKP 2004 einen dicken Strich unter die islamistische Vergangenheit ihrer führenden Kader zog und sich als «konservativ-demokratische» Partei neu definierte[5], schien dieser Prozess erfolgreich abgeschlossen zu sein. Damit war eine zweite innenpolitische Voraussetzung für den Modellcharakter der Türkei geschaffen: die Versöhnung explizit muslimischer Identität mit parlamentarischer Politik, demokratischer Rhetorik und prowestlicher Orientierung. Das Land schien am Ende einer langen und stillen Revolution angelangt zu sein.
Doch im Frühjahr und Sommer 2013 wurden die Grenzen der türkischen Transformation schmerzhaft sichtbar. Die Regierung reagierte gewaltsam auf die Proteste rund um den Istanbuler Gezi-Park, die sich zu einer landesweit ausgetragenen Kraftprobe auswuchsen. Seit damals beschuldigt die AKP unablässig internationale – aber ausschließlich westliche – Kreise, die Fundamente der Regierung zu untergraben, die Türkei zu schädigen und sie daran zu hindern, ihrer Aufgabe als Schutzmacht der (sunnitischen) Muslime des Nahen Ostens gegen westliche Machenschaften gerecht zu werden.
Gleichzeitig verlor die AKP jegliches Interesse an der Weiterentwicklung, ja selbst an der Aufrechterhaltung demokratischer Standards. Schon seit geraumer Zeit hält sie ihre Wähler nicht wie früher über die Orientierung an positiven wirtschaftlichen und sozialen Zielen zusammen, sondern durch unablässige Polarisierung ethnischer, religiöser und konfessioneller Unterschiede in der Bevölkerung. Der Abbruch der Friedensgespräche mit der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) 2015 ist ebenso Ausdruck dieser Politik wie die Islamisierung des Bildungswesens, Interventionen in den Lebensstil säkularer Kreise und eine zunehmend von nationalen, ethnischen und konfessionellen Feindbildern bestimmte Außenpolitik.
Die AKP-Regierung konnte sich so gebärden, weil sie bereits 2013 den Einfluss der alten säkularen Elite Schritt für Schritt begrenzt hatte. In der ersten Hälfte der 2000er Jahre wurde das Militär allmählich im Rahmen des Beitrittsprozesses zur Europäischen Union aus der Politik zurückgedrängt. Brüssel forderte nicht nur die Einhaltung der Menschen-, Bürger- und Minderheitenrechte, sondern auch die Kontrolle des Militärs durch die Zivilregierung. Die lange Regierungszeit der AKP von mittlerweile zwanzig Jahren zeugt von massiver gesellschaftlicher Unterstützung, was außerparlamentarischen Veto-Akteuren wie dem Militär und der kemalistischen Justiz die politische und gesellschaftliche Legitimation für Interventionen raubte. In ihrer langen Zeit als alleinregierende Partei hat es die AKP außerdem verstanden, Teile der Sicherheitsbürokratie, insbesondere die Polizei und den Nationalen Geheimdienst unter ihre Kontrolle zu bringen. Schließlich hat die AKP sechs Parlamentswahlen für sich entschieden (fünf davon mit absoluter Mehrheit). Dreimal ging ihr Kandidat aus Staatspräsidentenwahlen siegreich hervor, und in vier Kommunalwahlen wurde sie landesweit stärkste Partei. Zu guter Letzt hat Erdoğans Partei alle drei von ihr initiierten Volksabstimmungen gewonnen, die jeweils tiefe Breschen in die Vorherrschaft der bürokratischen Elite geschlagen haben. 2007 votierten die Wähler für die direkte Wahl des Staatspräsidenten, was angesichts der breiten gesellschaftlichen Unterstützung für die AKP die Anwartschaft der Partei auf das ihr bis dahin verwehrte Amt festigte. 2010 stimmte das Volk für eine Änderung der Rekrutierungsregeln für die Richterschaft der höchsten Gerichte, eine Reform, die das Ende des faktischen Monopols der Kemalisten auf das höchste Verwaltungsgericht, den Kassationsgerichtshof und das Verfassungsgericht einläutete. Und im April 2017 billigten die Wähler den Übergang vom Parlamentarismus zu einem Präsidialsystem türkischer Art, das dem Staatspräsidenten unbeschränkten Zugriff auf die gesamte Bürokratie gestattet.
Den entscheidenden Schlag gegen das Militär konnte die AKP-Regierung jedoch nach dem fehlgeschlagenen Putschversuch vom 15. Juli 2016 führen. Am 27. Juli erklärte der Generalstab, es seien nur 8651 Angehörige der Streitkräfte am Putschversuch beteiligt gewesen, darunter 1214 Studenten der Kriegsakademie, die nicht in eigener Regie handeln konnten. Die Putschisten wurden in erster Linie von Obersten und nicht von Generälen angeführt. Trotzdem entfernte die Regierung nur wenige Stunden nach dieser Erklärung des Generalstabs 149 Generäle und Admiräle aus dem Dienst,[6] mehr als 41 Prozent[7] der Führungskader des türkischen Militärs. Bis zu dem Putschversuch hatte das Militär immer noch als quasi autonomer Staat im Staate bestanden. Beim Generalstab lag nicht nur der alleinige Oberbefehl über alle Waffengattungen, er entschied auch über Beförderungen und damit über das interne Kräftegleichgewicht im Militär. So wurde nicht nur die Militärjustiz, sondern auch das militärische Gesundheitswesen, der militärische Geheimdienst und – wichtiger noch – die politische Sozialisation des soldatischen Nachwuchses in die kemalistische Ideologie überwacht. Unmittelbar nach dem Putschversuch zerschlug die Regierung per Notverordnung dieses Machtzentrum. Sie entzog dem Generalstab die Befehlsgewalt über die Teilstreitkräfte und degradierte ihn so vom Entscheidungszentrum zur Koordinierungsstelle unter Aufsicht der Politik. Schon vorher hatte das Militär sein Monopol über den innerstaatlichen Gewaltapparat verloren, was die Vereitelung des Putschversuchs durch Spezialeinheiten der Polizei, die im letzten Jahrzehnt gegen den Widerstand des Militärs ausgebaut worden waren, eindrucksvoll vor Augen führte.
Die Regierung nutzte den Putschversuch außerdem dazu, die Justiz vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen. Angaben des Justizministers zufolge fielen nach dem Putschversuch etwa 4000 Richter und Staatsanwälte den Säuberungen in der Justiz zum Opfer, das ist mehr als ein Drittel dieser Berufsgruppen.[8]
Damit sind sämtliche Bastionen der einstigen kemalistischen Elite des Landes im Staatsapparat geschleift, und die lang anhaltende Machtbalance zwischen muslimisch-konservativen und säkularen Eliten existiert nicht mehr. Dass das Militär unter die Kontrolle der gewählten Regierung gebracht ist und in der Türkei kein Putschversuch mehr denkbar scheint, ist sicher zu begrüßen. Ein Fortschritt ist es auch, dass die hohe Justiz das Handeln der Regierung nicht mehr aus ideologischen Gründen beschränken und kontrollieren kann. Doch das Ende der Vormundschaft des Militärs über das Parlament und die von ihm gewählte Regierung hat keineswegs ein Mehr an Demokratie mit sich gebracht. Immerhin scheiterte erstmals in der Geschichte der Türkei ein Putschversuch am entschlossenen Widerstand von Teilen der Bevölkerung, und keine der im Parlament vertretenen Parteien unterstützte den Staatsstreich. Bei früheren Interventionen hatte das Militär sich immer sicher sein können, in der Bevölkerung und unter den Politikern starke Parteigänger zu finden.
Diesen spontanen anti-militärischen Reflex der großen Mehrheit der Bevölkerung hätte die AKP-Regierung in einen Minimalkonsens aller Parteien zur Stärkung der Demokratie überführen können, doch daran hatten Erdoğan und seine Partei kein Interesse. Stattdessen nutzten sie den Putschversuch zur Festigung ihrer Macht und dazu, die ohnehin schwach entwickelten Checks and Balances des türkischen politischen Systems noch weiter auszuhebeln. Schon am zweiten Tag nach dem versuchten Staatsstreich schloss die Regierung die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) aus der Front der Demokraten gegen die Putschisten aus, und es sollte nicht lange dauern, bis Erdoğan der Republikanischen Volkspartei (CHP), der Hauptoppositionspartei, den aberwitzigen Vorwurf machte, mit Teilen der Putschisten unter einer Decke zu stecken. Seither ist die Regierung dazu übergegangen, jegliche Kritik an Erdoğan und seiner Politik als verdeckten Putschversuch beziehungsweise als Unterstützung von Terrorismus zu brandmarken. Für die AKP repräsentiert nur die eigene Wählerschaft – der streng muslimisch-konservative Teil der Bevölkerung – die türkische Nation. Wer nicht dazugehört, den grenzt die heutige Regierung aus oder versucht, ihn in die Zwangsjacke religiös-konservativer Sittlichkeit zu pressen. Schritte dahin sind der Austritt der Türkei aus der Istanbuler Konvention zum Schutz der Frauen vor Gewalt, die Ausweitung der religiösen Bildung in der Schule, die staatliche Förderung traditioneller religiöser Orden, eine restriktive Kulturpolitik, das Verbot aller Aktivitäten der Gay- und Lesbenszene und nicht zuletzt die Umwidmung der Hagia Sophia von einem Museum zu einer Moschee. Diese Politik treibt das Land in eine Zerreißprobe, denn sie negiert die religiöse, ethnische und kulturelle Vielfalt der Türkei. Heute wehren sich gegen diese Politik nicht nur der säkulare und an Europa orientierte Teil der Gesellschaft, die muslimisch-heterodoxen Aleviten und die Kurden, sondern auch ein guter Teil der Jugend des konservativen Milieus.
Dreimal putschte das türkische Militär und übernahm die Macht, dreimal gab es die Macht an demokratisch gewählte Regierungen zurück. So mischte das Militär als selbsternannter «Hüter der Demokratie» 1960, 1971 und 1980 jeweils die Karten neu und veranlasste dabei zugleich weitgehende Verfassungsänderungen, die die Türkei wieder regierbar machen sollten. Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung die Mitte-Rechts-Regierungen unterstützte, deren Wirken durch die Staatsstreiche beendet wurde, führten wirtschaftliche Probleme, die Zuspitzung gesellschaftlicher Antagonismen und vor 1980 auch bürgerkriegsähnliche Zustände zu einer weitgehenden Akzeptanz der Eingriffe des Militärs. Dabei wurden die Putschisten auch durch das Ideal eines «starken Staats» sowie durch den Schulterschluss mit der bürokratischen und wirtschaftlichen Elite des Landes sowie großen Teilen des Bildungssystems und der Justiz unterstützt. Nicht zuletzt konnte sich das Militär auch auf sein großes Prestige berufen, galt es doch zusammen mit dem Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk als Retter der Nation im Unabhängigkeitskrieg gegen Griechenland und die Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Auch die Tatsache, dass das Militär die Macht nach jeder Intervention relativ zügig wieder an gewählte Regierungen zurückgab, überzeugte viele Bürger davon, dass die Putschisten nicht aus Eigeninteresse, sondern aus Sorge um das Gemeinwohl gehandelt hatten.
Doch nach dem Staatsstreich von 1980 nahm die Akzeptanz der Militärinventionen deutlich ab. Dafür lässt sich eine ganze Reihe von Gründen anführen, nicht zuletzt das Ausmaß an Gewalt, das während des Putsches von 1980 zum Tragen kam, eine Gewalt, die sich auch in der Zeit nach der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch gewählte Volksvertreter fortsetzte. Um das Ausmaß dieser Gewalt zu verdeutlichen, die weite Teile der Gesellschaft betraf, mag es ausreichen, einige Zahlen anzuführen: 610.000 Personen wurden damals verhaftet, ca. 200.000 davon angeklagt, ca. 14.000 türkische Bürger, die im Ausland lebten, wurden ausgebürgert, 229 Menschen starben in den Gefängnissen und in den Kerkern war Folter eine gängige Praxis. Hinzu kamen das Verbot sämtlicher Parteien und Gewerkschaften und die Auflösung von 24.000 Vereinen. Darüber hinaus beschränkte eine stark vom Militär geprägte neue Verfassung die Rechte und Freiheiten der Bürger erheblich. Dem Militär dagegen wurde verfassungsgemäß das Recht gewährt, die politische Ordnung der Republik zu schützen – was zukünftige Interventionen der Generäle in den politischen Prozess von vornherein straffrei machen sollte. Die Liberalisierung dieser Verfassung von 1982 sollte für die nächsten Jahrzehnte ein ständiger Punkt auf der politischen Tagesordnung der Türkei bleiben – so lange, bis ein zusehends diktatorisch agierender Erdoğan in ähnlicher Weise repressive Bestimmungen einzuführen begann, mit denen er die eigene Macht absicherte.
Obwohl das Militär nach 1980 auf weitere gewaltsame Interventionen verzichtete, nahm es doch weiterhin Einfluss auf die Politik des Landes. Ihren Höhepunkt fand die Einmischung der Generäle in den politischen Prozess am 28. Februar 1997. An diesem Tag verabschiedete der damals noch vom Militär dominierte Nationale Sicherheitsrat (NSR) ein Memorandum an die Adresse der Regierung. In der Erklärung forderte der NSR ultimativ, dem Treiben religiöser Kräfte ein Ende zu setzen, religiöse Unternehmer von Staatsaufträgen auszuschließen, das Verbot religiöser Kleidung in der Öffentlichkeit durchzusetzen und den Absolventen der islamischen Predigerschulen den Zugang zur Universität zu erschweren. Als sich der islamistische Ministerpräsident Necmettin Erbakan von der Wohlfahrtspartei (RP) weigerte, den Forderungen nachzukommen, wurde er zum Rücktritt gezwungen, was die Presse, die säkulare Unternehmerschaft, die hohe Justiz und fast alle politischen Parteien unterstützten. Nur wenig später wurde die Wohlfahrtspartei vom Verfassungsgericht verboten.
Dass diese Vorgehensweise von großen Teilen der Bevölkerung des Landes nicht mehr als legitim oder zumindest nachvollziehbar angesehen wurde, lag auch an der veränderten weltpolitischen Lage nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Ließen sich vor dem Beginn der 1990er Jahre viele Bürger noch relativ einfach auf die Abwehr innerer und äußerer Bedrohungen durch den «Kommunismus» einschwören, so trat danach das Feindbild «Islam» fast von alleine in den Vordergrund. Das türkische Militär folgte damit nicht nur weiterhin dem kemalistischen Ideal eines laizistischen Staates, sondern auch der Haltung des Westens unter Führung der USA, die radikale islamische Strömungen als die größte Gefahr für demokratische, freiheitliche und säkulare Gesellschaften anzusehen begann. Damit jedoch machten sich die Generäle weite Teile der Bevölkerung, die sich einem gemäßigten, und mehr noch diejenigen, die sich dem politischen Islam verbunden fühlten, zu Feinden.
Gleichzeitig führten der Ausbau des Tourismus seit Mitte der 1980er Jahre und die Förderung der Exportwirtschaft zu einer stärkeren Einbindung der Türkei in die Weltwirtschaft. Mit der rasanten Entwicklung des Unternehmertums in einigen anatolischen Städten, allen voran Kayseri, Konya und Gaziantep, ebenso wie mit der Öffnung für ausländische Investitionen kam es zu einer wirtschaftlichen Liberalisierung des Landes. Verstärkte Kontakte ins Ausland und eine wachsende Zahl von Menschen aus aller Welt, die sich in den städtischen Zentren im Westen des Landes niederließen, trugen dazu bei, dass sich diese Liberalisierung auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene zu manifestieren begann. In dieselbe Richtung wirkte das erstarkende Selbstbewusstsein der Mittelschicht, die sich trotz einschneidender Krisen wirtschaftlich zusehends besser abgesichert fühlte.
Die Zollunion mit der EU von 1995 und die Angleichung der türkischen Gesetze an die Vorgaben der EU 2005 im Rahmen der Beitrittsverhandlungen beschleunigten diese Entwicklung. Während sich das türkische Militär unter diesen Bedingungen immer schwerer damit tat, sich der Gesellschaft als treuer und verlässlicher «Hüter der Demokratie» zu präsentieren, trat ihm auf politischer Ebene ein neues Bündnis entgegen. Zu diesem gehörten die Partei Erdoğans, die sich damals als gemäßigt und im Sinne europäischer Parteien religiös-konservativ darstellte, liberale Intellektuelle und die nur scheinbar harmlose religiöse Bewegung des Predigers Fethullah Gülen. Innerhalb weniger Jahre sollte es diesem Bündnis gelingen, das türkische Militär in einem zuvor kaum vorstellbaren Maße und wohl auch endgültig zu entmachten.
Am 12. Juni 2007 hob die türkische Polizei ein illegales Waffenlager aus, das, so schien es, eine Gruppierung aus Kriminellen und extremen Nationalisten angelegt hatte. Diese wurden beschuldigt, im Auftrag geheimer Abteilungen innerhalb des Militärs verdeckte Operationen durchgeführt und dabei Verbrechen begangen zu haben. Nach den Behauptungen der Staatsanwaltschaft existierte ein weit verzweigtes inoffizielles Netzwerk aus rechten Journalisten, Angehörigen extrem säkularistischer Nichtregierungsorganisationen (NGO) und Offizieren. Es kam zu einer Reihe von Festnahmen, und schließlich wurden zum ersten Mal in der Geschichte der Republik auch ehemalige und später dann sogar aktive Offiziere verhaftet. Ihnen wurde zur Last gelegt, Anschläge geplant zu haben, die dem Militär einen Vorwand dafür bieten sollten, erneut in die Politik einzugreifen und die AKP-Regierung unter Erdoğan zu stürzen. Die Ermittlungen zogen sich über Monate hin und fügten dem Image des Militärs in der Bevölkerung extremen Schaden zu. Schließlich wurde gar der frühere Generalstabschef İlker Başbuğ belangt.
Das anschließende Strafverfahren, bekannt unter der Bezeichnung Ergenekon-Prozess, wurde vor Sondergerichten und im Rahmen der Antiterrorgesetzgebung durchgeführt, die ein extrem hohes Strafmaß vorsieht. Aus einer Fülle von teils wahren, teils erfundenen Anschuldigungen konstruierte die Staatsanwaltschaft eine große Verschwörung gegen die Regierung. Was als Beweis vorgelegt wurde und später die Schuldsprüche rechtfertigen sollte, wies erhebliche Fehler und Hinweise auf eine nachträgliche Manipulation auf. Das gilt auch für ein späteres Verfahren gegen 365 ehemalige und aktive Offiziere, das unter dem Namen «Schlaghammer» (Balyoz) stattfand und zur Verurteilung von 297 der Beschuldigten führte, unter ihnen auch elf Vier-Sterne-Generäle. Die Verfahrensfehler und teilweise fabrizierten Beweise hinderten den türkischen Kassationsgerichtshof im Oktober 2013 nicht daran, den Großteil der Urteile zu bestätigen.
Abb. 2: Die Regierung übernimmt die Kontrolle über das Militär: Innenminister Efkan Ala (3. von links), der Chef des Generalstabs Hulusi Akar (2. von links) und Generäle der türkischen Armee beten am 24. Juli 2016 vor der Nationalen Polizeizentrale in Ankara für die Sicherheitskräfte, die bei dem Putschversuch vom 15. Juli ums Leben kamen.
Diese Prozesse wurden unter dem Deckmantel des Schutzes der demokratisch gewählten Regierung, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie geführt. Weil sich das Militär immer wieder in die Politik eingemischt und früher tatsächlich auch mit verdeckten und damit illegalen Operationen agiert hatte – besonders im Kampf gegen die PKK –, unterstützten auch viele liberale Personen und Organisationen die Prozesse und feierten sie als Abrechnung mit dem sogenannten «tiefen Staat» sowie als Fortschritt für den Rechtsstaat. Erst als das Bündnis zerbrach, das die Regierungspartei AKP mit der Gülen-Bewegung geschlossen hatte, stellte sich heraus, dass Kader der Bewegung in Polizei und Justiz für die Fabrikation belastenden Materials verantwortlich waren. Daraufhin wurden zwar viele der verhafteten Offiziere rehabilitiert, doch das Ansehen des Militärs war angeschlagen und seine politische Macht sollte durch den fehlgeschlagenen Putsch vom Juli 2016 endgültig gebrochen werden.