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Von Friedrich Hölderlin stammt die schönste Definition der Kunstform Gedicht. In "An die Parzen" nennt er es "das Heilige, das am Herzen mir liegt". Prosaischer sieht es Rainer Maria Rilke: "Edle Lyrik ist das beste Heilmittel gegen die nüchterne Unrast jeder Zeit." Rilke hat den Geschwindigkeitsrausch zu Anfang des 20. Jahrhunderts erlebt, der durch die moderne Verkehrstechnik ausgelöst wurde. So ist es folgerichtig, wenn er in einem Gedicht fordert: "Knaben, o werft den Mut / nicht in die Schnelligkeit, / nicht in den Flugversuch. / Alles ist ausgeruht: / Dunkel und Helligkeit, / Blume und Buch." In früheren Dekaden wurden Schüler im Deutschunterricht mit Gedichten traktiert, gerne auch mit so ausladenden wie der "Glocke" von Friedrich Schiller, weil sie das klassische Bildungsgut in konzentrierter Form verkörpern. Gedichte auswendig zu lernen, war nicht primär eine Übung für das Gedächtnis. Die Gedichte sollten als seelische Stütze, als geistiger Vorrat für das weitere Leben dienen. Überlebende der beiden Weltkriege haben erzählt, wie ihnen eine Handvoll auswendig gelernter Gedichte im Schützengraben oder im Luftschutzkeller Trost und Zuversicht gespendet haben. Die vorliegende Anthologie richtet sich nicht in erster Linie an Schüler und Lehrer. Die Gedichte sind so ausgewählt, dass sie auch von Menschen verstanden werden, denen die Kunst der Interpretation von der Schule her nicht mehr geläufig ist. Die Deutung der Gedichte konzentriert sich auf die wesentliche Botschaft und den darin auffindbaren biografischen Hintergrund der Dichter. Für mich gilt der Rat von Ulla Hahn, der großen Lyrikerin des 20. Jahrhunderts: "Jedes Gedicht ist die Aufforderung an den Leser: Lies dich selbst! Gedichte sind poetische Verwandte des Orakels von Delphi: Erkenne dich selbst!"
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Seitenzahl: 124
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Der Titel ist ein Zitat aus dem Gedicht „Wandrers Nachtlied“ von Johann Wolfgang von Goethe aus dem Jahr 1776. Das Aquarell auf dem Cover stammt vom Autor. Es zeigt eine winterliche Landschaft bei Worpswede.
Vorwort
Der Mensch
Paul Fleming: An sich (1641)
Joseph von Eichendorff: Frische Fahrt (1815)
Joseph von Eichendorff: Zwielicht (1812)
Friedrich Hölderlin: Hälfte des Lebens (1804)
Eduard Mörike: Gebet (1848)
Rainer Maria Rilke: 9. Sonett an Orpheus (1922)
Rainer Maria Rilke: 12. Sonett an Orpheus (1922)
Hans Carossa: Der alte Brunnen (1924)
Gottfried Benn: Reisen (1950)
Christa Reinig: Mein besitz (1965)
Die Liebe
Johann Wolfgang von Goethe: Ginkgo Biloba (1815)
Johann Wolfgang von Goethe: Gefunden (1813)
Conrad Ferdinand Meyer: Zwei Segel (1882)
Eduard Mörike: Das verlassene Mägdlein (1829).
Kurt Schwitters: Der Zigarette Ende (1930)
Marie Luise Kaschnitz: Am Strande (1936)
Ingeborg Bachmann: Eine Art Verlust (1962)
Karl Mickel: Maischnee (1962)
Ulla Hahn: Mit Haut und Haar (1981)
Wolf Wondratschek: Im Sommer (1976)
Die Natur
Joseph von Eichendorff: Mondnacht (1837)
Ludwig Uhland: Frühlingsglaube (1812)
Eduard Mörike: Er ist´s (1829)
Eduard Mörike: Septembermorgen (1829)
Friedrich Hebbel: Herbstbild (1852)
Hugo von Hofmannsthal: Vorfrühling (1892)
Rainer Maria Rilke: Herbst (1902)
Rainer Maria Rilke: Herbsttag (1902)
Gottfried Benn: Astern (1935)
Georg Heym: Der Herbst (1911)
Stefan George: Komm in den totgesagten park (1897)
Die Gesellschaft
Friedrich Schiller: Die Teilung der Erde (1795)
Hugo von Hofmannsthal: Manche freilich ... (1895)
Bertolt Brecht: Fragen eines lesenden Arbeiters (1935)
Kurt Tucholsky: Augen in der Großstadt (1930)
Gottfried Benn: Anemone (1936)
Else Lasker-Schüler: Die Verscheuchte (1934)
Wolf Biermann: Portrait eines alten Mannes (1977)
Peter-Paul Zahl: frühe tode (1975)
Kurt Marti: Warnung (1959)
Sarah Kirsch: Im Sommer (1976)
Vergänglichkeit und Tod
Andreas Gryphius: Abend (1650)
Friedrich Gottlieb Klopstock: Die frühen Gräber (1764)
Johann Wolfgang von Goethe: Wandrers Nachtlied (1776/1789)
Johann Wolfgang von Goethe: Ein gleiches (1780)
Friedrich Hölderlin: An die Parzen (1799)
Wilhelm Müller: Der Lindenbaum (1821)
Wilhelm Hauff: Reiters Morgengesang (1824)
Gottfried Keller: Abendlied (1879)
Conrad Ferdinand Meyer: Schwüle (1864)
Georg Trakl: Im Herbst (1913)
Rainer Maria Rilke: Schlussstück (1906)
Hermann Hesse: Vergänglichkeit (1919)
Abbildungsverzeichnis
Seit 1968 verleiht die Stadt Darmstadt den nach einem Lustspiel Georg Büchners benannten Leonce-und-Lena-Preis an einen Nachwuchslyriker oder eine Nachwuchslyrikerin. Der Preis gilt als bedeutendste Auszeichnung für junge Autoren auf dem Gebiet der deutschsprachigen Lyrik. Die wichtigsten Preisträger waren bislang Wolf Wondratschek (1968), Ludwig Fels, Rolf Haufs und Rainer Malkowski (alle 1979) und Ulla Hahn (1981). Bei der Ausschreibung 1983 gab es die Einsendung von 17.000 Gedichten von 1.400 Junglyrikern. Auch Literaturverlage berichteten damals, dass sie von Versen überschwemmt würden. Über dieses „unerwartete Wiederauftauchen der Poesie“ (Michael Rutschky) ist damals viel geschrieben worden. Hans Magnus Enzensberger meinte, dass ein solcher „poetischer Schub heute wie vor hundert Jahren zum normalen Prozess der Sozialisation“, als „Form der Selbstverständigung und der Selbsttherapie“ Heranwachsender gehöre. Marcel Reich-Ranicki vertrat in einem Aufsatz die These, die neue „Lust am Gedicht (sei) die Kehrseite des Schreckens.“ In einer Zeit der tatsächlich erlebbaren oder vorstellbaren Katastrophen – Kriege, Umweltkatastrophen, Hunger in den armen Ländern – wolle der Leser nicht das Echo dieser Endzeitstimmung, sondern „sich selber wiederfinden“. Das uns fortwährend bedrängende Grauen bewirke die Selbstbezogenheit des Zeitgenossen. Die aber finde ihr ideales Medium im Gedicht, der privatesten und intimsten Gattung der Literatur.
Wenn man mit offenen Augen durch den Alltag geht, stößt man allenthalben auf Lyrik. 2003 warb der VW-Konzern in seinen Werbebroschüren mit einem Vers von Erich Fried für seine Produkte: „Es ist, was es ist, sagt die Liebe“. An einer mit Graffiti besprühten Hauswand konnte man einen Vers von Angelus Silesius lesen: „Mensch, werde wesentlich“. Das Gedicht setzt sich so fort: „Denn wenn die Welt vergeht, so fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht.“
Gedichte sorgen mitunter auch für öffentlichen Streit. 2018 ließ die Alice-Salomon-Hochschule in Berlin ein Gedicht von Eugen Gomringer von ihrer Fassade entfernen. Es sei sexistisch, weil es die Frau zum Schauobjekt erniedrige: "Alleen / Alleen und Blumen / Blumen / Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer". Gomringer zählt zu den wichtigsten Vertretern der „Konkreten Poesie“. Die poetische Tilgung war ein Ausdruck der modisch gewordenen Identitätspolitik.
Zwischen dem Gedicht und seinen Lesern besteht eine geheimnisvolle Verbindung. Als Deutschlehrer konnte ich erleben, dass Schüler sich einen Lieblingslyriker erkoren, dessen Gedichte sie besonders verehrten. Sie ahmten sie nach und lernten sie auswendig. Lyriker wie Rilke, Trakl, Benn und George hatten schon zu Lebzeiten treue Anhänger, die einen Kult um ihren Liebling inszenierten. Menschen, die den Zweiten Weltkrieg überlebt haben, berichteten, dass sie in den schlimmsten Situationen – im Schützengraben oder im Luftschutzkeller – Trost durch Gedichte fanden, die sie in der Schulzeit auswendig gelernt hatten.
Ulla Hahn, eine der besten Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts, hat die Wirkung von Gedichten auf unsere Seele am besten beschrieben: „Im Gedicht begegnen wir einer Sprache, die tief und lebendig in unserem Unterbewusstsein wirkt. Aus diesen verborgenen Bedeutungen bildet Dichtung Muster wie auch aus den sicht- und hörbaren. Die verborgenen aber sind die stärkeren, weil sie sich dem Intellekt, den Filtern der Sachlichkeit, entziehen. Sie können uns aus unseren Vernunft-Verstecken scheuchen – mit geradezu physischer Wucht. Dazu müssen wir auch zwischen den Zeilen und hinter den Wörtern lesen. Jedes Gedicht ist deshalb die Aufforderung an den Leser: Lies dich selbst! Gedichte sind poetische Verwandte des Orakels von Delphi: Erkenne dich selbst!“
Die vorliegende Sammlung von fünfzig Gedichtinterpretationen verdankt sich – skurril genug – der Corona-Pandemie. Während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 kam ich auf die Idee, in meinem Facebook-Account jeden Tag ein Gedicht vorzustellen und es kurz zu interpretieren. Gedicht und Deutung waren als Aufmunterung gedacht, als Anstoß, die Zeit des häuslichen Eingeschlossenseins zu nutzen, über den Sinn unseres Lebens nachzudenken. Die Interpretationen sind nicht so germanistisch ausgefeilt, wie sie ein Lehrer im Deutschunterricht vornehmen würde. Mir geht es primär um den geistigen Gehalt, den biografischen Hintergrund und die sprachliche Aura der Gedichte. Die Online-Initiative war sehr erfolgreich. Ich erhielt viele „Likes“ und zustimmende Kommentare. Eine Deutschlehrerin, die in Australien lebt, äußerte den Wunsch, die Gedichte samt Interpretationen gedruckt lesen zu dürfen. Diesem Wunsch komme ich nach, weil ich weiß: Gedichte gehören zur lebenslangen geistigen Wegzehrung des Menschen.
Berlin, im Frühjahr 2023
Sei dennoch unverzagt! Gib dennoch unverloren!
Weich keinem Glücke nicht, steh höher als der Neid,
vergnüge dich an dir und acht es für kein Leid,
hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.
Was dich betrübt und labt, halt alles für erkoren;
nimm dein Verhängnis an. Lass alles unbereut.
Tu, was getan muss sein, und eh man dir's gebeut.
Was du noch hoffen kannst, das wird noch stets geboren.
Was klagt, was lobt man noch? Sein Unglück und sein Glücke
ist ihm ein jeder selbst. Schau alle Sachen an:
dies alles ist in dir. Lass deinen eitlen Wahn,
und eh du fürder gehst, so geh in dich zurücke.
Wer sein selbst Meister ist und sich beherrschen kann,
dem ist die weite Welt und alles untertan.
Paul Fleming, Arzt und Dichter, ist mit nur 30 Jahren in Hamburg an einer Lungenentzündung gestorben. Das Gedicht "An sich" wurde ein Jahr nach seinem Tod veröffentlicht. Wie sein Dichterkollege Andreas Gryphius hat Fleming den Dreißigjährigen Krieg hautnah miterlebt. Die Eingangszeile des Gedichts "Sei dennoch unverzagt! Gib dennoch unverloren!" bezieht sich auf die schrecklichen Erlebnisse, denen die Menschen beim Gemetzel des Glaubenskrieges ausgesetzt waren. Fleming setzt nicht auf christliche Zuversicht, wie man von einem Barockdichter hätte erwarten können. Er verweist vielmehr auf die mentale Stärke des Menschen ("dies alles ist in dir"), um daraus Stärke und Zuversicht zu gewinnen. Mit dieser Botschaft weist er voraus auf die Zeit der Aufklärung, die den Menschen in den Mittelpunkt rückte. Der aufgeklärte Mensch befreit sich aus der Bevormundung durch die Religion, indem er sich auf seinen Verstand und seine seelische Kraft besinnt. Sein eigener Meister sein zu wollen, wie es am Ende des Gedichts heißt, war in der glaubensstarken Zeit des 17. Jahrhunderts eine Zumutung - nicht nur für den Klerus, der um die Gefolgschaft der Gläubigen fürchtete. Auch vielen einfachen Menschen fiel es schwer, sich aus der "selbstverschuldeten Unmündigkeit" zu befreien, wie es Immanuel Kant in seinem Aufsatz "Was ist Aufklärung?" empfahl. Umso erstaunlicher ist der Rat aus dem Munde eines Barockdichters. Als Arzt wusste Fleming allerdings, dass es der Mensch durchaus in der Hand hat, sein Schicksal ein Stück weit zu beeinflussen, z.B. durch eine gesunde Lebensweise und die Befolgung hygienischer Regeln.
Das Gedicht ist ein Sonett, eine Gedichtform, die im Barock häufig verwendet wurde. Auf zwei Quartette folgen zwei Terzette. Das Metrum ist der sechsfüßige Trochäus, den man auch Alexandriner nennt. Zehn der vierzehn Verse haben in der Mitte eine Zäsur. Das Reimschema ist der umschließende Reim (abba), der bei den Terzetten auch strophenübergreifend verwendet wird. Das Gedicht schließt mit einem Paarreim. Die Argumentation im Gedicht ist antithetisch aufgebaut: Den Zumutungen des Lebens („Verhängnis“) wird das richtige Verhalten entgegengestellt. Das Gedicht endet mit einer Art Lehre („Wer selbst sein Meister ist…“), deren Beherzigung zu einem glücklichen Leben beiträgt.
Laue Luft kommt blau geflossen,
Frühling, Frühling soll es sein!
Waldwärts Hörnerklang geschossen,
Mut'ger Augen lichter Schein;
Und das Wirren bunt und bunter
Wird ein magisch wilder Fluss,
In die schöne Welt hinunter
Lockt dich dieses Stromes Gruß.
Und ich mag mich nicht bewahren!
Weit von euch treibt mich der Wind,
Auf dem Strome will ich fahren,
Von dem Glanze selig blind!
Tausend Stimmen lockend schlagen,
Hoch Aurora flammend weht,
Fahre zu! Ich mag nicht fragen,
Wo die Fahrt zuende geht!
Wie keine andere Jahreszeit löst der Frühling im Menschen ein überschwängliches Lebensgefühl aus. Man spricht deshalb auch von Frühlingsgefühlen, die mit Neubeginn und Liebeswerben zu tun haben. Das Gedicht von Eichendorff beschwört den Frühlingsbeginn mit einem emphatischen Ausruf, der wie eine Beschwörung klingt: „Frühling, Frühling soll es sein!“. Die Jagd, die sich mit Hörnerklang im Wald vollzieht, gibt dem lyrischen Ich das Signal zum Aufbruch in eine neue Lebensetappe. Der lyrische Sprecher wird verführt, die Heimat zu verlassen und sich der unbekannten "schönen Welt" auszuliefern. Ziel ist eine Entgrenzung, die nicht danach fragt, ob man in einem sicheren Hafen landet. Der Weg ins Offene ist das Ziel. Der Aufbruch ins Unbekannte gehorcht einem Befehl jenseits der Vernunft. „Von dem Glanze selig blind“ bedeutet, sich den irrationalen Impulsen des Lebens auszusetzen.
Das lyrische Ich im Gedicht ist - wunderlich genug - eine Frau, wie der Kontext des Romans „Ahnung und Gegenwart“, in dem das Gedicht steht, deutlich macht. Für Frauen im 19. Jahrhundert war das trotzige "Und ich mag mich nicht bewahren..." ganz und gar ungewöhnlich. Ihre gesellschaftliche Rolle war es, sich für einen ehrenhaften Mann „aufzubewahren“, ihre Jungfräulichkeit zu behüten.
Auffällig ist die Häufung aktiver Verben, die Aufbruch und Bewegung ausdrücken (fließen, schießen, treiben, locken). Partizipien aus aktiven Verben unterstreichen diesen Bewegungsimpuls (lockend, flammend). Die Beschwörung der lateinischen Göttin der Morgenröte („Hoch Aurora…“) verleiht dem Aufbruch eine göttliche Weihe.
Das Gedicht gehört unverkennbar der romantischen Epoche an. Fernweh, Aufbruch und Entgrenzung sind die Stichworte, mit denen die romantischen Dichter ihre Leser motivierten, ihr Leben zu „romantisieren“, wie es der Dichter Novalis (Friedrich von Hardenberg) ausgedrückt hat.
Dämmrung will die Flügel spreiten,
Schaurig rühren sich die Bäume,
Wolken zieh’n wie schwere Träume -
Was will dieses Graun bedeuten?
Hast ein Reh du lieb vor andern,
Laß es nicht alleine grasen,
Jäger zieh’n im Wald’ und blasen,
Stimmen hin und wider wandern.
Hast du einen Freund hienieden,
Trau ihm nicht zu dieser Stunde,
Freundlich wohl mit Aug’ und Munde,
Sinnt er Krieg im tück’schen Frieden.
Was heut müde gehet unter,
Hebt sich morgen neu geboren.
Manches bleibt in Nacht verloren -
Hüte dich, bleib’ wach und munter!
Das Gedicht verwendet - typisch für die Romantik - Vorgänge in der Natur als Chiffren für seelische Stimmungen. Der Einbruch der Dämmerung wird vom lyrischen Ich als "schaurig" und grauenerregend empfunden. Er weckt ein Gefühl der Gefährdung menschlicher Beziehungen, von Liebe und Freundschaft. Die ängstliche, unruhige Stimmung des Sprechers äußert sich in einer irritierenden Frage: "Was soll dieses Grauen bedeuten?" und in einem warnenden Ausruf: "Hüte dich, bleib´ wach und munter!" Die Dämmerung geht über in die Nacht (ein weiteres wichtiges Romantikmotiv!), die dem Ermatteten nicht nur neue Kräfte verleihen, sondern auch Verlust und Tod bringen kann. Für den Romantiker Eichendorff ist der Dämmerungszustand also Anlass für Beunruhigung und Angst.
Dieses Gedicht ist eines der dunkelsten und traurigsten, die der Dichter uns hinterlassen hat. Es findet sich gleichfalls in seinem Roman "Ahnung und Gegenwart". Im Kontext des Romans steht das Gedicht "Zwielicht" an der Stelle, wo der junge Protagonist Friedrich seine Geliebte an einen Adeligen verliert. Es wirkt wie eine Bekräftigung der Eifersucht. Der Philosoph Theodor W. Adorno hat dieses Gedicht besonders geliebt. Die verstörende Aufforderung, das liebe Reh nicht allein grasen zu lassen, nennt er eine "schizoide Mahnung" und eine "Verfolgungsfantasie". Robert Schumann hat das Gedicht in seinem "Liederkreis" (1840) vertont. Seine Komposition unterstreicht durch chromatische Verschränkungen den geheimnisvoll-düsteren Charakter der Verse.
Das Metrum des Gedichts ist der vierfüßige Trochäus, das Reimschema ist der umschließende Reim (abba). Beunruhigung und Verunsicherung des Sprechers drücken sich in Fragen („Was will dieses Grauen bedeuten?“) und in Imperativen aus („Trau ihm nicht…“ / „Hüte dich…“). Naturbilder unterstreichen die schaurige Stimmung, die den lyrischen Sprecher in der Dämmerung heimsucht.
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.