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Nachdem die Geschehnisse auf dem Maskenball alles verändert haben, steht Selena vor neuen Herausforderungen, die ihr noch mehr abverlangen werden als alles zuvor. Denn von nun an ist sie nicht mehr die chancenlose Teilnehmerin der Königinnenkür aus Escania, sondern eine Ikone des Volkes, die für die Revolution steht. Um für diese weiterzukämpfen, begibt sie sich auf eine Reise durch Achsania, die von der Skrupellosigkeit ihrer Feinde geprägt ist, die vor nichts zurückschrecken. Während sie alles dafür gibt, die Frauenrechte zu stärken und dafür kämpft, dass die Begabten nicht länger verfolgt werden, erfährt sie, welches Erbe sie besitzt. Ein Erbe, das die einzige Chance bietet, Achsania vor dem völligen Untergang zu bewahren. Aber um diesen zu verhindern, muss Selena sich fragen, wer sie wirklich ist – und ob sie ihre Rolle erneut überleben wird.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Alina Everdale
ACHSANIA
Die Vereinte
(Band 2)
ACHSANIA – Die Vereinte
© 2025 VAJONA Verlag GmbH
Originalausgabe bei VAJONA Verlag GmbH
Lektorat: Madlen Müller
Korrektorat: Aileen Dawe-Hennigs und Lara Gathmann
Umschlaggestaltung: VAJONA Verlag GmbH,
unter Verwendung von rawpixel
Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Für Lukas
»Even in my worst times, you could see the best of me«
– Taylor Swift
Hinweis
Dieses Buch enthält Elemente, die triggern können: Missbrauch, Vergewaltigung, Suizid, Gewalt, Trauer und Tod.
Die ewige Chronikschreiberin
Die Feder jagte von einem Wort zum nächsten und verwandelte die Gegenwart in die Vergangenheit, die jetzt für immer, Wort für Wort, auf dem Pergament verewigt war. Obwohl die Worte »für immer« so sehr täuschen konnten wie das Wort »niemals«. Nichts war trügerischer, als ein Versprechen an die Zeit zu binden, denn die Zeit war es niemandem schuldig, Versprechen zu wahren. Diese Erkenntnis hatte sie schon viele Male, durch die Geschichten, die sie Tag um Tag niederschrieb. Manchmal wünschte sie sich, dass es tatsächlich Geschichten wären und nicht die Realität von Menschen aus Fleisch und Blut. Von Menschen, die noch an »für immer« und »niemals« glaubten. Doch in diesem Moment wünschte sie sich selbst, dass es wahr werden könnte.
Sie wünschte sich, dass sie nicht mehr die Seiten mit den schlimmsten Qualen der Menschen und den abscheulichsten Taten füllen musste. Sie wollte daran glauben, dass die Geschichte tatsächlich eine unerwartete Wendung genommen hatte und dass das Märchen von »für immer« und »niemals« endlich wahr werden konnte. Auch wenn viele Zweifel in ihr herrschten, so existierte schwach leuchtend, im hintersten Teil ihrer Seele, Hoffnung. Und diese wollte sie zumindest vorerst behalten. Denn wenn sie eines durch tausende von Jahren gelernt hatte, dann war es, dass die Hoffnung von Menschen diese zu Unglaublichem anspornen konnte. Denn die Hoffnung war nicht so töricht, zu glauben, dass die Zeit sie nicht auch zerstörte.
Nein. Die Hoffnung wusste, dass sie irgendwann erlöschen könnte. Aber solange es noch nicht so weit war, brannte sie. An manchen Tagen strahlend hell wie die Sonne, an anderen hingegen war sie nur ein flackerndes Licht in einer eisigen Nacht. Trotzdem war sie da. Und solange sie da war, erlaubte sie sich, ebenfalls daran zu glauben, dass die Geschichte ab sofort von Gerechtigkeit erfüllt werden würde. Aber diese Hoffnung schwand schleichend, als sie weitere Seiten schrieb. Die Hoffnung war da, genauso wie die Chance. Beides konnte die Welt von den klaffenden Wunden heilen, die sie besonders die letzten fünfzig Jahre, durch die Herrschaft von König Nairos, davongetragen hatte. Wenn nicht, dann war die Frage, ob die Zeit doch bald ihr Ende finden würde. Sie war sich nicht sicher, ob eine junge Frau, namens Selena Konveras, die Kraft besaß, sich gegen die Zeit aufzulehnen. Sie hoffte es. Und solange diese Hoffnung leuchtete, gab es etwas zu schreiben. Eifrig begann sie mit der nächsten Seite.
Die Zeit hatte eine merkwürdige Eigenschaft dafür, dass wir sie exakt in Sekunden, Minuten oder gar Stunden messen konnten. In manchen Momenten schien die Zeit irgendwo festzuhängen und sich erst nach einer halben Ewigkeit weiterzubewegen, als würde sie manchmal selbst eine Pause von allem brauchen. Und in anderen wiederum konnte sie es gar nicht eilig genug haben. In diesem Augenblick, während ich spürte, wie ich nach hinten fiel, traf keines von beidem zu. Es war, als hätte mein Verstand alle Gedanken in meinem Kopf verlangsamt, während um mich herum alles in rasender Geschwindigkeit ablief, als befände ich mich irgendwo zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. In meinem Kopf tauchte das Bild von König Nairos ungläubig geweiteten Augen auf, nachdem Cedric, sein Sohn, ihm die Klinge in das Herz gestoßen hatte. Jene Klinge, die Sekunden zuvor noch den Kopf von meinem Körper trennen sollte, weil mich König Nairos wegen Hochverrats von Cedric hinrichten lassen wollte. Kurz darauf war die Fensterwand des ausladenden Ballsaals in tausende Splitter zerbrochen und die Geeinten waren in den Palast eingedrungen. In diesem Augenblick war ich vor Schreck nach hinten gestolpert und gefallen. Dieser Fall endete jetzt mit einem dumpfen Schmerz an meinem Hinterkopf, der mein Sichtfeld schwarz färbte. Mit aller Kraft wehrte ich mich dagegen, in die verlockende Schwärze zu fallen, die Ruhe und keinen Schmerz versprach. Aber ich durfte nicht nachgeben. Nicht jetzt. Mein Herz raste und meine Atemzüge passten sich ebenfalls dem schnellen Rhythmus an, um mich anzuspornen, bei Verstand zu bleiben. Langsam versuchte ich, mich aufzusetzen. Das Schwindelgefühl setzte erneut ein und ich klammerte mich an den Handlauf der Treppe, um nicht zur Seite zu kippen. Alles in mir rief danach, mich in Bewegung zu setzen, mich nützlich zu machen, aber … ich konnte nicht. Erneut sank ich zu Boden und presste meine Stirn gegen den kühlen Baluster. Ich schloss die Augen und spürte, wie der Schwindel nachließ. Doch mir blieb nicht genügend Zeit, damit das Schwindelgefühl endgültig abklingen konnte, denn im nächsten Moment griff eine Hand nach meinem rechten Arm und riss mich zur Seite. Sofort verschwamm alles um mich herum erneut und meine Versuche, mich dem gnadenlosen Griff zu entziehen, schlugen fehl. Sie waren nahezu erbärmlich. Panik breitete sich in meinem Inneren aus, doch bevor sie mich ganz verschlingen konnte, spürte ich, wie mein rechter Arm freigegeben wurde. Ein schmerzerfüllter Schrei von einem Mann war das Nächste, was ich hörte, während ich spürte, wie sich Arme um meine Taille schlangen und mich nach hinten zogen.
»Alles gut, ich bin da«, hörte ich Cedrics vertraute Stimme, die meinen Körper sofort mit Erleichterung durchflutete. Er ließ mich zu Boden sinken und legte seine Hände auf meine Wangen.
»Schließ die Augen und atme tief ein und aus«, wies er mich an. Mit jedem tiefen Atemzug vertrieb ich den Schwindel mehr und mehr. Dabei bahnte sich die Gewissheit, was um mich herum geschah, einen Weg in meinen Verstand.
Die panischen Schreie der Ballgäste.
Das Klirren der Schwerter, wenn sie aufeinanderprallten.
Die Befehle der Soldaten, die lautstark durcheinandergerufen wurden und sich in dem Chaos verloren.
Cedrics Augen, die mich ansahen und Erleichterung erkennen ließen, da ich ihm mit einem Nicken signalisierte, dass es mir wieder besser ging.
Als Nächstes fielen mir die Blutspritzer in seinem Gesicht und auf seiner Uniform auf, die Minuten zuvor noch makellos im Schein der Kerzen geglänzt hatte. Das Weinrot seiner Uniform war an einigen Stellen dunkelrot verfärbt.
»Komm«, sagte er und griff nach meiner Hand, um mich die Treppe zu jener Empore hochzuführen, auf der sich die Geschichte heute Nacht gewendet hatte.
»Was hast du vor?«, fragte ich ihn und blickte mich um. Die Mitglieder der Geeinten kämpften in ihrer taupefarbenen Kleidung gegen die in Rot gekleideten königlichen Soldaten. An den Wänden des Ballsaals standen die festlich gekleideten Inventos und andere Reiche, die jetzt die gleiche Angst fühlten wie die Begabten jahrzehntelang unter Nairos’ Herrschaft. Dieser Gedanke hatte etwas Befriedigendes an sich, doch das war nicht, wofür die Geeinten standen. Es war nicht, wofür ich stehen wollte. Das Fürchten und das Töten mussten aufhören. Auf beiden Seiten.
»Wir müssen versuchen, die Soldaten, die Nairos immer noch treu ergeben sind, zum Aufgeben zu bewegen. Ansonsten endet das hier in einem Gemetzel«, antwortete mir Cedric. Ich hielt meinen Blick weiterhin nach vorn auf die Menschenmenge gerichtet, anstatt auf Nairos regungslosen Körper zu sehen, unter dem sich eine Blutlache gebildet hatte. Er war tot. König Nairos war tot. Die Gewissheit drang nur zögerlich in meinen Kopf, da sie zu surreal wirkte.
»Und was ist dein Plan?« Sein Kiefer spannte sich zu einer harten Linie an, während er überlegte.
»Es gibt keinen. Der Plan ist gescheitert, als Nairos Rea verurteilen wollte. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen.« Die Gewissheit, dass wir – im entscheidendsten Moment – improvisieren mussten, ließ meinen Herzschlag für eine Sekunde aussetzen. Fieberhaft überlegend blickte ich nach unten. Auf den ersten Blick sah es wie ein Kampf aus, doch auf den zweiten war erkennbar, dass niemand dort unten wusste, was er eigentlich tun sollte. Die königlichen Soldaten waren in der Unterzahl, denn viele ihrer Kameraden hatten sich auf die Seite der Geeinten geschlagen, aber sie kämpften dennoch unermüdlich gegen diese an. Die Geeinten jedoch kämpften nur, weil sich die Soldaten zur Wehr setzten. Dabei fiel mir auf, dass sie bei ihren Angriffen darauf achteten, niemanden zu töten, sondern nur zu verletzen. An diesem Tag sollte schließlich nur einer sterben.
»Wir müssen ihre Aufmerksamkeit auf dich lenken«, dachte ich laut nach. Cedric nickte.
»Wir brauchen eine Begabte«, stellte er fest und ich pflichtete ihm bei, dass jemanden nötig war, der über eine der neun Gaben verfügte. Eine Elementarin, eine Gravietin oder eine Täuscherin, ganz egal. Es war die einzige Möglichkeit, wie wir schnell und effizient erreichen konnten, dass sie ihre Schwerter senkten und zuhörten. Ich musste jemanden finden … und zwar schnell.
»Hier oben sehe ich niemanden, ich gehe nach unten«, sagte Cedric und drehte sich um.
»Nein, du bist der Einzige, der sie überzeugen kann. Wenn dir etwas passiert, wird es noch schlimmer. Ich gehe runter und suche jemanden.« Ich drehte mich um, damit ich sofort mit der Suche beginnen konnte, doch Cedric stellte sich vor mich. Ich wollte mich umdrehen, um nach unten zu gehen, als er sich mir in den Weg stellte.
»Nein, Selena, du bist der Grund, wieso wir so weit gekommen sind. Dir darf nichts passieren.« Es war das erste Mal, dass ich es hasste, zu der geworden zu sein, die ich nun war.
»Nein«, brachte ich erstickt heraus und griff nach seiner Hand. In seinem Blick sah ich Entschlossenheit, die mich rasend machte. Dort unten herrschte das Chaos und wir konnten uns nicht sicher sein, wie viele ihn als Mörder ihres Königs betrachteten. Bevor ich eine weitere Gelegenheit hatte, mir eine andere Lösung zu überlegen, wurde es plötzlich dunkel. Cedric zog mich schützend an sich und ich krallte mich in seine Uniform. Ich lauschte in die Stille, die lediglich von einem Raunen gestört wurde, als sich alle zu fragen begannen, was geschehen war. Doch bevor jemand eine Antwort darauf finden konnte, tanzten einzelne Flammen, so klein wie Daumen, durch den Ballsaal. Eine Elementarin, dämmerte es mir und beinahe hätte ich vor Erleichterung aufgeschluchzt.
Die Flammen bewegten sich zur Empore hinauf und bildeten um uns einen schützenden Kreis, sodass sich alle zu uns umwandten. Sofort streckte ich meinen Rücken durch und versuchte, so selbstbewusst wie möglich zu wirken. Alle Augenpaare waren auf Cedric und mich gerichtet. Während der Königinnenkür lagen schon viele Male Augenpaare auf mir und hatten mich mit den unterschiedlichsten Blicken bedacht. Doch dieses Mal war es anders. Dieses Mal stand viel mehr auf dem Spiel. In diesem Moment musste ich meine ganze Stärke beweisen, meine Selbstzweifel mussten weichen. Ich durfte niemandem zeigen, wie viel Angst ich plötzlich hatte, zu versagen. Auf einmal spürte ich, wie Cedrics Hand meine umschloss und sie drückte. Obwohl mein Körper und all meine Sinne zum Zerreißen gespannt waren, musste ich für einen kurzen Moment lächeln. Ich war nicht allein. Cedric war bei mir. Mit ihm wäre ich nie wieder allein. Dieser Gedanke gab mir die nötige Zuversicht, um mein Kinn entschlossen nach oben zu recken, als Cedric zu sprechen begann: »König Nairos ist tot. Das Gesetz sieht vor, dass ich, als sein Sohn, den Thron erbe.« Während Cedric sprach, fanden immer mehr Flammen zu ihren Kerzen zurück, sodass die Dunkelheit allmählich einer Dämmerung glich.
»Aber ich verzichte auf dieses Erbe.« Auf diese Worte folgte ein Murmeln in der Menge. Die Soldaten berieten sich darüber, was es damit auf sich haben konnte, die Inventos hingegen tauschten sich darüber aus, was sie unternehmen könnten, um Vorteile aus der Situation zu schlagen. Cedric fuhr fort, als wieder Ruhe einkehrte: »Ich verzichte auf mein Recht, den Thron zu erben, da unser Land ab dem heutigen Tag von keinem König mehr regiert werden soll. König Nairos hat gezeigt, was ein einziger Mann zerstören kann, wenn ihm die Macht dazu verliehen wird. Seine Regentschaft war gezeichnet von absolutistischer Macht, Egoismus seinem eigenen Volk gegenüber und hunderten Hinrichtungen von Menschen, die niemals eine Gefahr dargestellt haben. Es ist an der Zeit, diese Herrschaft zu beenden und nie wieder jemanden die Macht zu geben, Grausamkeit statt Gerechtigkeit über das Volk walten zu lassen. Aus diesem Grund verzichte ich auf meinen Thron und rufe stattdessen die Regierung der Geeinten aus. Ab jetzt wird ein Gremium aus Männern und Frauen sowie Begabten die Regierung übernehmen. Die Geeinten lassen die Stimme des Volkes wieder erklingen, das viel zu lange mundtot gemacht wurde. Parallel zum Sturz des Königs haben sich die Geeinten in jeder Stadt erhoben. Somit wurde ebenfalls die Macht der Inventos gestürzt. Sie wären nun unsere Gefangenen und, wie es bei der Revolution üblich ist, auch tot. Doch dafür stehen die Geeinten nicht. Die Geeinten stehen dafür, neue Wege zu gehen, und diese sehen vor, dass jedem Inventos freies Geleit geboten wird, sofern die Friedenspflicht von achtzehn Tagen akzeptiert wird. Diese sieht vor, dass keine Kämpfe begonnen, sondern Verhandlungen geführt werden. Falls dies nicht akzeptiert wird, behalten wir es uns vor, diejenigen gefangen zu nehmen. Entscheidet jetzt.«
Zum Ende seiner Worte erhellte sich der Raum schlagartig wieder. Neben jeder Inventos-Familie stand ein Mitglied der Geeinten mit einem Pergament sowie einer Feder. Auf der anderen Seite des Saals hatten sich die verbliebenen Soldaten des Königs zusammengefunden und waren bei Cedrics Rede in die Knie gegangen, um ihre Ergebenheit zu zeigen. Ich ließ meinen Blick durch den Saal schweifen, der von Glassplittern und Blut gezeichnet war. Es war keine Leiche zu erkennen. Entweder die Elementarinnen mit dem Element der Nacht hatten diese während der Dunkelheit weggeschafft oder es war tatsächlich geglückt, dass niemand anderes als Nairos heute sein Ende finden musste.
»Denkst du, die Inventos unterschreiben die Friedenspflicht?«, flüsterte ich Cedric zu.
»Die Inventos sind von außen betrachtet eine der vorhersehbarsten Figuren im Machtgefilde, denn die Inventos wollen nur eins: Macht. Wenn sie die Friedenspflicht nicht unterzeichnen, dann verlieren sie alles. So haben sie noch eine kleine Chance, ihre Position zu sichern und weiterhin im Reichtum zu schwelgen. Schließlich wissen sie, dass wir in gewisser Hinsicht auf sie angewiesen sind, denn auch wenn wir viele Menschen hinter uns haben, gibt es noch einige, die Nairos weiterhin treu ergeben sind. In der Friedenspflicht wird sich entscheiden, ob wir das Volk vereinen und regieren können.« Falls nicht, stürzen wir das Land in einen Bürgerkrieg, vervollständigte ich seinen Satz im Kopf. Bei diesem Gedanken überkam mich eine Gänsehaut.
Auf einmal trat Jamila zu uns auf die Empore.
»Alle Inventos haben unterzeichnet. So wie du gesagt hast, Cedric«, verkündete sie.
»Wir beginnen nun mit der Übertragung durch die Inflexate in alle Städte. Auch wenn wir wissen, dass wir viele hinter uns versammeln konnten, ist jetzt der entscheidende Moment, ob wir sie an die Angst vor der Veränderung verlieren oder sie halten und weitere dazugewinnen können. Jetzt entscheidet sich, wie schwer wir es in den nächsten zweieinhalb Wochen haben werden.« Sie sprach hauptsächlich zu mir, als wollte sie mir die Bedeutung von diesem Moment näherbringen. Ich unterdrückte den Impuls, ihr zu sagen, dass mir durchaus bewusst war, was auf dem Spiel stand, aber stattdessen hielt ich die Worte zurück. Jetzt musste ich mich darauf konzentrieren, zu überzeugen, und nicht darauf, wie ich mich vor Jamila beweisen konnte.
Kurz darauf trat sie neben mich und der Vorhang vor dem Inflexat, das uns gegenüberstand, wurde weggezogen.
Schlagartig hatte ich das Gefühl, mich jeden Moment übergeben zu müssen. Wenn ich jetzt versagte, dann zerstörte ich alles. Ich durfte nicht versagen. Du bist stark, stärker als alles um dich. Du lässt dich nicht brechen, für niemanden.
Cedric
Als er direkt auf das Inflexat blickte, hätte er am liebsten geschrien. Denn jetzt war der Moment, wo das Adrenalin aus seinem Körper wich und seine Gedanken wieder zum Vorschein kamen, als wären sie die letzten Momente von einem Nebel verhüllt worden. Nun begannen sie, wie ein Schauer auf ihn niederzuprasseln.
Der Moment, als Nairos den Richtspruch verkündet hatte.
In dieser Sekunde hatte er realisiert, dass der Plan der Geeinten, den sie wochenlang sorgfältig und bis ins kleinste Detail geplant hatten, keine Gültigkeit mehr besaß. Ab diesem Augenblick war alles nur noch Improvisation gewesen. Normalerweise lag es ihm, spontan umzudenken und den alten Plan durch neue Möglichkeiten zu ersetzen. Doch als Selena gezwungen wurde, sich zu enttarnen, hatte ihn die Gewissheit, dass Nairos sie töten würde, wie eine Würgeschlange gepackt und nicht mehr losgelassen. Der einzige Grund, wieso dieses Szenario nicht eingetreten ist, war, dass Nairos es ihm überlassen hatte, sie hinzurichten. Es war der einzige Moment in seinem ganzen Leben gewesen, in dem er dankbar für die Grausamkeit seines Vaters gewesen war, denn dadurch hatte er die einzige Chance erhalten, Selena zu retten und ihn umzubringen. Manch anderer stünde nach dem Mord an dem eigenen Vater unter Schock. Aber nicht er. Niemals würde er für den Mann, der seinen eigenen Sohn körperlich und mental misshandelt hatte, Trauer empfinden. Das Einzige, was er bereute, war, dass er ihn nicht eher getötet hatte. So viele Leben hätten dadurch gerettet werden können. So viele Erinnerungen, in denen Menschen vor seinen Augen gefoltert und anschließend hingerichtet wurden, wären ihm erspart geblieben. Dadurch hätte er weniger schwarze Flecken auf seiner Seele, die ihn innerlich zerrissen und die er vergessen wollte. Aber spätestens in seinen Albträumen holten sie ihn wieder ein.
In diesem Moment wurde das Inflexat enthüllt und seine Gedanken lösten sich damit von der jüngsten Vergangenheit und richteten sich stattdessen auf das, was ihm beinahe die Luft zum Atmen nahm: Die Gewissheit, dass die Chance, die Macht der Geeinten zu festigen, jetzt endlich greifbar war. Durch seine Erziehung sah man ihm in diesem Moment Stärke, Selbstbewusstsein und Autorität an. Aber innerlich zitterte er so sehr wie in dem Augenblick, als er das Schwert auf Selenas Nacken gelegt hatte. Erneut griff er nach ihrer Hand, so wie er es auch schon bei der Ansprache vor den Inventos getan hatte. Sofort merkte er, wie das Zittern ihrer Hand nachließ und ihre Körperhaltung sich etwas entspannte. Er wünschte sich, dass er ihr auch zeigen konnte, was ihre Nähe für einen Einfluss auf ihn hatte. Sie war es, die ihn in diesem Moment davon abhielt, durchzudrehen. Nairos war tot und nun war es seine Aufgabe, die Schäden, die er angerichtet hatte, wiedergutzumachen. Er musste für die Schuld einstehen, die Nairos auf sich geladen hatte, indem er Menschen Grausames angetan hatte. Aber nicht nur dafür, sondern auch für seine eigene, die er sich nicht bereit war, einzugestehen, denn es würde bedeuten, dass er Selena für immer verlor. Und das würde er nicht ertragen können.
Mein Herz raste. Mein Mund war staubtrocken und ich hatte das Gefühl, dass ich kein Wort herausbringen würde. Ich wusste nicht einmal, was ich sagen sollte. Ich stand zwischen Cedric und Jamila, die beide selbstbewusst in das Inflexat sprachen und das Volk ihnen dadurch augenblicklich die Herrschaft über Achsania anvertraute. Weder ihre Wortwahl noch ihre Mimik und Gestik ließen den kleinsten Zweifel daran zu, dass sie dieser Aufgabe gewachsen waren.
»Bis zum Ende der Friedenspflicht in achtzehn Tagen wird Achsania vorübergehend von den angesehensten Mitgliedern der Geeinten regiert. Danach werden wir dazu übergehen, in jeder Stadt Wahlen abzuhalten. Bei dieser Wahl kann sich jeder, egal ob Mann oder Frau, aufstellen lassen, um gemeinsam mit weiteren Abgeordneten die besten Entscheidungen für die jeweilige Stadt zu treffen. Des Weiteren werden bei dieser Wahl ebenfalls jene Abgeordnete gewählt, die als Vertretung für die Stadt im Rat von Sylinkya einen Platz haben werden. Dieser Rat wird zentrale Beschlüsse festlegen und die Obrigkeit über die Regierungsgeschäfte in Achsania haben, um sicherzustellen, dass wir uns als ein geeintes Reich weiterentwickeln. Die Wahlen werden sich alle fünf Jahre wiederholen, um sicherzustellen, dass stets jene mit der Regierung betraut sind, die das Vertrauen des Volkes innehaben«, endete Cedric und übergab das Wort an Jamila. Stolz auf ihn flammte in meinem Inneren auf, als ich bemerkte, wie das anfängliche Misstrauen in manchen Gesichtern langsam zu Neugierde wurde. Uns war allen klar, dass die Vorstellung von einer Demokratie, nachdem Achsania tausende Jahre lang vom gleichen absolutistischen System regiert worden war, Zeit brauchte, um genug Vertrauen zu gewinnen. Aber heute legten die Geeinten den Grundstein. Nicht nur für die Demokratie, sondern auch für die Frauenrechte, die mit Nairos’ Regentschaft in einen dunklen Schatten gerückt waren. Dazu kam jetzt Jamila.
»Außerdem wird das Gesetz, dass Männer einen Anspruch auf den weiblichen Körper haben, mit sofortiger Wirkung außer Kraft gesetzt. Jegliche körperlichen Handlungen, die ohne Zustimmung einer Frau vollzogen werden, werden bestraft. Achsania soll ab dem heutigen Tag ein Land sein, in dem die Menschen nicht nur von Gerechtigkeit träumen, sondern sie leben. Dazu zählen selbstverständlich auch die Begabten. Von heute an sollen sie nicht mehr als Feind gesehen werden, sondern als zur Gesellschaft dazugehörend. Es zählt zu den größten und schrecklichsten Lügen, die König Nairos verbreiten ließ, dass die Begabten das Ziel hätten, euch zu zerstören. Um dieses Argument zu entkräften, werden wir als Geeinte alles daransetzen, euch zu zeigen, dass Magie nicht gefährlich ist, sondern Gutes vollbringen kann. Uns allen ist bewusst, dass dies eine große Veränderung ist, doch lasst es uns als eine Chance sehen. Als eine Chance, dass die Gerechtigkeit am Ende siegen wird, dass Hass und Hetze nicht über Frieden und Wertschätzung stehen, sondern tief in jedem von uns verankert sind.« Normalerweise erwartete man bei diesen Worten tosenden Beifall. Stattdessen herrschte Stille im Ballsaal, die sich nahezu genauso ohrenbetäubend anfühlte, wie wenn die Menschen applaudiert hätten. Manche Inventos reckten trotzig das Kinn, andere hingegen sahen aus, als wären sie noch nicht sicher, was sie davon halten sollten. Verständlich, da die Geeinten alles veränderten. Erst nachdem ein Moment verstrichen war, begannen die uniformierten Geeinten zu klatschen, als hätten sie den Inventos und den anderen einflussreichen Familien Zeit geben wollen, sich offen als Verbündete zu zeigen. Da sich Cedrics Körperhaltung neben mir nicht noch weiter anspannte, ging ich davon aus, dass mit dieser Reaktion gerechnet worden war. Es half mir dabei, einen Atemzug nach dem anderen zu machen, nachdem es mir die letzten Sekunden fast die Luft abgeschnürt hatte. Seit Cedric Nairos getötet hatte, gab es kein Zurück mehr. Nicht einmal einen Blick auf die Vergangenheit konnten wir uns noch leisten, da wir uns voll und ganz auf die Gegenwart konzentrieren mussten, um eine Zukunft zu haben. Es blieb nur zu hoffen, dass der Umsturz in den Städten geglückt war, so wie Jamila behauptet hatte. Wir mussten die Menschen auf unserer Seite haben, die unter der Herrschaft von Nairos sowie den Inventos in Vergessenheit geraten waren, da man sie als nicht wichtig genug erachtet hatte. Wenn diese nicht von uns überzeugt wurden, dass der Umsturz durch die Geeinten tatsächlich gelingen konnte, dann – Plötzlich spürte ich von links einen leichten Stoß.
»Selena, dein Einsatz«, herrschte mich Jamila an und ich brauchte einen kurzen Moment, um mich von meinen Gedanken, die in den letzten Sekunden zu einem reißenden Fluss herangewachsen waren, zu lösen. Stattdessen stieg nun Panik in mir auf, da ich nicht wusste, welche Worte stark genug wären, um die Menschen zu überzeugen, sich auf eine Veränderung einzulassen, die entweder das Land retten oder es ganz ins Chaos stürzen konnte. Oder sollte ich etwas ganz anderes sagen?
»Erzähl ihnen, was du gerade fühlst«, raunte mir Cedric zu. Ich schloss die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Dieser Moment war nicht anders als jene, in denen ich bereits vor dem Volk gesprochen hatte. Vor ein paar Wochen hatte ich das gesagt, was ich fühlte, anstatt mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was andere von mir hören wollten. Mir wurde klar, dass das der größte Fehler war, den ich jetzt machen konnte: Mich zu verändern.
»Ich habe Angst«, begann ich. Es gelang mir, dass meine Stimme nicht zitterte, sondern stark und entschlossen klang, obwohl ich gerade vor dem ganzen Land eine Schwäche zugegeben hatte. Aus dem Augenwinkel heraus nahm ich wahr, wie Jamila sich bei meinen Worten versteifte, als befürchtete sie, dass ich ihre Fortschritte zunichtemachte.
»Und ich bin mir sicher, dass es den meisten so geht in Anbetracht dessen, was uns bevorsteht. Und ich denke, dass es in Ordnung ist, dass wir so fühlen. Denn Angst ist kein Gefühl von Schwäche, sondern es zeigt, dass Zukünftiges von großer Bedeutung ist. Hätten wir keine Angst, hieße das, uns wäre es egal, ob wir scheitern oder siegen. Aber das ist es nicht. Es war noch nie wichtiger, Angst zu haben, als jetzt. Heute haben die Geeinten den ersten Schritt auf dem Weg in eine bessere Zukunft gemacht. Eine Zukunft, in der ihr keine Angst mehr haben müsst um eure Töchter, die auf der Straße von Männern misshandelt werden, die sich das Recht herausnehmen, über ihnen zu stehen. Heute beginnt die Zukunft, in der keine Mutter, keine Tochter und keine Schwester mehr hingerichtet wird, weil sie Magie besitzt. Heute beginnt die Zukunft, in der kein Vater, Bruder oder Ehemann in einen Krieg geschickt wird, der schon so lange andauert, dass wir nicht einmal mehr wissen, wieso Menschen dafür sterben müssen. Nur gemeinsam können wir sie zu unserer Zukunft machen und die Vergangenheit hinter uns lassen. Nur so kann es uns gelingen, die Angst in Zuversicht zu verwandeln. Steht auf, erhebt euch, auch wenn euch die Knie zittern. Tut es für die, die ihr verloren habt. Tut es für die, die diesen Verlust nicht mehr erleiden sollen. Tut es für eure Kinder, euren Mann, eure Frau, für alle, die ihr in Sicherheit wissen wollt. Steht auf und erhebt euch!«, rief ich von meinen Emotionen mitgerissen. Mein Herz raste und mein Atem ging schnell vor Aufregung. Obwohl sich mein Herz danach sehnte, eine Bestätigung zu erhalten, dass meine Worte etwas bewegt hatten, so wusste ich, dass die Inventos sich davon nicht überzeugen ließen. Aus diesem Grund bereitete ich mich auf die Stille vor. Deswegen war ich umso überraschter, als ich plötzlich neben mir Applaus vernahm. Von Cedric. Ich sah zu ihm und erkannte ein stolzes Funkeln in seinen Augen.
»Du warst großartig«, schienen sie zu sagen und ich lächelte, die Angst, die mich zuvor noch fest im Griff gehabt hatte, fiel von mir ab. Überrascht drehte ich mich zu Jamila, die ebenfalls zu klatschen anfing, aber sie war nicht die größte Überraschung. Denn diese kam aus den Reihen der Inventos. Es dauerte ein wenig, bis ich die Person ausmachte. Es war Daeniel, der Sohn der Inventos-Familie Duana. Als wir im Rahmen der Königinnenkür in seiner Stadt Halt gemacht hatten, hatte er mich zum Tanzen aufgefordert. Ich erinnerte mich noch gut daran, da er mich mit seiner Art überrascht hatte. Und nun tat er es wieder. Aus der Ferne konnte ich seinen Blick nicht erkennen, oder wie seine Eltern auf seinen Beifall reagierten. Bevor ich weiter in meinen Gedanken versinken konnte, unterbrach Jamila den Applaus.
»Alle Anwesenden werden von unseren Soldaten zu ihren Kutschen eskortiert, damit diese die Heimreise antreten können. In den nächsten Tagen werden wir nach und nach die Städte besuchen und die Verhandlungen führen. Ihr seid nun entlassen, wir wünschen eine gute Heimreise. Oi teranta ti orisonta! Auf die Zeit, die nun anbricht!« Die Inventos sowie die anderen Adligen stürmten geradezu aus dem Saal, sodass die Soldaten Mühe hatten, den Überblick zu behalten.
»Ich werde mir jetzt einen Überblick über die Lage verschaffen. Die Besprechung darüber findet in einer Stunde statt. Cedric, du weißt, was du bis dahin zu tun hast. Selena, iss etwas und sorg dafür, dass du für die Besprechung und den restlichen Abend erholt bist«, sagte Jamila und verließ die Empore, während sie Befehle an die Soldaten verteilte. Als sie weg war, nahm ich einen tiefen Atemzug und ließ die Schultern fallen. Ich fühlte mich wie eine Schauspielerin, der vor der nächsten Szene etwas Zeit blieb, bevor sie ihr Können wieder zur Schau stellen musste.
»Was wirst du jetzt tun?«, fragte ich Cedric, aber er schüttelte den Kopf.
»Komm erst mal her«, sagte er und streckte seine Hand nach mir aus. Mein Herz quoll über vor Freude und Liebe, als ich seine Wärme und Vertrautheit wahrnahm. Wir hielten einander fest, um zu verarbeiten, was in der letzten halben Stunde passiert ist. »Du warst großartig«, sagte er und gab mir einen Kuss auf den Scheitel.
Daraufhin musste ich trocken lachen.
»Du meinst, als ich vor Angst erstarrt bin und kein Wort rausbekommen habe? Ja, das war wirklich großartig. Wenn du mir nicht geholfen hättest, würde ich immer noch da vorne stehen und nichts sagen«, gab ich zurück. Ich ärgerte mich über diesen Moment. Das durfte mir auf keinem Fall noch einmal passieren.
»Du warst großartig. Man merkt, dass du dazu geboren bist, Menschen anzuführen«, lobte ich Cedric, doch das Lächeln, das sich daraufhin auf seinen Lippen zeigte, wirkte nicht überzeugt von meinen Worten.
»Es ist aber immer noch ein Unterschied, ob man Menschen anführt oder tatsächlich hinter sich hat«, gab er zu bedenken. Dabei lag ein bewundernder Ausdruck in seinen Augen, der mich beinahe verlegen den Blick senken ließ, auch wenn ich nicht das Gefühl hatte, dieses Lob zu verdienen, nachdem mir im wichtigsten Moment meine Worte versiegt waren.
»Denkst du, dass es gut gelaufen ist? Dass wir die Menschen überzeugt haben?«
»Zu hundert Prozent werden wir es erst wissen, wenn die Späher aus den Städten zurückkehren und Bericht erstatten. Aber hier im Palast haben wir alles erreicht, was wir wollten. Nairos ist tot, die Inventos haben sich ergeben und die Soldaten sollten weitestgehend auch hinter uns stehen. Ich muss jetzt auch los. Hier im Umfeld des Ballsaals waren nur einige von ihnen stationiert. Die anderen haben in der Stadt und im Palast Dienst oder ruhen sich aus. Ich muss mit ihnen reden, bevor sich ein Widerstand bilden kann.«
»Kann ich mitkommen?«
Er schüttelte den Kopf und zog sich dabei das Jackett aus. »Ruh dich aus, Sel, du zitterst noch immer. Und das liegt nur zum Teil an der Kälte.« Als er mir seine Jacke über die Schultern legte, spürte ich, wie sich meine Haut darunter erwärmte. Mir war bisher nicht aufgefallen, dass ich wegen des kalten Nachtwinds fror, der durch die zerstörte Fensterfront kam. Erneut zog er mich an sich.
»Auf dem Weg durch den Palast laufe ich bestimmt an einem Dienstmädchen vorbei, ich sage ihr, dass sie dir etwas zu essen bringen soll. Und bitte ruh dich aus. Die letzten Stunden waren nervenaufreibend, und dein Sturz von der Treppe hat bestimmt nicht dazu beigetragen, dass sich dein Körper erholen kann.« Er schob mich ein wenig von sich, sodass er mir in die Augen sehen konnte. In seinen braunen Augen erkannte ich die Sorge.
»Und was ist mit dir?« Bei diesen Worten veränderte sich etwas in seiner Mimik, oder vielleicht fiel es mir nur deutlicher auf, da ich nach Anzeichen für Erschöpfung suchte. Es dauerte nicht lange, bis ich sie fand. Sein Teint wirkte fahl und der Glanz in seinen Augen abgestumpft. Er winkte ab.
»Das geht schon. Wichtig ist, dass du für nachher ausgeruht bist, denn auf dir werden mehr Augen liegen als auf mir.« Als wollte er nicht weiter darüber reden, nahm er meine Hand und führte mich durch den Palast zu dem Zimmer, in dem ich mich ausruhen sollte. Ich protestierte nicht, denn ich hatte tatsächlich das Gefühl, dass ich mich setzen sollte, da das Zittern meiner Hände nicht abgeklungen war, auch wenn ich es gar nicht bemerkt hatte.
»Ist mein Zimmer nicht woanders?«, fragte ich, nachdem wir nach links abgebogen waren, statt nach rechts.
»Ich bringe dich zur Suite der Prinzessin.« Erst da fiel es mir wieder ein. Levinia hatte meinen Platz eingenommen.
»Wie war die Zeit mit ihr?«
»Ich erzähle dir später alles, aber jetzt muss ich los, tut mir leid.« Wir kamen an der Tür der Suite an und es wirkte, als hätte er keine Sekunde länger Zeit.
»Bis später«, verabschiedete er sich und verschwand. Perplex ließ ich meine Hand noch für einige Sekunden auf dem Türgriff verweilen und sah ihm nach. Wieso floh er auf einmal vor mir, nachdem ich Levinia zur Sprache gebracht hatte? Ein ungutes Gefühl formte sich in meinem Magen, doch ich zwang mich, die Suite zu betreten. Obwohl nur wenige Kerzen dem Raum Licht spendeten, reichte es aus, um mich zurechtzufinden. Das erste Zimmer war eine Art Vorraum mit einer Sitzgelegenheit. Ich beschloss, nach links zu gehen, kam aber nicht wie erhofft in ein Schlafzimmer, sondern in ein Studierzimmer. Als Nächstes ging ich nach rechts. In der Mitte des Raums war ein riesiges Himmelbett, das von einer Kerze auf dem Nachttisch erhellt wurde. Erleichtert atmete ich aus und ließ mich auf die weiche Matratze fallen. Mir entwich ein Seufzen. Erst jetzt bemerkte ich, wie schwer sich mein Körper angefühlt hatte, aber es war nichts zu der Schwere in meinem Herzen, als ich an Cedric dachte. Nach der Rede vor den Inventos hätte ich am liebsten geweint, so erleichtert war ich gewesen, ihn wieder bei mir zu haben. Aber jetzt? Hatte ihn Levinia so manipuliert, wie sie mich manipuliert hatte? In mir sträubte sich etwas dagegen, das in Betracht zu ziehen. Mein Körper entschied sich ebenfalls dazu, dass dieser Gedanke warten musste, und schickte mich in den Schlaf.
Es war ein unruhiger Schlaf, und er dauerte nicht lange. Immer wieder wachte ich mit dem gleichen Szenario auf: Wie Cedric meinen Kopf von meinem Körper trennte. Als ich das dritte Mal schreiend aufwachte, beschloss ich, dass an Schlaf nicht mehr zu denken war, und setzte mich auf. Inzwischen war es im Zimmer heller durch die zusätzlichen Kerzen, die jemand angezündet haben musste. Erst jetzt konnte ich die tatsächliche Größe und all den Prunk wahrnehmen, mit dem dieser Raum ausgestattet war. Für mich war es unmöglich gewesen, mein altes Zimmer an Glanz und Luxus zu übertrumpfen, aber dieser Suite gelang es mit Leichtigkeit. Ich konzentrierte mich auf die einzelnen goldenen Elemente, die sich mit rosé und cremeweiß abwechselten und in den Möbeln auf unterschiedlichste Weise verarbeitet waren, um die Bilder meines Albtraums zu verdrängen. Es waren Rosen auf den Sesselbezügen abgebildet und den Füßen des kleinen Tischchens vor der Sesselgruppe hatte man goldene Ranken verliehen. Ich drehte meinen Kopf zur Seite, um meinen Hals zu strecken, als mir das Tablett mit dem Essen auffiel. Neben Früchten, Brot und Käse fanden sich verschiedene Variationen von geräuchertem Schinken sowie Wurst darauf. Daneben hatte man eine Karaffe Wasser gestellt. Mein Magen fing bei diesem Anblick an, zu knurren, ich wollte mich bereits gierig darauf stürzen, als ich hörte, wie die Tür der Suite geöffnet wurde. Ich erstarrte und wartete darauf, dass die Person ein paar Schritte machte. Sie klangen zielgerichtet, nicht wie jemand, der auf der Suche nach etwas war, sondern wie jemand, der wusste, wohin er wollte. Er wusste, wo er mich fand. Cedric war zu beschäftigt, um erneut zu mir zu kommen. Also musste es jemand anderes sein …
Hektisch sah ich mich nach einer Waffe um, doch es eignete sich nichts dafür, mich zu verteidigen. Mir blieb also nur noch die Möglichkeit, mich zu verstecken, und dafür reichte mir die Zeit nicht … Dann stand die Person im Türrahmen und mein Herz stolperte vor Erleichterung.
»Du hast mich erschreckt«, sagte ich zu Cedric und legte die Hand auf meine Brust.
»Tut mir leid, ich dachte, du schläfst noch.« Ich schüttelte den Kopf und er setzte sich neben mich.
»Ich bin immer wieder aufgewacht.«
»Hattest du einen Albtraum?« Ich nickte und hörte ihn seufzen.
»Es tut mir leid, dass der Plan heute schiefgegangen ist. Du hättest nie in Gefahr schweben dürfen.« Sein Tonfall klang bedauernd und mit Schuldgefühlen durchtränkt, sodass ich die Frage wegen vorhin zur Seite schob und stattdessen meinen Kopf auf seiner Schulter ablegte und meine Finger mit seinen verflocht.
»Wie ich dir schon in Alencia gesagt habe, es ist unmöglich, mich vor allem zu beschützen, und es ist auch gar nicht nötig. Du machst schon genug, Cedric, und das nicht nur für mich, sondern für alle. Hör auf, dir ein schlechtes Gewissen einzureden. Der Einzige, der die Schuld auf sich geladen hat, ist Nairos. Nicht du.« Bei diesen Worten verkrampfte er sich und wollte zu einer Erklärung ansetzen, doch ich griff stattdessen nach dem Tablett mit dem Essen und hielt es zwischen uns.
»Das reicht für uns beide«, sagte ich und hoffte, ihn damit zum Essen zu bringen. Er quälte sich bereits genug, das konnte ich sehen, auch wenn ich merkte, dass er es verbergen wollte, indem er mir nur sein Profil zeigte und sich mir nicht ganz zudrehte. Er sollte nicht auch noch seinen Körper quälen.
»Nein schon gut, iss …«, setzte er an, doch das ließ ich nicht gelten. Stattdessen schnappte ich mir ein Stück Käse und hielt es an seinen Mund.
»Vergiss es, Cedric, ich habe vorhin schon nachgegeben. Entweder du isst etwas, denn es reicht definitiv für uns beide, oder ich esse auch nichts.« Widerwillig biss er von dem Stück Käse ab, das ich ihm hinhielt. Dabei entging mir nicht, dass er nur einen kleinen Bissen nahm, ehe ich es ihm erneut anbot. Den nächsten Bissen nahm ich, als er meine Hand von sich weg und stattdessen in meine Richtung schob. Wir aßen schweigend, denn wir wussten, dass wir bald wieder losmussten. Am liebsten hätte ich mich mit ihm hier versteckt, damit wir uns noch ein paar Momente stehlen konnten, bevor die Realität erneut mit voller Wucht über uns hereinbrach. Nachdem wir aufgegessen hatten, wollte ich ihn auf Levinia ansprechen, doch er kam mir zuvor.
»Sel, ich muss mit dir reden.« Sein ernster und schmerzerfüllter Tonfall bescherte mir eine Gänsehaut und ließ mich schlucken.
»Was ist los?«, fragte ich, sah ihn an, aber er wich meinem Blick aus.
»Ich –« Bevor er den Satz beenden konnte, stand Kayla im Raum.
»Da seid ihr, ihr suche schon die ganze Zeit nach euch. Wir haben eine Besprechung. Jetzt.« Sie sagte es mit Nachdruck und wartete demonstrativ darauf, dass wir uns vom Bett erhoben.
»Beeilung, es ist etwas passiert, dass euch beiden nicht gefallen wird.«
Die Rächende
Die Siegesfeier der Geeinten war ein rauschendes Fest. Sie feierten ausgelassen, als hätten sie gewonnen. Sie feierten, als hätte es an diesem Tag keine Opfer gegeben. Sie feierten, als hätten sie vergessen, dass das nicht stimmte. Erneut drängte sich die Trauer in ihr Herz. Sie umfasste es wie eine eisige Klaue, die mit spitzen Dornen besetzt war. Sie hatte gedacht, dass sie nicht mehr Schmerz empfinden konnte, wie in dem Moment, als sie gesehen hatte, wie das Licht des Lebens seine Augen verlassen hatte. Es war so plötzlich gekommen. In dem einen Moment hatten sie noch glücklich über ihre Zukunft gesprochen und im nächsten hatte sie ihm nicht einmal mehr sagen können, wie sehr sie ihn liebte. Erneut bekam sie keine Luft mehr. Sie wollte schreien. Sie wollte den Schmerz rausschreien, bis er verschwand, aber er würde niemals weniger werden, denn er war der Eine für sie gewesen. Er war die Liebe gewesen, die Philosophen versuchten, in ihren Schriften einzufangen, es ihnen aber nicht gelang. Denn die Liebe war zu groß, zu mächtig, zu wunderschön, um sie in Worten ausdrücken zu können. Die Liebe konnte man nicht lesen. Die Liebe musste man fühlen. Und dieses seltene und wahrhaftige Glück war ihr auf ewig genommen worden. In diesem Moment verschwand der Schmerz über seinen Verlust und ein anderes Gefühl drängte sich an die Oberfläche. Es war das Gefühl, Vergeltung üben zu wollen. Die Geeinten glaubten, dass es Frieden brachte, Menschen mit Begabten zu vereinen. Ja, sie glaubten tatsächlich, dass sie besser waren als König Nairos.
Heuchler, das waren sie. Sie waren nicht die Weltverbesserer, für die sie sich ausgaben, nein, ganz im Gegenteil. Eine Begabte hatte ihre große Liebe auf dem Gewissen. Begabte waren skrupellose Mörder, die getötet werden mussten, damit sie es keinem anderen Unschuldigen antun konnten. Es war das erste Mal, dass der Schmerz nebensächlich wurde. Er pulsierte noch schwach in ihr, doch es war etwas anderes, das sie von nun an antrieb: Rache.
Ich musste mich beeilen, mit Cedric und Kayla Schritt zu halten, da ich noch immer das rot glänzende Ballkleid trug, das definitiv nicht dazu gemacht war, durch den Palast zu eilen. In meinem Kopf erschienen die letzten Stunden noch immer viel zu surreal, sodass ich hätte glauben können, dass das alles nicht geschehen war. Doch die vorbeieilenden Dienstmädchen, Soldaten sowie Diener belehrten mich eines Besseren. Alle von ihnen trugen die verschiedensten Gegenstände durch den Palast, denn wie uns Kayla mitgeteilt hatte, veränderten die Geeinten den Palast für ihre Ansprüche, bis sich alles wieder normalisiert hatte. Darüber hinaus fiel mir noch eine Veränderung auf, und zwar die häufig verstohlenen Blicke in meine Richtung. Ein paar Mal waren sie mir bereits bei der Königinnenkür aufgefallen, aber da hatte ich es darauf geschoben, dass ich dort öfter mit dem, was ich gesagt oder getan hatte, aufgefallen war. Nun versuchte ich es darauf zu schieben, dass ich gemeinsam mit Jamila und Cedric den Sieg der Geeinten verkündet hatte. Auch wenn mir diese Erklärung plausibel erschien, so hatte ich dennoch das Gefühl, dass sich etwas anderes dahinter verbarg. Es waren keine bewundernden Blicke, sondern sie waren vielmehr … mit Nostalgie gefüllt. Vermutlich dachten sie an Cora Paetryl, die bei der letzten Königinnenkür für Escania teilgenommen hatte. Miss Kehod hatte mir damals vor meiner Abreise den Hinweis gegeben, dass die letzte Teilnehmerin aus Escania gestorben war. Bei meinen Recherchen über sie hatte ich herausgefunden, dass sie in den Untergrund geflohen war und dort eine Widerstandsbewegung gegen König Nairos ins Leben gerufen hatte. Vermutlich dachten die Menschen an sie, wenn sie meine Geschichte verfolgt hatten und mich sahen. Erst jetzt wurden mir die Parallelen zu ihr klar und ich musste unwillkürlich an die Internatsleiterin von Escania denken – Miss Kehod. Als sie mir von ihr erzählt hatte, war so viel Angst in ihren Augen gewesen, so viel Schmerz. Bei all den Übertragungen durch das Inflexat musste sie ein schreckliches Déjà-vu erlebt haben. Aber ich hatte überlebt. Eine kleine Stimme in meinem Kopf flüsterte mir zu, dass ich ihr das auch schuldig gewesen war.
Ich wurde schlagartig aus meinen Gedanken gerissen, als Kayla die Tür vor uns öffnete und uns in einen weitläufigen Saal führte, in dessen Mitte ein ovaler Tisch stand, an dem fünfzehn Leute Platz genommen hatten. Kayla wies Cedric und mir die Plätze neben Jamila zu, doch bevor ich mich setzen konnte, zog etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich. Erschrocken sog ich die Luft ein.
»Vitomir«, hauchte ich und trat einen Schritt näher. Er lag reglos auf einem Tisch, über den man ein weißes Tuch geworfen hatte. Zuerst dachte ich, er sei tot, doch dann erkannte ich, dass seine Augen nach hinten gerollt waren, sodass keine Iriden und keine Pupillen mehr zu sehen waren. Es erinnerte mich an den Moment, als ich ihn das erste und einzige Mal in der Bibliothek getroffen hatte und er mir etwas anvertrauen wollte, ihn sein Blutschwur aber davon abgehalten hatte. Seine Augen hatten sich daraufhin ebenfalls unnatürlich nach hinten gerollt und sein ganzer Körper sich vor unerträglichen Schmerzen verkrampft.
»Was ist mit ihm passiert?«, fragte ich. Kayla antwortete mir: »Genaues wissen wir auch noch nicht, aber wir vermuten, dass es etwas mit dem Blutschwur zu tun hat, durch den er mit Nairos verbunden war.« Ich spürte, wie Kayla einen Arm um mich legte, um mich zu meinem Platz zu führen. Das war es also, was sie uns zeigen wollte, was uns gar nicht gefiel. Ich sah zu Cedric, dessen einzige erkennbare Reaktion darauf die harte Linie seines Kiefers war. Als er mir von Vitomir erzählt hatte, hatte Wärme aus seinen Worten gesprochen. Und nun lag er regungslos da und wurde von Ärzten untersucht, während wir daneben unsere Besprechung abhielten. Es hatte etwas Groteskes an sich.
»Warum wird er nicht in einem anderen Raum untersucht?«, raunte ich Kayla zu, die neben mir saß.
»Jamila hat zu viel Angst vor Gegnern im Palast, die Vitomir töten könnten, falls sie wissen, wie wichtig er für uns als Berater von Nairos ist. Er weiß möglicherweise über vieles Bescheid, das wichtig für uns sein könnte, das Nairos Cedric nicht erzählt hat.« Ich nickte. Trotzdem blieb ein mulmiges Gefühl in mir zurück. Es kam gelegen, dass Jamila eine kleine Glocke läutete und die Gespräche am Tisch somit verstummen ließ.
»In der Zwischenzeit konnte ich mit jedem unserer Vertrauten in den Städten Kontakt durch die Inflexate aufnehmen. In jeder Stadt, bis auf Lanos, ist der Umsturz geglückt. Wir haben überall massive Unterstützung und unsere Rede zur Machtübernahme kam sehr gut beim Volk an. Dass es uns in Lanos nicht glücken würde, hatten wir in gewissem Maße schon geahnt, denn die Bevölkerung von Lanos ist sehr unabhängig geprägt und sieht mit dem Tod von Nairos eine Chance, völlig unabhängig zu werden. Aber dieses Vorhaben ist kaum möglich, wenn man bedenkt, dass sie auf die Strukturen im Handel auf Landesebene angewiesen sind. Genau darauf baut unsere Verhandlungsbasis. Aber bevor es so weit ist, wollen wir uns erst einmal auf das nächstgelegene konzentrieren: auf die Siegesfeier in Sylinkya. Sie ist für uns wichtig, da die Hauptstadt Achsanias einen sehr starken symbolischen Charakter hat. Wir wollen hier in der Stadt Präsenz zeigen und den Leuten verdeutlichen, wer wir sind und wofür wir stehen. Worte sind gut und schön, aber überzeugen werden wir sie nur durch Taten. Soweit zum aktuellen Stand. Nun zu dir, Cedric.« Mit einem Nicken übergab sie das Wort an ihn.
»Bisher konnte ich die meisten Soldaten davon überzeugen, uns die Treue zu schwören. Aber darauf sollten wir uns nicht langfristig verlassen. Nairos war sehr gut darin, Menschen zu manipulieren, und viele Soldaten sind ihm mit Sicherheit noch immer treu, weil sie sich weigern, die Geeinten unter diesen Umständen als Nachfolge zu akzeptieren. Viele der Soldaten haben sich Nairos gegenüber nur loyal gezeigt, da sie wussten, dass ihre Familien so nichts zu befürchten hatten, jedenfalls weniger als andere. An diesem Punkt müssen wir ansetzen, um sie zu überzeugen. Wir müssen ihnen zeigen, dass ihre Familien ab sofort keiner Gefahr mehr ausgesetzt sind und sie dafür keinen Tyrannen mehr unterstützen müssen.«
»Aber diese Taten werden wir nicht sofort umsetzen können. Wir brauchen die Soldaten jetzt, um nicht zu riskieren, dass wir als Nächstes gestürzt werden«, warf ein rothaariger Mann ein. Man hatte mich noch nicht mit den engeren Mitgliedern der Geeinten in Sylinkya vertraut gemacht, bisher war dafür auch keine Zeit
»Guter Einwand, Palono«, meinte Cedric und fuhr fort: »Deswegen sähen wir zuerst in den Familien Hoffnung. In den nächsten zwei Wochen werden wir noch nicht viel umsetzen können, da wir uns zuerst die Unterstützung der Inventos sichern müssen, um unsere Ziele schnell erreichen zu können. Aber bis wir so weit sind, reicht die Hoffnung. In letzter Zeit hat Nairos die Menschen noch stärker auf seine Grausamkeit und unbeschränkte Macht eingeschworen, sodass viele Menschen uns als willkommenen Rettungsanker sehen. Wir müssen ihnen die Zukunft vor Augen führen, die sie mit uns als Regierung haben können. Wenn Väter, Mütter oder Geschwister anfangen, diesen Traum ebenfalls zu sehen, und beginnen, uns zu unterstützen, dann werden ihre Söhne uns ebenfalls zur Seite stehen. Da sich aber eine nicht zu unterschätzende Anzahl von Soldaten dagegenstellen wird, was ihre Familie denkt, müssen wir zusätzlich die obersten Generäle auf unserer Seite wissen. Ich habe eine Liste erstellt mit allen Namen, die mein uneingeschränktes Vertrauen sowie das ihrer Kameraden genießen. Sie sind wichtig, um die Struktur der Armee zu unseren Gunsten zu beeinflussen«, endete Cedric und die Mehrheit am Tisch nickte zustimmend. Die Fortschritte, die er und Jamila aufgezählt hatten, beruhigten mich.
»Sehr gut, dann können wir diesen Punkt abhaken. Konzentrieren wir uns nun auf die Vorbereitungen für den offiziellen Teil der Siegesfeier in knapp einer Stunde. An die Bediensteten des Palastes wurden die entsprechenden Anweisungen verteilt und unsere Leute sind in ganz Sylinkya auf den Straßen, um die Menschen zu überzeugen und ihnen die Angst zu nehmen. Um das Sicherheitskonzept kümmert sich Cedric, um die entsprechende Inszenierung durch das Inflexat Linus und über die Koordination der Begabten, um erste Eindrücke in die Magie zu vermitteln, Kayla. Alles andere verläuft nach dem schon zuvor ausgearbeiteten Plan, ich hoffe, alle Aufgabengebiete sind klar?« Da sich niemand meldete, fuhr Jamila fort. »Selena, du wirst bei der Siegesfeier erneut Worte an die Leute richten. Dieses Mal weniger Gefühlsduselei, sondern mehr handfeste Überzeugung für unsere Sache. Du musst die Menschen in eine ausgelassene Stimmung versetzen, damit wir unseren Sieg gebührend feiern können. Das ist wichtig, um die Menschen für uns zu gewinnen. Ich habe deiner Zofe Neyla bereits Bescheid gegeben, dass sie dich entsprechend einkleiden soll.« Beinahe hätte ich ihr entgegnet, dass meine »Gefühlsduselei« die Menschen, allen voran Daeniel, den Sohn einer Inventos-Familie, überzeugt hatte. Erneut schluckte ich die Worte hinunter, da ich das Gefühl hatte, in dieser Runde, in der alle eine Ahnung hatten, wovon sie sprachen und was vor sich ging, ein kleines, ahnungsloses Licht zu sein, dem man genau sagte, was es zu tun hatte und warum. Es ärgerte mich, dass ich mich nicht mehr traute, das auszusprechen, was in meinem Kopf vor sich ging. Als hätten mich die Geschehnisse daran erinnert, dass jedes meiner Worte Einfluss nehmen konnte. Im Guten wie im Schlechten. Vielleicht machte mir dieser Gedanke Angst, dass ich mit meinen Worten genauso viel zerstören, wie erreichen konnte. Oder ich überschätzte mich maßlos und die Menschen konzentrierten sich viel mehr auf Jamila und Cedric, die die Autorität verkörperten, die das Volk sich von ihren Anführern wünschte. Nachdem Jamila noch weitere Worte bezüglich des weiteren Vorgehens an alle in dieser Runde gerichtet hatte, löste sie die Runde auf. Wir hatten einen straffen Zeitplan, der sich weit bis in die Nacht streckte. Mittlerweile hatten wir dreiundzwanzig Uhr. Es kam mir vor, als wären Wochen vergangen, seit ich gemeinsam mit Nathan den Ball besucht hatte.
Als ich mich von meinem Stuhl erhob, wollte ich Cedric abfangen, bevor er wieder verschwand, um mit ihm zu reden. Das Gefühl, dass er etwas vor mir verheimlichte, ließ mich nicht los. Bevor ich mich an allen Menschen vorbeigedrängt hatte, die alle auf einmal aus dem Saal strömten, hatte ich ihn aus den Augen verloren.
Mied er mich?
Der Gedanke versetzte meinem Herzen einen Stich.
Nein, sagte ich mir und versuchte, so viel Überzeugung, wie nur möglich, in meine gedankliche Stimme zu legen.
Er hatte viel zu tun, das hatte ich eben gehört. Und ich ebenfalls. Ich sollte mich beeilen, in mein Zimmer zurückzukehren, um mich von Neyla für die Siegesfeier vorbereiten zu lassen und um mir eine Rede zu überlegen, damit ich nicht erneut völlig planlos vor dem Inflexat stand. Der Gedanke daran formte einen dicken Kloß in meinem Hals. Es durfte mir nicht erneut passieren. Vielleicht hätte ich mich aber weniger darauf konzentrieren sollen, sondern vielmehr auf den Weg dorthin. Ehe ich mich versah, stand ich in einem Korridor, der keinesfalls dem ähnelte, an dem ich vor der Besprechung vorbeigelaufen war. Dabei war ich mir so sicher gewesen, dass ich nach links abbiegen musste …
Genervt schloss ich die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Wenn ich es nicht einmal schaffte, den Weg zurückzufinden, wie sollte ich dann meiner Rolle gerecht werden, die die Geeinten mir zugedacht hatten? Anstatt mich von diesen Gedanken weiter entmutigen zu lassen, ging ich zurück. Vielleicht lief ich jemandem Bekannten über den Weg. Hoffentlich nicht Jamila, denn sie schien mir nicht gerade gut gesonnen zu sein. Bei ihr begleitete mich stets das Gefühl, nicht gut genug zu sein und es auch niemals sein zu können.
»Da bist du ja!«, hörte ich Aureas Stimme hinter mir und drehte mich zu ihr um.
»Ich hab dich die ganze Zeit gesucht.« Sie kam auf mich zu und umarmte mich überschwänglich, sodass ich lachen musste. Ihre Freude war ansteckend.
»Wie geht es dir?«, fragte ich sie, denn mein letzter Stand war, dass Nairos – ihr Onkel – sie vom Ball ausgeschlossen hatte, da ihr deutlich älterer Verlobter ihm gesagt hatte, dass sie sich ihm gegenüber nicht demütig genug benommen hatte. Allein bei dem Gedanken bekam ich eine Gänsehaut. Doch Aurea wirkte ganz und gar nicht bedrückt, sondern hakte sich bei mir ein und führte mich den Gang entlang.
»Das erzähle ich dir alles, wenn du dich für die Siegesfeier vorbereitest. Cedric hat mir erzählt, dass sie schon in einer Stunde stattfindet.«
»Erinnere mich bitte nicht daran. Es fühlt sich an, als hätte ich seit einer Woche nicht mehr geschlafen, stattdessen sind es nur ein paar Stunden«, sagte ich zu ihr.
»In diesen Stunden ist aber auch einiges passiert, sodass man damit eine ganze Woche im Kalender füllen könnte. Es ist unglaublich, wie viel du und die Geeinten in den letzten Stunden erreicht haben.« Ich nickte. Ja, das war es. Und in weniger als einer Stunde musste ich mit meiner Ansprache an das Volk dafür sorgen, dass das auch so blieb. In einem Buch hätte ich diesem Kapitel spannend entgegengefiebert. Doch da ich jetzt die Protagonistin war, wäre es mir lieber, wenn dieser Tag weniger Spannung hätte.
Den Teil des Palastes, den wir nun erreichten, erkannte ich wieder. Kurz darauf erreichten wir die Suite, in der Neyla bereits auf mich wartete und gerade damit beschäftigt war, alle Utensilien auf dem Schminktisch zu ordnen. Als sie mich sah, kam sie auf mich zu. Bei ihrem Anblick überkam mich dieselbe Erleichterung, die in ihrem Lächeln lag.
»Ich bin so froh, dass alles gut gegangen ist.« Ich nickte in ihren Armen. Ihre Umarmung fühlte sich mütterlich an, genauso, wie sie mein Gesicht umfasste und sich danach erleichtert die Hände auf das Herz legte.
»Dann wollen wir dich mal wieder verwandeln.« Mit einem Nicken verwies sie auf den Schminktisch, während sich Aurea auf einem Sessel niederließ und zu erzählen begann. Die Verlobung war durch Cedric gelöst worden und ihr Verlobter gemeinsam mit den Inventos von Alencia abgereist. Dabei erfuhr ich, dass sich Cedric bei dieser Entscheidung gegen Jamila gestellt hatte, die eigentlich vorgehabt hatte, die Verlobung aufrechtzuerhalten, um den Adligen nicht zu verlieren. Es verwirrte mich, dass ausgerechnet Jamila sich auf die diplomatische Seite stellte, anstatt auf die Seite einer Frau, die gegen ihren Willen verheiratet werden sollte. Anscheinend war Jamila viel zu fixiert darauf, die Macht der Geeinten zu festigen, als auf persönliche Schicksale Rücksicht zu nehmen. Außerdem erzählte sie mir, dass Königin Samatha, Cedrics Mutter, keine Konsequenzen zu fürchten hätte. Die Geeinten hatten sie vorerst in einem Zimmer hier im Palast untergebracht, bevor sie sie in irgendeiner Tätigkeit im Palast einspannten. Ich sinnierte darüber, wie es für sie sein musste, so tief zu fallen, obwohl ich mich zu fragen begann, ob es wirklich ein Fall gewesen war oder nicht der erste Schritt in die Freiheit.
Kurz darauf beendete Neyla auch schon ihr Meisterwerk an meinen Haaren sowie auf meinem Gesicht und reichte mir ein Kleid, das die Farbe von Eierschalen hatte. Es war deutlich einfacher gehalten als mein Ballkleid. Es hatte keinen zu pompösen Rock, er reichte bis knapp über den Boden, sodass sich das Kleid nicht zu einer Stolperfalle aus Seide entwickeln konnte. Bis zu meiner Taille lag der Stoff eng an, bevor er lockerer um meine Figur schmeichelte. In der Mitte des Mieders prangte das Symbol der Geeinten: im Hintergrund ein neunzackiger Stern und davor die schmale Hand einer Frau und die etwas größere eines Mannes, die sich die Hände reichten. Das Kleid besaß lange Ärmel, die ab dem Ellenbogen jeweils geteilt waren, sodass der Schnitt des Kleides ein wenig aufgelockert wurde. Meine Haare hatte Neyla zu meinem typischen Pferdeschwanz hochgebunden, da ich es nicht mochte, wenn mir meine Haare ins Gesicht fielen. Das Kleid war schlicht gehalten und es verkörperte das genaue Gegenteil von meinem vorherigen Kleid; ich war eine aus dem gewöhnlichen Volk. Ohne Prunk, ohne einen Fächer, mit dem ich ihnen herablassend vor ihren Gesichtern fächeln konnte, als wollte ich nicht dieselbe Luft wie sie atmen.
»Danke Neyla«, sagte ich zu ihr und sie nickte. Ich sah in den Spiegel. Neyla hatte mit geschickten Pinselstrichen meine Erschöpfung kaschiert, aber die Zweifel in meinen Augen waren unverkennbar.
Es klopfte an der Tür.
»Es ist so weit, du schaffst das.« Aurea umarmte mich, während Neyla die Tür öffnete.
»Kommst du nicht mit?«, fragte ich sie und sie schüttelte den Kopf.
»Ich werde mich erst einmal zurückziehen und ein Buch lesen, ich mag Menschenmassen nicht.« Beinahe hätte ich vor Sehnsucht geseufzt. Das wäre genau das, was ich in diesem Moment am liebsten tun würde; mich mit einem Buch in der Bibliothek verkriechen. Aber das war seit Monaten nicht mehr möglich. Wir hatten heute König Nairos gestürzt und ich war es so vielen Menschen, die unter ihm unfassbares Leid erlitten hatten, schuldig, alles dafür zu geben, dass die Geeinten zu der lang ersehnten Besserung beitragen konnten. Ich nickte und drückte ihre Hand, bevor ich mich zur Tür begab.
»Du schaffst das. Vorhin hast du alle überzeugt und jetzt wird es dir auch gelingen«, munterte Neyla mich auf und ich versuchte so viel Zuversicht in das Lächeln zu legen, wie ich nur konnte. Ich brachte es nicht über mich, ihnen zu sagen, wie sehr ich innerlich zitterte, wenn ich nur daran dachte, dass ich erneut vor dem Inflexat stehen und kein Wort aus meiner Kehle kommen würde. Meine Angst lenkte mich sogar von dem Gedanken ab, dass Cedric etwas vor mir verschwieg. Obwohl, wenn ich jetzt daran dachte, verkrampfte sich mein Magen noch mehr.
Als ich aus der Tür ging, nickte ich dem Soldaten zu, der mein Nicken erwiderte. Er trug die Uniform der Geeinten, und ich versuchte mich daran zu erinnern, ob ich ihn schon einmal gesehen hatte. Er begleitete mich in die Eingangshalle zu den Toren des Palastes. Auf dem Hof herrschte bereits reges Treiben von uniformierten Geeinten, gemischt mit Menschen, die Fahnen mit dem Wappen der Geeinten stolz in die Höhe hielten. Wir bahnten uns einen Weg durch die Menge zur Bühne. Von weitem drang Musik zu uns, die die Leute in eine fröhliche Stimmung versetzte. Obwohl es bereits dunkel war und die ersten Morgenstunden in greifbarer Nähe waren, erhellten Fackeln und weitere Lichtquellen den Hof des Palastes sowie den umliegenden Bereich. Insgesamt wirkte die Stimmung ausgelassen, sodass ich von allein zu lächeln begann, denn die Freude der Menschen über den ersten Sieg der Geeinten war ansteckend. Während ich mir gemeinsam mit weiteren drei Soldaten, die beim Verlassen des Palastes an meine Seite getreten waren, meinen Weg durch die Menge kämpfte, griff auf einmal jemand nach meinem Ärmel. Vor Schreck blieb ich stehen und zuckte zusammen. Sofort begann sich Panik in meinem Körper auszubreiten, aber sie verschwand schnell, als ich meinen Kopf demjenigen zudrehte, der mich festgehalten hatte. Es war eine etwas ältere Frau mit einem gebeugten Rücken und grauen Haaren. Ihre blassgrünen Augen waren mit Tränen gefüllt, als sie zu mir aufsah. Sie griff nach meiner Hand, drückte sie und sagte zu mir: »Mi amisa.« Es waren Worte aus der alten Sprache von Achsania und sie bedeuteten so viel wie: »Mein gütiger Schutzengel.« Ich lächelte unsicher, da ich nicht wusste, wie ich darauf antworten oder reagieren sollte. Ihre Worte waren eine Ehrerbietung und es fühlte sich merkwürdig an, sie anzunehmen, denn … was hatte ich schon getan, um diese Worte zu verdienen?
»Sie hat von Anfang an an dich geglaubt. Du hast sie an unsere gestohlene Königin erinnert«, erklärte eine Frau, die die Arme um die ältere Frau legte. Sie musste ihre Tochter sein. Ich schenkte beiden ein dankbares Lächeln, drückte ihre Hand, bevor ich von den Soldaten weitergeführt wurde.
Neben der Bühne angekommen, nahmen mich Jamila und Kayla in Empfang. Kayla lächelte mir aufmunternd zu, während Jamila mich von oben bis unten musterte, als versuchte sie einen Fehler zu finden. Als ihr dies nicht gelang, nickte sie mir kurz zu, ehe sie Cedric mit einem Nicken begrüßte, der neben mich trat. Bei seinem Anblick und seiner Nähe begann mein Herz noch schneller zu schlagen als ohnehin schon.