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Björn Diemel wird von seiner Frau gezwungen, ein Achtsamkeits-Seminar zu besuchen, um seine Ehe ins Reine zu bringen, sich als guter Vater zu beweisen und die etwas aus den Fugen geratene Work-Life-Balance wieder herzustellen. Denn Björn ist ein erfolgreicher Anwalt und hat dementsprechend sehr wenig Zeit für seine Familie. Der Kurs trägt tatsächlich Früchte und Björn kann das Gelernte sogar in seinen Job integrieren, allerdings nicht ganz auf die erwartete Weise. Denn als sein Mandant, ein brutaler und mehr als schuldiger Großkrimineller, beginnt, ihm ernstliche Probleme zu bereiten, bringt er ihn einfach um — und zwar nach allen Regeln der Achtsamkeit.
Achtsam morden ist die Geschichte eines bewussten und entschleunigten Mordes, der längst überfällige Schulterschluss zwischen Achtsamkeitsratgeber und Krimi, vor allem aber ein origineller Unterhaltungsroman.
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Seitenzahl: 395
DAS BUCH
Björn Diemel wird von seiner Frau gezwungen, ein Achtsamkeits-Seminar zu besuchen, um seine Ehe ins Reine zu bringen, sich als guter Vater zu beweisen und die etwas aus den Fugen geratene Work-Life-Balance wieder herzustellen. Denn Björn ist ein erfolgreicher Anwalt und hat dementsprechend sehr wenig Zeit für seine Familie. Der Kurs trägt tatsächlich Früchte und Björn kann das Gelernte sogar in seinen Job integrieren, allerdings nicht ganz auf die erwartete Weise. Denn als sein Mandant, ein brutaler und mehr als schuldiger Großkrimineller, beginnt, ihm ernstliche Probleme zu bereiten, bringt er ihn einfach um — und zwar nach allen Regeln der Achtsamkeit.
Achtsam morden ist die Geschichte eines bewussten und entschleunigten Mordes, der längst überfällige Schulterschluss zwischen Achtsamkeitsratgeber und Krimi. Mit exklusivem Zusatzkapitel.
DER AUTOR
KARSTEN DUSSE, Jahrgang 1973, Rechtsanwalt, Studium in Bonn, Lausanne und Los Angeles. Nach erfolgreicher Tätigkeit als Drehbuch- und Sachbuchautor wurde sein Debütroman ACHTSAM MORDEN zum meistverkauften Taschenbuch des Jahres 2020.
Seine Romane wurden bislang in 21 Sprachen übersetzt und stehen regelmäßig an der Spitze der Bestsellerlisten. Ausgezeichnet wurde seine Arbeit mit dem Deutschen Fernsehpreis, dem Deutschen Comedypreis und dem Deutschen Hörbuchpreis. Seine Hörbücher haben Gold- und Platin-Status erreicht.
KARSTEN DUSSE
EIN ENTSCHLEUNIGTER KRIMINALROMAN
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
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Copyright © 2019 by Karsten Dusse
Copyright © 2019 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Heiko Arntz
Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
(Evgeny Haritonov, Big Foot Productions, Julia Lemba, MILKXT2)
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
Vor- und Nachsatzillustrationen © Yves Haltner
ISBN 978-3-641-23897-1V018
www.heyne.de
Für Lina
1 ACHTSAMKEIT
2 FREIHEIT
3 ATMEN
4 ZEITINSELN
5 DIGITALES FASTEN
6 DIE INNERE WELT DES GEGENÜBERS
7 WAHRNEHMUNG OHNE BEWERTUNG
8 ENTSPANNUNGSDREIKLANG
9 SINGLETASKING
10 GLÜCK
11 AUFWACHEN
12 ABSICHTSVOLLE ZENTRIERUNG
13 WOHLWOLLEN
14 ANGST
15 UNVOREINGENOMMENHEIT
16 UNGEDULD
17 UNSICHERHEIT
18 UNVERSCHÄMTHEITEN
19 ZEITDRUCK
20 GENUSSVOLL ESSEN
21 PANIK
22 VERBITTERUNG
23 AKTIONISMUS
24 KOMMUNIKATION
25 VERGEBUNG
26 INNERER WIDERSTAND
27 BRAINSTORMING
28 GEBEN UND NEHMEN
29 ÜBERZEUGEN
30 DELEGIEREN
31 DANKBARKEIT
32 EIFERSUCHT
33 LÜGEN
34 IN-SICH-HINEIN-LÄCHELN
35 SCHMERZ
36 MINIMALISMUS
37 TOD
Bonus: SOULFOOD
»Wenn Sie vor einer Tür stehen und warten, stehen Sie vor einer Tür und warten.
Wenn Sie sich mit Ihrer Frau streiten, streiten Sie sich mit Ihrer Frau.
Das ist Achtsamkeit.
Wenn Sie vor einer Tür stehen und warten und die Wartezeit dazu nutzen, sich in Gedanken zusätzlich noch mit Ihrer Frau zu streiten – dann ist das nicht Achtsamkeit.
Dann ist das einfach nur blöde.«
JOSCHKA BREITNER, »ENTSCHLEUNIGT AUF DER ÜBERHOLSPUR – ACHTSAMKEIT FÜR FÜHRUNGSKRÄFTE«
EINS VORWEG: Ich bin kein gewalttätiger Mensch. Ganz im Gegenteil. Ich habe mich zum Beispiel in meinem ganzen Leben noch nie geprügelt. Und den ersten Menschen habe ich auch erst mit zweiundvierzig Jahren umgebracht. Was, wenn ich mich so in meinem heutigen beruflichen Umfeld umsehe, eher spät ist. Gut, in der Woche darauf hatte ich dann schon fast das halbe Dutzend voll.
Das klingt jetzt vielleicht erst einmal unschön. Aber alles, was ich getan habe, habe ich in bester Absicht getan. Es war das logische Ergebnis einer achtsamen Lebensumstellung. Um meinen Beruf und mein Familienleben in Einklang zu bringen.
Meine erste Begegnung mit der Achtsamkeit war purer Stress. Meine Frau, Katharina, wollte mich zur Entspannung zwingen. Um an meiner geringen Belastbarkeit, meiner fehlenden Verlässlichkeit, meiner verdrehten Wertewelt zu arbeiten. Um unserer Ehe noch eine Chance zu geben.
Sie wollte den ausgeglichenen, aufstrebenden jungen Mann voller Ideale zurückhaben, in den sie sich vor zehn Jahren verliebt hatte. Hätte ich meiner Frau zu irgendeinem Zeitpunkt gesagt, ich hätte auch gerne ihren Körper zurück, in den ich mich vor zehn Jahren verliebt hatte, dann wäre unsere Ehe bereits an dieser Stelle beendet gewesen. Völlig zu Recht. Am Körper einer Frau darf die Zeit selbstverständlich Spuren hinterlassen. Aber an der Seele eines Mannes offensichtlich nicht. Und deshalb ging nicht meine Frau mit ihrem Körper zum Schönheitschirurgen, sondern ich mit meiner Seele zum Achtsamkeitstraining.
Zu dem Zeitpunkt war Achtsamkeit für mich nur ein weiterer Aufguss des immer gleichen Esoterik-Tees, der den Leuten in jedem Jahrzehnt wieder aufgewärmt und unter einem anderen Begriff als neu verkauft wird. Achtsamkeit war autogenes Training ohne Hinlegen. Yoga ohne Verbiegen. Meditation ohne Schneidersitz. Oder, wie es in dem Artikel des Manager-Magazins hieß, den mir meine Frau eines Tages demonstrativ auf den Frühstückstisch legte: »Achtsamkeit ist die wertungsfreie und liebevolle Wahrnehmung des Augenblicks.« Eine Definition, die auf mich genauso konturlos wirkte wie die Kieselsteine, die bis zur völligen Belanglosigkeit entspannte Menschen gerne am Strand sinnfrei zu Türmen stapeln.
Ob ich bei dieser Achtsamkeitssache überhaupt mitgemacht hätte, wenn es nur um uns beide, meine Frau und mich, gegangen wäre? Ich weiß es nicht. Aber wir haben eine kleine Tochter, Emily, und für die hätte ich mich auch von Sodom nach Gomorrha schicken lassen, wenn es in einer dieser Städte eine Chance für uns als Familie gegeben hätte.
Deshalb war ich an einem Donnerstagabend im Januar mit meinem neuen Achtsamkeitscoach verabredet. Als ich an der schweren Holztür seiner »Praxis« klingelte, um unter anderem über mein Zeitmanagement zu reden, war ich bereits fünfundzwanzig Minuten zu spät.
Der Coach hatte seine Räumlichkeiten im Erdgeschoss eines aufwendig renovierten Altbaus in einer nobleren Gegend unserer Stadt. Seinen Flyer hatte ich im Wellnessbereich eines Fünfsternehotels gesehen. Seine Preisliste kannte ich aus dem Internet. Jemand, der anderen Menschen einen Batzen Kohle aus der Tasche zieht, um ihnen beizubringen, gelassener zu sein, würde wohl dazu in der Lage sein, bezahlte Verspätungen locker wegzumeditieren. Dachte ich. Doch auf mein Klingeln hin geschah erst einmal gar nichts.
Bis zu dem Zeitpunkt, wo sich der Entspannungsguru weigerte, die Tür aufzumachen, war ich eigentlich ganz gelassen gewesen, denn meine Verspätung war völlig verzeihlich. Ich war Rechtsanwalt – Strafrecht – und hatte noch am späten Nachmittag einen Haftprüfungstermin reinbekommen. Ein Mitarbeiter meines Hauptmandanten Dragan Sergowicz war nachmittags in einem Juweliergeschäft angetroffen worden, als er sich gerade einen Verlobungsring aussuchen wollte. Statt Geld hatte er allerdings nur eine geladene Pistole dabei. Als ihm die vorgelegten Ringe nicht gefielen, schlug er dem Juwelier die Waffe gegen die Schläfe. Da der Juwelier zu diesem Zeitpunkt bereits den stillen Alarm ausgelöst hatte, fand die Polizei bei ihrem Eintreffen einen am Boden liegenden Juwelier und einen Mann vor, der beim Anblick zweier auf ihn gerichteter Maschinenpistolen keinerlei Widerstand leistete. Sie nahmen ihn mit aufs Präsidium und verständigten sowohl mich als auch den Haftrichter.
Mit meinen früheren Idealen als Jurastudent hätte ich es als völlig gerecht empfunden, wenn ein solcher Vollassi bis zur Gerichtsverhandlung in Untersuchungshaft geblieben und anschließend für mehrere Jahre im Bau verschwunden wäre.
Mit meiner jahrelangen Erfahrung als Strafverteidiger für Vollassis hatte ich den Idioten nach zwei Stunden wieder auf freiem Fuß.
Ich war also nicht einfach zu spät zum Coaching gekommen. Ich war erfolgreich zu spät gekommen. Und wenn dieser Entspannungsfuzzi den Rest der Stunde nicht mit Bockigsein verplempern wollte, könnte ich ihm auch erzählen, warum ich so erfolgreich war.
Der junge Mann mit dem Hang zu bewaffneten Einkäufen war fünfundzwanzig Jahre alt und wohnte noch bei seinen Eltern. Er war bislang nicht wegen Gewaltdelikten vorbestraft – nur wegen Drogendelikten. Es bestand weder Flucht- noch Wiederholungs- noch Verdunklungsgefahr. Und er teilte die gesellschaftlichen Wertvorstellungen von Ehe und Familie. Denn deshalb war er ja im Juweliergeschäft gewesen: Durch das Entwenden eines Ringes wollte er seiner Bereitschaft Ausdruck verleihen, eine familiäre Bindung einzugehen.
Okay, für den Juwelier im Krankenhaus und die Polizisten auf Streife war es sicherlich schwer zu verstehen, dass ein Mensch, der ohne jeden Zweifel ein Gewalttäter war, heute Abend schon wieder im Kreise seiner Freunde den Dicken geben und den Staat verhöhnen konnte. Selbst meine Frau fand meine Arbeit diesbezüglich gelegentlich recht fragwürdig. Aber es war nicht meine Aufgabe, anderen Menschen unser Rechtssystem zu erklären. Es war mein Job, dieses System nach allen Regeln der Kunst auszunutzen. Ich verdiente mein Geld, indem ich schlechten Menschen Gutes tat. Punkt. Und das beherrschte ich perfekt. Ich war ein hervorragender Strafverteidiger. Angestellt in einer der renommiertesten Wirtschaftskanzleien der Stadt. Rund um die Uhr einsatzbereit.
Das war Stress, klar. Und das war nicht immer mit dem Familienleben in Einklang zu bringen. Deshalb stand ich ja jetzt auch vor der Tür dieses Achtsamkeits-Typen. Der mich nicht reinließ … Mein Nacken fing an, sich zu verspannen.
Aber für den Stress bekam ich ja auch jede Menge: Dienstwagen. Maßanzüge. Teure Uhren. Ich hatte vorher nie viel auf Statussymbole gegeben. Aber wenn Sie als Anwalt das organisierte Verbrechen vertreten, müssen Sie sich Statussymbole zulegen. Allein schon, weil Sie als Anwalt selbst das Statussymbol Ihres Mandanten sind.
Ich bekam ein großes Büro, einen Designerschreibtisch und ein fünfstelliges Monatsgehalt für meine Familie: meine traumhafte Tochter, meine tolle Frau und mich.
Gut – ein hoher vierstelliger Betrag davon ging schon mal für die Raten für das Haus drauf. Ein Haus, in dem ein traumhaftes Kind wohnte, das ich aufgrund meiner Arbeitszeiten nie sah. Bei einer liebenden Mutter, mit der ich mich, wenn ich sie sah, nur noch stritt. Ich, weil ich gereizt war vom Job, von dem ich meiner Frau nichts erzählen konnte, weil sie ihn hasste – und sie, weil sie den ganzen Tag allein auf unsere Kleine aufpassen musste und dafür ihren seriösen Job als Abteilungsleiterin bei einer Versicherung aufgegeben hatte. Wenn die Liebe zwischen uns beiden eine zarte Pflanze war, so hatten wir sie beim Umtopfen in den großen Familientopf offensichtlich zu wenig gepflegt. Kurz: Es ging uns wie so vielen erfolgreichen Jungfamilien – scheiße.
Um Job und Familie unter einen Hut zu bringen, und weil ich von uns beiden der Einzige war, der über beides verfügte, hatte meine Frau mich dazu auserwählt, an mir zu arbeiten. Sie schickte mich zum Achtsamkeitscoach. Der nicht aufmachte. Idiot. Meine Nackenverspannungen begannen, sich bei jeder Kopfdrehung in leisen Knackgeräuschen bemerkbar zu machen.
Ich klingelte erneut an der schweren Holztür. Sie schien frisch lasiert zu sein. Jedenfalls roch sie so.
Endlich wurde sie geöffnet. Ein Mann stand da, als hätte er die ganze Zeit lang hinter der Tür gelauert und auf das zweite Klingeln gewartet. Er war ein paar Jahre älter als ich, so Anfang fünfzig.
»Wir waren um zwanzig Uhr verabredet«, sagte er schlicht, bevor er sich umwandte und ohne ein weiteres Wort durch den kahlen Flur davonging. Ich folgte ihm in ein indirekt beleuchtetes, spärlich möbliertes Büro.
Der Mann wirkte asketisch. Kein Gramm Fett am sehnigen Körper. Der Typ von Mensch, bei dem eine Sahnetorte selbst dann keine Wesensveränderung bewirken könnte, wenn man sie ihm subkutan spritzen würde. Sein Äußeres wirkte gepflegt. Er trug eine ausgewaschene Jeans, eine grob gestrickte Wolljacke über einem schlichten weißen Baumwollhemd und Pantoffeln an seinen ansonsten nackten Füßen. Keine Uhr. Kein Schmuck.
Der Kontrast hätte nicht größer sein können. Ich trug meinen dunkelblauen Maßanzug, weißes Hemd mit Manschettenknöpfen, blau-silberne Krawatte mit diamantbesetzter Krawattennadel, Breitling-Uhr, Ehering, schwarze Socken, Budapester Schuhe. Die Anzahl der Kleidungsstücke, die ich mehr anhatte als der Typ, überstieg die Anzahl der Möbelstücke in seinem Besprechungsraum. Zwei Sessel, ein Tisch. Ein Regal mit Büchern und ein Beistelltisch mit Getränken.
»Ja, sorry. War viel Verkehr.« Schon aufgrund seiner Nichtbegrüßung hätte ich nicht übel Lust gehabt, sofort wieder zu gehen. Beruflich bedingte Verspätungen vorgeworfen zu bekommen konnte ich auch kostenlos von meiner Frau haben. Aber für den Stress, den Katharina mir gemacht hätte, wenn sie erfahren hätte, dass ich nicht nur zu spät zum Achtsamkeitskurs erschienen, sondern auch beleidigt sofort wieder gegangen war, hätte ich im Anschluss zwei weitere Entspannungscoaches gebraucht.
»Ich hatte noch einen kurzfristigen Haftprüfungstermin. Raub mit Körperverletzung. Da konnte ich nicht so einfach …« Warum redete ich eigentlich die ganze Zeit? Er war hier doch der Hausherr. Müsste er mir nicht wenigstens einen Stuhl anbieten? Oder sonst irgendetwas sagen? Doch der Typ schaute mich einfach nur an. Ungefähr so, wie meine Tochter schaut, wenn sie im Wald einen Käfer sieht. Während beim Käfer instinktiv Schreckstarre einsetzt, wenn er von einer unbekannten Spezies beobachtet wird, setzte bei mir ein Redereflex ein.
»Wir können ja einfach schneller machen … für das gleiche Geld«, versuchte ich den verpatzten Einstieg neu zu gestalten.
»Ein Weg wird nicht kürzer, wenn man rennt«, bekam ich als Antwort.
Ich hatte schon gehaltvollere Sinnsprüche auf den Kaffeetassen meiner Sekretärinnen gelesen. Und der Spruch von dem Typen wurde ja noch nicht einmal durch einen guten Kaffee wettgemacht. Ganz schlechter Start.
»Setzen Sie sich doch. Wollen Sie einen Tee?«
Na endlich. Ich setzte mich in einen der Sessel. Er sah aus, als hätte er in den letzten Siebzigerjahren des vergangenen Jahrtausends mal einen Designpreis gewonnen, und bestand im Wesentlichen aus einem einzigen Chromrohr, an dem eine Polsterbespannung aus grobem braunem Kord aufgehängt war. Der Sessel war erstaunlich bequem.
»Haben Sie auch einen Espresso?«
»Grüner Tee ist okay?«
Der Coach ignorierte meinen Espresso-Einwand und schenkte mir bereits aus einer Glaskanne ein. Man sah ihrem milchig gewordenen Glas an, dass sie seit Jahren täglich im Einsatz war.
»Bitte sehr. Lauwarm.«
»Also, ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, ob ich hier richtig bin …«, setzte ich an.
Ich hielt mich krampfhaft an meiner Teetasse fest. Ich hatte gehofft, unterbrochen zu werden. Wurde ich aber nicht. Mein Stammeln blieb unvollendet im Raum stehen. Dort begegnete es dem offenen Blick meines Gegenübers. Erst nachdem klar war, dass ich nicht mehr weiterreden würde, nahm auch der Coach einen Schluck von seinem Tee.
»Ich kenne Sie seit dreißig Minuten und denke, Sie könnten hier eine Menge für sich lernen.«
»Sie können mich gar nicht seit dreißig Minuten kennen. Ich bin ja erst seit knapp drei Minuten hier«, bemerkte ich scharfsinnig.
Der Coach antwortete mit einer provozierenden Sanftheit: »Sie hätten aber seit dreißig Minuten hier sein können. Die ersten rund fünfundzwanzig Minuten haben Sie offensichtlich mit irgendetwas ganz anderem verbracht. Dann haben Sie drei Minuten vor der Tür gestanden und überlegt, ob Sie ein zweites Mal klingeln. Richtig?«
»Äh …«
»Nachdem Sie sich endlich dazu entschlossen hatten zu klingeln, habe ich in den drei Minuten, die Sie hier in meinen Räumen sind, von Ihnen erfahren, dass Sie Verabredungen, bei denen es ausnahmsweise mal nur um Sie geht, nicht als verbindlich ansehen, dass Sie Ihre Prioritäten ausschließlich durch äußere Umstände setzen lassen, dass Sie meinen, sich gegenüber einem völlig Fremden rechtfertigen zu müssen, dass Sie Schweigen nicht aushalten, dass Sie eine von den gewohnten Normen abweichende Situation nicht intuitiv erfassen können und dass Sie komplett in Ihren Gewohnheiten gefangen sind. Wie fühlen Sie sich?«
Wow. Der Typ hatte recht.
»Wenn Sie aus genau diesen Gründen jetzt auch keinen Sex mit mir haben wollen, dann fühle ich mich exakt wie zu Hause!«, platzte ich heraus.
Der Coach verschluckte sich an seinem grünen Tee, fing an zu husten und anschließend herzhaft an zu lachen. Nachdem er mit beidem aufgehört hatte, streckte er mir seine Hand entgegen.
»Joschka Breitner, schön, dass Sie hier sind.«
»Björn Diemel, freut mich.«
Das Eis war gebrochen.
»Also, warum sind Sie hier?«, wollte Joschka Breitner wissen.
Ich überlegte. Mir fielen tausend Gründe ein. Und dann wieder kein einziger. Ich dachte mir, dass man einem Achtsamkeitstrainer gegenüber wohl ein gewisses Maß an Offenheit an den Tag legen sollte. Ich fand Herrn Breitner nach seinem Lachanfall auch durchaus sympathisch. Aber ich war noch lange nicht bereit, so mir nichts, dir nichts intime Details aus meinem Privatleben zum Besten zu geben. Herr Breitner bemerkte mein inneres Herumschwimmen.
»Nennen Sie mir einfach fünf Dinge, die damit zu tun haben, dass Sie jetzt hier sind.«
Ich holte tief Luft. Dann legte ich los.
»Der Tag hat zu wenig Stunden, ich kann nicht abschalten, ich bin dünnhäutig, ich bin gestresst, meine Frau nervt, ich sehe mein Kind nie und vermisse es. Wenn ich dann mal Zeit für mein Kind habe, bin ich in Gedanken immer woanders. Meine Frau würdigt meinen Job nicht, mein Job würdigt mich nicht …«
»Sie können nicht zählen.«
»Bitte?«
»Neun dieser fünf Dinge sind klassische Überlastungssymptome. Können Sie ein paar Situationen schildern, in denen Sie so etwas verspüren?«
Ich musste gar nicht lange überlegen, wann ich mich zuletzt überlastet gefühlt hatte, und schilderte ihm einfach die von mir als äußerst stressig empfundene Situation gerade vor der Tür. Inklusive meiner gedanklichen Achterbahnfahrt.
Er nickte. »Wie bereits gesagt, ich denke, dass Ihnen das Erlernen von Achtsamkeit helfen kann.«
»Gut, dann los.«
»Haben Sie eine Vorstellung davon, was Achtsamkeit ist?«
»Ich nehme an, das werde ich in den nächsten Stunden für gutes Geld erfahren.«
»Das haben Sie bereits umsonst erfahren, als Sie vor der Tür standen«, sagte er milde.
»Da war ich wohl nicht ganz bei der Sache.«
»Genau das ist der Punkt: Sie haben circa drei Minuten vor der Tür gestanden und überlegt, ob Sie ein zweites Mal klingeln. Wie viele dieser hundertachtzig Sekunden waren Sie gedanklich woanders?«
»Um ehrlich zu sein, vielleicht hundertsechsundsiebzig.«
»Wo waren Sie da mit Ihren Gedanken?«
»Im Juweliergeschäft, im Polizeipräsidium, in der Kanzlei, bei meinen Mandanten, bei meiner Tochter, beim Streit mit meiner Frau.«
»Sie haben sich also in maximal drei Minuten gedanklich an sechs verschiedenen Orten aufgehalten. Verbunden mit allen durch diese Orte hervorgerufenen Emotionen. Hat Ihnen das irgendwas gebracht?«
»Nein, ich …«
»Warum haben Sie es dann gemacht?«, fragte er mit echtem Interesse.
»Ist halt so passiert.«
Hätte ein Mandant von mir sich vor Gericht so geäußert, ich hätte ihm jedes weitere Wort verboten.
»Achtsamkeit ist schlicht und ergreifend, dass Ihnen das nicht passiert.«
»Aha. Können Sie mir das genauer erklären?«
»Es ist ganz einfach. Wenn Sie vor der Tür stehen, stehen Sie vor der Tür. Wenn Sie sich mit Ihrer Frau streiten, streiten Sie sich mit Ihrer Frau. Wenn Sie die Zeit, in der Sie vor meiner Tür stehen, lieber dazu nutzen, sich auch noch in Gedanken mit Ihrer Frau zu streiten, dann sind Sie unachtsam.«
»Und wie steht man achtsam vor der Tür?«
»Sie stehen einfach da. Sie machen drei Minuten lang nichts. Sie stellen fest, dass Sie da stehen und Ihre Welt nicht ins Chaos abdriftet, wenn Sie einfach nur da stehen. Ganz im Gegenteil. Wenn Sie den Moment einfach mal nicht bewerten, kann er auch nichts Negatives an sich haben. Sie nehmen die natürlichen Dinge wahr. Ihren Atem. Den Geruch des frisch lasierten Türholzes. Den Wind in Ihrem Haar. Sich selbst. Und wenn Sie sich selbst liebevoll wahrnehmen, sind Sie am Ende dieser drei Minuten allen Stress los.«
»Ich hätte gar nicht ein zweites Mal klingeln müssen?«
»Sie hätten gar kein erstes Mal klingeln müssen. Sich ohne Absicht vor die Tür zu stellen reicht völlig.«
Ich hatte das Gefühl, dass ich mit dem Grundprinzip was anfangen konnte. Meinem Nacken jedenfalls merkte ich die Verspannungen nicht mehr an. Dass mir Herr Breitner nur Minuten später mein Mantra für meinen ersten Mord verraten würde, wurde mir allerdings erst Wochen später bewusst.
»Ein Mensch, der dauernd tut, was er will, ist nicht frei. Allein die Vorstellung, dauernd etwas tun zu müssen, hält gefangen. Nur ein Mensch, der einfach mal nicht tut, was er nicht will, ist frei.«
JOSCHKA BREITNER, »ENTSCHLEUNIGT AUF DER ÜBERHOLSPUR – ACHTSAMKEIT FÜR FÜHRUNGSKRÄFTE«
JOSCHKA BREITNER FÜLLTE die Teetassen nach.
»Den meisten Stress machen wir uns, weil wir eine völlig verdrehte Vorstellung von Freiheit haben.«
»Aha.«
»Es ist ein Irrglaube, dass Freiheit darin bestünde, das tun zu können, was man will.«
»Was soll daran falsch sein?«
»Die Annahme, dass man dauernd etwas tun muss. Das ist der Hauptgrund für den Stress, den Sie empfinden. Sie stehen vor der Tür und halten es für völlig normal, in Gedanken alles Mögliche zu tun. Die Gedanken sind ja frei! Hoho – und genau das ist das Problem: Die freien Gedanken wieder einzufangen, wenn sie davongaloppieren. Sie müssen aber gar nicht denken. Im Gegenteil. Sie dürfen auch einfach mal nicht denken, wenn Sie nicht denken wollen. Dann erst sind Ihre Gedanken wirklich frei.«
»Jetzt besteht mein Tag ja aber nicht ausschließlich nur aus denken«, wagte ich einzuwenden. »Den meisten Ärger bekomme ich für das, was ich mache.«
»Und da gilt das Gleiche. Erst wenn Sie verinnerlicht haben, dass Sie nicht tun müssen, was Sie nicht tun wollen – erst dann sind Sie frei.«
Ich muss nicht tun, was ich nicht tun will. Ich bin frei.
Keine vier Monate später würde ich mir mit aller Konsequenz genau diese Freiheit nehmen. Ich würde mir die Freiheit nehmen, etwas nicht zu tun, was ich nicht tun wollte. Leider würde ich damit die Freiheit eines anderen einschränken müssen – indem ich ihm das Leben nahm. Aber ich machte diesen Achtsamkeitskurs ja auch nicht, um die Welt zu retten, sondern um mich zu retten.
Achtsamkeit ist nicht »Leben und leben lassen«. Achtsamkeit ist: »Lebe!« Und so ein Imperativ kann schon mal Auswirkungen auf das unachtsame Leben anderer haben.
Was mich an meinem ersten Mord bis heute so mit Freude erfüllt, ist der Umstand, dass ich dabei wertungsfrei und liebevoll den Moment genießen konnte. So wie mein Coach es mir in der allerersten Stunde als erstrebenswert beschrieben hatte. Mein erster Mord war eine ganz spontane Befolgung meiner Bedürfnisse, aus dem Augenblick heraus. Und so gesehen eine sehr erfolgreiche Achtsamkeitsübung. Nicht für den anderen. Aber für mich.
Aber als ich bei Herrn Breitner auf dem Sessel saß und meinen zweiten Tee trank, war noch keiner tot. Erst einmal war ich ja nur hier, um meinen beruflichen Stress besser in den Griff zu bekommen.
»Erzählen Sie mir von Ihrem Job. Sie sind Anwalt?«, wollte Herr Breitner wissen.
»Ja. Für Strafrecht.«
»Sie sorgen also dafür, dass jeder Mensch in diesem Land einen fairen Prozess bekommt, egal was ihm vorgeworfen wird. Das ist sehr lohnenswert.«
»Dafür wollte ich früher in der Tat sorgen. Also im Studium, im Referendariat und auch noch zu Beginn des Berufslebens. Die Realität eines erfolgreichen Strafverteidigers sieht leider völlig anders aus.«
»Wie denn?«
»Ich sorge dafür, dass Arschlöcher nicht den Ärger bekommen, der angebracht wäre. Das ist moralisch nicht im Ansatz lohnenswert. Aber äußerst lukrativ.«
Ich erzählte ihm von meinem Einstieg bei DED – der Kanzlei von Dresen, Erkel und Dannwitz – direkt nach meiner Anwaltszulassung. DED war eine mittelgroße Kanzlei mit wirtschaftlichem Schwerpunkt. Inklusive aller strafrechtlichen Aspekte. Ein Rudel Krawattenträger, die sich seriös gaben, aber den ganzen Tag lang nichts anderes taten, als für steinreiche Mandanten immer neue Steuerschlupflöcher zu finden, und sich um diejenigen kümmerten, die trotz aller Bemühungen Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung, Wirtschaftskriminalität, Untreue oder Betrug im großen Stil an der Backe hatten. Um in dieser Liga als Neuling mitspielen zu dürfen, wurden von jedem Einsteiger zwei Prädikatsexamina sowie mehrere unentgeltliche Praktika erwartet. Und selbst von den Bewerbern, die diese Voraussetzungen erfüllen, wird nur einer von zehn genommen. Direkt nach dem zweiten Staatsexamen hier einen Job zu bekommen galt als der Sechser im Bewerbungslotto. Ich hatte Glück gehabt. Dachte ich damals.
»Das sehen Sie heute nicht mehr so?«, fragte Joschka Breitner.
»Nun, die Dinge haben sich im Laufe der Jahre einfach anders entwickelt, als ich es bei meiner Einstellung erwartet hatte.«
»Das nennt sich Leben. Was ist in Ihrem passiert?«
Ich umriss in groben Zügen meine Karriere. Ich erzählte von dem horrenden Einstiegsgehalt und von den horrenden Arbeitsbedingungen. Sechseinhalb Tage die Woche. Vierzehn Stunden am Tag. Jede Minute von eiskalten Karrieristen-Eseln umgeben, die im Hamsterrad der Möhre hinterherliefen, hier eines Tages Partner werden zu können.
Ich weiß, wovon ich spreche. Ich war einer von ihnen.
Mein erster Mandant war ein Typ, der vorher noch nie von der Kanzlei vertreten worden war. Der Anwalts-Neuling bekam den Mandanten-Neuling zugeteilt. Der Mandant war Dragan Sergowicz, aber das erwähnte ich nicht. Ich erwähnte nur, dass der Mandant »zwielichtig« war. Dabei war der Begriff »zwielichtig« für die Art von Dragans Geschäften stark untertrieben. Das Rotlicht, in dem er tätig war, blendete stärker als der Blitz einer Radarfalle, die einen mit hundertdreißig Sachen in einer Dreißigerzone erwischte.
Aber Dragan war wirtschaftlich erfolgreich, und einige der »seriösen« DED-Mandanten, die ihm einen Gefallen schuldeten, hatten eine Empfehlung für ihn ausgesprochen.
Bei unserem ersten Treffen sagte Dragan, es gehe um Steuerhinterziehung. Das war nicht komplett gelogen. Es entsprach aber auch nicht dem Vorwurf der Staatsanwaltschaft. Dragan hatte den für ihn zuständigen Sachbearbeiter des Finanzamtes wegen einiger kritischer Nachfragen krankenhausreif geschlagen. Nachdem der Sachbearbeiter wieder so weit genesen war, dass er feste Nahrung zu sich nehmen und Aussagen zu Protokoll geben konnte, wollte er sich sonderbarerweise weder an den Verdacht der Steuerhinterziehung noch an den Besuch von Dragan erinnern. Er sagte aus, er sei einfach unglücklich gestürzt.
Dragans beide Fäuste sollten sich in den Jahren darauf noch öfter als wesentlich effektiver erweisen als meine beiden Staatsexamina.
Dragan war nicht nur ein brutaler Zuhälter, sondern auch Großdealer und Waffenhändler. Als ich ihn kennenlernte, tarnte er seine Geschäfte mehr schlecht als recht hinter einer Reihe halb legaler Import-Export-Firmen. Kurz: Dragan war selbst für den sehr weit ausgelegten Seriositätsbegriff meines Arbeitgebers ein sogenanntes »Bäh«-Mandat – eines, das viel Geld in die Kanzlei spülte, mit dem man sich nach außen aber nicht gerade schmückte.
Das hinderte die Partner der Kanzlei natürlich nicht daran, mich in jeden bekannten Finanztrick einzuweihen, um ihn kostenpflichtig bei Dragan anzuwenden.
Dragan wurde zu meiner ersten beruflichen Herausforderung. Ich legte meinen ganzen Ehrgeiz daran, sein Unternehmensportfolio zu modernisieren und seine Aktivitäten damit unter dem Radar der Staatsanwaltschaft zu halten. Seine Haupteinnahmequelle blieben nach wie vor Drogen, Waffen und Zuhälterei. Die Einkünfte schleuste ich fortan aber durch zahlreiche Speditionen, Franchiseunternehmen oder Bargeschäfts-Betriebe, an denen ich für Dragan Beteiligungen erworben hatte. Zusätzlich zeigte ich ihm, wie man mit EU-Subventionsbetrug Geld für inexistente Auberginenplantagen in Bulgarien einsackte und mit Optionspapieren für Emissionshandel Erwerbsquellen anzapfte, die zwar mindestens genauso kriminell waren wie Drogenhandel, für die man aber niemandem die Knochen brechen musste. Und beides wurde staatlich unterstützt. Mit meiner Hilfe hatte Dragan sein Bild in der Öffentlichkeit innerhalb weniger Jahre vom brutalen Dealer und Zuhälter zum halbwegs respektablen Geschäftsmann gewandelt.
Ich perfektionierte all das, was ich im Studium nie gelernt hatte. Wie man Zeugen »beeinflusst«, Staatsanwälte »besänftigt«, Mitarbeiter »auf Linie bringt«. Kurz: Ich war ganz gut darin, Leute zu überzeugen.
»Und wissen Sie, warum?«, fragte ich Herrn Breitner.
»Erhellen Sie mich!«
»Anfangs, weil es in meinem Arbeitsvertrag stand. Ich bin kein schlechter Mensch. Ehrlich. Ich bin eher ängstlich und langweilig. Und pflichtbewusst. Pflichtbewusstsein ist vielleicht meine negativste Eigenschaft. Ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass das System, das ich selber mit entworfen habe, nicht gut ist. Und zwar weder für andere noch für mich selbst. Ein System, in dem Gewalt, Unrecht und Betrug belohnt werden und in dem Liebe, Gerechtigkeit und Wahrheit negative Werte sind, kann nicht gut sein. Aber ich konnte trotzdem gut sein. Innerhalb des Systems zumindest. Aus meinem Pflichtbewusstsein heraus habe ich jahrelang alles dafür gegeben, dass dieses System funktioniert. Und dabei habe ich gar nicht gemerkt, wie ich vom streberhaften Prädikatsjuristen langsam, aber sicher zum perfekten Anwalt für das organisierte Verbrechen mutierte.«
Irgendwann machte es mir einfach Spaß, das Handwerk perfekt zu beherrschen. Aber Perfektionismus ist nicht alles. Jeder halbwegs gute Anwalt schaffte es, seinem Mandanten den Arsch zu retten. Aber das änderte nichts an der Situation. Dragan hatte auch im teuersten Anzug nicht den Hauch eines seriösen Geschäftsmannes. Er war und blieb ein gewalttätiger Irrer.
Im Rahmen der anwaltlichen Schweigepflicht durfte ich mir von ihm mehr geisteskranke Grausamkeiten anhören als der Beichtvater von Charles Manson. Gleichzeitig überschüttete ich Konkurrenten und mögliche Zeugen seiner Verbrechen geradezu kübelweise mit Scheiße und wunderte mich auch noch, dass ich irgendwann einen üblen Geruch annahm. Das heißt, ich selbst merkte es nicht einmal, sondern ich musste es mir von meiner geruchsempfindlichen Frau erst sagen lassen. Sie stellte schließlich fest, dass ich dieses Leben so nicht weiterführen konnte.
»Der Atem verbindet unseren Körper mit unserer Seele. Solange wir leben, atmen wir. Solange wir atmen, leben wir. Im Atem können wir Zuflucht nehmen. Wenn wir uns auf den Atem konzentrieren, konzentrieren wir uns auf die Verbindung von Körper und Geist. Mit dem Atem können wir den Einfluss negativer Emotionen auf beide beruhigen.«
JOSCHKA BREITNER, «ENTSCHLEUNIGT AUF DER ÜBERHOLSPUR – ACHTSAMKEIT FÜR FÜHRUNGSKRÄFTE«
ICH ERZÄHLTE JOSCHKA BREITNER von meiner Befürchtung, die schon fast Gewissheit war – dass ich gerade wegen meines durchaus erfolgreichen Betreuens eines sogenannten »Bäh«-Mandats nie Partner in der Kanzlei werden würde. Ich war ein »Bäh«-Anwalt geworden. Ein erfolgreicher »Bäh«-Anwalt. Aber: »Bäh«-Anwälte wurden nicht Partner.
Ich merkte, wie sich schon beim Erzählen Schnappatmung, Magenschmerzen und Nackenverspannungen einstellten.
»Wann haben Sie denn das erste Mal bewusst festgestellt, dass sich Ihre Werte verschoben hatten?«
Ich überlegte kurz und hatte sehr schnell eine Schlüsselszene im Kopf.
»Da war dieser Moment, eines Nachts. Unsere Tochter Emily war damals noch ganz klein, vielleicht zwei Monate alt. Sie schlief natürlich noch nicht durch. Da Emily von Anfang an das Fläschchen bekam, konnten meine Frau und ich uns nachts abwechseln. Wie immer hatte ich tagsüber viel um die Ohren. Aber ich tat das gerne. Diese stillen Minuten nachts allein mit meiner kleinen Tochter im Babyzimmer waren wie eine eigene, friedliche Welt … Na ja, auf jeden Fall halte ich irgendwann nachts völlig übermüdet Emily im Arm, die gerade ihr Bäuerchen gemacht hat und vor sich hinbrabbelte, und ich versuchte, sie in den Schlaf zu reden, und erzählte ihr, wie schön die Welt sei. Und mit einem Mal stellte ich mit Erschrecken fest, dass das die Welt meiner Kindheit war. Aber nicht die Welt, in der ich lebte.«
Joschka Breitner nickte eine Weile bedächtig vor sich hin, bevor er fragte: »Und warum tun Sie sich das an? Ist es das Geld?«
Ich überlegte. Nein, es wäre falsch zu behaupten, dass Geld das Einzige war, was mich an meinem Job reizte.
»Ich liebe das, was ich kann. Aber ich hasse die, für die ich es tue.«
»Wie macht sich das bemerkbar?«
»Die Liebe oder der Hass?«
»Weswegen sind Sie hier?«
»Wegen Letzterem.«
»Und? Wie wirkt sich der körperlich auf Sie aus?«
»Nackenverspannungen, Magenschmerzen, Schnappatmung …«
»Dann beenden wir die heutige Sitzung am besten mit einer Übung gegen die Schnappatmung.«
Breitner stellte seine Teetasse ab, lockerte seine Finger und stand in einer fließenden Bewegung auf. Ich erhob mich ebenfalls. Ich sah den Mann skeptisch an. Wollte er mir ernsthaft beibringen, wie ich meinen Ärger mit einem psychopathischen Schwerverbrecher und einer verständnislosen Ehefrau wegatmen konnte?
»Stellen Sie sich aufrecht hin. Rücken gerade, Brust leicht nach vorne. Beine schulterbreit auseinander. Und die Knie leicht gebeugt.«
Er machte es vor, ich tat es ihm nach.
Nichts passierte.
»Und jetzt?«
»Atmen Sie schon?«
»Seit zweiundvierzig Jahren.«
»Dann achten Sie einmal nur auf Ihren Atem«, wies mich Breitner an. »Wo spüren Sie ihn im Körper?«
»Ich spüre ihn im …«
Breitner unterbrach mich. »Das war eine rhetorische Frage. Das Schöne an dieser Übung ist, dass es völlig egal ist, wo Sie Ihren Atem spüren. Die Hauptsache ist, Sie spüren ihn überhaupt. Sie müssen die Fragen nach Ihrem Atem also nicht mir beantworten. Sondern sich selbst. Es geht einzig und allein darum, dass Sie erfahren, wie in Ihrem Körper jede Menge angenehme Sachen passieren. Ihr Atem ist der Grund und der Beweis dafür, dass Sie leben. Was ein Wunder ist. Nicht bei Ihnen speziell, sondern bei allen Lebewesen. Der Atem verbindet Körper und Seele. Also, wo spüren Sie den Atem, wenn Sie einatmen?«
Ich sagte nichts und spürte nur.
»Wo spüren Sie Ihren Atem, wenn Sie ausatmen?«
Ich sagte wieder nichts.
»Und jetzt versuchen Sie einmal, Ihren Körper als Ganzes zu spüren.«
Ich atmete und spürte weiterhin vor mich hin. Langweilige Scheiße.
»Das ist also Achtsamkeit?«, versuchte ich die Übung zu beenden.
»Wenn Sie gerade auf Ihren Atem achten, sind Sie achtsam. Richtig.«
»Und damit verändere ich die Idioten um mich rum?«, fragte ich.
»Nein. Damit verändern Sie Ihre Reaktion auf diese Idioten.«
»Die Idioten sind also nicht weg?«
»Nein, aber deren Einfluss auf Ihr Wohlbefinden. Was machen Schnappatmung, Nackenverspannung und Magenschmerzen?«
Ich fühlte noch mal in mich herein. War alles weg. Erstaunlich.
»Weg«, sagte ich.
»Also – das nächste Mal, wenn Ihre Frau Sie nervt oder Ihre Kanzlei Sie ankotzt, gehen Sie kurz mal zum Atmen aufs Klo.«
»Aufs Klo? Da ist es aber …«
»Dann atmen Sie halt durch den Mund. Jedenfalls haben Sie da einen geschützten Raum für sich. Drei Atemzüge lang in sich reinfühlen, und die Schnappatmung ist weg. Danach geht es Ihnen besser. Und Sie können jedes Problem einfacher angehen. So viel für heute?«
»Gerne. Nächste Woche um die gleiche Zeit?«
»Nein, nächste Woche pünktlich.«
Ich fand es nicht gänzlich falsch, was Joschka Breitner so von sich gegeben hatte. Und zumindest waren meine Nackenverspannungen weg. Von da an traf ich mich jede Woche Donnerstag mit Breitner. So gegen acht. Meist später.
»Um in dem Meer aus Ansprüchen, denen Sie gerecht werden sollen, nicht zu ertrinken, schaffen Sie sich Ihre eigenen Zeitinseln. Geschützte Räume, in denen Sie ganz bewusst nur das tun, was Ihnen guttut. Hier gibt es kein »Ich muss«. Hier gibt es nur »Ich bin«. Eine Zeitinsel ist kein Ort, sondern ein Zeitraum. Das kann eine Minute oder ein ganzes Wochenende sein. In jedem Fall ist es ein Zeitraum, der nur Ihnen gehört, der von Ihnen definiert wird und der von Ihnen geschützt wird. Wie der nach einem Schiffbruch Gestrandete finden Sie hier Ruhe, Nahrung und Energie. Sie bestimmen, wann Sie die Zeitinsel betreten. Sie bestimmen, wann Sie die Zeitinsel verlassen. Sie verteidigen Ihre Zeitinsel gegen jeden Eindringling. Und Sie wissen immer, dass es die Zeitinsel für Sie gibt.«
JOSCHKA BREITNER, «ENTSCHLEUNIGT AUF DER ÜBERHOLSPUR – ACHTSAMKEIT FÜR FÜHRUNGSKRÄFTE«
DURCH MEINE ATEMÜBUNGEN war meine Welt nicht heil. Hätte ich meinem Mandanten Dragan vom Achtsamkeitstraining und der ersten Atemübung erzählt, wäre ich ab sofort nur noch seine Hechelschwuchtel gewesen. Und Dragan überhäufte mich in den nächsten Wochen geradezu mit Arbeit, die ich weghecheln musste. So hatte er sich zum Beispiel in den Kopf gesetzt, eine seiner legalen Immobilien in das luxuriöseste Bordell der Stadt umzubauen. Einen Edel-Lusttempel in einem klassischen Altbau. Über fünf Etagen. Das klitzekleine juristische Problem, das ich zu lösen hatte, war: Noch wohnten auf vier Etagen Mieter, und das Erdgeschoss wurde von einem Kindergarten zweckentfremdet. Die Nutzung des Gebäudes als Bordell war außerdem im jetzigen Bebauungsplan überhaupt nicht vorgesehen. Es mussten zig Ämter überzeugt werden, hier unter der Hand mitzumischen. Ich war fast jeden Abend mit Dragan oder in seinem Auftrag unterwegs, um Ansprechpartner zu überzeugen, zu bedrohen, mit ins Boot zu holen, Schmerzgrenzen auszutesten und Angebote zu eruieren.
Aber ich schaffte es immer wieder, über einen langen Arbeitstag verteilt, kleine Atem- und Achtsamkeitsübungen einzubauen. Ich atmete im Fahrstuhl des Bauamts, bevor ich im Gespräch mit dessen Leiter herausfinden durfte, wie viel »Gutes« man ihm tun konnte, ohne offen in die Bestechung oder die Bedrohung abzurutschen.
Ich atmete auf der Toilette der Mieter, bevor ich ihnen mitteilte, dass sie aus Versehen auch ganz schnell ohne Strom und Wasser dastehen könnten, wenn sie nicht freiwillig aus der Wohnung auszogen.
Ich atmete in meinem Büro in der Kanzlei, nachdem mir ein Kollege, der drei Jahre nach mir eingestellt worden war, mitteilte, dass er ab nächstem Monat Partner sei.
Und diese kleinen Atempausen verringerten in der Tat meine Anspannung, die ein Mensch mit Gewissen nun mal verspürt, wenn er andere Menschen manipuliert, bedroht oder beneidet.
Trotz meiner anhaltenden beruflichen Belastung bemerkte auch Katharina, dass ich bereit war, an mir zu arbeiten. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, fällten wir in den nächsten beiden Wochen eine folgenschwere Entscheidung für unsere Beziehung.
Wir wollten uns vorübergehend trennen – ein gemeinsamer Versuch, die Situation zu entspannen. Das Zauberwort hieß »Zeitinseln«. Es fiel in meiner nächsten Sitzung bei Herrn Breitner.
»Erzählen Sie mir vom Stress zu Hause«, forderte er mich auf, nachdem wir beide unsere Tasse grünen Tee vor uns stehen hatten.
»Wo soll ich anfangen?«, bat ich um Hilfe.
»Irgendwann werden Sie sich ja kennengelernt haben.«
»Katharina und ich haben uns im Referendariat kennengelernt. Vor gut zehn Jahren. Sie hat das Studium gehasst und sich nur aus Vernunftgründen durchgequält, um später einen soliden Job zu finden. Sie tat sich unheimlich schwer und mir irgendwie leid, denn das war ganz anders als bei mir. Ich fand das alles spannend. Ich wollte für eine bessere Welt kämpfen. In irgendeiner Kaffeepause kamen wir darüber ins Gespräch und fanden diese Gegensätze ziemlich reizvoll.«
»Wegen unterschiedlicher Studienmotivation wird man doch kein Paar.«
»Nein, natürlich nicht. Wir fanden den jeweils anderen natürlich attraktiv, wir waren beide Singles. Wir konnten uns gut unterhalten, und im Bett hat es auch Spaß gemacht. Wir kamen also zusammen.«
»Eine VW-Golf-Beziehung.«
»Eine was?«
»Auf einen VW-Golf lässt man sich aus genau den gleichen Gründen ein. Der sieht nicht komplett hässlich aus, den holt man sich, wenn man nichts anderes hat, mit dem kann man gut von A nach B kommen, und manchmal kann man damit auch rasen.«
»Was soll daran schlecht sein?«
»Gar nichts. Es sei denn, Sie träumen eigentlich von einem alten Ford Mustang, und Ihre Frau träumt von einem Fiat 500.«
»Was habe ich von einem alten Ford Mustang, wenn ich damit auf halber Strecke liegen bleibe?«
»Ich hatte nicht den Eindruck, dass Sie hier sind, weil Sie mit dem Golf am Ziel angekommen sind.«
»Wir haben uns mit dem Golf jedenfalls sehr lange sehr wohlgefühlt.«
»Ihre Frau hat den seriösen Job gefunden, für den sie sich jahrelang gequält hat?«
»Sie fing bei einer Versicherungsgesellschaft an, weil … Ehrlich gesagt habe ich bis heute nicht verstanden, warum man bei einer Versicherungsgesellschaft anfängt. Wahrscheinlich, weil man, wenn man ohne Ideale einen Job anfängt, mit den Jahren auch keine Ideale verlieren kann. Außerdem kann ein Job ohne Kicks nicht süchtig nach Kicks machen.«
»Von flachen Moralvorstellungen runterzufallen tut dafür aber auch nicht so weh.«
Aua, dieser Kommentar tat mir dafür umso weher. Aber ich erzählte weiter.
»Als wir beide das erste Geld verdienten, fingen wir an, es auch gemeinsam mit beiden Händen auszugeben. Wenn wir die Zeit dazu hatten. Tolle Restaurants, exotische Reisen, eine teure erste Wohnung.«
»Was ist Katharina für ein Mensch?«
Mir wurde ein wenig unbequem auf dem Stuhl. Auf die Frage gab es zwei Antworten. Eine, die mir gefiel. Und eine, die mir gar nicht gefiel. Ich fing mit der angenehmen Antwort an.
»Als wir uns kennenlernten war sie offen, vorsichtig, liebevoll, humorvoll. Wir konnten viel gemeinsam über andere lachen.«
»Und jetzt?«
Das war die unangenehme Antwort.
»Verschlossen, ängstlich, zu Emily liebevoll, zu mir kalt, völlig humorlos. Es wird auch nicht mehr gemeinsam über andere gelacht. Aber Katharina kann hervorragend verbittert über alle anderen lästern.«
»Wie hat sich das entwickelt?«
»Irgendwie wurde alles, was eigentlich Spaß machen sollte, zur Verpflichtung. Aus ›Lass uns heute das Bett nicht verlassen‹ wurde ›Lass uns endlich die Wohnungen kündigen, sonst ziehen wir nie zusammen‹. Aus ›Mit dir könnte ich alt werden‹ wurde ›Meine Mutter erwartet, dass wir langsam heiraten‹. Aus ›Du sollst der Vater meiner Kinder sein‹ wurde ›Wenn ich jetzt nicht die Pille weglasse, bin ich in sechs Jahren zu alt für ein drittes Kind‹.«
»Aus dem Traumprinzen, der die Prinzessin aus dem Gefängnis des Studiums erretten sollte, wurde ein Ja-sagender Golf-Fahrer«, sagte Breitner und nickte.
»Wieso Ja-Sager? Zusammenziehen, heiraten, Familie gründen fand ich ja alles toll. Sonst hätte ich doch nicht mitgemacht. Aber ich hätte das alles gerne mit mehr Spaß gemacht. Ich hätte das alles gerne erlebt und nicht bloß auf einer Liste abgehakt. Je mehr unsere Beziehung in den klassischen Bahnen lief, desto belangloser wurde sie. Wir arbeiteten beide an unseren Karrieren. Wobei uns beiden nur wichtig war, dass der andere Karriere machte. Was das für eine Karriere war, interessierte uns anfangs nicht besonders und wurde mit den Jahren immer mehr zur Belastung. Katharina hasste immer mehr, was ich tat. Was sie tat, wusste ich schlicht nicht. Wir nahmen aber beide gerne in Kauf, dass der andere gutes Geld mit was auch immer verdiente.«
»Hört sich zumindest finanziell nach einer tragfähigen Basis an.«
»Nach fünf Jahren heirateten wir. Zwei Jahre später kam Emily.«
»Ein Wunschkind?«
»Absolut. Ich hatte mir obendrein auch noch gewünscht, dass mit einem Kind im wahrsten Sinne des Wortes neues Leben in unsere Beziehung kommt. War aber nicht so.«
»Welch Wunder. Wenn zwei Erwachsene etwas gemeinsam nicht schaffen, warum sollte ein Kind alleine dazu in der Lage sein?«
Ich dachte kurz darüber nach. Irgendwie machten diese kleinen Einwürfe alle beschämend viel Sinn.
»Katharina nahm Emily voll in Beschlag. Stillen nach Plan. Abstillen nach Plan. Prager Eltern-Kind-Programm nach Plan. Babyschwimmen nach Plan. Buggy-Fit nach Plan. Und den Plan bestimmte ausschließlich die Mutter. Aus dem Wunschkind wurde ein Plan-Kind. Nur für unsere Beziehung gab es keinen Plan. Zu Hause war ich bloß die planlose Null mit dem Penis. War ich zu Hause, machte ich alles falsch. Kam ich zu spät nach Hause, war das auch falsch. Mir blieb eigentlich gar nichts anderes übrig, als mich noch tiefer in meinen verhassten Job zu stürzen. Da war ich wenigstens wer. Da wurde ich zwar auch nicht als Partner wahrgenommen, aber immerhin hatte ich freie Hand und das Vertrauen aller Beteiligten.«
»Und das geht seit Emilys Geburt so?«
»Mehr oder weniger. Ja. Seitdem arbeitete ich für zwei. Seitdem ist Katharina mit Emily zu Hause – wenn sie nicht in irgendwelchen Mutter-Kind-Kursen ist. Wobei Katharina andere Mütter hasst, aber um nichts falsch zu machen, macht sie alles, was die machen. Meine Tochter bekomme ich nur schlafend zu sehen. Sie mich so gut wie gar nicht. Wenn ich gereizt nach Hause komme und dort auf meine übermüdete Frau treffe, zoffen wir uns immer öfter. Katharina hat mich sogar schon gefragt, warum ich überhaupt noch nach Hause käme. Ich hatte keine Antwort darauf.«
»Haben Sie jetzt eine?«
»Nein«, antwortete ich ohne jedes Zögern.
Dieses klare Nein zerschnitt das Gespräch mit chirurgischer Präzision. Die folgende Gesprächspause war lang. Aber erholsam. Joschka Breitner wartete auf der anderen Seite der Pause mit einer Überraschung auf mich.
»Kennen Sie Zeitinseln?«
»Bitte?«
»Zeitinseln. Abgegrenzte Zeiträume, in denen Sie nur das tun, was Ihnen guttut. Und nichts anderes.«
»Sie meinen wohl das, was die Generation meiner Eltern unter den Begriffen ›Wochenende‹ und ›Feierabend‹ kannte.«
»Richtig. Und Ihre Generation hat das dann gegen ein Smartphone eingetauscht. Statt Wochenende und Feierabend haben Sie jetzt permanente Erreichbarkeit und Achtsamkeitsberater.«
»Bescheuerter Tausch.«
»Ich für meinen Teil lebe ganz gut davon.«
»Und wie sollen mir diese Zeitinseln in meiner Situation helfen?«, wollte ich wissen.
»Nun, interessanterweise haben Sie einen Teil des Zeitinsel-Konzepts schon umgesetzt. Weil Sie sich zu Hause nicht wohlfühlen, haben Sie sich noch mehr in die Arbeit geflüchtet. Da werden Sie wenigstens nicht von Ihrer Ehefrau gestört. Aber wie es scheint – o Wunder –, tut Ihnen ein psychopathischer Mandant genauso wenig gut wie eine frustrierte Ehefrau.«
»Und die Alternative wäre?«
»Tun Sie einmal etwas für sich. Schaffen Sie sich einen Freiraum ohne Frau und ohne Psychopath.«
»Das bisschen Zeit, was mir die Arbeit lässt, würde ich aber gerne mit meiner Familie verbringen.«
»Mit Ihrem Wunschbild von Familie, das aber in Wirklichkeit nicht existiert. Es hilft ja offensichtlich weder Ihnen noch Ihrer Frau und schon gar nicht Ihrer Tochter, wenn Sie zu Hause lediglich körperlich anwesend sind und geistig mit Ihrem Job und Ihrer Ehe hadern. Sowohl Sie als auch Ihre Frau wollen, dass Sie geistig am Familienleben teilnehmen. Schaffen Sie sich also eine feste Zeitinsel nur für Ihre Familie. In dieser Zeit geht es dann um nichts anderes. Und diese Zeit genießen Sie gefälligst.«
»Und auf dieser Zeitinsel hat dann wieder meine Frau das Sagen, oder was?«
»Natürlich nicht. Es ist Ihre Zeitinsel. Von mir aus schaffen Sie sich eine Zeitinsel nur für sich und Ihre Tochter. Wenn Sie da sind, sind Sie ganz für Ihre Tochter da. Wenn Sie nicht für Ihre Tochter da sein können, können Sie auch gleich ganz weg sein. Vielleicht wäre sogar eine räumliche Trennung für Sie und Ihre Frau etwas Entspannendes. So lernen Sie – und vielleicht ja auch Ihre Frau –, sich auf exakt das einzulassen, was an dem Ort, wo Sie gerade sind, wichtig ist.«
Ich erzählte Katharina noch am selben Abend von dem Vorschlag. Von der Trennung, um sich wiederzufinden. Von den Zeitinseln. Von meiner eigenen Unzufriedenheit. Zu meiner Überraschung sah Katharina in diesem Vorschlag nicht das Ende unserer Ehe, sondern einen Silberstreifen am Horizont. Anstatt mir Vorwürfe zu machen – jetzt wolle ich auch noch unsere Ehe beenden! –, fiel sie mir um den Hals. Zum ersten Mal seit Monaten. Weinend.
»Ich bin dir so dankbar, dass du diesen Vorschlag machst. Ich halte es so, wie es zwischen uns ist, nicht mehr aus.«
»Aber warum hast du denn nie vorgeschlagen, dass ich vorübergehend ausziehe?«
»Weil ich nicht den Vater meiner Tochter rauswerfen will. Ich will doch nur den Mann wiederhaben, den ich geheiratet habe.«
Sie würde diesen Mann nie wiederbekommen. Weil es den Mann, den sie glaubte geheiratet zu haben, nie gegeben hatte. Sie hatte eine weiße Leinwand geheiratet, auf die sie ihre Wunschvorstellung von Ehemann projiziert hatte. Ich war aber nach wie vor bereit dazu, so zu tun, als sei ich die Projektion – sobald ich wieder die Kraft dazu hatte.
»Dann lassen wir also den Mann, mit dem du dich dauernd streitest, ausziehen, und der Mann, den du geheiratet hast, kommt zu Besuch?«, fragte ich vorsichtig nach. »Mir würde schon reichen, wenn der Vater meiner Tochter zu Besuch kommt. Hauptsache der Typ, mit dem ich dauernd streite, ist weg. Den Mann, den ich geheiratet habe, werde ich solange vermissen.«
Wir hielten uns schluchzend in den Armen.
Dieser warme Moment währte allerdings nur so lange, bis die kalte Katharina aus diesem Lösungsvorschlag eine Bedingung machte. Sie löste sich von mir und schaute mir drohend in die Augen.
»Wenn du das mit den Zeitinseln nicht einhältst, dann ist es endgültig aus. Wenn dir dein Job auch nur einmal wichtiger ist als Emily, dann war es das. Dann siehst du Emily nie mehr wieder. Schließlich bin ich die Mutter.«
Oder um im Bild zu bleiben: Wenn der Silberstreifen am Horizont ohne neues Morgenlicht verschwände, würde es für mich zappenduster werden. Das war keine leere Drohung. Als Anwalt war mir klar, dass auch die modernste Frau die alleinige Macht über die Kinder hat, wenn sie sich auf das vor Gericht noch immer gültige Familienbild des 19. Jahrhunderts beruft. Wenn die Mutter nicht will, sieht der Vater das Kind nicht. Punkt. Und die kalte Katharina wäre in der Lage gewesen, die Tour auch durchzuziehen.
Verbunden mit dieser Drohung fiel mir der Auszug wesentlich leichter. Ich war froh, den eiskalten Teich zu verlassen, bevor er über mir zufror.
Ich fand ein möbliertes Apartment im selben Stadtteil. Wir fanden Zeitinseln, in denen ich mich ausschließlich um Emily kümmerte. Das waren anfangs ein paar Stunden vormittags, die ich abends ohne schlechtes Gewissen nacharbeitete.
Aus den wenigen Stunden an einzelnen Tagen wurde dann nach einigen Wochen der Sonntagnachmittag. Dann der ganze Sonntag. Alle vierzehn Tage das ganze Wochenende.
Mehr Zeitinseln ließ mein Job aber nicht zu. Glaubte ich zunächst.
Die Zeitinseln mit Emily ließen mich aufblühen. Es war ein unglaubliches Gefühl der Freiheit, mit diesem kleinen Menschen ganz allein Zeit zu verbringen. Intuitiv mit seinem Kind zu spielen, ohne die Mutter im Nacken zu haben, die alles bewertete. Nicht mit den Gedanken in der Kanzlei zu sein, sondern auf meiner Insel. Und auf dieser Insel war ich König, Magier, Papa.
Emily und ich konnten uns über die watschelnden Enten am Teich totlachen, ohne von Katharina Lästerkommentare über die Mütter am anderen Ufer hören zu müssen. Wir konnten auf dem Spielplatz schaukeln, wenn die Schaukel frei und nicht erst wenn das Kind eingecremt war.
Es machte so viel mehr Spaß in einer Eisdiele das zu bestellen, was schmeckte. Und nicht das, was in der Öko-Test für gesund befunden wurde.