Achtung, Hormone - Max Nieuwdorp - E-Book
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Achtung, Hormone E-Book

Max Nieuwdorp

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Beschreibung

Warum schießt uns der Puls bei Aufregung blitzartig in die Höhe? Wieso spielt mein Sohn ganz anders als meine Tochter? Und wie kommt es eigentlich, dass sich Männer und Frauen mit zunehmendem Alter immer ähnlicher sehen? Kurzweilig und anhand zahlreicher Beispiele aus seiner Praxis schildert Max Nieuwdorp, wie unsere Hormone in allen Lebensphasen, vom Augenblick unserer Empfängnis bis zu unserem letzten Atemzug, eine entscheidende Rolle spielen. Zwischen Minipubertät, Schwangerschaft und Meno- bzw. Penopause beleuchtet er hochaktuelle Aspekte wie den Einfluss von Umweltfaktoren und Lebenswandel, wirft einen medizinischen Blick auch auf Transsexualität und erklärt, wie jeder von uns seinem Hormonhaushalt Gutes tun kann.

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Seitenzahl: 486

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Max Nieuwdorp

Achtung, Hormone

Alles über die Botenstoffe, die unser Leben lenken

Aus dem Niederländischen von Gerd Busse

Hoffmann und Campe

Für meine (Schwieger-)Eltern, Willemijn, Hannah, Matthias und Leah

Vorwort

»Bei alldem war (und bin) ich unsicher, wie ich mich von meinem alten Selbst unterscheide oder mich von Jahr zu Jahr weiter verändere. Das hormonelle Profil eines Menschen bestimmt einen großen Teil seiner sichtbaren Persönlichkeit. Wenn man das endokrine System verzerrt, verändert sich das Denken und Fühlen. Eine Veränderung des Musters führt zur nächsten.«

Hilary Mantel, Von Geist und Geistern1

Die obenstehende Äußerung Hilary Mantels über ihre Hormonstörung Endometriose unterstreicht, wie sehr Veränderungen im Hormonhaushalt auch das Selbstbild von Menschen beeinflussen. Und es ist zugleich der Grund, weshalb ich meinen Beruf als Arzt so schön finde. Im Sprechzimmer erhält man einen kleinen Einblick in die Intimität des Lebens eines Menschen und die Art und Weise, wie Krankheit in seinen Charakter eingreift.

Ich bin Arzt geworden, weil viele meiner Familienangehörigen im Gesundheitswesen gearbeitet haben. Und obwohl mir in meiner Schulzeit eher eine Karriere als Diplomat oder Historiker vorgeschwebt hatte, entschied mein Los (und das Lossystem) anders, und ich begann, in Utrecht Medizin zu studieren, so wie meine Verwandten vor mir.

Abgesehen von einem phantastischen Studentenleben – auf dem Campus am Janskerkhof schloss ich Freundschaften fürs Leben und fand die Liebe meines Lebens – erwies sich dieses Studium als ein Schuss ins Schwarze. Denn im Gegensatz zu dem, was ich mir vorgestellt hatte, zeigte sich, dass das Fach so viel mehr beinhaltete, als Tabletten zu verschreiben oder Patienten zu operieren. Ich lernte, wie man Experimente im Labor durchführt, und ließ mich davon inspirieren, wie Ärzte auf diese Weise Erkenntnisse über versteckte Krankheiten und die Beschwerden gewannen, die mit ihnen einhergingen – Beschwerden, die Menschen zu uns in die Sprechzimmer bringen.

Die Medizinische Fakultät der Universität Utrecht bot mehr als nur eine biomedizinisch ausgerichtete Ausbildung. So hege ich angenehme Erinnerungen an die Vorlesungen von Professor Sijmen Duursma über Medizin und Kunst, die er mit bekannten Gemälden illustrierte, auf denen Kranke abgebildet waren.

Es waren die Interaktionen mit Patienten und die Intimität des Sprechzimmers, die mich gegen Ende meiner Ausbildung zu dem Entschluss brachten, mich auf die Innere Medizin zu verlegen und mich zugleich der wissenschaftlichen Forschung zu widmen, weil es auf dem Gebiet der Hormone und Darmbakterien noch so viel zu entdecken gab. Angespornt durch die Tatsache, dass nahezu meine gesamte Verwandtschaft Probleme mit der einen oder anderen Form von Hormonstörung hat – von Diabetes mellitus bis hin zum Schilddrüsenleiden und sogar Nebennierentumoren –, beschloss ich, mich auf Endokrinologie, die Lehre von den Hormonen, zu spezialisieren.

 

Nachdem ich fast zwanzig Jahre als Arzt tätig gewesen war, fasste ich – angeregt durch Fragen, die mir meine Patienten über die Jahre hinweg gestellt hatten und auf die ich nicht immer eine Antwort gewusst hatte – den Entschluss, dieses Buch zu schreiben. Nicht nur, um das faszinierende endokrine System für alle, die es interessiert, etwas begreiflicher zu machen, sondern auch, um die Macht der Hormone in die richtige Perspektive zu rücken.

Der Titel der Originalausgabe Wij zijn onze hormonen (wörtlich übersetzt: »Wir sind unsere Hormone«) verweist darauf, dass Hormone die Dirigenten unseres Körpers sind, und natürlich ist er auch ein augenzwinkernder Hinweis auf das großartige Buch meines Kollegen Dick Swaab, Wir sind unser Gehirn (2011). Während unser Gehirn bei allen Entscheidungen, die wir treffen, wichtig ist, haben Hormone ihrerseits Einfluss darauf, wie das Gehirn funktioniert. (So erinnere ich mich an eine Patientin, die wegen einer zu schnell arbeitenden Schilddrüse sexuell völlig enthemmt wurde und zu jedem männlichen Patienten ins Bett stieg. Erst als ihre Schilddrüse chirurgisch entfernt worden war, wurde sie langsam wieder die Alte.) Hormonelles Ungleichgewicht kann unsere Persönlichkeit und unser Funktionieren im Alltag also ordentlich durcheinanderbringen.

Dieses Buch ist in den Morgen- und Abendstunden geschrieben worden, weil meine Arbeitstage durch die Betreuung von Patienten sowie durch Forschung und Management vollkommen in Beschlag genommen werden und auch das Privatleben die nötige Zeit einfordert: eine Familie mit kleinen Kindern und eine Frau, die als Hebamme in Vollzeit arbeitet. Dennoch erwies sich das Schreiben als unglaubliche Energiequelle – Energie, die ich auch dringend benötigte, etwa während der COVID-19-Epidemie, bei der ich auf den Krankenstationen nicht nur Patienten behandelt habe, sondern sie auch habe sterben sehen.

Achtung, Hormone ist eine Mischung aus Geschichte und Medizin im weitesten Sinn des Wortes. Ich wollte kein medizinisches Handbuch schreiben, wohl aber versuchen, mit pseudowissenschaftlichen Behauptungen über den Einsatz von Hormonen als Antwort auf oft gehörte Leiden aufzuräumen. Ich möchte sicherlich nicht behaupten, dass wir die Sklaven unserer Hormone (oder unseres Gehirns) sind – es besteht immer eine Wechselwirkung zwischen Umwelt, Körper und Geist. Hormone können vielleicht unsere Fähigkeit trüben, Entscheidungen zu treffen, aber sie können uns nicht aus der Verantwortung für unsere Taten entlassen.

Durch das Schreiben dieses Buchs ist mein Respekt vor unserem wunderbaren endokrinen System noch größer geworden, als er ohnehin schon war. Wir sollten als Ärzte nicht zu viel daran herumdoktern, uns aber vor allem nicht zurücklehnen. Wir sollten weiterhin nach einem tieferen Verständnis dieser faszinierenden körpereigenen Substanzen streben und nicht aufhören, nach besseren Behandlungsmöglichkeiten zu suchen. Denn wie der berühmte Therapeut Salvador Minuchin bereits so schön sagte: »Sicherheit ist die Feindin der Veränderung.«

 

Amsterdam, im August 2022

Einleitung

Im Jahr 2001 arbeitete ich in einem Landkrankenhaus in Pretoria, Südafrika. Schwangere Frauen kamen mit einsetzenden Wehen aus den Townships, die noch aus der Zeit der Apartheid stammten, in die Geburtsklinik, die über keine besonders gute Ausstattung verfügte. Auf einem auseinandergeklappten Pappkarton auf dem Rasen vor der Klinik liegend veratmeten sie ihre Wehen, bis sie die Pappe gegen ein hartes Bett hinter einem Vorhang in der Klinik eintauschen und die Geburtsvorbereitungen eingeleitet werden konnten. Ich hatte durchschnittlich zwanzig Frauen unter meiner Obhut. Jede Nacht wurden mehrere Kinder geboren, und ich rannte von Zimmer zu Zimmer. Eines dieser Kinder, ein Mädchen namens Muna, sah ich eine Weile später in der Poliklinik wieder, wo sie wegen eines verzögerten Wachstums aufgenommen worden war. Sie reagierte kaum auf Versuche, Kontakt herzustellen, hatte ein etwas aufgedunsenes Gesicht und wies verzögerte Reflexe auf. Das Schilddrüsenhormon in ihrem Blut war kaum noch nachzuweisen, sodass ich beschloss, ihr unverzüglich Schilddrüsenhormontabletten zu verabreichen, um den Mangel zu beheben.

Als ich Jahre später im Rahmen einer Konferenz in Südafrika dieselbe Geburtsklinik noch einmal besuchte, erzählte mir eine Krankenpflegerin, dass Muna jetzt schwerbehindert sei und zu Hause von ihrer Oma betreut werde. Munas erste Monate ohne Behandlung haben ihren Tribut gefordert. Sie wird nie wieder ein eigenständiges Leben führen können und hat ein erhöhtes Risiko, frühzeitig an einer Lungenentzündung oder einem Dekubitus (Wundliegegeschwür) zu sterben.

Die Geschichte Munas zeigt, wie wichtig Hormone für unsere Entwicklung sind. Wir können schlichtweg nicht ohne diese Stoffe leben, die unser Körper selbst produziert und die über den Blutkreislauf unsere Organe und das Gewebe ansteuern, um eine Vielzahl von Körperfunktionen zu regulieren. Am Anfang ist ein ungeborenes Kind von den Hormonen seiner Mutter abhängig. Erst nach drei Monaten entwickelt der Fötus selbst die Zellen und Organe, die er für eine gut funktionierende Hormonproduktion braucht. Die Schilddrüse bildet sich schon in diesem ersten Trimester der Schwangerschaft, was die Bedeutung dieses Organs für unser Dasein illustriert. Das Schilddrüsenhormon ist nämlich an vielen Prozessen in unserem Körper beteiligt.

Wegen einer Störung in der ersten Phase der Schwangerschaft hatte sich bei Muna keine Schilddrüse entwickelt, und so war es zu einem angeborenen Mangel an Schilddrüsenhormon, auch als kongenitale Hypothyreose bezeichnet, gekommen. In den Niederlanden werden ungefähr achtzig Kinder pro Jahr mit dieser Erkrankung geboren. Es ist nicht einfach, sie bei neugeborenen Babys zu diagnostizieren, und wenn dies relativ spät geschieht, hat es, wie Munas Geschichte zeigt, weitreichende Folgen. Diese Erkenntnis führte dazu, dass Hans Galjaard, zu Lebzeiten Professor für Humangenetik an der Erasmus-Universität in Rotterdam, den Entschluss fasste, die Möglichkeiten eines Screenings angeborener Erkrankungen in den Niederlanden auf die politische Agenda zu setzen. Dank seiner Bemühungen nehmen seit 1974 niederländische Beratungsstellen und Hebammen mittels einer Fersenpunktion allen Babys Blut ab. Getrieben unter anderem durch den Tod seines Bruders, der in jungen Jahren an den Folgen einer angeborenen Erkrankung starb,2 begann Galjaard nach einer aufreibenden politischen Lobbyarbeit mit diesem »Fersenstich«, mit dem sich inzwischen zweiunddreißig angeborene Krankheiten nachweisen lassen. Wie Galjaard schon sagte: »Besser vermeiden als nicht heilen können.«

Tausenden von Kindern ist dadurch das Schicksal Munas erspart geblieben. In meiner Poliklinik treffe ich sie als lebenslustige Dreißigjährige wieder, deren Leben eine einzige Schilddrüsentablette pro Tag (und der vorausschauende Blick Galjaards) bleibend verändert hat.

Eine kurze Geschichte der Hormone

1902 wurde von dem britischen Physiologen Ernest Starling und seinem Schwager William Bayliss erstmals ein Stoff entdeckt, den sie wenig später mit dem Namen »Hormon« bezeichnen sollten. Gemeinsam untersuchten sie, wie unsere Verdauung funktioniert und Nahrung durch bestimmte Stoffe gespalten und vom Darm aufgenommen werden kann.3,4

Zwei Jahre später erhielt Iwan Pawlow für seine Forschungsarbeiten zur Verdauung den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.5 Dieser russische Kollege, der vor allem durch seine Forschungen zur Konditionierung bekannt ist und nach dem der noch immer gerühmte Pawlow’sche Reflex (1897) benannt ist, konnte zeigen, dass das Nervensystem an unserer Verdauung beteiligt ist.

Bayliss und Starling erkannten jedoch, dass die Verdauung auch bei Labortieren stattfand, deren Nervensystem beschädigt war, nämlich durch die Abgabe spezieller Substanzen aus nahegelegenen Drüsen an das Blut. Eine dieser Substanzen war das von ihnen so genannte Sekretin (nach dem Englischen »to secrete«, ausscheiden) – die erste einer inzwischen reichen Gruppe an Substanzen, die unser Leben unsichtbar, aber tiefgreifend regulieren.

Bayliss und Starling waren auch diejenigen, die das Wort Hormon – altgriechisch für »in Bewegung setzen, antreiben, anregen« – als Sammelbegriff für diese Substanzen vorschlugen. Hormone sind Signalstoffe, die durch endokrine (hormonproduzierende) Drüsen erzeugt werden. Über das Blut und andere körpereigene Flüssigkeiten erreichen diese Stoffe ihr Ziel – bestimmte Zellen oder Organe –, wo sie dann ihre Aufgabe erfüllen. Die meisten Hormone haben eine zentrale regulatorische Funktion: Sie können Prozesse in Gang setzen oder auch hemmen. Und sie beeinflussen sich gegenseitig.

Das Zentralbüro unseres Hormonhaushalts liegt mitten im Gehirn, unmittelbar hinter unseren Augenhöhlen. Dort befinden sich der Hypothalamus und die Hypophyse, mit den Abmessungen einer Erdbeere beziehungsweise einer Erbse. Beide Gruppen spezialisierter Nervenzellen sind Teil unseres emotionalen Gehirns, des limbischen Systems (mehr dazu in Kapitel 5). Wie Generäle steuern sie sowohl unser Nerven- als auch unser hormonelles System, wobei sie gewissenhaft ihre Truppen im Auge behalten.

Die Effekte dieser wichtigen Signalstoffe wurden jedoch schon fünfzig Jahre vor Starling und Bayliss bemerkt. In einer Untersuchung aus dem Jahr 1849 verglich der deutsche Wissenschaftler Arnold Berthold kastrierte Hähne (Kapaune) mit ihren nichtkastrierten Brüdern und konnte zeigen, dass es bei der ersten Gruppe zu körperlichen und Verhaltensänderungen kam.6 Wenn man bei den Kapaunen die Testikel durch Reimplantation oder Transplantation wiederherstellte und damit auch die Produktion des später entdeckten Hormons Testosteron erneut in Gang setzte, fiel auf, dass die Hähne wieder in der Lage waren, zu krähen. Solche Experimente regen bis heute die Phantasie von Schriftstellern und Wissenschaftlern an, nicht zuletzt, weil sie die Verheißung eines Elixiers für die »ewige Jugend« in sich tragen.

Die Oper A Dog’s Heart des Komponisten Alexander Raskatow ist ein wunderbares Beispiel dafür. Inspiriert von einer Novelle Michail Bulgakows aus dem Jahr 1925 erzählt die Oper das Schicksal des Straßenhundes Sharik, nachdem ihm die Hypophyse und die Testikel eines berüchtigten Kriminellen implantiert worden sind.7 Dadurch entwickelt sich das Tier zum gewissenlosen Verbrecher Sharikow, und er wird in seinem Verhalten und seinen Entscheidungen zum Opfer seiner (von Hormonen gesteuerten) Triebe. Nur eine zweite Operation verschafft dem von Testosteron gequälten Hund Erlösung …

Auch in älterer Literatur, wie zum Beispiel dem Alten Testament, wird schon auf die Anwesenheit von Hormonen verwiesen. Obwohl seinerzeit keine Techniken zur Verfügung standen, um das Vorhandensein von Hormonen im Blut nachzuweisen, heißt es in Levitikus 17,11: »Die Lebenskraft des Fleisches sitzt nämlich im Blut.« Bestimmte Personen aus der Bibel litten höchstwahrscheinlich unter angeborenen hormonellen Erkrankungen, wie etwa einem reichlichen Vorrat an Wachstumshormonen beim Riesen Goliath. Auch der Zwergwuchs des ägyptischen Gottes Bes sowie die Reizbarkeit und enorme Energie Kleopatras könnten sich sehr gut auf eine Fehlfunktion der Schilddrüse zurückführen lassen.

Doch zurück zur Faszination für das männliche Hormon, das die ewige Jugend verspricht. Im Jahr 1889 experimentierte der zweiundsiebzigjährige mauritisch-französische Neurologe Charles-Édouard Brown-Séquard mit der Verabreichung tierischen Testikelextrakts an sich selbst.8 »Ich habe in meinen Injektionen (die ich mir selbst unter die Haut setzte) eine wasserartige Flüssigkeit mit den folgenden drei Extrakten verwandt: erstens Blut der Hodenblutgefäße, zweitens Sperma und drittens Flüssigkeit, die aus einem Testikel stammte, der kurz zuvor einem Hund oder einem Schwein entnommen worden war.« Obwohl es um die Gesundheit des Professors für sein Alter relativ gut bestellt war, klagte er in der Zeit vor seinen Selbstversuchen regelmäßig über Müdigkeit nach einem Tag harter Arbeit und äußerte Probleme mit Sodbrennen sowie Gelenk- und Muskelschmerzen. Letztere waren wahrscheinlich auf Verschleiß infolge einer Arthrose zurückzuführen, etwas, das bei älteren Menschen häufig vorkommt.

Im Mai und Juni jenes Jahres verabreichte sich Brown-Séquard täglich gut zehn (!) dieser Injektionen. Nahezu unverzüglich schien es, als wären Lebenskraft und Energie in seinen Körper zurückgekehrt: Er fühlte sich kräftiger und konnte buchstäblich wieder die Treppe hinaufrennen. Auch schien der Umfang seines Bizeps stark zugenommen zu haben, seine Müdigkeit war verschwunden, und laut der Überlieferung kehrte auch seine Potenz zurück. Testosteron (dazu mehr in den nachfolgenden Kapiteln) ist allerdings ein in Fett lösliches Hormon, und da die Injektionen von Brown-Séquard auf Wasserbasis waren, ist es gut möglich, dass hier ein Placebo-Effekt mitspielte.9

Diese und andere Dinge haben in den zurückliegenden hundert Jahren unser Wissen über Hormone wesentlich bereichert. Dank des technischen Fortschritts lassen sich Hormone aus tierischem Material isolieren und anschließend injizieren, um deren Wirkung auf Mensch und Tier zu beobachten. Das hat nicht nur medizinisch-wissenschaftlich zu vielen wichtigen neuen Erkenntnissen geführt – und zu gleich mehreren Nobelpreisen zwischen 1920 und 1930 für die Entdeckung des inzwischen bekanntesten weiblichen Hormons Östrogen, des männlichen Hormons Testosteron und des Progesterons, das eine wichtige Rolle beim Einnisten des Embryos in die Gebärmutterschleimhaut spielt –, sondern hatte in ihrem Gefolge auch große soziale und wirtschaftliche Auswirkungen. So war die Entwicklung der »Pille« in den fünfziger Jahren von sehr großer Bedeutung für die Emanzipation und Selbstbestimmung von Millionen junger Frauen. Außerdem hat sich die Gesamtkrankheitslast dank erfolgreicher Behandlungen mit Hormonen bei einer Vielzahl von Erkrankungen beträchtlich verringert, was zugleich Riesenchancen für die pharmazeutische Industrie bedeutete.

 

Leider haben sich unsere hormonellen Helfer nicht immer als unproblematisch herausgestellt. Seit dem Erscheinen des Buchs Der stumme Frühling der US-amerikanischen Biologin Rachel Carson im Jahr 1962 – in dem sie auf den desaströsen Einfluss der Schädlingsbekämpfungsmittel in der Landwirtschaft auf die Umwelt, die Qualität unserer Nahrungsmittel und unseren eigenen Körper hinwies – wissen wir besser, wie sehr solche Giftstoffe auch unseren Hormonhaushalt durcheinanderbringen können.10 So hatten Injektionen mit Wachstumshormonen, gewonnen aus den Hirndrüsen Verstorbener, die schmerzliche Folge, dass dadurch bei ziemlich vielen Patienten die ansteckende und tödliche Creutzfeldt-Jakob-Krankheit übertragen wurde.11 Auch das Medikament DES, ein künstliches Östrogen, das in den Niederlanden in den fünfziger und sechziger Jahren schwangeren Frauen in großen Mengen verschrieben wurde, um Fehlgeburten zu verhindern, hatte schwerwiegende Folgen für die Gesundheit ihrer Töchter, wie etwa ein erhöhtes Risiko, an Krebs zu erkranken oder unfruchtbar zu werden; es konnte sogar noch bei ihren Enkelsöhnen zu Anomalien führen.12

Ebenso wie bei Muna, dem Baby, das durch einen Defekt in seiner Schilddrüsenhormonproduktion eine geistige und körperliche Behinderung entwickelte, ist unsere Gesundheit und die unserer Nachkommen sehr stark abhängig vom richtigen Hormongleichgewicht. In diesem Buch werde ich anhand der einzelnen Lebensphasen – von der Wiege bis zur Bahre – den Einfluss der verschiedenen Hormone und ihre Abhängigkeit voneinander erläutern. Dabei gehe ich ebenfalls tiefer auf die Folgen eines Mangels oder eines Überschusses an Hormonen und den (gelegentlich destruktiven) Effekt dieser starken körpereigenen Substanzen auf unser geistiges und körperliches Wohlbefinden ein. Ich hoffe, dass Sie ebenso wie ich von der wunderbaren Rolle fasziniert sein – und bleiben – werden, die Hormone in unserem Körper und unserem Leben spielen.

Unsere Hormondrüsen und ihre Funktionen

ZIRBELDRÜSE (Epiphyse); Anzahl: 1, Größe: 0,5 × 0,5 cm; sieht aus wie ein Zapfen der Zirbelkiefer. Produziert Melatonin. Funktion: Tag-Nacht-Rhythmus und Schlafqualität, hemmt bis zur Pubertät die Produktion des Geschlechtshormons.

 

HIRNANHANGDRÜSE (Hypophyse); Dirigent unseres Körpers; Anzahl: 1, Größe: 1 × 1 cm; sieht aus wie eine Erbse. Produziert Wachstumshormon, Prolaktin, luteinisierendes Hormon (LH), follikelstimulierendes Hormon (FSH), adrenocorticotropes Hormon (ACTH) und antidiuretisches Hormon (ADH), auch bekannt als Vasopressin. Funktion: Regt andere Drüsen an, Hormone zu produzieren.

 

SCHILDDRÜSEN (Glandula thyroidea); Anzahl: 2, Größe: 5 × 3 cm; sehen aus wie die Flügel eines Schmetterlings. Produzieren T4 und T3 (über TRH und TSH aus der Hypophyse); Funktion: Regeln den Stoffwechsel, den Herzrhythmus und die Körpertemperatur.

 

NEBENSCHILDDRÜSEN (Glandulae parathyreoideae); Anzahl: 4, Größe: 0,5 × 0,5 cm; sehen aus wie ein Reiskorn. Produzieren Parathormon (PTH), wichtig für die Knochenqualität und den Kalziumhaushalt.

 

MAGEN (Gaster oder Ventriculus); Anzahl: 1, Größe: 30 × 10 cm; sieht aus wie eine umgedrehte Birne. Produziert Ghrelin (Hungerhormon) und Gastrin. Funktion: Verdauung.

 

BAUCHSPEICHELDRÜSE (Pankreas); Anzahl: 1, Größe: 14 × 3 cm; sieht aus wie eine flache Birne. Produziert Insulin und Glucagon. Funktion: Zuckerspiegel und Fettstoffwechsel.

 

FETTGEWEBE (Adipozyten); im gesamten Körper, vor allem in der Bauchregion, Abmessung variiert; sieht aus wie Grießbrei. Produziert Leptin und Estradiol (aus Testosteron). Funktion: Energievorrat, Elastizität der Haut.

 

NEBENNIEREN (Glandula adrenalis); Anzahl: 2, Größe: ca. 1 × 1 cm; sehen aus wie ein Fingerhut. Produzieren unter Einfluss von CRH (Corticotropin-releasing Hormone) aus dem Hypothalamus und ACTH aus der Hypophyse Aldosteron, Cortisol, Östrogen, DHEA (Dehydroepiandrosteron) und Testosteron. Wichtig für den Blutdruck, den Zucker- und Salzhaushalt, das Immunsystem und die Libido. Nebennierenmark produziert Adrenalin und Noradrenalin, beides wichtig für die Stressreaktion.

 

ZWÖLFFINGERDARM (Duodenum); Anzahl: 1, Länge: ca. 25 cm (zwölf Finger nebeneinander); sieht aus wie ein Fahrradschlauch. Produziert Cholecystokinin (CCK), Serotonin, Glucagon-like Peptide (GLP-1). Funktion: Verdauung.

 

EIERSTÖCKE (Ovarien); Anzahl: 2, Größe: 5 × 3 cm; sehen aus wie Falafelbällchen. Produzieren Östrogen, Progesteron und Testosteron unter Einfluss von GnRH (Gonadotropin-Releasing-Hormon), FSH und LH über die Hypophyse. Funktion: Menstruationszyklus, Entwicklung der Brust, Fortpflanzung, Knochenmasse und -qualität.

 

HODEN (Testikel); Anzahl: 2, Größe: 4 bis 5 cm; sehen aus wie kleine Ostereier in einem Beutel. Produzieren Testosteron. Funktion: Spermabildung, Fortpflanzung, sexuelles Verlangen, Muskelmasse, Bartwuchs, Knochenmasse und -qualität.

1.Erst das Ei, dann das Huhn –

Schwangerschaft und Geburt

Heute sehe ich Anna, eine gepflegt wirkende fünfunddreißigjährige Frau, in meiner Poliklinik. Sie kommt zusammen mit ihrem Freund zu einer Beratung, weil sie einfach nicht schwanger wird. Auch ist ihre Regel seit zwei Jahren ausgeblieben, obwohl sie in all der Zeit keine Spirale mehr getragen hat. Während der Pubertät waren ihre Monatsblutungen normal, doch seit dem Beginn ihres Jurastudiums ist es mit der Regelmäßigkeit vorbei. Andere Ärzte, etwa der Gynäkologe, haben keine Auffälligkeiten gefunden, und eine Anorexie wurde vom Psychiater als Ursache ausgeschlossen. Etwas verschämt gesteht Anna, dass sie ein sogenannter high achiever sei: perfektionistisch, aber mit einem schwachen Selbstbild ausgestattet. Sie fühlt sich anderen Frauen rasch unterlegen und kompensiert dies, indem sie sich in die Arbeit stürzt. Seit einem Jahr ist sie bei einem Psychologen, hat jedoch das Gefühl, dass ihr die Behandlung kaum weiterhilft.

Anna erzählt, dass sie in ihrer Arbeit als Anwältin im Amsterdamer Finanzviertel Zuidas »so einigem« an Arbeitsdruck ausgesetzt ist. Im Büro macht sie mit Leichtigkeit Zwölf-Stunden-Tage, und an den Wochenenden verbringt sie ebenfalls regelmäßig einen Tag mit Arbeit. So ist es denn nicht verwunderlich, dass sie schlecht schläft – nur vier oder fünf Stunden pro Nacht. Weil sie gut aussehen will, rackert sie sich mit ihrer mageren Gestalt unter der Leitung eines Personal Coachs fünfmal die Woche im Fitnessstudio ab.

Meine Untersuchung ergibt keine ungewöhnlichen Befunde. Alles scheint normal zu sein, sodass ich ihr bei ihrem nächsten Besuch zu meinem Bedauern mitteilen muss, dass ich keine direkte Behandlung für ihre ausbleibende Menstruation habe. Doch Anna und ihr Freund waren in der Zwischenzeit auch nicht untätig. Nach einer Suche im Internet haben sie beschlossen, eine Kinderwunschklinik aufzusuchen, um Annas Eizellen einfrieren zu lassen. Und eine mögliche Schwangerschaft noch besser planen zu können.

 

In der Medizin nennen wir einen solchen Fall »idiopathische Infertilität«, also eine von erkennbaren Erkrankungen unabhängige Unfruchtbarkeit, verursacht wahrscheinlich durch psychosozialen Stress unseres westlichen Lebensstils mit seinem starken Leistungsdruck und den hohen Effizienzerwartungen. Für viele Paare ist das eine Quelle des Leids, die Lösung des Problems ist jedoch im Grunde einfach: Iss mehr (halte ein normales Gewicht) und entspanne dich mehr (sorge für weniger Stress).

Im Internet lässt sich viel zu diesem Thema finden. In der Tierwelt ist das Phänomen schon länger bekannt. Bei weiblichen Säugetieren, die eine untergeordnete Stellung in ihrer Gruppe einnehmen, kann der Eisprung ausbleiben.13 Untersuchungen haben gezeigt, dass der Status eines weiblichen Säugetiers und der Stress, den es dadurch erfährt, einen starken Effekt auf seine Fruchtbarkeit haben. Schimpansenweibchen, die hoch oben in der Rangordnung stehen, bekommen nicht nur mehr Junge, sondern diese Jungen haben auch eine bessere Überlebenschance, wahrscheinlich weil sie einen besseren Zugang zu guter Nahrung haben.

Die US-amerikanische Primatologin Sarah Blaffer Hrdy forschte zu Languren im Nordwesten Indiens.14 In den Gärten von Tempeln tischen Menschen dieser Affenart die herrlichsten Mahlzeiten auf. Im Vergleich zu ihren Schwestern im indischen Dschungel bekommen diese privilegierten Languren doppelt so viele Junge, darunter überraschend viele Zwillinge.15 Weil das Gebären eines Jungen eine aufwendige Angelegenheit ist, die viel Energie kostet, wird die Natur dies nur zulassen, wenn es über längere Zeit ausreichend Nahrung gibt. Es ist, als hätte die Art »gelernt«, wann das Gebären von Zwillingen sicher ist – ein unbewusster Prozess.

Beim Menschen ist hierzu weniger bekannt, aber wir wissen beispielsweise, dass nach einer hohen Frauensterblichkeit etwas mehr Mädchen als Jungen geboren werden. Die Ursache dieses Ungleichgewichts zwischen den Geschlechtern ist unklar, doch vermutlich spielen Umweltfaktoren dabei eine Rolle. So ist es in der Wirtschaftswissenschaft schon länger bekannt, dass während eines Krieges im Verhältnis mehr männliche Babys geboren werden, wahrscheinlich um das Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern wiederherzustellen.16 Die Wechselwirkung zwischen Umwelt, Nahrung, (psychosozialem) Stress und der Funktion unseres Fortpflanzungsorgans ist, kurz gesagt, komplex. Und obwohl ich Anna nicht mit einem Schimpansen vergleichen möchte, beweist auch ihre Geschichte, dass unsere physische Gesundheit eng mit unserer mentalen verbunden ist. Ein hübscher Ausgangspunkt, um zu zeigen, wie unsere Hormone funktionieren.

 

In diesem Kapitel werden Sie etwas über die Rolle erfahren, die Hormone bei der Schwangerschaft und während der Geburt spielen: bei der Entwicklung von Ei- und Samenzellen, beim Schwangerwerden, beim Geschlecht des Babys und der Regulierung des Immunsystems der Mutter sowie beim physischen und mentalen Wohlbefinden während und nach der Geburt. Und zum Schluss wird es um die hormonellen Veränderungen bei den (zukünftigen) Vätern gehen.

Hormone, Fortpflanzung und Umwelt

Im Prozess der Erschaffung neuen Lebens spielen Hormone eine Schlüsselrolle. Wahrscheinlich ist das auch zugleich die wichtigste Funktion, die Hormone in unserem Dasein haben: ohne Hormone kein neues Leben. Wie durch ein Wunder arbeiten sie in einem komplexen Netzwerk aus Substanzen, die einander anregen und hemmen, minutiös zusammen. So sorgen sie dafür, dass es überhaupt Ei- und Samenzellen gibt, aber auch, dass die Begegnung zwischen Ei- und Samenzelle »am rechten Ort und zur rechten Zeit« stattfindet. Dieser Prozess spielt sich nicht nur unten im Bauch ab. Tief in unserem Gehirn wird unser Körper vom Hormonsystem – wie ein mobiles Netzwerk mit ein paar Sendemasten – gesteuert.

Fortpflanzung beginnt also in unserem Gehirn – die Hypophyse und der Hypothalamus sind die Schaltzentralen des hormonellen Systems (und unseres Nervensystems). Ab der Pubertät erzeugt der Hypothalamus bei Mann und Frau den Stoff GnRH (Gonadotropin-Releasing-Hormon).17 Das regt die andere Hormondrüse, die Hypophyse, zur Produktion von FSH (follikelstimulierendes Hormon) und LH (luteinisierendes Hormon) an. LH fördert den Eisprung und sorgt dafür, dass sich eine befruchtete Eizelle in die Gebärmutter einnisten kann. Beide Hormone gelangen in unsere Blutbahn, worauf sie zu den Geschlechtsdrüsen (Hoden und Eierstöcken) abreisen. Dort angekommen regen sie die Produktion von Geschlechtshormonen an, die wiederum die Fortpflanzung mit ermöglichen.

Wie funktioniert das bei Männern? In den Hoden, der Endstation, sitzen die Leydig-Zellen. Angefeuert von dem im vorbeiströmenden Blut befindlichen LH produzieren diese Zellen Testosteron sowie eine kleinere Dosis des weiblichen Hormons Estradiol. Die Hoden enthalten auch Sertoli-Zellen, die ihrerseits, angeregt durch all das Testosteron, die siebzig Tage lange Reifung der Samenzellen begleiten und über die Produktion des Hormons Inhibin B die Testosteronproduktion regulieren können.

Pro Ejakulation werden etwa fünf Milliliter Sperma, ein Teelöffel voll, freigesetzt, die im Durchschnitt zwei Tage im weiblichen Körper überleben können. Die weniger glücklichen Samenzellen, die bei einem Samenerguss nicht ins Freie gelangen, werden im Nebenhoden gelagert und nach ungefähr einem Monat wieder abgebaut. Dieser Prozess beginnt in der Pubertät und setzt sich bis ans Lebensende fort. Deshalb kann man als Mann auch in hohem Alter noch ohne Weiteres ein Kind zeugen. Das knüpft wunderbar an den biologischen Zweck der männlichen Fortpflanzung in der Natur an: möglichst viele fruchtbare Frauen zu befruchten, ohne dabei selektiv zu sein.

Spermakrise?

Rachel Carson prophezeite es schon in den sechziger Jahren: Unsere westliche Lebensweise mit modifizierter Nahrung, die Chemikalien und der Luftverschmutzung ausgesetzt ist, stellt eine Bedrohung für unseren Fortbestand dar.18 Und tatsächlich, dreißig Jahre später folgten die ersten alarmierenden Berichte über die abnehmende Qualität und Produktion von Spermien. Man nahm an, dass bereits einer von fünf Männern wegen seiner schlechten Samenqualität nur noch mithilfe einer In-vitro-Fertilisation Kinder bekommen könne. Wenn sich diese Entwicklung fortsetzen würde, wäre es im Jahr 2110 vorbei mit der männlichen Fortpflanzung.19 Obwohl man diese Schlussfolgerung mit der nötigen Vorsicht ziehen sollte, haben westliche Männer durchaus mit einem starken Rückgang bei der Anzahl der Spermien pro Samenerguss zu kämpfen. Befanden sich um 2010 herum 47 Millionen Spermien auf dem Teelöffel Samenflüssigkeit, die ein Mann pro Ejakulation produziert, waren dies 1973 noch doppelt so viel gewesen, fast 99 Millionen Samenzellen.20 Auch die Beweglichkeit der Spermien nimmt ab,21 sodass immer weniger Samenzellen, und dann auch noch von schlechterer Qualität, die Fortpflanzung bewerkstelligen müssen. Die Macht der großen Zahl steht unter Druck, denn es ist schon länger bekannt, dass bei einem Samenerguss letztlich nur 0,1 Prozent der Spermien die Eileiter erreichen und lediglich ein paar Dutzend bei der Eizelle ankommen.

Nun lässt sich gegen dieses Untergangsszenario durchaus das eine oder andere einwenden. So können die Methoden, um die Zahl der Spermazellen festzustellen, beträchtlich variieren, wodurch Zählungen leicht danebenliegen. Dasselbe gilt auch für die Art und Weise, wie die Beweglichkeit von Spermien gemessen wird. Und da sich die Methoden ständig verbessern, sind Messungen im zeitlichen Verlauf nicht immer miteinander vergleichbar.

Tatsache bleibt jedoch, dass der Mann und sein Samen eine Schwachstelle in der menschlichen Fortpflanzung darstellen. So ist etwa Übergewicht ein Risikofaktor: Wenn Testosteron im Körperfett in Östrogen umgewandelt wird, beraubt sich der heutige Mann tatsächlich seiner Fruchtbarkeit.22 Dasselbe gilt auch für die Zeugung von Kindern in höherem Alter. Obwohl Spermien, im Gegensatz zu den Eizellen, die bereits bei der Geburt eines weiblichen Babys vorhanden sind, immer aufs Neue produziert werden, haben sie während eines Männerlebens mehr Probleme mit Umweltfaktoren: Durch Umweltverschmutzung, den Kontakt mit Chemikalien, radioaktive Strahlung und Weichmacher in Plastik nehmen sowohl Qualität als auch Quantität von Samenzellen dramatisch ab.23 So wird ein Mann nicht nur weniger fruchtbar, es steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass seine Kinder autistische Verhaltensmerkmale ausbilden.

Kurzum, wo Rauch ist, da ist auch Feuer. Deshalb verdienen solche Berichte sicher eine nähere Untersuchung, um eine mögliche Spermakrise zu verhindern. Haben Sie als Mann einen Kinderwunsch, dann warten Sie jedenfalls nicht zu lange, und achten Sie auf Ihr Gewicht.

Der Mongolenherrscher Dschingis Khan aus dem 12. Jahrhundert nahm diese Strategie ziemlich wörtlich. In den fünfundsechzig Jahren, die er lebte, hatte er, neben den vier Söhnen aus seiner »glücklichen« Ehe, noch viele andere sexuelle Kontakte, sodass er es, wie aus genetischen Y-Chromosomen-Daten hervorgeht, bis heute auf gut und gern sechzehn Millionen männliche Nachfahren gebracht hat.24 Wie das sein kann? Zu der Zeit war die Vergewaltigung der Frauen besiegter Gegner eine gängige »Belohnung« für Soldaten, und der General, also Dschingis, hatte den ersten Zugriff.

 

Auch bei Frauen sind die Geschlechtsorgane, die Eierstöcke, die letzte Station im Fortpflanzungsprozess. Ungefähr ab dem zehnten Lebensjahr gibt die Hypophyse des Mädchens FSH ab, das im Weiteren das tut, was der Name verspricht: Follikel stimulieren. In den Eierstöcken beginnen Follikel – Bläschen mit unreifen Eizellen – zu wachsen, die in der Folge Östrogen und auch Progesteron, das die Einnistung der Eizelle in die Gebärmutter unterstützen soll, produzieren.

Der große Unterschied zur Entwicklung von Samenzellen ist das Timing. Eizellen sind schon vor der Geburt angelegt, wenn man selbst noch in der Gebärmutter steckt. Als Embryo besitzt man einige Millionen Eizellen! Aus unbekannten Gründen verschwinden die meisten davon, bevor man geboren wird. Bei der Geburt sind noch ein bis zwei Millionen übrig. Doch erst zu der Zeit, wenn das Mädchen zu menstruieren beginnt, etwa dreizehn Jahre später, werden sie auch »benutzt«. Dann sind noch ungefähr fünfhunderttausend von ihnen übrig. Bei jeder Ovulation sterben ein paar Tausend ab. Das erklärt auch, warum Frauen vor ihrem dreißigsten Lebensjahr am fruchtbarsten sind und ebenso wie bei Männern mit den Jahren die Wahrscheinlichkeit zur Fortpflanzung abnimmt. Solange also der Vorrat reicht, ist es gut; ist er erschöpft, bricht die Menopause an (siehe Kapitel 8).

Fruchtbarkeit und Umweltfaktoren

Während bei Männern der Vorrat an Samen immer wieder aufgefrischt wird, ist das bei Eizellen also nicht der Fall. Das bedeutet, dass (schädliche) externe Einflüsse sowohl während des Aufenthalts im Bauch als auch in den ersten zwanzig Lebensjahren erst bei einer möglichen Schwangerschaft ans Licht kommen. Und weil in der Eizelle auch 50 Prozent des genetischen Materials der nachfolgenden Generationen stecken, können sich die Folgen dieses Schadens über viele Generationen erstrecken.

Diese Vermutung wurde erstmals von dem 2013 verstorbenen Epidemiologen David Barker von der University of Southampton geäußert.25 In den sechziger Jahren arbeitete er als Tropenarzt in Uganda, wo er viele unterernährte Frauen und ihre Kinder behandelte. Er entwickelte die Hypothese, dass externe Faktoren wie Unterernährung und chronischer Stress während der Schwangerschaft einen langfristigen Effekt auf den Nachwuchs haben könnten. Der Beweis dafür ließ allerdings auf sich warten, bis einer Gruppe niederländischer Wissenschaftler aufging, dass auch unser Land eine furchtbare, jedoch in diesem Zusammenhang vergleichbare Situation erlebt hatte, die es ihnen ermöglichte, Barkers Hypothese zu beweisen: den Hungerwinter 1944. Die Frauen, die in diesem letzten Jahr unter deutscher Besatzung schwanger wurden, waren chronisch unterernährt. Nahezu all ihre Kinder hatten ein niedriges Geburtsgewicht.

Unter der Leitung der Biologin Tessa Roseboom suchten die Forscher die Archive der Krankenhäuser in der Region Amsterdam auf, sammelten die Daten von Kindern, die im Winter 1944/45 geboren waren, und riefen sie zu einer näheren Untersuchung auf. Es fiel auf, dass diese Frauen und Männer im Schnitt weniger fruchtbar waren und häufiger an Übergewicht beziehungsweise Herz- und Gefäßkrankheiten litten. Auch ihr Hormongleichgewicht war gestört. Bemerkenswert war ebenfalls, dass ihre Kinder und Enkelkinder öfter Probleme mit Übergewicht, Diabetes sowie Herz- und Gefäßleiden hatten, obwohl sie zwanzig beziehungsweise sechzig Jahre nach dem Hungerwinter und unter besseren Lebensbedingungen zur Welt gekommen waren.26

Glücklicherweise ist die Zeit der Hungersnot in weiten Teilen der Welt vorbei, und insbesondere wir im Westen leben wie im biblischen Paradies. Es gibt so viel Nahrung, dass fast einer von drei Erwachsenen in den Niederlanden an Übergewicht leidet – in den Vereinigten Staaten wird es um das Jahr 2030 herum sogar schon fast jeder zweite sein.27 Verglichen mit der Situation vor fünfzig Jahren leiden auch doppelt so viele schwangere Frauen an Übergewicht und Diabetes mellitus. Es bedarf also nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, dass dieser Überfluss einen schädlichen Effekt auf unsere Fruchtbarkeit und den Geschlechtshormonhaushalt haben kann.

Etwas Vergleichbares sehen wir übrigens auch bei Mäusen. Wenn die Mäusemutter eine »Cafeteria-Diät« aus ungesunder und einseitiger Nahrung hält, führt dies in Verbindung mit chronischem Stress bei ihren Nachkommen noch Generationen später zu einem erhöhten Risiko auf Diabetes mellitus, Herz- und Gefäßkrankheiten sowie einer verringerten Fruchtbarkeit.28,29,30

Aber wie relevant sind die Ergebnisse aus den Tierversuchen für den Menschen? Sie liefern zumindest deutliche Hinweise darauf, dass Umweltfaktoren nicht nur einen Effekt auf unsere eigene Fortpflanzung und unsere Lebenserwartung haben können, sondern auch auf die unserer Kinder und Enkelkinder. Schwanger zu werden und ein gesundes Kind zur Welt zu bringen wird also von einer Vielzahl von Umständen beeinflusst, sowohl äußeren als auch inneren. Es ist ein derart komplexes Zusammenspiel von Faktoren, die aufeinander einwirken, dass es gar nicht so verwunderlich ist, dass es bei vielen Paaren mit dem Kinderkriegen – man denke nur an Anna mit ihrem chronischen Stress – nicht immer so reibungslos läuft, wie man es sich erhofft.

Der menstruelle Zyklus: Wie war das noch gleich?

Der Zyklus der Frau besteht aus zwei Phasen von jeweils ungefähr zwei Wochen (siehe auch die Illustration auf S. 239).

 

Phase 1: Von der Menstruation zum Eisprung

FSH regt den Eierstock an, ein paar Follikel heranreifen zu lassen. Diese Bläschen mit Flüssigkeit und einer unreifen Eizelle geben Östrogene ab. Als Reaktion darauf bereitet sich die Gebärmutter auf eine Schwangerschaft vor: Die Schleimhaut verdickt sich mit Nährstoffen und allem, was für die Einnistung der Eizelle notwendig ist. Zugleich gibt das Östrogen der Hypophyse ein Signal, mehr LH zu produzieren. Diese plötzliche LH-Spritze ruft einen Sieger des Follikelwettkampfs aus. Er darf das Ei für die Befruchtung liefern.

 

Phase 2: Vom Eisprung zur Menstruation

Das Bläschen platzt auf, das Ei springt und bewegt sich über den Eileiter zur Gebärmutter. Das kaputte Bläschen (oder auch der »Restfollikel«) produziert Progesteron, das das »warme Nest« instand hält. Wird das Ei von einer Samenzelle befruchtet, nistet es sich in der Gebärmutterwand ein. Findet das Ei keine Samenzelle, laugt das Bläschen aus, die Hormonspiegel sinken, und die Gebärmutter stößt ihre Schleimhaut ab – es kommt zur Menstruation.

Schwanger werden

In den fruchtbaren Jahren entspringt bei jeder Frau im Durchschnitt alle achtundzwanzig Tage eine Eizelle. Sie wächst in einer geschützten Umgebung im Eierstock heran und wird anschließend selbst den Sprung in den Eileiter machen müssen. Dort wartet das Ei auf eine Samenzelle, während es sich langsam in Richtung Gebärmutter bewegt. Wird das Ei befruchtet, kann sich der neugebildete Embryo in der Gebärmutterwand einnisten.

Wenn Ei und Samenzelle miteinander verschmelzen, erzeugen sie das Schwangerschaftshormon hCG: humanes Choriongonadotropin. Dieses Hormon sorgt dafür, dass ein Schwangerschaftstest positiv ausfällt, und hat die wichtige Aufgabe, den Restfollikel am Leben zu erhalten. Das ist entscheidend, da dieses Bläschen (aus dem das Ei gesprungen ist) in den ersten Wochen der Schwangerschaft der Hauptproduzent des Hormons Progesteron ist. Das Progesteron hat zwei wichtige Aufgaben: Es sorgt für die Verdickung der Gebärmutterschleimhaut, sodass die befruchtete Eizelle dort sicher landen und wachsen kann, und zugleich gibt es der Hypophyse ein kleines Signal, die Produktion von LH und FSH zurückzufahren. Um zu verhindern, dass mehrere Eizellen reifen können.

Beginnen wir mit der ersten Funktion: Wie wichtig Progesteron ist, merkt man, wenn der Körper nicht genug davon produziert. So funktioniert nämlich die »Pille danach«. Dieses Präparat zur Vermeidung einer unerwünschten Schwangerschaft blockiert die Herstellung von Progesteron, was in dieser Phase zu einer Fehlgeburt führt. Zu einer niedrigen Progesteronproduktion kann es auch kommen, wenn ein Restfollikel nicht so weit ausgereift ist, um die Schwangerschaft versorgen zu können. Man sieht es jedoch auch bei Frauen, die Stress haben oder an Unter- beziehungsweise Übergewicht leiden – bekannte Risikofaktoren für eine Fehlgeburt. In beiden Situationen scheint der Körper die Priorität auf die Erzeugung anderer Hormone (nämlich Cortisol und Östrogene) zu legen, sodass weniger Bausteine übrig bleiben, um Progesteron herzustellen. Sobald Frauen mit niedrigen Progesteronwerten jedoch zusätzlich das Hormon bekommen, haben sie wieder ein ebenso großes beziehungsweise geringes Risiko einer Fehlgeburt wie jede andere Schwangere auch. Die ersten Monate sind dabei die kritischsten, danach übernimmt die Plazenta die Progesteronproduktion.

Die zweite Funktion des Progesterons, nämlich zu verhindern, dass mehrere Eizellen gleichzeitig heranreifen, zeigt sich deutlich bei Frauen einige Zeit vor den Wechseljahren. Menstruationszyklen nehmen ab und sind weniger stark, wodurch weniger Progesteron produziert wird. Man ist dann zwar noch fruchtbar – denn der Eisprung findet ja immer noch statt –, aber da die Progesteronproduktion zurückgeht, wird die Erzeugung von FSH aus der Hirnanhangdrüse weniger stark unterdrückt und der Prozess weniger gut reguliert. Dadurch können mehrere Eizellen gleichzeitig entspringen. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb bei älteren Müttern öfter (zweieiige) Zwillingsschwangerschaften vorkommen.31

 

Progesteron ist also von großer Bedeutung für Frauen mit einem Kinderwunsch. Ein Mangel, obwohl er nicht immer bemerkt wird, führt bei ungefähr einer von sieben Frauen zu verminderter Fruchtbarkeit, so wie etwa bei Frauen mit vielen Zysten in den Eierstöcken (polyzystisches Ovar-Syndrom, PCOS). Durch diese Erkrankung produzieren die Nebennieren mehr testosteronartige Stoffe. Die Konkurrenz mit dem männlichen Hormon im Blut sorgt – nicht besonders verwunderlich – dafür, dass die weiblichen Hormone schlechter funktionieren.

PCOS war schon bei den alten Ägyptern bekannt, die es als eine »Vermännlichung« der Frau umschrieben:32 Menstruationen nehmen ab oder bleiben ganz aus, die Behaarung nimmt zu (Bartwuchs), es kommt zu Veränderungen bei der Stimme und sogar in der Persönlichkeit. Eine Besonderheit besteht darin, dass Frauen mit PCOS körperlich stärker sind, mehr Muskelmasse haben und periodisch auftretendem Nahrungs- und Wassermangel besser die Stirn bieten können. Möglicherweise »entscheidet« sich die Evolution hier für den Vorteil des Überlebens auf Kosten der Fruchtbarkeit. Was wieder einmal schön zeigt, dass es eine noch nicht vollständig verstandene Hierarchie unter den Hormonen in unserem Körper gibt, wobei das Überleben gelegentlich über der Fortpflanzung steht.

Der Natur unter die Arme greifen

Wenn es aufgrund hormoneller oder anderer Erkrankungen nicht gelingt, schwanger zu werden, können künstliche (hormonelle) Interventionen eine Lösung bieten. Je nach Ursache kann man sich dazu entschließen, der Ei- oder der Samenzelle oder auch beiden Unterstützung zu bieten.

Bei einer Intrauterinen Insemination (IUI) werden Samenzellen mithilfe eines Katheders in die Gebärmutter injiziert (anstatt, wie bei einem normalen Samenerguss, in die Vagina), womit die erste Hürde also bereits genommen ist. Dabei kommt das Wissen um die Hormone zu Hilfe: Der richtige Zeitpunkt (Eisprung) wird anhand des LH-Anstiegs im Blut ermittelt. Vorher kann die Behandlung auch bereits durch künstliche Hormone unterstützt werden: indem die Produktion von FSH angeregt wird oder man es direkt injiziert. Auch bei anderen Kinderwunschbehandlungen, wie der In-vitro-Fertilisation (IVF), kommen künstliche Hormone zum Einsatz. Bei diesen Techniken werden dem Körper Spermien und Eizellen entnommen und im Labor zusammengeführt. Wenn sich im Reagenzglas ein Embryo entwickelt, kann er in die Gebärmutter zurückverpflanzt werden.

Das erste Baby, das im Reagenzglas gezeugt wurde, war die Engländerin Louise Brown. Neun Jahre lang hatten ihre Eltern vergeblich versucht, schwanger zu werden, bis sie 1978 schließlich nach einer IVF-Behandlung zur Welt kam. Die Methode war von dem Briten Robert Edwards entwickelt worden, der dafür später den Nobelpreis erhielt. Der Wissenschaftler wurde anfangs von seinen Kollegen geschmäht und sein ärztliches Handeln auf Konferenzen als unethisch hingestellt. Als jedoch mehrere Krankenhäuser die Technik anzuwenden begannen und die Kinder sich normal entwickelten, machte der Zynismus schon bald Enthusiasmus Platz.

Die technischen Glanzleistungen in diesem Prozess sind verblüffend, funktionieren aber nur, wenn Hormone auf die richtige Weise eingesetzt werden. Bei einer IVF- oder IUI-Behandlung beginnt man mit der Antibabypille, um den Zyklus zu unterdrücken, damit der Zeitpunkt des Eisprungs besser gesteuert werden kann. Danach bekommt man FSH-Hormone injiziert, die den Signalen ähneln, die der eigene Körper sendet, um Eizellen reifen zu lassen. Anschließend werden dem Eierstock während des Eisprungs mittels einer Nadel ultraschallgestützt Eizellen entnommen.

Da Hormone starke Boten sind, ist ein solches Verfahren nicht ohne Gefahr. Neben einer Vielzahl von Nebenwirkungen, wie Übelkeit, Erschöpfung und Stimmungsschwankungen, kann der Körper durch den von außen erzeugten Hormonsturm auch überfordert werden. Bei zwei von tausend IVF-Behandlungen tritt das seltene ovarielle Überstimulationssyndrom (OHSS) auf,33 bei dem zu viele ausgereifte Eibläschen entstehen – manchmal mehr als zwanzig. Dadurch vergrößern sich die Eierstöcke, und es können Flüssigkeit und Eiweiße in die Bauchhöhle gelangen, sodass man Bauchschmerzen bekommt – etwas, das gelegentlich sogar zu Organversagen führen kann.

Es erfordert also sehr viel Sorgfalt, schwanger zu werden, ob der Natur dabei nun unter die Arme gegriffen werden muss oder nicht. Das erklärt vielleicht auch, weshalb wir bei einer gelungenen Schwangerschaft von einem kleinen Wunder sprechen.

Schwanger sein

Ob dieses kleine Wunder die Körperform eines Jungen oder eines Mädchens annimmt, steht von dem Moment an fest, in dem die Samen- mit der Eizelle verschmilzt. Der Vater »bestimmt« dabei, welches Geschlecht es wird. Gibt seine Samenzelle im genetischen Material ein Y-Chromosom weiter, wächst die Frucht zu einem Jungen heran. Sorgt der Zusammenschluss für ein zweites X-Chromosom, wird es ein Mädchen.

Früh in der Schwangerschaft sind die Geschlechtsteile eines Jungen und eines Mädchens gleich. Zunächst hat ein Fötus weibliche Strukturen, doch das Y-Chromosom sorgt dafür, dass sie verschwinden und sich männliche Strukturen ausbilden.34 Das Y-Chromosom ist für die Produktion von Stoffen verantwortlich, die die männlichen Geschlechtsorgane bilden. Wie funktioniert das genau? Die Geschlechtsorgane des Fötus produzieren schon früh in der Schwangerschaft Hormone, darunter das sogenannte Anti-Müller-Hormon (AMH). In den ersten zwei Monaten nach der Befruchtung sorgt das AMH dafür, dass sich die Strukturen, die sich zu weiblichen Fortpflanzungsorganen (Vagina, Gebärmutter und Eileiter) entwickeln könnten, zurückbilden. Dadurch bekommt das Testosteron freies Spiel, und es kann neun Monate später ein kleiner Junge geboren werden.

Doch das AMH macht noch mehr, denn nachdem es die weiblichen Fortpflanzungsorgane abgebaut hat, bleibt das AMH-Niveau im Jungenfötus weiterhin hoch. Es scheint, dass dies mit der Entwicklung des Gehirns zu tun hat, das sich in dieser Phase ausbildet. Wenn männliche Mäuse nämlich genetisch manipuliert werden, um weniger AMH zu produzieren, beginnen sie, sich weniger aggressiv und dominant zu verhalten.35 Natürlich wird Verhalten durch sehr viel mehr als einen einzigen Hormonwert gesteuert, doch die Beteiligung des AMH bei der Entwicklung des Gehirns könnte eine Rolle dabei spielen, dass Jungen ein höheres Risiko auf beispielsweise Autismus oder ADHS haben. In Kapitel 2 gehe ich darauf noch näher ein.

Mädchen produzieren übrigens auch AMH, aber erst nach der Geburt. Das muss das enthusiastische FSH bremsen, sodass vor Beginn der Pubertät keine Eizellen heranreifen. Frauen mit dem bereits erwähnten PCOS-Syndrom,36 die öfter einmal »männliche« Merkmale im äußeren Erscheinungsbild und im Verhalten aufweisen, haben häufig einen hohen AMH-Gehalt, doch auch bei normalen Werten kann bei jungen Mädchen mehr männliches Hormon erzeugt werden, und zwar in den Nebennieren. Diese Erkrankung wird als kongenitale adrenale Hyperplasie (CAH) bezeichnet.37 Ein mögliches Beispiel dafür, obwohl nicht als solches anerkannt, fasziniert mich schon eine ganze Weile: die Legende über die erste Päpstin, die auch schon eine Inspiration für Filmemacher darstellte.

Männliche Frauen

Während meiner Zeit auf der weiterführenden Schule, Mitte der neunziger Jahre, fuhr ich mit meiner Klasse nach Rom. Ich erinnere mich noch gut daran, dass wir in der Nähe des Kolosseums an der Ecke Via dei Santi Quattro und Via dei Querceti bei einem mehr als tausend Jahre alten Straßenaltar standen. Mit einem Lächeln erzählte uns unser Führer, dass dieser Altar, der Maria geweiht war, die Stelle bezeichne, wo der Legende nach um das Jahr 855 nach Christus herum der erste weibliche Papst Johannes VII. (auch Päpstin Johanna genannt) gesteinigt worden sei, nachdem er beziehungsweise sie auf der Straße von einem Mädchen entbunden worden sei. Diese Geschichte wurde erstmals im Jahr 1261 von Jean de Mailly in der Chronica universalis Mettensis schriftlich festgehalten und gelangte 1277 zu weiterem Ruhm, als der Dominikaner Martin von Troppau sein Chronicon Pontificum et Imperatorum veröffentlichte.38

Nachdem Papst Leo IV. im Jahr 855 gestorben war, soll sein Nachfolger ein junger talentierter Geistlicher gewesen sein, der sich später als Frau in Männerkleidern entpuppte. Reitend auf einem weißen Esel war dieser neue Papst Johannes VII. zur päpstlichen Einsetzungsprozession vom Petersdom zur Lateranbasilika unterwegs, als er in der Nähe der Basilica San Clemente eine Tochter gebar. Die anwesende Menge war angesichts der Tatsache, dass es sich bei ihrem Papst um eine Frau handelte, derart fassungslos, dass sie Mutter und Tochter an Ort und Stelle steinigte – genau dort, wo heute der Straßenaltar steht. Ob sich der Vorfall wirklich so ereignet hat oder nicht – neben dem Altar in der Via dei Santi Quattro gibt es noch zwei weitere Gründe, um die Geschichte etwas ernster zu nehmen.39 So stehen im Dom von Siena die Statuen aller Päpste des Mittelalters. Bis zum Jahr 1600 befand sich dort auch die Büste Johannes VII. Sie wurde später entfernt, was möglicherweise darauf hindeutet, dass doch etwas mehr hinter der Geschichte steckt. Des Weiteren hörte ich in der Lateranbasilika von meiner Latein- und Griechischlehrerin zum ersten Mal etwas über den sedes stercoraria, den »Kotstuhl«. Seit dem Mittelalter musste jeder päpstliche Kandidat während der Amtseinführung auf diesem Kotstuhl Platz nehmen, worauf einer der Kardinäle nachfühlte, ob der Kandidat über Hoden verfügte. Zeigte sich, dass der neue Papst tatsächlich ein Mann war, rief dieser Kardinal: »Testiculos habet et bene pendentes«, sprich: »Er hat Hoden, und sie hängen gut.« Worauf die übrigen Kardinäle ausriefen: »Habe ova noster papa« – »Unser Papst ist viril.« Obwohl sich solch ein Stuhl nicht mehr in der Lateranbasilika befindet, sollen noch Exemplare im Louvre und dem Gabinetto delle Maschere in den Vatikanischen Museen in Rom zu besichtigen sein. Das könnte erklären, weshalb nach der Päpstin Johanna bei Papstanwärtern gründliche körperliche Untersuchungen vorgenommen wurden, bevor sie ihr Amt antreten durften.

Wenn Papst Johannes beziehungsweise Päpstin Johanna tatsächlich wie ein Mann ausgesehen haben sollte, könnte sie am adrenogenitalen Syndrom (AGS) gelitten haben, bei dem die Nebennieren zu viel Testosteron produzieren – mit der Folge einer Vermännlichung des Körpers. Dabei entwickeln weibliche Säuglinge ambigue Geschlechtsorgane und männliche Merkmale, wie zum Beispiel Bartwuchs. In weniger stark ausgeprägter Form kommt das Syndrom bei 3 Prozent der Bevölkerung vor.40 Dank der Arbeiten des Genetikers Hans Galjaard (siehe die Einleitung) wird diese Erkrankung in den Niederlanden durch den Fersenstich schon kurz nach der Geburt entdeckt und lässt sich mit Tabletten behandeln, die den Mangel an Nebennierenhormonen ausgleichen. So wird das Gleichgewicht zwischen Cortisol und Testosteron wiederhergestellt und vermieden, dass der Körper kleiner Kinder großen Mengen an männlichem Hormon ausgesetzt wird.

 

Obwohl sich keine eindeutigen Abbildungen von Päpstin Johanna finden lassen, gibt es doch ein Gemälde von Jusepe (José) de Ribera aus dem Jahr 1631, auf dem er Magdalena Ventura aus Neapel verewigt hat, eine Frau mit Bart, die zusammen mit ihrem Mann vor dem Maler posiert, während sie ihrem Sohn die Brust gibt. Möglicherweise hat es in früheren Zeiten mehr solcher männlichen Frauen gegeben, sodass die Geschichte des ersten weiblichen Papstes weniger unglaubwürdig ist als gedacht.

Magdalena Ventura mit ihrem Mann und ihrem Sohn, gemalt von José de Ribera, 1631

Muttergehirn

Von der dreizehnten Woche der Schwangerschaft an lässt sich mittels einer Ultraschalluntersuchung das Geschlecht eines Fötus mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent feststellen. In populären Blogs finden sich allerlei Tipps, um das Geschlecht des Kindes bereits weit vor diesem Zeitpunkt einschätzen zu können. Worauf wir uns dabei beziehen? Man rät es schon: auf das Wirken unserer Hormone. Dabei geht es vor allem um das Schwangerschaftshormon hCG, das signalisiert, dass eine Samen- und eine Eizelle miteinander verschmolzen sind und man somit schwanger ist, dessen Konzentration aber auch etwas über das Geschlecht verrät. Bei einem weiblichen Fötus erhöht sich der hCG-Gehalt im Blut der Mutter, und das ist bereits ab der dritten Schwangerschaftswoche nachweisbar.41

Durch die höheren Konzentrationen an hCG und Östrogen verändert sich das Gehirn und damit das Gedächtnis, aber auch der Körper – ein Zustand, der sich oft erst nach zwei Jahren wieder normalisiert. Was geschieht, wenn das Östrogen zwei Jahre lang durch den Körper der Mutter rast, und welchen Einfluss das auf ihr Verhalten und das Gemüt haben kann, ist dem Volksmund gut bekannt. Wie viele Frauen sprechen nicht von »Schwangerschaftsdemenz« oder klagen über den Jo-Jo-Effekt bei ihrem Gewicht. Außerdem haben viele Frauen während ihrer Schwangerschaft Probleme mit dem Geschmacksempfinden: Plötzlich schmeckt der werdenden Mutter ihr Lieblingsgericht nicht mehr. In den meisten Fällen handelt es sich im ersten Trimester um eine Aversion gegen bittere Speisen und ein Verlangen nach Salzigem und Saurem in den beiden späteren Phasen.

Welchen Nutzen das hat? Aller Wahrscheinlichkeit nach tritt hier ein evolutionärer Anpassungsmechanismus in Kraft, der Säugetiere instinktiv zu Produkten mit guten (weil benötigten) Nährstoffen greifen lässt. Giftstoffe haben im Allgemeinen einen bitteren Geschmack und werden während der ersten kritischen Wochen aktiv vom Körper gemieden. In einer späteren Phase spüren schwangere Frauen das Bedürfnis nach Salz, da mehr Blut in ihrem Körper fließt und der Blutdruck sinkt.

Das hCG ist auch verantwortlich für Übelkeit,42 die jedoch keinem Zweck an sich dient, sondern eine Nebenwirkung des Schwangerschaftshormons ist. Sind Sie wegen der Übelkeit völlig am Boden? Dann bedenken Sie, dass hCG durchaus zu etwas gut ist: Es hält den Progesteronspiegel hoch, damit nicht noch mehr Eizellen zu reifen beginnen.

Vergesslichkeit, einen großen Appetit und sonderbare Nahrungsvorlieben sieht man übrigens häufiger bei Frauen, die mit einem Jungen schwanger sind.43 Wie das kommt? Blame the hormones! Unter dem Einfluss eines höheren Testosteronspiegels haben diese Frauen eher die Neigung, schüsselweise Süßigkeiten zu vernaschen und nach Gurken zu lechzen, als Frauen, die mit einem Mädchen schwanger sind. Das könnte auch erklären, weshalb Jungen im Allgemeinen ein höheres Geburtsgewicht aufweisen als Mädchen: Sie haben einfach mehr Nährstoffe bekommen.

Das Erraten des Geschlechts eines Kindes ist für neugierige werdende Eltern nett und interessant. Doch auch schon vor der Erfindung moderner medizinischer Apparatur hielt man das frühzeitige Einschätzen des Geschlechts für wichtig – manchmal sogar schon vor der Empfängnis, und nicht zuletzt deshalb, weil in Europa ein männlicher Erbe sehr viel gelegener kam, unter anderem wegen der Aussteuer. Jahrhunderte vor der wissenschaftlichen Entdeckung von hCG und Testosteron wussten französische Spinnerinnen bereits, dass eine Tochter öfter zu Übelkeit und ein Sohn zu gesteigertem Appetit während der Schwangerschaft führt. In dem Buch eines anonymen Autors mit dem Titel Les Évangiles des quenouilles unterhalten sich sechs Frauen beim Spinnen über jahrhundertealte medizinische Weisheiten, unter anderem über solche, die sich um die Entstehung neuen Lebens drehen.44 In diesen »Evangelien« finden sich allerlei interessante Tipps. Hätte man gerne einen Sohn? Dann müsse man morgens vor dem Frühstück Geschlechtsverkehr haben, wobei sich der Mann gen Osten richten solle. Wie wisse man, ob es geklappt hat? Das merke man den Spinnerinnen zufolge daran, wie man gehe: Erwarte man einen Jungen, setze man den ersten Schritt mit dem rechten Fuß. Ist nicht klar, was es wird? Dann solle der Vater der Mutter in der Nacht etwas Salz auf den Kopf streuen. Das Geschlecht der ersten Person, die man nach dem Aufwachen »zufällig« nenne, werde das des zukünftigen Kindes sein.

Man weiß nicht, wie ernst diese Ratschläge genommen wurden, aber Spinnrocken – Spindeln mit dem Flachs oder der Wolle zum Spinnen der Fäden – sieht man auffallend oft in biblischen Darstellungen der Sara und der Maria, auf denen ihnen die Erzengel verkünden, dass sie ein Kind erwarten.

Einem letzten Mythos zufolge sind Frauen, die mit einem Jungen schwanger sind, schneller wütend und verärgert.45 Das erinnert an den Ausspruch Voltaires – »The composition of a tragedy requires testicles« –, ist jedoch wissenschaftlich in keiner Weise bewiesen. Möchte man die nächste Geschlechterwette gewinnen, sollte man sich besser der Vermutung der werdenden Mutter anschließen. Sie liegt nämlich intuitiv, ohne zusätzliche Informationen, in mehr als 62 Prozent der Fälle richtig! Das ist nur etwas mehr, als wenn man eine Münze werfen würde, aber immerhin …

Um eine Schwangerschaft austragen zu können, muss sich der Körper auf allerlei Weisen anpassen. Jedes Trimester bringt ein anderes Bedürfnis mit sich. Unsere Hormone spielen in der Begleitung all dieser physischen und mentalen Prozesse eine wichtige Rolle. So sorgen sie beispielsweise dafür, dass die Bausteine aus der Nahrung über den Darm der Mutter beim Fötus landen. Während der Schwangerschaft sind Hormone daher die besten Freunde von Mutter und Kind, da sie dafür sorgen, dass es beiden an nichts mangelt. Ein Beispiel ist der Stoff HPL (Humanes Plazentalaktogen), der die Energieregulierung der Mutter vorübergehend anpasst. Diese wird dadurch vornehmlich Fette verbrennen, um Energie zu gewinnen, damit die Einfachzucker für das Kind übrig bleiben, um wachsen zu können.46 Über die weiblichen Hormone ist auch bekannt, dass sie allesamt die Produktion von Hautpigmenten anregen können, ein Effekt, der gelegentlich ebenfalls bei der Einnahme der Antibabypille auftritt (mehr über die Pille in Kapitel 7). Infolge der höheren Östrogen- und Progesteronwerte bilden sich dann bizarre braune Pigmentflecken im Gesicht – es entsteht die sogenannte Schwangerschaftsmaske. Zum Glück verschwinden die Pigmentflecken häufig wieder nach der Schwangerschaft oder nachdem man die Pille abgesetzt hat.

In der letzten Phase der Schwangerschaft spielt das Progesteron wieder eine wichtige Rolle. Es schaltet nämlich zeitweise das Immunsystem der Mutter einen Gang herunter. Würde es das nicht tun, könnte es das Abwehrsystem des Babys (das ja zur Hälfte aus »fremder« DNA besteht) als schädlichen Eindringling betrachten und den Fötus abstoßen wollen. Um die Schwangerschaft sicher vollenden zu können, ist es also wichtig, das Immunsystem der Mutter vorübergehend auf Sparflamme zu setzen. Das ist günstig für Frauen mit einer Autoimmunerkrankung, wie etwa Rheuma oder einem Schilddrüsenleiden: Die Symptome sind während einer Schwangerschaft oft weniger stark ausgeprägt.47 Doch die Kehrseite eines schwächeren Immunsystems ist, dass schwangere Frauen sehr viel empfindlicher auf Infektionen reagieren und damit auch einen schwereren Verlauf riskieren, was man beispielsweise bei einer COVID-19-Ansteckung sieht.48

Letzte Hürde: die Geburt

Im dritten Trimester und um die Geburt herum spielen Hormone wiederum eine Schlüsselrolle. Diesmal geht es um relative Neuankömmlinge im hormonellen Prozess: Prolaktin und Oxytocin, die erst spät in der Schwangerschaft die Bühne betreten. Beide Substanzen werden in der Hypophyse erzeugt, die während der Schwangerschaft auf die doppelte Größe anwächst, um der steigenden Nachfrage nach Hormonen entsprechen zu können. Prolaktin und Oxytocin sorgen nicht nur dafür, dass man die letzten Monate gut durchsteht und eine emotionale Beziehung zum Kind aufbaut, sie spielen auch eine wichtige Rolle bei der Geburt, wenn die Wehen in Gang kommen müssen, der Körper sich erholen muss und die Milchproduktion einsetzt.

Prolaktin sorgt zusammen mit Progesteron dafür, dass der Eisprung verhindert wird – so kann keine neue Schwangerschaft entstehen. Das Hormon, das seinen Namen der Funktion bei der Milchproduktion verdankt, schenkt vor allem mentale Ruhe, was in dem Gesamtprozess sehr willkommen ist. Prolaktin ist essenziell dafür, dass man die schweren letzten Monate durchstehen kann. Während der Geburt erhöht der Körper die Konzentration an Prolaktin bis zum Zwanzigfachen, um die Geburt selbst zu beschleunigen und die Bindung zwischen Mutter und Kind schon im Vorhinein zu festigen.

Ein hohes Prolaktin-Niveau sieht man jedoch nicht nur um die Geburt herum. Wenn die Hypophyse aus anderen Gründen gewachsen ist – beispielsweise aufgrund eines Tumors –, gerät ebenfalls viel von diesem Hormon in den Blutkreislauf. So hatte ich einmal eine Frau in meiner Sprechstunde, die »Milch gab«, obwohl sie nicht schwanger war. Höchstwahrscheinlich litt auch die erste Königin von England an dieser Krankheit. Mary I., auch als »Bloody Mary« bekannt, litt, wie man hört, fortwährend unter der Idee, schwanger zu sein: Ihr Bauch war geschwollen, und ihre Brüste gaben Milch, aber sie gebar nie ein Kind. Schon in frühem Alter wurde sie nahezu blind, wahrscheinlich infolge eines Tumors an ihrer Hypophyse.49 Ein trauriges Beispiel für den Einfluss von Hormonen und wie sie den Lauf der Weltgeschichte bestimmen können. Denn unter anderem wegen der Kinderlosigkeit Marys fand die Tudor-Dynastie ihr Ende, und die Windsors übernahmen für die nächsten Jahrhunderte den Thron, den sie bis zum heutigen König Charles halten.

Kurzum, es ist möglich, dass Frauen, auch ohne schwanger zu sein, zu viel Prolaktin in ihrer Hypophyse produzieren. Doch auch Medikamente können diesen Prozess anregen. Für manche Frauen ist es eine ärgerliche Nebenwirkung, für andere dagegen ein Segen, weil sie, ohne dass sie ein Kind bekommen haben, die Brust geben können.50 So stark also kann dieses Prolaktinsignal sein.

Oxytocin wird vor allem während der ersten Geburtswehen freigesetzt und sorgt nach der Geburt für das Einschießen der Milch in die Brust der Mutter, wenn diese ihr Baby schreien hört. Oxytocin wird auch gern als »Kuschelhormon« bezeichnet: Sowohl Frauen als auch Männer produzieren es bei körperlicher Berührung von mindestens einer halben Minute oder wenn sie sich gegenseitig in die Augen schauen. Auch wenn man mit seinen Lieben – dem Partner oder der Partnerin, Familienangehörigen, Freunden oder den Kindern – in Kontakt tritt, wird das Hormon freigesetzt. Noch faszinierender ist es, dass (sozial vernachlässigte) Kinder mit einem Mangel an Oxytocin Verhaltensweisen an den Tag legen, die Autismus ähneln. Es gibt tatsächlich Hinweise darauf, dass eine Behandlung mit Oxytocin autistische Personen sozialer werden lässt.51 Weil aber bei der Entwicklung von Autismus sehr viel mehr Faktoren als nur Oxytocin eine Rolle spielen, bedarf es einer genaueren Untersuchung, bevor mit einer solchen Oxytocinbehandlung begonnen werden kann.

Zurück zur Gebärmutter: Dank des Oxytocins entsteht gewissermaßen eine emotionale Beziehung zum Kind im eigenen Bauch. Es sind jedoch nicht nur die Hormone der Mutter, die alles Mögliche in Gang setzen. Ab der zwölften Woche beginnt der Fötus auch selbst, Hormone zu produzieren, es scheint sogar, als könne er den Zeitpunkt der Geburt beeinflussen. Untersuchungen, die der Neurowissenschaftler Dick Swaab und der Gynäkologe Kees Boer vor über vierzig Jahren durchgeführt haben, deuteten schon darauf hin.52 Die beiden Amsterdamer Forscher untersuchten Babys »ohne Gehirn« und konnten zeigen, dass, wenn der Hypothalamus und die Hypophyse des Fötus nicht vollständig ausgebildet sind, die Geburt früher einsetzt und schneller verläuft als bei gesunden Kindern. Indem er Hormone abgibt, kann ein Fötus also bestimmen, wann die Wehen bei der Mutter einsetzen, und so den Zeitpunkt seiner Geburt steuern. Leider wissen wir noch nicht genau, wie dieses fein aufeinander abgestimmte Zusammenspiel bei der Hormonproduktion von Mutter und Kind funktioniert. Allerdings ist es so, dass sich bestimmte Hormone als therapeutisches Mittel einsetzen lassen. So kann bei einer ausbleibenden Geburt eine Dosis künstlichen Oxytocins ausreichen, um Wehen auszulösen.53

Schmerzlinderung bei körperlichem Stress

Gegen Ende der Schwangerschaft wird es für die Frau besonders schwer. Das Kind ist auf das Format einer Wassermelone angewachsen, was für die Mutter einen ziemlichen Anschlag auf die Bauchmuskeln und Bindegewebsbänder im Bauch bedeutet, die dadurch gehörig gedehnt werden. Glücklicherweise sorgen weibliche Hormone für ein vermindertes Schmerzempfinden während der Schwangerschaft und bei der Geburt. Patientinnen mit chronischen Schmerzen haben deshalb auch auffallend häufig weniger Probleme mit ihrem Leiden, wenn sie schwanger sind. Der Grund dafür könnte darin bestehen, dass sie, anders als in ihrem normalen Menstruationszyklus, kein monatliches Östrogen-Tief haben.54