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Dieses eBook: "Adlerflug" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Aus dem Buch: "Der Fremde, der am Rande des Waldes auf den bemoosten Wurzeln einer Tanne Platz genommen hatte, mochte ungefähr in dem gleichen Alter sein, etwa sechs- bis siebenundzwanzig Jahre, sonst aber stand sein Äußeres im schärfsten Gegensatz zu der kraftvollen Erscheinung des Gebirgssohnes. Auf dem nicht eigentlich schönen, aber sehr anziehenden Gesicht, mit den weichen, beinahe zarten Linien, lag eine tiefe Blässe, und der Ausdruck von Müdigkeit und Abspannung darin entsprach nur zu sehr dieser krankhaften Farbe. Unter dem blonden Haar, das tief in die Stirn fiel, blickte ein Paar schöner, tiefdunkler Augen träumerisch hervor. Das Haar war feucht von den Tropfen, welche die Äste des Baumes noch zahlreich niedersandten, aber der junge Mann achtete nicht darauf, sondern zeichnete eifrig und schweigsam weiter." Elisabeth Bürstenbinder (1838-1918) war eine deutsche Schriftstellerin.
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Seitenzahl: 179
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Inhaltsverzeichnis
Die Nebelschleier, die so lange und schwer auf den Bergen gelegen hatten, begannen sich zu lichten. Das feuchte Wolkenmeer, das die Landschaft ringsum einhüllte, geriet in Bewegung. Es gab ein unruhiges Wogen und Wallen, ein Kämpfen und Ringen, und endlich brach sich die Sonne siegreich Bahn durch Nebel und Wolken. Sie versanken in den Schluchten, zerflatterten auf den Höhen, und der so lang ersehnte Sonnentag stieg in vollster Klarheit über dem Hochgebirge empor.
Auf einer kleinen Wiese, die rings von dunklen Tannen umgeben, inmitten des Bergwaldes lag, stand ein noch junger Mann in der Tracht der Gebirgsbewohner. Es war eine hohe, fast riesige Gestalt, der man es ansah, daß eine eiserne Kraft in ihren Muskeln und Sehnen wohnte. Das energische, ausdrucksvolle Antlitz hatte ein eigentümliches Gepräge, das zugleich anzog und abstieß. Der Ausdruck kecken Trotzes in den sonnenverbrannten Zügen paßte zwar zu der ganzen Erscheinung, die selbst in ihrer Haltung etwas Herausforderndes hatte, aber es lag zugleich etwas Finsteres, Unstetes in dem Gesicht, das nicht sympathisch berührte, und in dem Aufblitzen der dunklen Augen verriet sich eine Leidenschaftlichkeit, die wohl leicht zur Wildheit werden konnte. Der Mann stand unbeweglich, den Stutzen auf der Schulter, den Hut mit der Spielhahnfeder auf das dunkle Kraushaar gedrückt, und war offenbar stolz darauf, daß er dem städtisch gekleideten Herrn, der zeichnend vor ihm saß, als Modell diente.
Der Fremde, der am Rande des Waldes auf den bemoosten Wurzeln einer Tanne Platz genommen hatte, mochte ungefähr in dem gleichen Alter sein, etwa sechs- bis siebenundzwanzig Jahre, sonst aber stand sein Äußeres im schärfsten Gegensatz zu der kraftvollen Erscheinung des Gebirgssohnes. Auf dem nicht eigentlich schönen, aber sehr anziehenden Gesicht, mit den weichen, beinahe zarten Linien, lag eine tiefe Blässe, und der Ausdruck von Müdigkeit und Abspannung darin entsprach nur zu sehr dieser krankhaften Farbe. Unter dem blonden Haar, das tief in die Stirn fiel, blickte ein Paar schöner, tiefdunkler Augen träumerisch hervor. Das Haar war feucht von den Tropfen, welche die Äste des Baumes noch zahlreich niedersandten, aber der junge Mann achtete nicht darauf, sondern zeichnete eifrig und schweigsam weiter.
Diese Schweigsamkeit und das ungewohnte Stillstehen schienen den andern zu langweilen; in seiner Stimme verriet sich einige Ungeduld, als er fragte:
»Wird's noch lange währen mit dem Bild?«
»Ich bin sogleich fertig,« versetzte der Zeichnende mit einem letzten, flüchtigen Aufblick. »Halten Sie nur noch eine Minute aus, Adrian, dann gebe ich Sie frei.«
Er vollendete mit einigen raschen Strichen die Zeichnung und ließ dann den Stift sinken.
»So! Jetzt sagen Sie mir, ob Sie sich auf dem Blatt wiedererkennen.«
Adrian kam der Aufforderung nach; er trat heran und betrachtete das vorgehaltene Blatt.
»Das ist grad', als wenn ich in den Spiegel schau',« sagte er bewundernd. »Das haben Sie schön gemacht, Herr Siegbert, sehr schön!«
Siegbert schüttelte leise den Kopf, indem er auf seine Zeichnung niederblickte. »Ähnlich ist es! Aber es fehlt etwas in dem Gesicht, ein Zug, der ihm erst das charakteristische Gepräge gibt. Ich sehe ihn ganz deutlich, aber ich kann ihn nicht bannen und festhalten.« Er schlug plötzlich die Augen auf und heftete sie voll und unverwandt auf den vor ihm Stehenden. Adrian schien das jedoch unbequem zu finden, denn er wandte den Kopf zur Seite.
»Was haben Sie denn?« fragte Siegbert unbefangen.
»Ich kann's nicht leiden, wenn mir einer so starr in die Augen schaut,« gab Adrian halb trotzig, halb entschuldigend zur Antwort, und setzte dann rasch hinzu: »Sie wollen also ein Bild, ein wirkliches, großes Bild aus dem Blatt da machen?«
»Vielleicht!« Es klang etwas wie trüber Zweifel in dem Tone. »Wenn ich dazu komme, es auszuführen.«
»Und ich soll auf dem Bilde sein, leibhaftig, so wie ich da stehe?«
»Nein, Adrian, nicht wie Sie da stehen. Eine Figur, wie die Ihrige, setzt man nicht so ohne weiteres in eine Berglandschaft hinein. Solche Gestalten kommen nur in irgendeinem leidenschaftlichen Vorgänge zur Geltung, in einem Kampfe zum Beispiel, in einem Ringen auf Leben und Tod-«
Er hielt inne, betroffen von dem jähen Auffahren Adrians. Dieser hatte mit beiden Händen den Griff seines Stutzens gefaßt, und in seinem Auge blitzte es wild und drohend auf, als er mit rauher Stimme hervorstieß:
»Was soll das? Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Mir?« fragte der junge Mann mit äußerster Befremdung. »Was denn? Mir hat niemand etwas gesagt.«
»Ich wollt' es auch keinem raten!« grollte Adrian, noch immer mit finsterer Drohung.
»Aber, was meinen Sie denn eigentlich? Welchen Sinn legen Sie meinen Worten unter? Sie waren ganz harmlos gemeint.«
Die Hände Adrians lösten sich langsam von der Waffe, und sein Blick sank zu Boden.
»Nichts, gar nichts! Ich meinte nur, Ihnen wäre das dumme Gered' zu Ohren gekommen, das- nichts für ungut, Herr Siegbert! Ich glaub' es Ihnen, daß Sie mich nicht haben kränken wollen, Ihnen glaub' ich's, wenn Sie es mir sagen, denn Sie lügen nicht.«
Über Siegberts Antlitz zog ein flüchtiges Lächeln bei den letzten, mit fast leidenschaftlicher Wärme gesprochenen Worten.
»Sie scheinen überhaupt eine sehr hohe Meinung von mir zu haben. Gegen alle anderen sind Sie schroff und unzugänglich, nur mit mir allein machen Sie eine Ausnahme. Was ist es denn eigentlich, das mir Ihr Vertrauen gewann?«
»Weiß ich's?« sagte Adrian mit einem langen Blick in die ernsten, dunklen Augen des Fragenden. »Vielleicht kommt's daher, daß Sie mir die Hand drückten, das erstemal, wo wir zusammentrafen, und ich hatte doch wenig genug getan. Sie waren im Nebel auf die Klippen geraten, und ich brachte sie wieder auf den Weg zurück. Ein anderer hätte mir ein Geldstück gegeben und mich laufen lassen. Sie dankten mir, wie ich's noch selten gehört habe, und sahen mich dazu an, wie eben jetzt- in Ihren Augen liegt es, daß ich Sie leiden mochte, gleich vom ersten Tage an.«
»Und doch wollen Sie diesen Augen nicht standhalten?« scherzte der junge Maler. »Sie sind ein seltsamer Mensch, Adrian! Ich möchte Sie beneiden um Ihre kraftvolle Natur, um den kühnen Trotz, mit dem Sie alle Welt herausfordern, wenn nur nicht dies Unstete, Unheimliche in Ihrem Wesen läge, das mich immer wieder zurückstößt. Was war das wieder für eine Wildheit, die vorhin ohne jede Veranlassung hervorbrach! Je länger ich mit Ihnen verkehre, desto rätselhafter werden Sie mir.«
Adrian gab keine Antwort; er wollte offenbar dies Gespräch nicht fortsetzen, so schwieg auch Siegbert, und sein Blick verlor sich träumend in den Himmel, der sich zum erstenmal seit Wochen wieder klar und wolkenlos über den Bergen wölbte.
Von dem Gebirge war freilich hier nicht viel zu sehen, denn der Wald verbarg die Aussicht. Nur ein einzelner riesiger Berg blickte mit seinen grünen Matten gerade herein in die stille Waldwiese, und über diesem sonnigen Grün erhob sich eine mächtige Felswand, die, jäh und schroff ansteigend, in tausend Klüfte und Zacken zerrissen, den Gipfel des Berges krönte. Auf ihren Spitzen lag noch der Schnee, den die Wolken dort zurückgelassen hatten, er hob sich leuchtend ab von dem blauen Himmelsgewölbe.
Dort oben schwebte ein dunkler Punkt, der zuerst unbeweglich schien, dann aber in weiten, regelmäßigen Bahnen die sonnige Luft durchschnitt. Es war ein Adler, der langsam und majestätisch dort über der Felswand seine Kreise zog. Anfangs in unerreichbarer Hohe, kaum dem Auge sichtbar, senkte er sich allmählich immer tiefer herab. Jetzt umkreiste er mit mächtigem Flügelschlage die schneeigen Spitzen, und auf einmal schoß er jäh herab und verschwand zwischen den Felsen.
Siegberts Augen hatten sich wie gebannt an jenen Flug geheftet; er schien vollständig vergessen zu haben, daß er nicht allein war, und fuhr wie aus einem Traume erwachend empor, als Adrian plötzlich sagte:
»Wenn ich den Burschen da nur einmal zum Schuß bekommen könnte!«
»Wen? Den Adler? Sie wollen das prachtvolle Tier niederschießen?«
»Ja, was denn sonst?«
Die Frage klang sehr verwundert. Siegbert besann sich und fuhr mit der Hand über die Stirn.
»Freilich, Ihnen ist der Adler nur eine Jagdbeute und nichts weiter. Ich- dachte an etwas anderes bei seinem Fluge.«
»Ich habe ihn schon längst aufs Korn genommen,« meinte Adrian gleichmütig, »aber ich treffe ihn nie schußgerecht. Er hat sein Nest da oben an der Egidienwand, und es ist auch ein Junges darin, aber dem Vogel wie dem Neste ist nicht beizukommen.«
»Das glaube ich!« Siegbert folgte der bezeichneten Richtung und maß die schwindelnde Höhe, wo der Blick nichts unterschied als wild zerklüftetes Gestein. »Dort also, unter den höchsten Zacken der Egidienwand? Da hinauf tragen freilich nur Flügel.«
»Nur Flügel?« wiederholte Adrian mit einem kurzen Auflachen. »Nun, ich käme zur Not auch noch hinauf ohne Flügel, und ich hätt' es auch schon längst versucht, wenn nicht-« er brach plötzlich ab und verstummte.
»Sie werden doch nicht eine solche Tollkühnheit begehen!« rief der junge Maler unwillig. »Und warum? Um einer bloßen Prahlerei willen!«
Adrian warf trotzig den Kopf zurück. »Warum? Nun, weil es sonst keiner wagt, gerade darum hätt' ich Lust, es zu probieren. Aber seien Sie ruhig, Herr Siegbert, ich geh nicht hinauf. Da hinauf nicht, und ein anderer wagt es sicher nicht, das Nest auszunehmen.«
»Das hieße auch mehr als das Leben wagen,« sagte Siegbert ernst. »Das hieße den Absturz geradezu herausfordern- und die Egidienwand ist schon einem verhängnisvoll geworden, wie das Kreuz da oben zeigt.«
Er wies hinauf; auf dem hellen Grün der Matte erhob sich in der Tat ernst und dunkel ein Kreuz, das wohl von bedeutender Größe sein mußte, da es selbst hier unten deutlich sichtbar war. Adrian warf nicht einen einzigen Blick hinauf; er hatte seinen Stutzen von der Schulter genommen und untersuchte den Lauf desselben.
»Das Kreuz ist ein Wahrzeichen des Berges. Es steht schon an dreißig Jahr und länger, der Bauer, dem die Alm gehört, hat es aufrichten lassen- sonst ist nichts dahinter.«
»Es ist aber doch jemand an dieser Stelle herabgestürzt; ich erinnere mich ganz deutlich, es gehört zu haben.«
»Kann schon sein,« sagte Adrian lakonisch.
Siegbert sah ihn befremdet an. »Nun, Sie müssen das doch wissen! Es soll ja erst vor einigen Jahren passiert sein. Ich habe allerdings nur flüchtig von der Sache gehört. Wer war denn der Unglückliche?«
»Wer wird es gewesen sein,« meinte Adrian kalt, »ein Wilddieb!«
»Dort oben?« fragte Siegbert zweifelnd. »In solcher Höhe?«
»Warum nicht? Der Wald geht bis zur Alm. und bei der Alm fangt die Egidienschlucht an. Wer da in der Hast und Dunkelheit den Weg verfehlt, der liegt drunten!- Aber Sie sind wohl fertig mit Ihrer Zeichnung, Herr Siegbert, und brauchen mich jetzt nimmer.«
»Nein,« sagte der junge Mann freundlich. »Ich danke Ihnen, Adrian.«
»So muß ich fort. Behüt' Gott!« Damit warf Adrian den Stutzen wieder über die Schulter, lüftete den Hut zum Gruß und verschwand gleich darauf zwischen den Bäumen.
Siegbert blieb allein zurück. Er lehnte den Kopf an den Stamm des Baumes und schloß die Augen, als blende ihn das Sonnenlicht, das so goldig über die Wiese hinflutete. Die tiefe Stille ringsum schien so recht zum Träumen einzuladen, aber es waren keine süßen Träumereien, denen sich der junge Mann hingab. In seinem Gesichte stand ein schmerzlich bitterer Zug, und die Lippen preßten sich so fest aufeinander, als müßten sie ein geheimes Weh verschließen.
Plötzlich wurde die Waldesruhe gestört durch lautes Sprechen und Rufen, das sich in unmittelbarer Nähe vernehmen ließ. Siegbert zuckte zusammen; mit einer raschen Bewegung schloß er die Skizzenmappe, die noch geöffnet neben ihm lag, und erhob sich. Die Sprechenden waren inzwischen drüben aus dem Walde hervorgetreten. Ein kleiner, wohlbeleibter Herr, dem das moderne Touristenkostüm etwas sonderbar stand, kam eiligen Schrittes über die Wiese; ihm folgte eine kleine, hagere Dame, die einen Regenschirm von riesigen Dimensionen aufgespannt hielt, wahrscheinlich zum Schutz gegen die noch immer tropfenden Baume, und ein junges Mädchen in eleganter Stadttoilette schloß den Zug. Der Herr hatte jetzt den einsamen Träumer erreicht; er blieb vor ihm stehen und schlug entrüstet die Hände zusammen.
»Siegbert, ist es denn möglich, du bist wirklich hier im Walde? In dieser Nässe? Und was soll das heißen, daß du heimlich davon läufst, ohne uns ein Wort davon zu sagen? Wir haben dich eine volle Stunde lang gesucht.«»Und da auf dem feuchten Moose hast du gesessen?« fiel die Dame entsetzt ein. »Kann man dich denn nie aus den Augen lassen? Du wirst dir das Fieber, den Tod holen, mit dieser Unvorsichtigkeit.«
Siegbert versuchte sich zu verteidigen, aber er kam nicht zu Worte, denn jetzt brach von beiden Seiten ein Strom von Vorwürfen auf ihn ein, der gar nicht zu hemmen war. Er machte auch keinen Versuch mehr dazu, er mochte aus Erfahrung wissen, daß es vergebens war, aber der müde, gequälte Ausdruck in seinem Gesicht trat deutlicher als je hervor, während er den Kopf senkte und schweigend alles über sich ergehen ließ.
Das junge Mädchen hatte sich inzwischen der Skizzenmappe bemächtigt und rief jetzt, darin blätternd, im Tone der Überraschung: »Das ist ja der Adrian Tuchner!«
Der Redestrom der beiden andern verstummte, sie wendeten sich um und machten Anstalt, die Zeichnung zu beaugenscheinigen und zu kritisieren, aber die Kritik fiel sehr ungünstig aus.
»Wahrhaftig, Adrian Tuchner!« sagte der kleine Herr. »Nun, das muß man sagen, du zeigst einen recht gewählten Geschmack, wenn du solche Galgenphysiognomien auf das Papier bringst! Willst du diese Banditengestalt für eines deiner Bilder verwenden? Das würde etwas Schönes werden!«
»Und du bist mit dem verrufenen Menschen allein hier im tiefen Walde gewesen?« rief die Dame. »Gott im Himmel! Ich stehe schon Todesangst aus bei dem bloßen Gedanken daran. Freilich, du hast ja eine förmliche Vorliebe für diesen Tuchner, und er folgt dir auf Schritt und Tritt. Da werden wir noch etwas Schreckliches erleben! Er wird dich eines Tages überfallen- totschlagen- verscharren-«
»Aber, liebe Mama,« unterbrach der junge Mann diese düsteren Prophezeiungen, »was hätte denn Adrian davon, mich zu überfallen? Er weiß ja, daß ich nichts Wertvolles bei mir trage, und überdies ist er kein abenteuernder Vagabund, sondern überall bekannt und sogar ansässig hier.«
»Aber er wird von aller Welt gemieden und geflohen, wie der Böse selbst. Irgend etwas Schlimmes ist mit dem Burschen, daran ist gar nicht zu zweifeln. Die Leute wollen nur nicht mit der Sprache heraus, uns Fremden gegenüber. Ein für allemal, Siegbert- ich verbitte mir deine Intimität mit solchem Gesindel. Suche dir deine Modelle in unsern Kreisen, da wird es dir an würdigen Vorbildern nicht fehlen.«
Der kleine Herr richtete sich bei diesen Worten zu seiner ganzen, allerdings sehr unbedeutenden Höhe auf, und seine selbstbewußte Miene, wie sein Blick, der über die beiden Damen hinglitt, verrieten, daß der junge Maler diese »würdigen Vorbilder« nicht weit zu suchen habe.
»Siegbert hat neulich erst erklärt, daß es in unseren Kreisen keine interessanten Gestalten gäbe,« ließ sich jetzt das junge Mädchen in sehr gereiztem Tone vernehmen. »Er langweilt sich ja überhaupt bei uns und ergreift jede Gelegenheit, sich fortzustehlen. Laß ihm doch seine Lieblingsstudien, Papa. Wenn sie ihn zu solchen Bekanntschaften führen- um so schlimmer für ihn!«
»Fränzchen hat recht,« sagte der Papa mit feierlichem Nachdruck. »Ich habe es schon seit einiger Zeit bemerkt, daß dein Talent eine höchst bedenkliche Richtung nimmt. Du entfernst dich von den Idealen, und das ist der erste Schritt zum Verderben. Du wirst dich dem krassen Realismus der Gegenwart zuwenden, du wirft darin versinken, untergehen.«-
Es war jedenfalls eine ganz grauenvolle Perspektive, die dem jungen Künstler eröffnet wurde. Zum Glück wurde die weitere Ausmalung derselben unterbrochen, denn in diesem Augenblick trat eine andere Gesellschaft aus dem Walde hervor.
Es war ein alter Herr, von vornehmem Äußeren, der eine junge Dame am Arme führte, während ein anderer Herr an ihrer Seite ging. Der letztere, ein noch ziemlich junger Mann, mit hochblondem Haar und Bart, zeigte in seinem Äußeren unverkennbar den englischen Typus und wäre eine ganz angenehme Erscheinung gewesen, wenn nicht eine gewisse Kälte und Gemessenheit ihm etwas Steifes und Hochmütiges verliehen hätte, das entschieden unangenehm berührte. Die Ankunft der Fremden machte der Familienszene auf der Wiese ein Ende, die Strafpredigt verstummte, und das Ehepaar und Fränzchen beeilten sich, die neuen Ankömmlinge mit der größten Liebenswürdigkeit zu begrüßen, während Siegbert mit einem kalten, stummen Gruße beiseite trat.
Inhaltsverzeichnis
»Ah, Herr Präsident von Landeck!- Guten Morgen, Exzellenz.- Guten Morgen, gnädiges Fräulein!- Haben Sie schon einen Spaziergang gemacht und Sir Conway gleichfalls?« so tönte und schwirrte es durcheinander. Sir Conway fand es kaum der Mühe wert, die Begrüßung zu erwidern, der Präsident dagegen tat dies höflich, aber doch mit einer gewissen kühlen Zurückhaltung.
»Wir waren im Walde,« entgegnete er. »Meine Tochter wollte den ersten schönen Morgen nach so langer Zeit genießen. Sie scheinen in dem gleichen Fall zu sein, Herr Bürgermeister, Sie sind ja auch mit den Ihrigen unterwegs.«
»Wir haben nur unseren Siegbert aufgesucht,« erklärte der Bürgermeister. »Er war auf einmal verschwunden, und wir hatten keine Ahnung, wo er geblieben sein könnte. Zum Glück hatte jemand gesehen, wie er den Waldweg einschlug, und da-«
»Sind Sie mit Ihrer ganzen Familie natürlich nachgegangen,« vollendete der Präsident, um dessen Lippen ein leichtes, ironisches Lächeln spielte.
»Natürlich, Exzellenz, auf der Stelle! Und wo finden wir ihn? Hier im Walde, auf der nassen Wiese, wo er den ganzen Morgennebel ausgehalten hat, während der Arzt ihm so dringend Vorsicht und Schonung anempfahl. Ja, man hat seine Not mit den Söhnen, Exzellenz, wenn sie erwachsen sind, und mein Sohn hat nun vollends immer seinen Kopf für sich.«
»Herr Holm ist ja wohl Ihr Pflegesohn?« warf die junge Dame ein, während ihr Blick Siegbert streifte, der noch immer abseits stand, ohne sich mit einer Silbe an dem Gespräche zu beteiligen.
»Allerdings, gnädiges Fräulein, aber ich habe ihn stets als meinen wirklichen Sohn betrachtet. Von dem Augenblicke an, wo ich ihn als arme Waise in mein Haus aufnahm, hat er die gleichen Rechte genossen, wie mein eigenes Kind. Ich darf mich wohl rühmen, daß ich zuerst sein Talent entdeckt und zur Anerkennung gebracht habe. Er wäre nicht das erste Genie gewesen, das an der Beschränktheit und Armseligkeit seiner Verhältnisse zugrunde ging, aber ich entriß ihn diesen Verhältnissen. Ich habe nichts gespart bei seiner Ausbildung, er ist zwei Jahre lang in der Residenz gewesen und hat den Unterricht eines unserer berühmtesten Künstler genossen. Jetzt allerdings ist er selbst ein Künstler geworden, der eine glänzende Zukunft vor sich hat.«
»Papa, ich bitte dich!« fiel Siegbert ein. Sein vorhin so bleiches Gesicht war jetzt von einer flammenden Röte bedeckt, und das nervöse Zucken seiner Lippen galt vielleicht ebensosehr der taktlosen Erwähnung seiner Armut, als den nicht minder taktlosen Lobsprüchen seines Pflegevaters.
»Unterbrich mich nicht!« sagte dieser würdevoll. »Du bist ein Künstler, du hast eine bedeutende Zukunft vor dir, aber du hast keinen Mut, kein Selbstvertrauen. Werden deine Bilder nicht überall gelobt und bewundert in Wiesenheim? Schickst du sie nicht sogar zur Ausstellung in die Residenz? Und wenn sie dort noch nicht die gebührende Anerkennung finden, so ist eben der Neid, die Mißgunst deiner Kollegen daran schuld, die kein jüngeres Talent aufkommen lassen wollen.«
»Herr Holm hat in der Tat ein recht hübsches Talent,« sagte der Präsident, aber es war augenscheinlich, daß ihm nur das Mitleid mit dem jungen Manne, der so sichtlich eine Folter ausstand, zu diesem kühlen Lobe veranlaßte.
»Ein großes Talent, Exzellenz, ein großes!« verbesserte die Frau Bürgermeisterin. »Unser Siegbert galt schon als Knabe für ein Wunderkind. Sie hüben ja seine Skizzen und Studien gesehen! Allerdings sind wir nicht durchweg damit einverstanden. Da hat er zum Beispiel den Adrian Tuchner gezeichnet, diesen unheimlichen Menschen-«
»Adrian Tuchner?« fiel die junge Dame lebhaft ein. »Das ist in der Tat ein interessanter Kopf! Darf ich das Blatt sehen?«
Der Herr Bürgermeister und seine Frau Gemahlin sahen etwas betroffen aus, als die »Galgenphysiognomie« interessant genannt wurde. Fränzchen aber kam mit großer Bereitwilligkeit dem Wunsche nach, indem sie selbst die Skizzenmappe herbeibrachte und öffnete.
Erst jetzt, wo sie unmittelbar neben der Tochter des Präsidenten stand, sah man es, wie unbedeutend ihre ganze Erscheinung war. Klein wie ihr Vater, mit einem frischen, runden Gesicht, mit hellen Haaren und Augen, konnte sie immerhin für ein hübsches Mädchen gelten, aber trotzdem und trotz ihrer sehr eleganten Toilette verlor sie doch ungemein neben jener hohen, schlanken Gestalt im einfachen Reisekleide. Der leichte Strohhut, der auf den dunklen Flechten saß, beschattete ein Antlitz, das in seiner streng regelmäßigen Schönheit vielleicht kalt erschienen wäre, wenn nicht die großen, strahlenden Augen ihm Leben und Ausdruck verliehen hätten, und die ganze Haltung zeigte jene vornehme Sicherheit, die das Leben in der großen Welt gibt, während Fränzchen in jedem Zuge die Kleinstädterin verriet. In dem Wesen des Fräuleins von Landeck lag gleichfalls etwas von der kühlen Zurückhaltung ihres Vaters den Reisegefährten gegenüber, aber es schwand vollständig in dem Augenblick, da sie mit unverkennbarem Interesse die Zeichnung betrachtete.
»Das ist ja vorzüglich getroffen! Ich glaubte nicht, daß es möglich wäre, so viel Leben in eine bloße Skizze zu legen. Sieh nur, Papa!«
Siegbert sah auf, nur einen Moment lang, dann senkte er den Blick wieder zu Boden, aber man sah es, daß er trotzdem mit atemloser Spannung dem weiteren Gespräch folgte.
»In der Tat, frappant,« sagte der Präsident, indem er einen ziemlich gleichgültigen Blick auf die Zeichnung warf. Sir Conway, der bisher gar nicht an dem Gespräche teilgenommen hatte, und dessen Miene deutlich zeigte, wie sehr es ihn langweilte, ließ sich jetzt herab, gleichfalls einen flüchtigen Blick auf das Blatt zu richten, das die junge Dame ihm hinhielt, während sie fragte: