Die Alpenfee - Elisabeth Bürstenbinder - E-Book

Die Alpenfee E-Book

Elisabeth Bürstenbinder

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Beschreibung

Dieses eBook: "Die Alpenfee" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Aus dem Buch: "Hoch über den schneegekrönten Häuptern der Berge stand ein leuchtender Regenbogen. Das Gewitter war vorübergezogen; noch grollte es fern und dumpf in den Schluchten und an den Bergwänden lagerten dichte Wolkenmassen, aber der Himmel war bereits wieder klar, die Hochgipfel hatten sich entschleiert, und jetzt begannen auch dunkle Wälder und grüne Matten langsam aufzutauchen aus dem Nebel- und Wolkenmeer. Das mächtige, von einem Wildwasser durchbrauste Alpenthal lag tief im Gebirge, so einsam und abgeschieden, als sei es der Welt und ihrem Treiben gänzlich entrückt, und doch hatte die Welt den Weg zu ihm gefunden. Auf der stillen Bergstraße, wo sich sonst nur selten ein Wagen oder ein wandernder Fußgänger zeigte, herrschte jetzt reges Leben und Treiben..." Elisabeth Bürstenbinder (1838 - 1918) war eine deutsche Schriftstellerin. Sie schrieb unter dem Pseudonym E. Werner.

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Elisabeth Bürstenbinder

Die Alpenfee

e-artnow, 2016 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-268-7020-3

INHALTSVERZEICHNIS

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Inhaltsverzeichnis

Hoch über den schneegekrönten Häuptern der Berge stand ein leuchtender Regenbogen. Das Gewitter war vorübergezogen; noch grollte es fern und dumpf in den Schluchten und an den Bergwänden lagerten dichte Wolkenmassen, aber der Himmel war bereits wieder klar, die Hochgipfel hatten sich entschleiert, und jetzt begannen auch dunkle Wälder und grüne Matten langsam aufzutauchen aus dem Nebel- und Wolkenmeer.

Das mächtige, von einem Wildwasser durchbrauste Alpenthal lag tief im Gebirge, so einsam und abgeschieden, als sei es der Welt und ihrem Treiben gänzlich entrückt, und doch hatte die Welt den Weg zu ihm gefunden. Auf der stillen Bergstraße, wo sich sonst nur selten ein Wagen oder ein wandernder Fußgänger zeigte, herrschte jetzt reges Leben und Treiben. Ueberall sah man Gruppen von Ingenieuren und Arbeitern; überall ward besichtigt, gezeichnet, vermessen; die Eisenbahn sollte schon in den nächsten Jahren ihre eisernen Arme in diese Bergeseinsamkeit strecken und die Vorarbeiten dazu waren im vollen Gange.

Oberhalb der Bergstraße, am Rande einer Schlucht, deren felsige Wände schroff abfielen, lag ein Gehöft, das sich auf den ersten Blick nicht viel von den anderen unterschied, die hier und da am Bergeshang zerstreut waren, beim Näherkommen aber entdeckte man bald, daß es kein Bauernhof war, der da auf der weiten grünen Matte lag. Das Hans hatte festgefügte steinerne Wände und niedrige, aber breite Fenster und Thüren; die beiden halbrunden Erker, die mit ihren spitzen Dächern wie Thürmchen aufragten, gaben ihm ein noch stattlicheres Ansehen, und über dem Eingange prangte, kunstvoll in den Stein gemeißelt, ein Wappenbild.

Es war einer jener alten Herrensitze, wie sie sich bisweilen noch ganz vereinzelt im Gebirge finden, schlicht und einfach, mit einem halb bäurischen Anstrich, grau und verwittert, aber kräftig dem Verfall trotzend, dem schon manche stolze Burg zum Opfer gefallen war. Der aufsteigende Bergwald gab ihm einen äußerst malerischen Hintergrund und darüber hinaus ragte ein mächtiger Berggipfel mit nackten starren Felswänden und schneegekröntem Haupte einsam und stolz empor.

Das Innere des Hauses entsprach seinem Aeußeren. Durch einen gewölbten Flur mit Steinfliesen gelangte man in ein weites, niedriges Gemach, das fast die ganze Vorderseite des Gebäudes einnahm. Das altersbraune Wandgetäfel, der riesige Kachelofen, die hochlehnigen Stühle und der schwere geschnitzte Eichenschrank, das alles war derb, einfach und zeugte von langjährigem Gebrauche. Die Fenster standen weit offen und boten einen prachtvollen Ausblick auf das Gebirge, aber die beiden Herren, die am Tische saßen, achteten nicht auf die sich immer mehr entschleiernde Landschaft, sie befanden sich in lebhaftem Gespräche.

Der eine, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, war eine Hünengestalt, mit breiter Brust und kraftvollen Gliedern. Durch das volle Haar und den dichten blonden Bart zog sich noch kein einziger Silberfaden und das wettergebräunte Gesicht strotzte von Leben und Gesundheit, wie die ganze Erscheinung. Sein Gefährte mochte in dem gleichen Alter stehen, aber die schmächtige Gestalt mit den scharfen, klugen Zügen und das schon völlig ergraute Haar ließen ihn weit älter erscheinen. Das Antlitz und die hohe Stirn, in die sich manche tiefe Falte grub, sprachen von rastlosem Sorgen und Ringen, freilich auch von einer Energie, die diesem Ringen gewachsen war; aber es lag zugleich ein Zug von Hochmuth darin, der nichts weniger als angenehm berührte, und in Haltung und Sprache verrieth sich das Selbstbewußtsein eines Mannes, der gewohnt ist, seine Umgebung zu beherrschen.

»So nimm doch Vernunft an, Thurgau,« sagte er in einem Tone, dem man die Ungeduld anhörte. »Dein Sträuben hilft Dir nichts, Du mußt unter allen Umständen Deine Besitzung abtreten.«

»Ich muß?« rief Thurgau heftig. »Das wollen wir doch abwarten! So lange ich lebe, wird kein Stein angerührt auf dem Wolkensteiner Hofe.«

»Der Hof liegt uns aber direkt im Wege. Gerade hier soll die große Brücke ihren Ausgang nehmen und die Bahnlinie geht mitten durch Dein Eigenthum.«

»Dann ändert Eure verwünschte Bahnlinie! Führt sie, wohin Ihr wollt, meinetwegen über den Wolkenstein da oben, aber mein Haus laßt in Ruhe. Gieb Dir keine Mühe, Nordheim; ich bleibe bei meinem Nein.«

Nordheim lächelte, halb mitleidig, halb sarkastisch.

»Du scheinst es in Deiner Einsamkeit vollständig verlernt zu haben, mit der Welt und ihren Anforderungen zu rechnen. Bildest Du Dir denn wirklich ein, ein Unternehmen wie das unsrige würde Halt machen, weil es dem Freiherrn von Thurgau beliebt, uns einige Quadratruthen seines Bodens zu verweigern? Wenn Du dabei beharrst, dann bleibt uns nichts übrig, als von unserem Zwangsrechte Gebrauch zu machen. Du weißt ja, daß uns die Vollmacht dazu längst ertheilt worden ist.«

»Oho, mein Recht ist auch noch da!« rief der Freiherr, indem er dröhnend mit der Faust auf den Tisch schlug. »Ich habe protestirt und werde protestiren bis zum letzten Athemzuge. Der Wolkensteiner Hof bleibt stehen und wenn die ganze Eisenbahngesellschaft, mit dem Herrn Präsidenten Nordheim an der Spitze, sich auf den Kopf stellt.«

»Aber wenn man Dir das Doppelte des Werthes bietet –«

»Meinetwegen das Zehnfache! Ich schachere nicht mit dem letzten Erbe meiner Väter. Der Wolkensteiner Hof bleibt stehen, Punktum!«

»Dein alter Starrsinn, der Dir schon so vieles im Leben verschüttet hat,« sagte der Präsident gereizt. »Ich hätte es voraussehen können, aber angenehm ist es mir allerdings nicht, wenn mein eigener Schwager die Gesellschaft, an deren Spitze ich stehe, zu einem gewaltsamen Vorgehen zwingt.«

»Deshalb hast Du Dich auch höchstselbst heraufbemüht,« spottete Thurgau, »zum ersten Male seit Jahren.«

»Ich wollte es noch einmal versuchen, Dir Vernunft zu predigen, da meine Briefe wirkungslos blieben. Uebrigens weißt Du ja, wie sehr ich mit meiner Zeit geizen muß.«

»Ja, das weiß der Himmel! Ich würde mich bedanken für die ruhelose Hetzjagd, die Du Leben nennst. Was hast Du denn eigentlich von Deinen Millionen und von Deinen unglaublichen Erfolgen? Bald bist Du hier, bald da, immer im Fluge, immer mit einer Last von Geschäften. Das geht vom frühen Morgen bis zum späten Abend, und Nachts, wenn vernünftige Leute sich zu Bette legen, setzest Du Dich noch stundenlang an Deinen Schreibtisch. Daher stammen Deine grauen Haare und die Falten auf Deiner Stirn. Sieh mich an!« Er richtete sich empor und reckte die mächtigen Glieder. »Ich bin ein volles Jahr älter als Du!«

Nordheim blickte auf seinen Schwager, dessen Stirn allerdings noch keine Falten zeigte, aber seine Lippen zuckten spöttisch dabei.

»Ganz recht, aber es ist nicht jedermanns Sache, hier oben bei den Murmelthieren zu leben und Gemsen zu schießen. Du hast ja schon vor zehn Jahren Deinen Abschied genommen, obgleich Dir Dein alter Name die Karrière überall verbürgte.«

»Weil ich nun einmal nicht für den Herrendienst tauge. Die Thurgaus haben alle nicht dafür getaugt – deshalb sind sie auch so heruntergekommen, meinst Du? Ich sehe das an Deinem Spottlächeln. Ja, viel ist freilich nicht übrig geblieben von der einstigen Herrlichkeit, aber ich habe doch wenigstens noch ein Dach über dem Kopfe, und der Grund und Boden, auf dem ich stehe, ist mein: da hat mir niemand zu befehlen und dreinzureden, am wenigsten Deine verwünschte Eisenbahn – Nun, nichts für ungut, Schwager, wir wollen uns nicht zanken über die Geschichte, und vorzuwerfen haben wir uns beide nichts, denn wenn ich starrsinnig bin, so bist Du ein Tyrann. Du regierst Deine hochlöbliche Gesellschaft ja, daß ihr Hören und Sehen vergeht, und wenn Dir einer widerspricht, wird er einfach gemaßregelt und hinausgeworfen.«

»Was weißt Du denn davon?« fragte Nordheim, der bei den letzten Worten aufmerksam wurde. »Du kümmerst Dich ja nie um unsere Angelegenheiten.«

»Nein, aber ich sprach neulich ein paar von den Ingenieuren, die hier in der Nähe die Vermessungen vornehmen und natürlich keine Ahnung von unseren verwandtschaftlichen Beziehungen haben. Sie schimpften wie die Rohrsperlinge auf Dich und Deine Tyrannei und die Günstlingswirthschaft, die Du eingeführt hättest; es waren recht erbauliche Dinge, die ich da zu hören bekam.«

Der Präsident zuckte gleichgültig die Achseln.

»Vermuthlich die Ernennung des Oberingenieurs für diese Strecke, die den Herren nicht genehm ist. Sie drohten allerdings in eine förmliche Revolte auszubrechen; sie fühlen sich in ihrer Ehre gekränkt, weil man ihnen einen jungen Mann von siebenundzwanzig Jahren zum Vorgesetzten giebt, der mehr in seinem Kopfe hat als sie alle zusammen.«

»Sie behaupten aber, er sei ein Streber, dem jedes Mittel recht sei, um emporzukommen,« sagte Thurgau derb. »Und Du als Präsident des Verwaltungsrathes hättest Dich überhaupt nicht darum zu kümmern; der Chefingenieur hätte allein das Recht, seinen Stab zu ernennen.«

»Offiziell allerdings und es geschieht auch nicht oft, daß ich meinen Einfluß auf seinem Gebiete geltend mache; thue ich es aber einmal, so erwarte ich auch, daß meinen Wünschen Rechnung getragen wird. Genug, Elmhorst ist Oberingenieur und wird es bleiben. Wenn das den Herren nicht paßt, so mögen sie ihre Entlassung nehmen, ich kümmere mich sehr wenig um ihre Meinung.«

In den Worten lag das ganze hochmütige Selbstbewußtsein eines Mannes, der gewohnt ist, seinem Willen unbedingt und rücksichtslos Geltung zu verschaffen. Thurgau wollte antworten, aber in diesem Augenblick wurde die Thür geöffnet oder vielmehr aufgerissen. Es stürmte etwas herein, das mit nassen Kleidern und wehenden Locken an dem Präsidenten vorüberflog und sich ungestüm an den Hals des Freiherrn warf, dann folgte ein zweites, zottiges Etwas, ebenso naß, das gleichfalls auf den Herrn des Hauses zustürzte und mit lautem Freudengeheul an ihm emporsprang. Die unerwartete und lärmende Begrüßung glich beinahe einem Ueberfall, aber Thurgau mußte wohl daran gewöhnt sein, denn er sträubte sich nicht im mindesten gegen die feuchten Liebkosungen, die ihm reichlich von beiden Seiten zu theil wurden.

»Da bin ich, Papa!« rief eine helle Mädchenstimme. »Naß wie eine Wassernixe! Das ganze Wetter habe ich ausgehalten droben am Wolkenstein; sieh nur, wie wir aussehen, ich und der Greif!«

»Ja, man merkt es, daß Ihr direkt aus den Wolken kommt,« sagte Thurgau lachend. »Aber siehst Du denn nicht, Erna, daß wir Besuch haben? Erkennst Du ihn noch?«

Erna richtete sich empor; sie hatte den Präsidenten, der bei dem Einbruch der beiden aufgesprungen und seitwärts getreten war, noch gar nicht bemerkt und schien einige Sekunden lang ungewiß zu sein über seine Persönlichkeit, dann aber jubelte sie auf. »Onkel Nordheim!« und eilte auf ihn zu, aber er streckte abwehrend die Hände aus.

»Kind, ich bitte Dich, Du sprühst ja förmlich Nässe bei jeder Bewegung! Du gleichst wirklich einer Wassernixe – um Gotteswillen, halte mir den Hund vom Leibe! Wollt Ihr mich hier im Zimmer noch nachträglich mit einem Gewitterregen erfreuen?«

Erna ergriff lachend den Hund am Halsbande und zog ihn zurück. Greif zeigte allerdings Lust, nähere Bekanntschaft anzuknüpfen, was bei dem gänzlich durchweichten Zustande, in dem er sich befand, nicht gerade angenehm für den Betreffenden gewesen wäre. Uebrigens sah seine junge Herrin nicht viel besser aus: ihre Bergschuhe, die derb und plump den kleinen Fuß umschlossen, das hochgeschürzte Kleid von dunklem Lodenstoff und das schwarze Filzhütchen, alles triefte von Nässe. Sie schien sich aber sehr wenig darum zu kümmern, sie warf den Hut auf den ersten besten Stuhl und strich mit beiden Händen die feuchten Locken zurück, aus denen noch einzelne Tropfen rannen.

Erna glich ihrem Vater sehr wenig; nur die blauen Augen und das blonde Haar hatte sie von ihm; sonst existirte nicht die geringste Aehnlichkeit zwischen der hünenhaften Gestalt des Freiherrn, seinen gutmüthigen aber ziemlich ausdruckslosen Zügen und der Erscheinung des etwa sechzehnjährigen Mädchens, das, schlank und geschmeidig wie eine Gazelle, trotz seines ungestümen Auftretens doch in jeder Bewegung eine unbewußte Grazie verrieth. Das Gesicht zeigte die ganze rosige Frische der Jugend; für schön konnte es nicht gelten, wenigstens jetzt noch nicht. Die Züge waren noch sehr kindlich und unentwickelt und um den kleinen Mund lag ein Ausdruck, der auf herben Kindertrotz deutete. Schön waren eigentlich nur die Augen, deren tiefes dunkles Blau an die Farbe der Bergseen erinnerte. Das Haar wurde von keinem Bande, keinem Netze festgehalten; vom Sturme zerzaust, vom Regen durchnäßt, fiel dies wilde üppige Gelock fessellos auf die Schultern nieder. Das Mädchen sah allerdings nicht gerade salonfähig aus, sondern wie ein lebendiggewordener Frühlingssturm.

»Fürchtest Du die paar Regentropfen, Onkel Nordheim?« fragte sie übermütig. »Was hättest Du denn angefangen in dem Wolkenbruch, dem wir ganz schutzlos preisgegeben waren? Ich machte mir freilich nicht viel daraus, aber mein Begleiter –«

»Nun, ich dächte, dem Greif wäre der Pelz auch oft genug gewaschen worden,« fiel der Freiherr ein.

»Greif? Den hatte ich, wie gewöhnlich, bei der Sennhütte zurückgelassen; er kann ja nicht klettern und von da an heißt es, mit den Gemsen um die Wette steigen. Ich meine den Fremden, mit dem ich unterwegs zusammentraf. Er hatte sich verstiegen und konnte in dem Nebel den Rückweg nicht finden; hätte ich ihn nicht geführt, er säße noch droben am Wolkenstein.«

»Ja diese Stadtherren!« sagte Thurgau ärgerlich. »Das kommt hierher mit den großen Bergstöcken, mit den nagelneuen Touristenanzügen und thut, als ob ihm unsere Alpengipfel nur ein Spiel wären; aber bei dem ersten Regenguß kriecht es in eine Felsspalte und holt sich den Schnupfen. Es hat sich wohl sehr gefürchtet, das Herrchen, als das Wetter losbrach?«

Erna schüttelte den Kopf, aber auf ihrer Stirn erschien eine Falte.

»Nein, furchtsam war er nicht; er hielt ganz gelassen neben mir aus unter Sturm und Blitzen und auch beim Abstieg hat er sich tapfer gezeigt, obgleich man sah, daß er die Sache nicht gewohnt war. Aber es war ein abscheulicher Mensch. Er lachte, als ich ihm von der Alpenfee erzählte, die jeden Winter die Lawinen in das Thal niederschickt, und als ich böse wurde, sagte er so ganz von oben herab: ›Ja freilich, wir sind hier in der Sphäre des Aberglaubens, das hatte ich ganz vergessen!‹ Ich wollte, die Alpenfee hätte ihm gleich auf der Stelle eine Lawine über den Hals geschickt, und das habe ich ihm auch gesagt.«

»Das hast Du einem fremden Herrn gesagt, den Du zum ersten Mal sahst?« fragte der Präsident, der bisher schweigend, aber mit befremdeter Miene zugehört hatte.

Erna warf trotzig den Kopf zurück.

»Gewiß that ich das! Wir mögen ihn nicht leiden, nicht wahr, Greif? Du hast ihn auch angeknurrt, als ich mit ihm bei der Sennhütte anlangte, und das ist brav von Dir, mein Thier, sehr brav! – Aber jetzt muß ich wirklich sehen, daß ich in trockene Kleider komme; Onkel Nordheim bekommt sonst den Schnupfen von meiner bloßen Nähe.«

Sie eilte fort, ebenso stürmisch wie sie gekommen war; Greif machte Miene, ihr zu folgen; da ihm aber die Thür vor der Nase zufiel, so besann er sich eines anderen. Er schüttelte sich, daß die Tropfen nach allen Richtungen hin sprühten, und lagerte sich dann zu den Füßen seines Herrn.

Nordheim hatte sein Taschentuch hervorgezogen und fuhr damit demonstrativ über seinen feinen schwarzen Rock, obgleich er glücklich von der Douche verschont geblieben war.

»Nimm es mir nicht übel, Schwager, aber es ist wirklich unverantwortlich, wie Du Deine Tochter aufwachsen läßt,« sagte er scharf.

»Was?« fragte Thurgau, der augenscheinlich höchst erstaunt darüber war, daß man an seinem Kinde irgend etwas auszusetzen fand. »Was fehlt dem Mädel denn?«

»Nun, ich dächte so ziemlich alles, was man von einem Fräulein von Thurgau erwarten darf. Was war das für ein Aufzug, in dem sie hier erschien! Und Du duldest es, daß sie stundenlang in den Bergen umherschweift und mit dem ersten besten Touristen eine Bekanntschaft anknüpft?«

»Pah, sie ist ja noch ein Kind!«

»Mit sechzehn Jahren? Es war ein Unglück, daß sie so früh die Mutter verlor; seitdem hast Du sie förmlich verwildern lassen. Freilich, wenn ein junges Mädchen in solchen Umgebungen aufwächst, ohne Unterricht, ohne Erziehung –«

»Bitte sehr,« unterbrach ihn der Freiherr gereizt. »Ich habe damals, als ich beim Tode meiner Frau nach dem Wolkensteiner Hof übersiedelte, einen Lehrer mitgenommen, den alten Magister, der erst im letzten Frühjahr gestorben ist. Erna hat bei ihm alles Mögliche gelernt, und erzogen habe ich sie. Gerade so habe ich sie gewollt; denn eine zarte Treibhauspflanze wie Deine Alice können wir hier oben nicht brauchen. Mein Mädel ist gesund an Leib und Seele; frei ist sie aufgewachsen, wie der Vogel in der Luft, und soll es bleiben. Wenn Du das ›verwildern‹ nennst – meinetwegen! Mir ist mein Kind recht.«

»Dir vielleicht, aber Du wirst doch nicht immer die einzig maßgebende Persönlichkeit in ihrem Leben sein. Wenn sich Erna dereinst verheirathet –«

»Ver–heirathet? « wiederholte Thurgau mit starrem Entsetzen.

»Allerdings, Du mußt doch erwarten, daß früher oder später sich ein Bewerber meldet.«

»Das soll sich einer unterstehen! Dem Kerl schlage ich Arme und Beine entzwei!« schrie der Freiherr in voller Wuth.

»Du versprichst ja ein liebenswürdiger Schwiegervater zu werden,« bemerkte Nordheim trocken. »Ich dächte, es wäre die Bestimmung der Mädchen zu heirathen, oder glaubst Du vielleicht, daß ich von meiner Alice fordere, sie solle unvermählt bleiben, weil sie meine einzige Tochter ist?«

»Das ist etwas anderes,« sagte Thurgau langsam, »etwas ganz anderes. Du magst Deine Tochter liebhaben – nun ja, warum denn nicht – aber Du würdest sie sehr leichten Herzens hingeben. Ich habe nichts auf der weiten Gotteswelt als mein Kind, das Einzige, was mir geblieben ist, und das gebe ich nicht her, um keinen Preis. Sie sollen mir nur kommen, die Herren Freier, ich werde sie schon heimschicken, daß sie das Wiederkommen vergessen.«

Der Präsident lächelte; es war jenes kalte, mitleidige Lächeln, mit dem man auf die Thorheiten eines Kindes herabsieht.

»Wenn Du Deinen Erziehungsgrundsätzen treu bleibst, wirst Du überhaupt nicht in den Fall kommen,« sagte er sich erhebend. »Aber noch eins – Alice trifft morgen in Heilborn ein, wo ich sie erwarte; der Arzt hat ihr die dortigen Bäder und die Alpenluft verordnet.«

»In dem eleganten langweiligen Modenest wird kein Mensch gesund,« erklärte Thurgau verächtlich. »Du solltest uns das Mädel hierher schicken, da hat sie die Alpenluft aus erster Hand.«

Nordheims Blick glitt mit einem nicht mißzuverstehenden Ausdruck durch das Zimmer, über den schlafenden Greif hin und blieb zuletzt auf seinem Schwager haften.

»Du bist sehr freundlich, aber wir müssen uns wohl an die ärztliche Vorschrift halten. Wir werden uns doch sehen in den nächsten Tagen?«

»Natürlich, Heilborn ist ja kaum zwei Stunden entfernt!« rief der Freiherr, dem das Kühle und Gezwungene der Einladung völlig entging; »ich komme jedenfalls mit Erna hinüber.«

Er stand gleichfalls auf, um den Gast zu geleiten; die Meinungsverschiedenheiten, denen er bisweilen einen so drastischen Ausdruck gegeben hatte, waren in seinen Augen gar kein Hinderniß für die verwandtschaftliche Zuneigung, und er entließ den Schwager mit der derben Herzlichkeit, die ihm eigen war. Jetzt kam auch Erna wie ein wilder Vogel die Treppe herabgeflattert und alle drei traten auf den Vorplatz des Hauses.

Hier fuhr soeben der Bergwagen vor, der vor einigen Stunden den Präsidenten gebracht hatte und auf den grundlosen Wegen nicht ohne Mühe bis zum Wolkensteiner Hofe vorgedrungen war. Gleichzeitig trat ein junger Mann durch das Eingangsthor und näherte sich grüßend dem Herrn des Hauses.

»Guten Tag, Doktor!« rief dieser jovial, während Erna mit der Freiheit und Unbefangenheit eines Kindes dem Ankömmlinge entgegeneilte und ihm die Hand bot, und zu seinem Schwager gewendet setzte er hinzu: »Das ist unser Aeskulap und Leibarzt! Dem solltest Du einmal Deine Alice anvertrauen, der Mann versteht seine Sache.«

Nordheim, der mit deutlichem Mißfallen jene vertrauliche Begrüßung seiner Nichte bemerkt hatte, griff nachlässig an seinen Hut und beehrte den jungen Landarzt, der eine etwas unbeholfene und linkische Verbeugung machte, kaum mit einem flüchtigen Blick. Er reichte seinem Schwager die Hand, küßte Erna auf die Stirn und stieg ein; wenige Minuten später rollte der Wagen davon.

»Jetzt kommen Sie herein, Doktor Reinsfeld,« sagte der Freiherr, dem es erst nach dieser Abfahrt recht behaglich zu werden schien. »Aber da fällt mir ein, daß Sie meinen Schwager so noch gar nicht kennen – den Herrn, der soeben fortfuhr.«

»Präsident Nordheim – ich weiß,« entgegnete Reinsfeld, während sein Blick dem Wagen folgte, der soeben in einer Biegung des Weges verschwand.

»Merkwürdig!« brummte Thurgau. »Alle Welt kennt ihn und er ist doch seit Jahren nicht hier gewesen. Es ist gerade, wie wenn ein Potentat durch die Berge fährt!«

Er trat in das Haus; der junge Arzt zögerte noch einen Augenblick, ehe er folgte. Er sah sich nach Erna um, aber diese stand auf der niedrigen Mauer, die das Gehöft umgab, und beobachtete die nicht ganz unbedenkliche Niederfahrt des Wagens.

Doktor Reinsfeld mochte sechs- oder siebenundzwanzig Jahr alt sein; er hatte nicht ganz die riesige Gestalt des Freiherrn, war aber immerhin eine kraftvoll derbe Erscheinung. Hübsch war er allerdings nicht; eher hätte man das Gegentheil behaupten können; aber es wurde einem unwillkürlich warm ums Herz, wenn man in diese blauen Augen schaute, die so klar und kindlich vertrauend in die Welt blickten, in dies Gesicht, dem die Herzensgüte an der Stirn geschrieben stand. Die Haltung und das Auftreten des jungen Mannes verriethen freilich die vollste Unbekanntschaft mit den gesellschaftlichen Formen und auch der Anzug ließ manches zu wünschen übrig. Die graue Gebirgsjoppe und der alte graue Filzhut hatten offenbar schon manchen Tag gesehen, manchen Regenguß miteinander ausgehalten und die Bergschuhe mit ihren nägelbeschlagenen Sohlen trugen reichliche Spuren des durchweichten Bodens. Sie gaben Zeugniß davon, daß dem Herrn Doktor für seine Besuche nicht einmal ein bescheidenes Reitthier zu Gebote stand; er wanderte zu Fuß, wohin seine Pflicht ihn rief.

»Nun, wie geht es, Herr Baron?« fragte er, als sie im Zimmer einander gegenüber saßen. »Alles in Ordnung? Der Anfall von neulich hat sich doch nicht wiederholt?«

»Alles in Ordnung!« lachte Thurgau. »Ich bin wieder ganz der Alte. Ich begreife überhaupt nicht, daß Sie von dem kleinen Schwindelanfall so viel Aufhebens machen. Eine Natur wie die meine giebt Ihnen und Ihresgleichen nicht viel zu thun.«

»Wir dürfen die Sache doch nicht zu leicht nehmen! Gerade in Ihren Jahren muß man vorsichtig sein,« meinte der junge Arzt. »Ich hoffe allerdings, daß es nichts auf sich hat, wenn Sie nur meinen Rathschlägen folgen: vermeiden jeder Erhitzung und Aufregung, eine möglichst einfache Diät, eine theilweise Aenderung Ihrer gewohnten Lebensweise – ich habe Ihnen ja die einzelnen Vorschriften bereits gegeben.«

»Ja, das haben Sie gethan, aber ich befolge sie nicht,« erklärte der Freiherr ganz gemächlich, indem er sich in seinen Stuhl zurücklehnte.

»Aber, Herr von Thurgau –«

»Lassen Sie mich in Ruhe, Doktor! Das Leben, das sie mir vorschreiben wollen, ist überhaupt gar kein Leben mehr. Ich soll mich schonen, ich, der ich gewohnt bin, den Gemsen nachzusteigen bis auf den höchsten Grat, der sich weder um Sonnengluth, noch um Schneesturm gekümmert hat und immer der Erste war, wenn es etwas Gefährliches gab in unseren Bergen! Ich soll meine geliebte Jagd im Stiche lassen, soll Wasser trinken und mich ängstlich hüten vor jeder Aufregung, wie ein nervenschwaches Frauenzimmer? Unsinn! Fällt mir gar nicht ein!«

»Aber ich habe Ihnen nicht verhehlt, daß jener Anfall bedenklich war, daß die Folgen gefährlich werden können.«

»Meinetwegen! Der Mensch entgeht seinem Schicksale doch nicht und ich tauge nun einmal nicht für ein solches Jammerleben, wie Sie es mir in Aussicht stellen. Lieber ein rasches seliges Ende!«

Reinsfeld sah nachdenklich vor sich hin und sagte halblaut:

»Eigentlich haben Sie recht, Herr Baron, aber –« er kam nicht weiter, denn Thurgau schlug ein lautes Gelächter auf.

»Das nenne ich mir einen gewissenhaften Arzt! Wenn man ihm erklärt, daß man sich den Kuckuck um seine Verordnungen scheert, sagt er: Sie haben ganz recht! Ja, ich habe auch recht, das sehen Sie selbst ein.«

Der Doktor wollte sich gegen diese Auffassung seiner Worte verwahren, aber Thurgau lachte immer unbändiger und jetzt kam auch Erna herein mit Greif, ihrem unzertrennlichen Begleiter.

»Onkel Nordheim ist glücklich über die Brücke gekommen, obgleich sie halb überschwemmt war,« berichtete sie. »Die Ingenieure stürzten allesammt herbei und halfen den Wagen vorwärts bringen, und dann bildeten sie Spalier zu beiden Seiten und verbeugten sich, so tief.«

Sie ahmte in komischer Weise die Ehrfurchtsbezeigungen der Beamten nach, aber der Freiherr zuckte ärgerlich die Achseln.

»Recht gesinnungsstüchtige Leute, diese Herren! Da schimpfen sie über meinen Schwager und sagen ihm alles mögliche Schlimme nach, und sobald er in Sicht ist, bücken sie sich bis zur Erde. Da soll der Mann nicht hochmüthig werden!«

»Papa,« sagte Erna, die an den Stuhl ihres Vaters getreten war und jetzt den Arm um seinen Hals legte, »ich glaube, der Onkel Nordheim mag mich nicht, er war so kühl und gemessen.«

»Das ist so seine Art,« meinte Thurgau, sie an sich ziehend. »Aber an Dir, Du Wildfang, hat er freilich genug auszusetzen.«

»An Fräulein Erna?« fragte Reinsfeld mit einer so erstaunten und entrüsteten Miene, als ob das mindestens eine Majestätsbeleidigung sei.

»Jawohl, sie soll durchaus ein Fräulein von Thurgau vorstellen; hat er mir doch früher schon einmal angeboten, sie in sein Haus zu nehmen, um sie mit seiner Alice zusammen von den Bonnen und Gouvernanten für die Gesellschaft dressiren zu lassen! Was sagst Du zu dem Vorschlage, Kind?«

»Ich will nicht zu dem Onkel, Papa,« erklärte Erna trotzig. »Ich will überhaupt nicht fort von Dir, ich bleibe im Wolkensteiner Hofe, mein Leben lang.«

»Ich wußte es ja!« rief der Freiherr triumphirend, »und da behaupten sie, Du würdest eines Tages heirathen, würdest davongehen mit einem wildfremden Menschen und Deinen Vater in seinem Alter allein lassen! Wir wissen es besser, gelt Erna? Wir zwei gehören zusammen und wir bleiben auch bei einander.«

Er streichelte die wilden Locken seines Kindes mit einer Zärtlichkeit, die bei dem derben rücksichtslosen Manne etwas Rührendes hatte, und Erna schmiegte sich mit leidenschaftlicher Innigkeit an ihn. Die beiden gehörten in der That zusammen, das sah man; eins hing an dem anderen mit ganzer Seele.

»Nun, Herr Oberingenieur, Sie haben Ihre neue Stellung also bereits angetreten? Sie ist schwierig und verantwortungsreich, zumal für einen Mann in Ihren Jahren, aber ich hoffe, daß Sie ihr trotzdem gewachsen sind.«

Der junge Mann, an den Präsident Nordheim diese Worte richtete, verbeugte sich ehrfurchtsvoll, aber keineswegs demüthig, als er entgegnete.

»Ich bin mir vollkommen bewußt, daß ich diese Auszeichnung erst noch zu verdienen habe; ich verdanke sie so überhaupt nur Ihrem energischen Eintreten für mich, Herr Präsident.«

»Ja es stand Ihnen mancherlei entgegen,« sagte Nordheim. »Vor allem Ihre Jugend, die den maßgebenden Persönlichkeiten als ein Hinderniß galt, um so mehr, als ältere und erfahrene Bewerber da waren, die ihre Zurückweisung nun selbstverständlich als eine Kränkung ansehen; endlich erhob sich noch eine Opposition gegen mein persönliches Eingreifen zu Ihren Gunsten. Ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, daß Sie mit all diesen Dingen rechnen müssen; man wird Ihnen Ihre Stellung nicht gerade leicht machen.«

»Ich bin darauf gefaßt,« erwiderte Elmhorst ruhig; »aber ich werde vor der Feindseligkeit meiner Herren Kollegen auch nicht einen Schritt weichen. Ihnen, Herr Präsident, habe ich meinen Dank bisher nur in Worten abstatten können; ich hoffe zuversichtlich, es dereinst noch mit der That zu thun.«

Die Antwort schien dem Präsidenten zu gefallen und wohlwollender, als es sonst seine Art war, winkte er seinem Günstlinge, Platz zu nehmen. Elmhorst galt bereits dafür in den betreffenden Kreisen, die da wußten, was eine solche Gunst bedeutete.

Der junge Oberingenieur, der bei diesem offiziellen Besuche selbstverständlich den Gesellschaftsanzug trug, war eine äußerst gewinnende Erscheinung, hoch und schlank, mit energischen, regelmäßigen Zügen, denen die leicht gebräunte Farbe und der dunkle Vollbart etwas entschieden Männliches gaben. Das reiche dunkle Haar ließ zurückfallend eine hohe schöne Stirn frei, die auf ungewöhnliche Intelligenz deutete, und auch die Augen wären schön gewesen, wenn sie nicht so unglaublich kalt und nüchtern geblickt hätten. Diese Augen konnten scharf beobachten, vielleicht auch aufblitzen in Stolz und Energie, aber aufflammen in heller Begeisterung, in irgend einer der heißen Regungen des Menschenherzens konnten sie schwerlich: es barg sich kein Jugendfeuer in ihren dunklen Tiefen. Die Haltung war einfach und angemessen; sie wahrte die volle Ehrfurcht vor dem hochgestellten Manne, aber es lag keine Unterwürfigkeit darin.

»Ich bin nicht gerade sehr befriedigt von dem, was ich hier sehe,« nahm Nordheim wieder das Wort. »Die Herren lassen sich Zeit mit den Vorarbeiten und ich zweifle, ob wir den Bau im nächsten Jahre beginnen können. Es ist kein Zug, keine Energie in der Sache; ich fange an zu fürchten, daß wir einen Fehler begangen haben, als wir sie in die Hände dieses Chefingenieurs legten.«

»Er gilt für eine Autorität ersten Ranges,« warf Elmhorst ein.

»Gewiß, aber jetzt ist er alt geworden, körperlich und geistig, und ein solches Werk fordert das Einsetzen der vollsten Manneskraft; mit dem berühmten Namen ist es nicht allein gethan. Er wird sich sehr auf die Leiter der einzelnen Sektionen verlassen müssen, und die Ihrige ist eine der wichtigsten auf der ganzen Bahnstrecke.«

»Wohl die wichtigste überhaupt. Gerade hier haben wir mit allen möglichen elementaren Hindernissen zu kämpfen; ich fürchte, selbst die genauesten Berechnungen werden nicht immer Stand halten.«

»Das ist auch meine Ansicht; der Posten fordert einen Mann, der selbst mit dem Unvorhergesehenen zu rechnen weiß und nöthigenfalls auf eigene Hand eingreift. Allerdings muß er auch die volle Verantwortlichkeit tragen. Ich habe Sie dazu vorgeschlagen und Ihre Ernennung dem fast allgemeinen Widerspruch gegenüber durchgesetzt; rechtfertigen Sie jetzt mein Vertrauen!«

»Ich werde es rechtfertigen,« war die fest und bestimmt gegebene Antwort. »Sie sollst sich nicht in mir getäuscht haben, Herr Präsident.«

»Ich täusche mich selten in den Menschen,« sagte Nordheim mit einem prüfenden Blick in das Gesicht des jungen Mannes, »und den Beweis Ihrer technischen Fähigkeiten haben Sie so bereits geliefert. Ihr Plan, die große Brücke nach diesem System über die Wolkensteiner Schlucht zu führen, ist genial.«

»Herr Präsident –«

»Sie brauchen mein Lob nicht abzulehnen, ich bin sonst karg damit; aber als ehemaliger Ingenieur habe ich ein Urtheil darüber und ich sage Ihnen, der Entwurf ist genial.«

»Und doch fand er lange Zeit nirgend Aufnahme oder auch nur Beachtung,« sagte Elmhorst mit einem Anfluge von Bitterkeit. »Hätte ich nicht den glücklichen Gedanken gehabt, bei Ihnen einen Vortrag zu erbitten, als ich überall abgewiesen wurde, und Ihnen persönlich meine Pläne vorzulegen, sie wären niemals beachtet worden.«

»Möglich, den armen und unbekannten Talenten wird das Emporkommen meist sehr schwer gemacht; das ist nun einmal nicht anders im Leben. Ich habe in früheren Zeiten auch darunter gelitten, aber schließlich überwindet man das und Sie haben es bereits überwunden mit Ihrer jetzigen Stellung. Ich werde Sie darin zu halten wissen, wenn Sie Ihre Pflicht thun; das Uebrige ist Ihre Sache.«

Er stand auf und gab damit das Zeichen zur Entlassung. Auch Elmhorst erhob sich, aber er zögerte noch einen Augenblick.

»Dürfte ich noch eine Bitte aussprechen?«

»Gewiß, reden Sie nur!«

»Ich hatte vor einigen Wochen in der Stadt die Ehre, Fräulein Alice Nordheim zu sehen und ihr flüchtig genannt zu werden, als sie mit Ihnen in den Wagen stieg. Das gnädige Fräulein ist in Heilborn, wie ich höre, – wäre es mir erlaubt, mich persönlich nach ihrem Befinden zu erkundigen?«

Nordheim stutzte und sah den kecken Bittsteller von oben bis unten an. Er pflegte mit den Beamten nur geschäftlich zu verkehren, galt überhaupt für sehr hochmüthig in der Wahl seines Umganges, und jetzt forderte dieser junge Mann, der bis vor kurzem noch einfacher Ingenieur war, eine Gunst, die nicht mehr und nicht weniger bedeutete, als den Zutritt im Hause des allmächtigen Präsidenten. Das schien diesem denn doch etwas stark zu sein; er runzelte die Stirne und sagte in sehr kaltem Tone:

»Die Bitte ist etwas kühn, Herr – Elmhorst.«

»Ich weiß es, aber mit dem Kühnen ist ja immer das Glück!«

Die Worte hätten einen andern Gönner vielleicht verletzt; hier trat das Gegentheil ein. Der einflußreiche Mann, der Millionär war nur zu sehr mit der Schmeichelei und Kriecherei vertraut und verachtete sie aus dem Grunde seiner Seele. Dies ruhige Selbstbewußtsein, das sich auch ihm gegenüber nicht verleugnete, imponirte ihm; er fühlte darin etwas seiner eigenen Natur Verwandtes. »Mit dem Kühnen ist das Glück!« Das war sein Grundsatz gewesen, mit dem er sich im Leben emporgeschwungen hatte, und dieser Elmhorst sah auch nicht aus, als ob er auf den unteren Stufen stehen bleiben werde. Die Falte verschwand von Nordheims Stirn; aber seine Augen hefteten sich durchbohrend auf die Züge des jungen Oberingenieurs, als wollten sie darin die geheimsten Gedanken lesen. Endlich, nach einer sekundenlangen Pause, sagte er langsam:

»So werden wir wohl auch diesmal dem Sprichworte sein Recht geben müssen. – Kommen Sie!«

In Elmhorsts Augen blitzte es triumphirend auf; aber er verneigte sich nur dankend und folgte dem Voranschreitenden durch mehrere Zimmer nach der andern Seite des Hauses.

Nordheim bewohnte eine der schönsten und elegantesten Villen in dem vornehmen Badeorte. Sie lag halb versteckt in dem schattigen Grün der Anlagen, hatte aber die volle Aussicht auf das Gebirge und ließ auch in ihrer inneren Einrichtung keine von den Annehmlichkeiten vermissen, welche reiche und verwöhnte Gäste beanspruchen. Im Salon stand nur die Glasthür offen, die auf den Balkon führte; die Jalousien der Fenster waren geschlossen, um das grelle Sonnenlicht abzuhalten, und in dem kühlen, halbdunklen Gemach befanden sich nur zwei Damen.

Die ältere, die ein Buch in der Hand hielt und zu lesen schien, war längst über die Jugend hinaus. Ihr Anzug, von dem Spitzenhäubchen an, das den schon leicht ergrauten Scheitel bedeckte, bis zu dem Saum des dunkeln Seidenkleides, verrieth die peinlichste Sorgfalt, und sie saß so steif, so kühl und vornehm da wie die leibhaftige Etikette. Die jüngere, ein Mädchen von höchstens siebzehn Jahren, ein zartes, blasses. offenbar kränkliches Wesen, saß oder lag vielmehr in einem Armstuhl. Den Kopf stützte ein seidenes Kissen, und die Hände ruhten nachlässig verschlungen auf dem weißen, spitzenbesetzten Morgenkleide. Das Gesicht konnte, wenn nicht schön, doch anmuthig genannt werden; aber es hatte einen müden, apathischen Ausdruck, der es fast leblos erscheinen ließ, zumal jetzt, wo die junge Dame mit halbgeschlossenen Augen zu schlummern schien.

»Herr Wolfgang Elmhorst.« sagte der Präsident, seinen Begleiter vorstellend. »Ich glaube, er ist Dir nicht mehr ganz fremd, Alice – Frau Baronin Lasberg.«

Alice schlug langsam die Augen auf, ein Paar große braune Augen, die aber genau denselben apathischen Ausdruck hatten wie das Antlitz. Es lag nicht das mindeste Interesse in diesem Blick, und sie schien sich weder des Namens noch der Persönlichkeit zu entsinnen. Frau von Lasberg dagegen sah etwas erstaunt auf bei der Vorstellung. Nur Wolfgang Elmhorst und nichts weiter? Rang- und titellose Herren pflegten sonst nicht im Nordheimschen Hause zu verkehren; aber mit diesem jungen Manne mußte doch wohl irgend etwas Besonderes sein, da der Präsident selbst ihn einführte! Trotzdem wurde seine tiefe Verbeugung mit kalter Gemessenheit erwidert.

»Ich kann unmöglich erwarten, daß Fräulein Nordheim sich noch meiner erinnert,« sagte Wolfgang nähertretend. »Die Begegnung war eine nur sehr flüchtige; um so dankbarer bin ich dem Herrn Präsidenten für die heutige Vorstellung. Aber ich fürchte – das gnädige Fräulein ist doch nicht leidend?«

»Nur etwas ermüdet noch von der Reise,« antwortete der Präsident an Stelle seiner Tochter. »Wie geht es Dir heute, Alice?«

»Ich fühle mich sehr angegriffen, Papa,« erwiderte die junge Dame mit einer sanften, aber völlig ausdruckslosen Stimme.

»Die Sonnengluth in dem engen Thalkessel ist auch unerträglich,« mischte sich Frau von Lasberg ein. »Diese schwüle Temperatur wirkt immer ungünstig auf Alices Nerven; ich fürchte, sie wird es hier nicht aushalten.«

»Die Aerzte haben sie aber eigens nach Heilborn gesandt; wir müssen wenigstens erst das Resultat abwarten« sagte Nordheim in einem Tone, der mehr ungeduldig als zärtlich klang. Alice erwiderte keine Silbe und schien überhaupt mit jener kurzen Antwort ihre Sprechlust erschöpft zu haben; sie überließ es dem Vater und Frau von Lasberg, das Gespräch zu führen.

Elmhorst betheiligte sich anfangs nur bescheiden an demselben; aber ganz unmerklich übernahm er die Führung der Unterhaltung, und man mußte es ihm lassen, daß er zu unterhalten verstand. Es waren nicht die gewöhnlichen Redensarten über das Wetter und die nächste Umgebung; er sprach vielmehr von Dingen, die dem Interesse der Damen ziemlich fern zu liegen schienen: von der im Entstehen begriffenen Gebirgsbahn. Er schilderte den mächtig emporragenden Wolkenstein, der das ganze Berggebiet beherrschte, die aufgähnende Schlucht, über welche man die Brücke führen wollte, die stürzenden Bergwasser und dann den eisernen Weg, der durch Felsklüfte und Wälder, über Ströme und Abgründe hinweg geschaffen werden solle. Das waren keine trockenen Beschreibungen, keine technischen Einzelheiten – wie ein farbenprächtiges Bild entrollte er das ganze Riesenwerk in lebendigster Darstellung vor seinen Zuhörerinnen, und es gelang ihm wirklich, sie zu fesseln. Frau von Lasberg wurde um einige Grade weniger kühl und vornehm; sie that sogar einige Fragen, welche ihr Interesse an der Sache verriethen, und Alice verharrte zwar in ihrem Schweigen, hörte aber offenbar zu, und bisweilen streiften ihre Augen mit einem halb verwunderten Ausdruck den Sprechenden.

Der Präsident schien gleichfalls überrascht von dieser Unterhaltungsgabe seines Schützlings, mit dem er bisher nur über amtliche und technische Dinge gesprochen hatte. Er wußte, daß der junge Mann aus sehr einfachen Verhältnissen hervorgegangen war und noch nie in der eigentlichen Gesellschaft verkehrt hatte, und jetzt bewegte sich dieser im Salon und den Damen gegenüber mit einer Ungezwungenheit und Sicherheit, als sei er von frühester Jugend an in solcher Umgebung gewesen. Dabei hatte sein Benehmen durchaus nichts Vordringliches; er wußte genau die Grenzen einzuhalten, die ihm bei diesem ersten Besuche gezogen waren.

Man war noch mitten im Gespräche, als ein Diener erschien und mit etwas verlegener Miene meldete:

»Ein Herr, der sich Baron Thurgau nennt, wünscht –«

»Ja wohl, er wünscht seinen allergnädigsten Herrn Schwager zu sprechen,« unterbrach ihn eine laute, zornige Stimme, während er zugleich von einem kräftigen Arme bei Seite geschoben wurde. »Donnerwetter, was ist das hier für eine Wirtschaft bei Dir, Nordheim! Ich glaube, man gelangt leichter zum Kaiser von China, als zu Dir. Drei Instanzen haben wir durchmachen müssen, und schließlich wollten uns die betreßten Lümmel noch den Eingang verwehren. Du hast ja einen ganzen Troß davon mitgebracht!«

Alice war erschreckt zusammengefahren beim Klange der dröhnenden Stimme und Frau von Lasberg erhob sich langsam und feierlich, in stummer Entrüstung, während ihr Blick zu fragen schien, was dieser Eindringling denn eigentlich wolle. Auch dem Präsidenten schien diese Art der Anmeldung nicht gerade angenehm zu sein; indessen faßte er sich rasch und ging seinem Schwager entgegen, der in Begleitung seiner Tochter jetzt in den Salon trat.

»Du hast Dich wahrscheinlich erst nachträglich genannt,« sagte er; »sonst hätte ein solcher Irrthum nicht vorfallen können. Die Dienerschaft kennt Dich ja noch gar nicht.«

»Nun, es wäre auch gerade kein Unglück gewesen, wenn sie einen einfachen ehrlichen Mann zu Dir gelassen hätte,« grollte Thurgau, noch immer hochroth vor Aerger. »Aber das scheint hier nicht Sitte zu sein; erst als ich mit dem ›Baron‹ herausrückte, ließ man sich zu der Anmeldung herab.«

Der Irrthum der Dienerschaft konnte allerdings verzeihlich erscheinen; denn der Freiherr war auch heute in der Gebirgstracht, an die er sich seit Jahren gewöhnt hatte, und Erna sah gleichfalls nicht aus wie eine junge Baroneß, obgleich sie sich diesmal nicht in Sturm- und Regentoilette zeigte. Sie trug einen sehr einfachen dunklen Anzug, der mehr auf Bergwanderungen als auf Besuche berechnet war, und ein ebenso einfaches Strohhütchen auf den Locken, die heute allerdings durch ein seidenes Netz gebändigt wurden, aber sich offenbar nur sehr ungern diesem Zwange fügten. Sie schien die anfängliche Abweisung noch tiefer zu empfinden als ihr Vater, denn sie stand finster, mit trotzig aufgeworfenen Lippen neben ihm und blickte fast feindselig auf die Anwesenden. Hinter den beiden aber wurde der unvermeidliche Greif sichtbar, der den Versuch des Dieners, ihn von dem Salon auszuschließen, mit einem grimmigen Zähnefletschen beantwortet hatte und nun seinen Platz behauptete in der unerschütterlichen Ueberzeugung, daß er dahin gehöre, wo seine Herrschaft weilte.

Der Präsident suchte die Sache möglichst auszugleichen, aber Thurgau, dessen Zorn ebenso schnell verrauchte, als er aufgeflammt war, ließ ihn nicht zu Worte kommen.

»Da ist ja auch Alice!« rief er. »Grüß Gott, Kind! Sieht man Dich auch einmal wieder? Aber wie siehst Du denn aus? Hast ja keinen Blutstropfen im Gesicht, Mädel! Du bist ja ein richtiges Jammerwesen!«

Mit diesen schmeichelhaften Worten schritt er auf die junge Dame zu, um sie seiner Meinung nach zärtlich in die Arme zu drücken; aber da trat Frau von Lasberg mit einem im schärfsten Tone ausgesprochenen. »Ich bitte!« so entschieden zwischen ihn und Alice, als müsse sie diese vor einem Attentate schützen.

»Nun, nun, ich thue meiner Nichte kein Leid,« sagte Thurgau ärgerlich. »Sie brauchen sie nicht so ängstlich vor mir zu hüten wie das Lamm vor dem Wolfe. Mit wem habe ich denn eigentlich die Ehre?«

»Ich bin die Baronin Lasberg!« erklärte diese, den Titel mit vollem Nachdruck betonend; ihre ganze Haltung sprach eine eisige Abwehr aus, aber das verfing hier nicht. Der Freiherr faßte gemüthlich eine der abwehrend ausgestreckten Hände und schüttelte sie, daß der Dame Hören und Sehen verging.

»Freut mich, meine Gnädige, freut mich außerordentlich! Ich bin ja wohl bereits angemeldet, und das da ist meine Tochter. Nun, Erna, was stehst Du denn so fremd da, willst Du Alice nicht begrüßen?«

Erna kam langsam näher; der finstere Ausdruck lag noch auf ihrem Gesichte; aber er verschwand völlig, als sie auf ihre junge Verwandte blickte, die so matt und bleich in den Kissen ruhte; sie schlang plötzlich in ihrer gewohnten stürmischen Weise beide Arme um den Hals derselben und rief:

»Arme Alice, es thut mir so leid, daß Du krank bist!«

Alice nahm die Umarmung hin, ohne sie zu erwidern; als aber das blühende, rosige Antlitz sich an ihre farblose Wange schmiegte, als zwei frische Lippen sich auf die ihrigen drückten und der warme, innige Ton an ihr Ohr schlug, da flog etwas wie ein Lächeln über die apathischen Züge und sie erwiderte leise:

»Ich bin nicht krank, nur müde.«

»Bitte, Baroneß, nicht so stürmisch,« sagte Frau von Lasberg kalt. » Alice muß sehr geschont werden; sie hat äußerst empfindliche Nerven.«

»Was hat sie? Nerven?« fragte Thurgau. »Das ist auch so eine Angewohnheit der Stadtleute! Bei uns aus dem Wolkensteiner Hofe kennt man solches Zeug gar nicht. Sie sollten einmal mit Alice zu uns heraufkommen, gnädige Frau; ich gebe Ihnen mein Wort darauf, in drei Wochen haben Sie beide keinen einzigen Nerven mehr.«

»Das glaube ich selbst,« entgegnete die Dame mit einem empörten Blick.

»Komm, Thurgau, laß die jungen Mädchen Bekanntschaft machen, sie haben sich ja seit Jahren nicht gesehen,« sagte Nordheim, der an die Derbheiten seines Schwagers zwar längst gewöhnt war, in dieser Umgebung aber doch peinlich dadurch berührt wurde. Er wies nach dem Nebenzimmer, aber jetzt trat Elmhorst hervor, der sich während der Familienscene rücksichtsvoll in eine der Fensternischen zurückgezogen hatte. Er griff nach seinem Hute, um sich zu verabschieden, bei welcher Gelegenheit der Präsident ihn natürlich seinen Verwandten vorstellte.

Thurgau erinnerte sich sofort des Namens, den die Kollegen des jungen Oberingenieurs ihm in einer allerdings nicht empfehlenden Weise genannt hatten. Er musterte den »Streber« vom Kopf bis zu den Füßen, und die gewinnende Erscheinung desselben schien ihn nur in seinem Mißtrauen zu bestärken. Erna hatte sich gleichgültig umgewandt; auf einmal aber stutzte sie und trat einen Schritt zurück.

»Es ist nicht das erste Mal, daß ich die Ehre habe, Baroneß Thurgau zu sehen,« sagte Elmhorst, sich ihr mit voller Artigkeit nähernd. »Das gnädige Fräulein hatte die Güte, meine Führerin zu sein, als ich mich an den Abhängen des Wolkenstein verirrte – ihren Namen freilich erfahre ich erst heute.«

»So, das war also der Fremde, mit dem Du zusammengetroffen bist?« brummte Thurgau, der von dieser Begegnung nicht sehr erbaut zu sein schien.

»Die Baroneß war doch hoffentlich nicht allein?« fragte Frau von Lasberg in einem Tone, der ihr ganzes Entsetzen über eine solche Möglichkeit verrieth.

»Natürlich war ich allein!« rief Erna, welcher der scharfe Tadel in den Worten nicht entging, mit aufflammendem Trotze. »Ich gehe immer allein in die Berge, nur den Greif nehme ich mit mir. Ruhig, Greif! Leg’ Dich!«

Elmhorst hatte den Versuch gemacht, das schöne Thier zu streicheln, wurde jedoch von ihm mit einem zornigen Knurren abgewehrt. Auf den Ruf seiner jungen Herrin aber schwieg es sofort und legte sich gehorsam zu ihren Füßen nieder.

»Der Hund ist doch nicht böse?« fragte Nordheim mit einem sehr deutlich kundgegebenen Mißvergnügen, »sonst müßte ich wirklich bitten –«

»Greif ist gut!« fiel Erna beinahe heftig ein »Er thut keinem Menschen etwas zuleide und läßt sich gern von Fremden streicheln, aber den Herrn hier mag er nun einmal nicht, und –«

»Baroneß – ich bitte Sie!« murmelte Frau von Lasberg, die nur mit Mühe noch ihre gemessene Haltung bewahrte; Elmhorst dagegen nahm die Worte mit einer tiefen Verbeugung und einem überlegenen spöttischen Lächeln hin.

»Ich bedaure unendlich, bei Herrn Greif und, wie ich fürchte, auch bei seiner Herrin in Ungnade gefallen zu sein,« versicherte er, »aber ich bin wirklich schuldlos daran. Darf ich mich jetzt den Damen empfehlen?«

Er trat zu Alice, neben der sich Frau von Lasberg wie ein Posten aufgestellt hatte, als müsse sie ihre Schutzbefohlene vor jeder ferneren Berührung mit dieser wilden Gesellschaft behüten, die so urplötzlich in den Salon eingebrochen war und die man leider nicht hinausweisen konnte, weil es sich, ganz abgesehen von der Verwandtschaft, um einen geborenen Baron handelte.

Dagegen benahm sich der junge Mann mit dem einfach bürgerlichen Namen wirklich wie ein Kavalier. Weich und sympathisch klang seine Stimme, als er die Hoffnung aussprach, Fräulein Nordheim werde sich in der stärkenden Luft von Heilborn völlig erholen; ritterlich küßte er die Hand der älteren Dame, die ihm gnädig gereicht wurde; dann wandte er sich an den Präsidenten, um sich auch von ihm zu verabschieden, als ein ganz unerwarteter Zwischenfall eintrat.

Draußen auf dem Balkon der, wie die Wohnung überhaupt, im Erdgeschoß lag und rings mit blühenden Gewächsen umstellt war, erschien ein Kätzchen, das wahrscheinlich vom Garten aus den Weg hierher gefunden hatte. Es näherte sich mit harmloser Neugier der offenen Glasthür und kam dabei unglücklicherweise in den Gesichtskreis Greifs. Dieser, der mit dem gesammten Katzengeschlechte in Erbfeindschaft lebte, fuhr mit wüthendem Gebell auf, riß Frau von Lasberg beinahe um und schoß dann, an der tödlich erschreckenden Alice vorüber, aus den Balkon hinaus, wo nun eine wilde Jagd begann. Das geängstigte kleine Thier fuhr blitzschnell hin und her, ohne einen Ausweg zu finden, der Verfolger ihm nach; die Scheiben der Glasthür klirrten, die Blumentöpfe fielen um und zerbrachen und dazwischen tönte der gellende Pfiff des Freiherrn und der Ruf Ernas. Aber der noch sehr junge und ungebärdige Hund war einmal in Jagdeifer gerathen und gehorchte keinem Rufe mehr – es war ein Höllenlärm.

Endlich gelang es dem Kätzchen, die Brüstung des Balkons zu erreichen und von dort in den Garten hinabzuspringen. Aber Greif ließ seine Beute nicht fahren, er schoß ihr mit mächtigem Satze nach, wobei die letzten der noch unversehrten Blumentöpfe krachend in Trümmer gingen, und gleich darauf hörte man unten im Garten sein wüthendes Gekläff, zugleich mit dem lauten Angstgeschrei einer Kinderstimme.

Das alles geschah in kaum zwei Minuten, und als Thurgau auf den Balkon eilte, um Frieden zu stiften, war es bereits zu spät. Inzwischen herrschte drinnen im Salon eine unbeschreibliche Verwirrung. Alice lag in einem Nervenanfall mit geschlossenen Augen da, Frau von Lasberg hielt sie in den Armen; Elmhorst hatte sich, rasch entschlossen, eines Flakons bemächtigt, das er auf dem Nebentischchen erblickte, und netzte der Ohnmächtigen mit dem kölnischen Wasser Stirn und Schläfe, während der Präsident mit tiefverfinstertem Gesicht nach der Klingel griff, um die Dienerschaft herbeizurufen. Inmitten all dieser Hilfeleistungen aber hatten die drei einen Anblick, der sie sämmtlich innehalten ließ. Die junge Baroneß, das Freifräulein von Thurgau, stand urplötzlich oben auf der Brüstung des Balkons, aber nur für einen Moment, dann sprang sie als dritte in den Garten hinab.

Das war zu viel! Frau von Lasberg ließ Alice aus den Armen und sank selbst auf den nächsten Stuhl; Elmhorst sah sich genöthigt, auch ihr mit dem kölnischen Wasser zu Hilfe zu kommen, das er nun abwechselnd nach rechts und links spendete.

Unten im Garten schien Ernas Dazwischenkunft allerdings nothwendig. Das Kind, dessen Angstrufe sie zu dem Sprunge veranlaßt hatten, ein kleiner Bube, hielt mit beiden Armen sein Kätzchen umfaßt, das sich in seiner Noth zu ihm geflüchtet hatte, und vor ihm stand der riesige Greif, drohend und bellend, aber ohne den Kleinen anzugreifen. Dieser war augenscheinlich in Todesangst und fuhr in seinem lauten Jammergeschrei fort, bis Erna herbeeilte und den Hund am Halsband packte.

Baron Thurgau stand inzwischen ganz ruhig auf dem Balkon und sah dem Verlauf der Dinge zu. Er wußte, daß dem Kinde kein Leid geschah, denn Greif war in der That nicht bösartig. Als Erna aber mit dem sehr kleinlaut gewordenen Missethäter in das Haus zurückkehrte, während Bübchen und Kätzchen unversehrt davonsprangen, wandte sich der Freiherr triumphirend um und rief mit seiner Donnerstimme in den Salon hinein:

»Habe ich Dir nicht gesagt, Nordheim, meine Erna ist ein Prachtmädel!«

*

Präsident Nordheim gehörte zu jenen Männern, die all ihre Erfolge nur sich selbst verdanken. Der Sohn eines untergeordneten Beamten und von Hause aus ganz mittellos, hatte er sich zum Ingenieur ausgebildet und in den engsten und einfachsten Verhältnissen gelebt, bis er auf einmal mit einer technischen Erfindung hervortrat, welche die Aufmerksamkeit des ganzen Berufskreises auf ihn lenkte. Man nahm gerade damals den Bau der ersten Gebirgsbahnen in Angriff, und der junge, noch gänzlich unbekannte Ingenieur reichte den Entwurf zu einer neuen Lokomotive ein, welche die Bahnzüge auf die Höhen befördern sollte. Es war ein Plan, der, ebenso sinnreich wie praktisch, den Sieg über all die andern Vorschläge davontrug und von der Gesellschaft angenommen wurde. Sie erwarb schließlich das Patent von dem Erfinder und zahlte dafür ein Kapital, das in seinen damaligen Verhältnissen als ein Vermögen gelten konnte, jedenfalls legte es den Grund zu seinem künftigen Reichthum; denn er trat damit selbst in die Reihen der Unternehmer ein.

Wider Erwarten verfolgte Nordheim die Laufbahn, in der er doch einen so glänzenden Erfolg errungen hatte, nicht weiter; er schien merkwürdigerweise das Interesse daran verloren zu haben und wandte sich einem anderen, allerdings verwandten Gebiete zu. Er übernahm die Bildung und die finanzielle Leitung einer großen Baugesellschaft, die er in wenigen Jahren zu einer ungeahnten Blüthe brachte, während sein eigenes Vermögen sich dabei verzehnfachte.

Dem einen Unternehmen folgten bald andere; mit den großartigen Mitteln, die er jetzt verwenden konnte, wuchs auch die Großartigkeit seiner Pläne, und es zeigte sich in der That, daß er hier erst das eigentliche Feld für seine Begabung gefunden hatte. Er war kein Mann des Sinnens und Grübelns, der jahrelang über irgend einem technischen Entwurfe brüten konnte; er mußte mitten hineingreifen in das Leben, mußte wagen und schaffen, im engsten Anschluß daran sich alle möglichen Interessen dienstbar machen und sein mächtiges Organisationstalent nach allen Richtungen hin entfalten.

Der rastlos tätige Mann wußte immer die rechten Menschen auszuwählen und sie an den rechten Ort zu stellen; er überwand jedes Hinderniß, erschloß sich überall neue Hilfsquellen, und seiner Energie kam bald auch das Glück zu Hilfe. Die Unternehmungen, an deren Spitze Nordheim stand, waren immer erfolgreich, und während er selbst dabei zum Millionär wurde, wuchs sein Einfluß in all den Kreisen, zu denen er in Beziehung stand, ins Ungemessene.

Dem Präsidenten war vor einigen Jahren seine Gattin gestorben, ein Verlust, den er nicht tief empfand, denn es war keine besonders glückliche Ehe gewesen. Er hatte sich noch als einfacher Ingenieur verheiratet und die stille, anspruchslose Frau verstand es nicht, sich in den wachsenden Glanz des Hauses zu finden und die große Dame zu spielen, wie ihr Gemahl es verlangte. Dazu kam, daß der Sohn, den sie ihm schenkte und in dem er sich auch einen geistigen Erben zu erziehen dachte, schon im Kindesalter starb. Erst einige Jahre später wurde ihm Alice geboren, das schwächliche kränkliche Kind, für dessen Leben man fortwährend bangen mußte und dessen apathisches Wesen der energischen Natur des Vaters durchaus widerstrebte. Sie war seine einzige Tochter, seine dereinstige Erbin und wurde als solche mit allem umgeben, was der Reichthum zu bieten vermag; aber eine andere Bedeutung hatte sie kaum für ihn, und er war froh, als er ihre Pflege und Erziehung in die Hände der Baronin Lasberg legen konnte.

Die einzige Schwester Nordheims, die in seinem Hause lebte, hatte dem damaligen Hauptmann von Thurgau die Hand gereicht. Ihrem Bruder, der zu jener Zeit seine ersten Erfolge errungen hatte und schon für einen reichen Mann galt, wäre ein anderer Bewerber wohl willkommener gewesen als der letzte Sproß eines verarmten adligen Hauses, der nichts besaß als seinen Degen und ein kleines Gütchen hoch oben in den Bergen; aber da die beiden sich von ganzem Herzen liebten und gegen die Persönlichkeit des Freiers nichts einzuwenden war, so ließ sich die Zustimmung nicht verweigern.

Das Ehepaar lebte zwar in bescheidenen Verhältnissen, aber auch in einem Familienglück, das dem reichen Nordheimschen Hause fehlte, und das einzige Kind, die kleine Erna, wuchs im vollen Sonnenschein dieser Liebe und dieses Glückes empor. Leider verlor Thurgau seine Frau schon nach sechsjähriger Ehe, und ihn, den Gemüthsmenschen, warf der unerwartete Schlag so vollständig nieder, daß er nun auch nichts mehr von der Welt wissen wollte, sondern seinen Abschied zu nehmen beschloß. Nordheim, der in seinem rastlosen Ehrgeiz und Thatendrang einen solchen Entschluß überhaupt nicht begriff, bekämpfte ihn aufs heftigste, aber vergebens; sein Schwager hielt mit der ganzen Hartnäckigkeit seines Charakters daran fest. Er quittirte wirklich den Dienst, in dem er bis zum Major vorgerückt war, nahm sein Kind und zog sich mit ihm nach dem Wolkensteiner Hofe zurück, dessen geringe Einkünfte, im Verein mit der Pension, für seine einfachen Bedürfnisse genügten.

Seitdem war eine gewisse Entfremdung zwischen den beiden Schwägern eingetreten; der vermittelnde Einfluß der Gattin und Schwester fehlte und dazu kam noch die räumliche Entfernung. Sie sahen sich immer seltener und schrieben sich auch nur selten, bis der Bau der Gebirgsbahn und die Nothwendigkeit, Thurgaus Besitzung dafür zu erwerben, wieder eine persönliche Annäherung veranlaßte…

Seit jenem Besuche in Heilborn mochte etwa eine Woche vergangen sein, als Doktor Reinsfeld wieder den Weg nach dem Wolkensteiner Hofe einschlug; er war aber diesmal nicht allein, denn an seiner Seite ging Oberingenieur Elmhorst.

»Das hätte ich mir nicht träumen lassen, Wolfgang, daß das Schicksal uns hier zusammenführen würde,« sagte der junge Arzt heiter. »Als wir uns vor zwei Jahren trennten, hast Du mich verspottet, weil ich in die ›Wildniß‹ ging, wie Du Dich auszudrücken beliebtest, und jetzt kommst Du selbst hierher.«

»Um dieser Wildniß die Kultur zu bringen,« ergänzte Wolfgang. »Du scheinst Dich freilich darin ganz behaglich zu fühlen; Du hast Dich ja förmlich angesiedelt in dem elenden Alpendorfe, wo ich Dich aufspürte, Benno. Ich arbeite hier nur für meine Zukunft.«

»Nun ich dächte, Du könntest schon mit der Gegenwart zufrieden sein,« meinte Benno. »Mit siebenundzwanzig Jahren Oberingenieur – das macht Dir so leicht keiner nach! Im Vertrauen gesagt, Deine Herren Kollegen sind wüthend über diese Ernennung. Nimm Dich in Acht, Wolf, Du geräthst in ein Wespennest!«

»Glaubst Du, daß ich Wespenstiche fürchte? Gespürt habe ich sie allerdings schon. Ich habe den Herren bereits klar gemacht, daß ich nicht gesonnen bin, mir unnöthige Schwierigkeiten bereiten zu lassen, und daß sie in mir den Vorgesetzten zu respektiren haben. Wenn sie den Krieg wollen – ich scheue ihn nicht!«

»Ja, Du warst immer eine kampflustige Natur, ich hielte es nicht aus, mit meiner Umgebung fortwährend auf dem Kriegsfuße zu leben.«

»Das glaube ich; Du bist der alte friedfertige Benno geblieben, der keinem ein böses Wort sagen konnte und deshalb auch ganz folgerichtig von seinen lieben Nebenmenschen malträtirt wurde bei jeder Gelegenheit. Wie oft habe ich es Dir schon gesagt: damit kommst Du nicht vorwärts im Leben, und vorwärts muß man doch nun einmal!«

»Bei Dir geht es freilich mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts,« sagte Reinsfeld trocken. »Du bist ja der erklärte Günstling des allmächtigen Präsidenten Nordheim, wie es heißt. Ich habe ihn kürzlich wiedergesehen, als er auf dem Wolkensteiner Hofe war.«

»Wiedergesehen? Kennst Du ihn denn überhaupt?«

»Gewiß, aus meinen Knabenjahren. Er und mein Vater waren Jugendfreunde und Studiengenossen; Nordheim kam damals fast täglich in unser Haus – wie oft habe ich aus seinen Knieen gesessen, wenn er den Abend bei uns zubrachte!«

»In der That? Nun, Du hast ihn doch hoffentlich daran erinnert bei dem Zusammentreffen?«

»Nein, Baron Thurgau nannte überhaupt meinen Namen nicht –«

»Und da hast Du es natürlich auch nicht gethan!« rief Wolfgang lachend. »Das sieht Dir ähnlich! Der Zufall bringt Dich in Beziehung zu dem einflußreichen Manne, dem es nur ein Wort kostet, Dir irgend eine vortheilhafte Stellung zu eröffnen, und Du nennst Dich nicht einmal! Da werde ich das Versäumte wohl nachholen müssen, sobald ich den Präsidenten sehe, werde ich ihm sagen –«

»Ich bitte Dich, Wolf, laß das,« fiel Benno hastig ein. »Es ist besser, Du redest nicht davon.«

»Aber warum denn nicht?«

»Weil – der Mann ist so hoch gestiegen im Leben; er liebt es vielleicht nicht, an die Zeit erinnert zu werden, wo er noch einfacher Ingenieur war.«

»Da thust Du ihm unrecht. Er ist stolz auf seine einfache Herkunft, wie alle tüchtigen Männer, und er wird die Erinnerung an einen Jugendfreund nicht zurückweisen.«

Reinsfeld schüttelte leise den Kopf.

»Ich fürchte, die Erinnerung würde eine peinliche sein. Es ist später irgend etwas vorgefallen – was? das habe ich nie erfahren; ich war ja noch ein Knabe, aber ich weiß, daß der Bruch ein vollständiger war. Nordheim betrat unser Haus nicht wieder und mein Vater vermied es sogar, seinen Namen zu nennen; sie hatten sich völlig entzweit.«

»Dann kannst Du allerdings nicht auf sein Wohlwollen rechnen,« sagte Elmhorst enttäuscht. »Wie ich den Präsidenten kenne, vergiebt er nie eine vermeinte Beleidigung.«

»Ja, er soll unglaublich hochmüthig und herrschsüchtig geworden sein. Mich wundert es nur, daß Du mit ihm auskommst. Du liebst es doch grade nicht, Dich zu bücken.«

»Und eben deshalb begünstigt er mich! Das Bücken und Kriechen überlasse ich den Bedientenseelen, die sich vielleicht irgend eine untergeordnete Stellung damit erschleichen. Wer wirklich empor will, der muß den Kopf hoch tragen und den Blick aufwärts gerichtet nach seinem Ziele; sonst bleibt er ewig am Boden kleben«

»Nun, Du wirst Dir wohl auch einige Millionen zum Ziele genommen haben,« spottete Benno. »Du warst nie bescheiden in Deinen Zukunftsplänen. Was willst Du denn eigentlich werden? Etwa auch Präsident des Verwaltungsrathes?«

»Vielleicht in Zukunft – vorläufig nur sein Schwiegersohn!«

»Dachte ich es mir doch, daß so etwas zum Vorschein kommen würde!« rief Benno, laut auflachend. »Eigentlich hast Du ganz recht, Wolf: warum willst Du Dir nicht lieber gleich die Sonne da oben herunterholen? – Das ist ebenso leicht.«

»Glaubst Du, daß ich scherze?« fragte Wolfgang kühl.

»Ja, ich bin so frei, das zu glauben, denn im Ernste denkst Du doch wohl nicht an die Tochter des Mannes, dessen Reichthum und Erfolge beinahe sprichwörtlich geworden sind. Nordheims Erbin wird wohl unter so und so viel Freiherren und Grafen zu wählen haben, wenn sie nicht gleichfalls einen Millionär vorzieht.«

»Dann kommt es eben darauf an, diesen Freiherren und Grafen den Rang abzulaufen« sagte der junge Oberingenieur mit vollkommener Ruhe, »und das denke ich zu thun.«

Doktor Reinsfeld blieb plötzlich stehen und sah seinen Freund mit einer gewissen Besorgniß an, er machte sogar eine Bewegung, als wolle er nach dessen Puls greifen.

»Dann bist Du entweder übergeschnappt oder verliebt,« entgegnete er kurz und bündig. »Ein Verliebter freilich hält alles für möglich, und Dir scheint der Besuch in Heilborn verhängnißvoll geworden zu sein. Armer Junge, das ist allerdings eine traurige Geschichte!«

»Verliebt?« wiederholte Wolfgang, während ein unendlich spöttisches Lächeln um seine Lippen zuckte. »Nein, Benno, Du weißt, ich habe nie Zeit und Lust gehabt, mich mit Liebesgedanken abzugeben und jetzt weniger als je. – So sieh mich doch nicht so entsetzt an, als ob das ein Hochverrath wäre! Ich gebe Dir mein Wort darauf, Alice Nordheim würde es nicht bereuen, wenn sie mir die Hand reichte; sie würde an mir den aufmerksamsten und rücksichtsvollsten Gatten haben.«

»Nun, dann nimm es mir nicht übel, wenn ich diese ganze Berechnung erbärmlich finde,« brach der junge Arzt heftig aus. »Du bist jung und talentvoll; Du hast eine Stellung errungen, um die Dich Hunderte beneiden, die Dich aller Sorgen enthebt; die ganze Zukunft steht Dir offen und Du hast nichts im Kopfe, als die Jagd nach einer reichen Frau – Du solltest Dich schämen, Wolf!«

»Lieber Benno, das verstehst Du nicht,« erklärte Wolfgang, der den Vorwurf sehr gelassen hinnahm. »Ihr Idealisten begreift es ja überhaupt nicht, daß man mit dem Leben und den Menschen rechnen muß. Du wirst natürlich aus Liebe heirathen, wirst in irgend einem kleinen Landstädtchen mühselig das Brot für Frau und Kinder erwerben, vielleicht mit Sorge und Noth ringen und endlich klanglos in die Grube fahren, mit dem erhebenden Bewußtsein, daß Du Deinem ›Ideal‹ treu geblieben bist. Ich bin nun einmal anders geartet; ich will alles vom Leben oder nichts.«

»Nun, dann in des Kuckucks Namen erobere es Dir durch eigene Kraft!« rief Benno, der immer hitziger wurde. »Dein großes Vorbild, Präsident Nordheim, hat es auch gethan.«