Adlertochter - Hannah Marie Schmitz - E-Book

Adlertochter E-Book

Hannah Marie Schmitz

5,0

Beschreibung

Eine junge Frau, sagenumwobene Gestaltwandler, ein mysteriöser Krieger und eine schicksals­­verändernde Schlacht. Das Leben des Waisenmädchens Evanna ändert sich schlagartig, als sie eines Morgens in einem fremden Zeltlager erwacht. Angeblich soll sie die Nachfahrin der Obersten Adler und als kleines Kind bei den Menschen versteckt worden sein. Nun aber kann auch die Stadt sie nicht mehr vor den Augen des Feindes verbergen. Die Adlerstämme sehen sich einem alten Feind gegenüber, der ihre geheime Existenz bedroht. Ausgerechnet auf Evanna ruht nun die ganze Hoffnung der Adlerstämme. Doch wie soll eine junge Frau, die sich weder verwandeln noch fliegen kann, die Zukunft der Stämme retten und einen blutigen Krieg verhindern? Wird es Evanna gelingen als Oberste Adlerin die Stämme zu vereinen und den Feind zu besiegen? Der spannende Auftakt zum Fantasy Epos "Adlertochter"

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Für Mama Es ist nie zu spät, um fliegen zu lernen.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Prolog

Über den Großen Geist und wie er das Land schuf

Es war der Anfang, noch lange bevor je ein frischer Trieb aus der Erde gesprossen war oder gar ein Mensch seinen ersten Gedanken gefasst hatte. Das urbare Land, das heute von üppigem Leben besiedelt wird, gab es noch nicht. Ja, es war nicht mehr als ein Klumpen Lehm, umgeben von vier Elementen: der Luft, dem Feuer, der Erde und dem Wasser. Der Große Geist aber hatte keine Heimat und sehnte sich zutiefst nach einem Ort, an dem er leben könnte und an dem seine Energie einen Sinn bekäme, denn er war das unendliche Umhergleiten im allumfassenden Nichts leid. Da fiel sein Blick auf den Klumpen aus Lehm und er fasste den Entschluss, alle Kraft, die er besaß, in diesen Klumpen zu stecken, auf dass er möge fruchtbar und prächtig werden. So formte er das Material zu einem flachen Stück Boden und der Grund allen Lebens war geschaffen. Die Erde bat er, sich im Boden niederzulassen und Berge und Täler, Schluchten und Höhlen zu schaffen, wie es ihr beliebte, und sie half ihm gern. Das Wasser wollte ebenfalls einen Teil beitragen und so begab es sich auf den Grund hinab, begrenzte das Land mit einem Meer und schenkte ihm das Leben durch einen mächtigen Fluss, der das gesamte Land durchquerte. Der Große Geist aber wollte auch auf seine letzten beiden Diener nicht verzichten und so folgten ihm Feuer und Luft in das neue Land, um dort mit ihm heimisch zu werden. Die Luft hauchte dem Land Atem ein, ließ Wellen aufpeitschen und den Wind wehen, mal sachte und mal wild. Nun fehlte nur noch das Feuer, das Wärme spenden sollte und Licht, denn beides würde es brauchen, um das gedeihende Leben zu bewahren. Es formte seine Gestalt rund und erhob sich in den Himmel, auf dass der Tag aufging und die Luft warm wurde. Der Große Geist und seine vier Gehilfen waren glücklich mit dem neuen Land, das sie von nun an bewohnen würden. Durch die uralte und unbändige Lebensenergie, die dem Großen Geist innewohnte, gedieh mehr und mehr neues Leben und bevölkerte das üppige Land. Der Große Geist selbst wohnte seit jeher in einem jeden von ihnen. Sei es nun eine Knospe im Frühling, ein eifriger Wurm in der Erde oder ein König in seinem Schloss, der Große Geist lebte in allem und jedem, das war und das sein wird. Wer den Großen Geist in seinem Körper zu erblicken hoffte, wurde stets enttäuscht, doch jene, die sein Werk verstanden, erblickten ihn, sobald sie sich umsahen. Das geschaffene Land befand sich schon von seiner ersten Stunde an in einem heiligen Gleichgewicht, das stets berücksichtigt und geachtet werden musste. Jedes Opfer, sei es ein erjagtes Reh oder ein gefällter Baum, sollte als solches erkannt und geehrt werden, denn es war eine Gabe, die der Große Geist geschaffen hatte. Doch nicht alles Leben war dazu imstande, das Maß zu halten. So kam es zu einer Tragödie, die das üppige Land ausmergelte und an den Rand der Leblosigkeit brachte. Viele Male hatte der Große Geist die Menschen gewarnt und sie zur Rücksicht angehalten, aber seine Worte verhallten unbeachtet. Doch die Maßlosigkeit der Menschen hatte einen von ihnen verschont, dessen Verstand erfasst hatte, was vor sich ging. Nachdem es kein anderes Leben als die Sippe der Menschen mehr gab und nichts als ein einziges Adlerweibchen mit seiner Brut geblieben war, stellte er sich vor das schutzlose Wesen und verteidigte es gegen die Gier und den Neid seiner Mitmenschen. Von niederen Gefühlen getrieben erschlugen sie ihren Bruder und begriffen zu spät ihre Tat. Jener eine Mensch, der das Werk des Großen Geistes unter Opferung seines eigenen Lebens schützte, sollte belohnt werden. So kam es, dass die vier Elemente sich zeigten und dem Ermordetem einen Teil ihrer Energie schenkten. Das Adlerweibchen aber rupfte sich eine ihrer schönsten Federn aus und übergab sie dem Mann, der vom Tode erwachte und ein neues Leben erhielt. Alle Gaben gemeinsam verliehen dem Menschen die Kraft, wann immer er wollte, die Gestalt des Adlers annehmen und ablegen zu können. Auf ihn gehen alle Stämme der Adlermenschen zurück, die bis heute nach seinen Werten leben und das Land mit allem, was es bewohnt, nach Kräften zu schützen versuchen, um sich ihrer Gabe würdig zu erweisen. Eine goldene Feder auf der Brust markiert bis heute die Blutlinie des Stammvaters und erinnert an das Geschenk, das ihnen zuteil wurde. Seither ist das Land nicht mehr nur von Menschen und Tieren besiedelt, sondern auch von jenen Wesen, die beides in sich verkörpern und das Gleichgewicht wahren. Viele Könige und ihre Untertanen jagten und jagen bis heute die außergewöhnlichen Wesen, denn sie erkennen ihre Bedeutung nicht. Doch in ihrer Blindheit für alles fremde Leben und ihrem Drang, das Land des Großen Geistes allein zu beherrschen, übersehen sie jene, die sowohl Mensch als auch Adler sind.

Es hatte letzte Nacht geregnet. Aber nicht diese Art von schönem Sommerregen, dessen Duft einem am nächsten Morgen so lieblich in der Nase kitzelte und dessen Melodie einen des Abends sanft in den Schlaf wiegte. Nein, geschüttet hatte es. Geschüttet, als wollte der Himmel allen Schmutz und Gestank der Stadt in nur einer Nacht fortwaschen. Es war ihm nicht gelungen. Der Matsch stand so hoch auf den Straßen, dass ich samt meinen Schuhen knöcheltief darin versank. Die Stadt schien mir an diesem Morgen sogar noch dreckiger als sonst. Der Regen hatte allen Morast der Wege in sich aufgelöst und das schmutzige Wasser stand nun in jedem Winkel unseres Viertels. Die Räder der ersten Kutschen an diesem Morgen hatten bereits tiefe Rillen in den Gassen hinterlassen und das schmatzende Geräusch, das die Schuhe der emsig wimmelnden Menschen beim Durchwaten des Matsches verursachten, mischte sich mit ihrem Gerede. Fauliger Gestank des in der zunehmenden Hitze verdampfenden Wassers ließ mein mageres Frühstück wieder in mir aufsteigen. Ich schluckte einmal energisch und machte mich im gewohnten Trott auf zu dem kleinen Marktplatz neben einer der Kathedralen. Drängelnd und stolpernd hastete ich durch die engen Gassen und zwischen den windschiefen und teilweise zerfallenden Häusern der Stadt. Die Sonne war seit beinahe einer Stunde vollständig aufgegangen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die besser betuchten und edel gekleideten Damen und Herren aus der morgendlichen Messe strömten, und bis dahin wollte ich meinen Stand aufgebaut haben. Es war die einzige Gelegenheit, zu der sie sich auf diesem Platz blicken ließen, und die beste Möglichkeit, ihnen meine Waren zu präsentieren. Dessen waren sich leider alle Händler bewusst, und ich bezweifelte, noch einen guten Platz ergattern zu können.

Meine Befürchtung bewahrheitete sich, als ich schließlich außer Atem und in dem mit Schlamm bespritzten Kleid den Marktplatz erreichte. Die vorderen Stände waren schon gänzlich von Händlern belegt, von denen ich die meisten kannte. Einige wenige schienen von außerhalb der Stadtmauern angereist zu sein. Wahrlich eine mühselige Angelegenheit, dachte ich angesichts des Wetters, das in diesem Sommer noch launischer war als sonst.

Ich schlängelte mich durch die Stände auf der Suche nach einem freien Platz. Irgendetwas schien mir anders als sonst, es lag etwas Bedrückendes in der Luft, das sich auch in mir ausbreitete und ein unbestimmtes, ungutes Gefühl auslöste. Doch ich konnte nicht sagen, was es war. Das dröhnende Geräusch der Kirchenglocken riss mich aus meinen Gedanken. Frustriert stampfte ich mit dem Fuß auf den Boden und der Dreck spritzte mir nass ans Bein, was meine Laune nur noch weiter in den Abgrund stürzte.

Als sich die großen, hölzernen Türen der Kirche knarzend und quietschend öffneten, ergoss sich ein Schwall aus Tüll, Seide und Spitze auf den Platz. Die in edle Fracks und Beinkleider der neuesten Mode gekleideten Herren führten ihre Frauen am Arm, die in nicht weniger sehenswerten und aufgeplusterten Kleidern steckten. Ich musste schmunzeln bei dem Gedanken, dass auch sie ihre kostbaren Rockzipfel in wenigen Sekunden durch denselben Morast ziehen würden, wie ich es tat. Aller Pomp und Puder konnten doch nicht verdecken, dass wir alle durch denselben Dreck wateten wie die Schweine.

Zwischen den Hochsteckfrisuren und Zylindern erspähte ich auch meine Schwester. Sie begleitete unseren Vater jeden Morgen zur Messe. Zweifelsohne war sie von allen Damen die schönste, die ich je gesehen hatte, ganz gleich, ob in Sonntagskleidung oder im Morgenmantel. Sie strahlte eine Reinheit und Güte aus, wie ich sie zuvor noch nie erlebt hatte, und ihr Lächeln konnte seit jeher jede dunkle Wolke vertreiben. Sie liebte es, sich bei öffentlichen Anlässen der besseren Gesellschaft zu präsentieren, sich von den jungen Lords der Stadt bewundern zu lassen und unsere »Familie« zu repräsentieren. Ja, sie war Vaters Vorzeigeschwan. Ich hingegen hatte mir aus all dem nie etwas gemacht und schon früh die uns zugedachte Aufgabe, als Damen verheiratet in eine gute Familie den Ruf unseres Vaters wiederherzustellen, nicht als die meine betrachtet. Ganz im Gegensatz zu meiner Schwester, war ich schon immer eher unauffällig und mager gewesen, wie der Graf gern betonte. So hatte er mich schnell als Heiratskandidatin für die gehobenem Gesellschaft aufgegeben und seine ganze Energie und alle, wenn auch nur noch spärlichen Mittel, in Aileens Erziehung investiert. Mir gedachte er an, die Hausmädchen zu unterstützen, und als ich alt genug gewesen war, begann ich damit, meine Talente als Schneiderin auf dem Markt feilzubieten und so etwas zum Haushalt beizutragen. Ich nahm ihm diese Entscheidung nicht übel, viel mehr kam es mir entgegen, auf den Bällen den feinen Herren nicht mehr präsentiert zu werden wie die Waren auf diesem Markt. Der Graf, unser Adoptivvater, lebte in der Erinnerung an jene Zeit, in der auch er wichtiger Bestandteil jener gehobenen Gesellschaft gewesen war, in die er nach einer Vielzahl misslungener Geschäfte so dringend erneut aufzusteigen versuchte.

»Ev!« Sams Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Wie ich stand der Sohn des Metzgers jeden Vormittag auf dem Markt und verkaufte allerlei abstoßende Erzeugnisse des väterlichen Unternehmens. »Ich habe dir einen Platz freigehalten, gleich hier neben unserem.« Seine kleinen Augen wurden fast gänzlich zugedrückt von dem Lachen, das seine prallen Wangen überzog.

Ich erwiderte sein überschwängliches Winken peinlich berührt und machte mich auf den Weg zu dem kleinen Tisch, den er bereitgehalten hatte. Und während ich meine diversen Sachen aus dem Beutel nahm und auf dem Tisch auszulegen begann, starrte mich Sam die ganze Zeit an. Er hatte dieses Glänzen in den Augen, ähnlich dem eines unterwürfigen Hundes.

»Wollen wir heute nach dem Markt noch spazieren gehen?«, platzte er schließlich heraus.

»Heute ist eher schlecht«, log ich. »Ich habe noch eine Menge Arbeit, die auf mich wartet.«

Ich wagte kaum ihn anzusehen, denn seine Enttäuschung konnte ich förmlich spüren. Irgendwann wirst du ihm vermutlich doch noch das Herz brechen müssen, dachte ich. Wir kannten uns schon ewig und dass er ein gewisses Interesse an mir hegte, war ein offenes Geheimnis. Ich mochte ihn sehr, aber nicht auf dieselbe Weise wie er mich. Auch wenn ich genau wusste, worauf seine zuvorkommende Art hinarbeitete, brachte ich nicht den Mut auf, ihn abzuweisen. Im Grunde war er weder besonders ansehnlich noch von irgendeinem Interesse für mich, doch ich musste mir eingestehen, dass es sich gut anfühlte, von jemandem als attraktiv wahrgenommen zu werden. Auch wenn ich wusste, dass es nicht richtig war, seine Hoffnungen aufrechtzuerhalten.

An diesem Tag kamen nicht mehr viele Kunden. Einige wenige kleinere Aufträge, überwiegend Reparaturarbeiten an Spitzentüchern oder das Umnähen von Röcken, aber nichts Besonderes. Das Wetter setzte mir zu. Verdampfendes Regenwasser sammelte sich förmlich in den Gassen und die Fenster der Häuser beschlugen bereits von außen. So, dachte ich, müssen sich diese neuen Dampfhäuser anfühlen, die nun bei den besseren Leuten immer beliebter wurden. Ich verstand nicht, was man daran fand, in einer Hütte voll mit spärlich bekleideten Menschen zu sitzen, kaum noch atmen zu können und das alles mit dem Ziel, möglichst viel zu schwitzen. Ich hasste Schweiß. Vermutlich hatte ich in meinem Leben einfach schon zu viel geschwitzt.

Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu und ich beschloss, dieses Elend für den heutigen Tag zu beenden. Auf dem Weg nach Hause drehte ich noch eine Runde über den Marktplatz. Ich liebte es, zwischen den Verkaufstischen entlang zu schlendern und die Waren der Händler zu betrachten. Besonders die Stände der fahrenden Kaufleute interessierten mich. Sie waren wie ein Bruchstück einer fremden Kultur, ein Fenster in eine fremde Welt. Mir selbst etwas zu kaufen, darum ging es mir nicht. Unbekannte Dinge, deren Nutzen ich oft nicht erkannte, zu betrachten und mir Geschichten dazu auszudenken, bereitete mir große Freude. Innerhalb dieser Stadtmauern bekam man von der Welt außerhalb meistens nicht viel mit. Nachrichten von draußen waren oft politisch und für das allgemeine Volk nicht von großem Interesse. Mich hatte es jedoch, schon seit ich ein kleines Kind war, nach draußen in das Unbekannte gezogen. Ich wollte wissen, was sich hinter den hohen Mauern verbarg. Als ich älter geworden war, verließ ich gelegentlich mit meinem Vater die Stadt zu Ausritten und begleitete mit meiner Schwester die Jagd. Wir hatten viel Freude bei diesen Picknicks am Rande des Waldes, doch im Gegensatz zu den anderen Damen von Adel zog es mich in den Wald. Ich streifte zwischen den Bäumen umher, bewunderte, wie das Licht sich in den Blättern fing, und ließ die frische Luft meinen ganzen Körper durchströmen. Aileen sagte einmal, sie habe ein Kaninchen oder einen Dachs zur Schwester und keine feine Dame. Wir hatten beide herzlich lachen müssen bei dieser Vorstellung. Ich schlich mich gelegentlich immer noch aus der Stadt, um ausgedehnte Spaziergänge in diesem Wald meiner Kindheit zu machen, und fragte mich oft, was wohl an dessen Ende liegen mochte, doch gewagt, ihn zu verlassen hatte ich nie.

Der Stand einer älteren fremden Dame weckte meine Aufmerksamkeit. Ich hatte sie hier noch nie gesehen. Die meisten Händler kamen mehrmals im Jahr, vermutlich zwischen ihren Reisen, gefragt hatte ich aber noch keinen, wo sie sich zwischen ihren Aufenthalten in unserer Stadt herumtrieben. Doch das Gesicht dieser Frau war mir gänzlich unbekannt. Ihre Ware bestand zum größten Teil aus Decken, die aus bunten, eher groben Fäden gewebt waren und sich fantastisch anfühlten. Es roch nach einer Fülle an fremden Gewürzen, deren Duft schwer in der Luft hing, und Süßigkeiten, die sich nebst allerhand obskuren Figuren unter ihren Waren befanden. Ein kleiner, aus hellem Holz geschnitzter Adler, kaum größer als mein Daumen, erregte meine Aufmerksamkeit. Er schien mir nichts Besonderes zu sein inmitten allerlei spektakulärer Figuren, doch er sprach mich an. Vielleicht gerade deswegen. Er stand dort zwischen den auffälligen, bunten Gestalten, die sich an Verzierungsreichtum gegenseitig übertrumpften, und war einfach gewöhnlich. Eine schlichte und einfache Schönheit. Ich mochte ihn.

»Das Glückstier unseres Stammes«, flüsterte mir die Händlerin zu. Ihre Stimme war rau und hatte etwas Geheimnisvolles an sich. Ihre Augen glänzten vielsagend.

Ich lächelte sie freundlich an. »Eine schöne Figur«, antwortete ich leise und nickte höflich zum Abschied.

Der Weg nach Hause erschien mir heute länger als sonst und jenes seltsame Gefühl, das mich schon des Morgens auf dem Markt befallen hatte, wollte mich auch jetzt nicht so recht loslassen. Ich begann, mich häufiger umzudrehen, wusste aber nicht, was zu entdecken ich vermutete. Nun erschien es mir töricht, Sams Angebot, mich nach Hause zu begleiten, nicht angenommen zu haben. Doch ich verbrachte den Weg zu unseres Vaters Anwesen gern ohne Begleitung, ich dachte nach über alles, was sich an dem vergangenen Vormittag zugetragen hatte, welche Arbeiten noch vor mir lagen und wie ich den Abend am liebsten verbringen wollte. Die Gesellschaft meiner Schwester war mir stets die liebste. Oft lasen wir uns gegenseitig vor und saßen bis spät in die Nacht vor dem großen Kamin in der Stube. Nicht selten gesellte sich auch Vater für eine Weile zu uns und tauschte seine grimmige Miene gegen das erschöpfte Gesicht eines alternden Mannes.

Doch heute war ich nicht gern allein in den verlassenen Gassen unterwegs. Ich beschleunigte meinen ohnehin schon zügigen Schritt und war erleichtert, als sich unser Anwesen zwischen den Dächern auftat. Ich stolperte hastig durch die Eingangstür, meine Sachen fielen mir polternd aus den Händen und die Tür schlug knallend ins Schloss. Erleichtert und außer Atem lehnte ich mich an die Wand des weitläufigen Flures und versuchte, wieder zu Kräften zu kommen. Aileen kam die Treppe herunter, blieb auf der Galerie stehen, sah mich irritiert an und hob dabei fragend eine Augenbraue. Um diese Fähigkeit hatte ich sie immer beneidet. Ich machte eine abwinkende Geste und musste angesichts meines zerzausten Anblickes, der sich mir in dem großen vergoldeten Spiegel bot, schmunzeln.

In dieser Nacht konnte ich keinen Schlaf finden. Meine Gedanken sprangen wild hin und her zwischen der Frau auf dem Markt, Sam und dem beunruhigenden Gefühl auf dem Heimweg. Doch eine Antwort darauf, wer oder was mich in den Gassen verfolgt hatte, geschweige denn, ob dort überhaupt etwas gewesen war, konnte mein müder Verstand an diesem Abend nicht finden. Als ich Aileen davon berichtet hatte, war ihre Fantasie vor Ideen nur so übergesprudelt und wir hatten die größte Zeit damit verbracht, ihren höchst unwahrscheinlichen Theorien zu lauschen. Sie war am Ende dann zu dem Schluss gekommen, es handle sich um einen geheimen Verehrer, der den Mut noch nicht gefunden habe, mich anzusprechen. Der Gedanke gefiel ihr sehr gut, denn schon seit einer geraumen Zeit wurde sie nicht müde, mich über potenzielle Anwärter auszufragen. Umso mehr war ich darauf bedacht, Sams Interesse an mir vor ihr zu verbergen. Sie hatte zudem beschlossen, mich am nächsten Morgen sowohl zum Marktplatz zu begleiten als auch von dort wieder abzuholen. Wohl mehr aus Neugierde als aus ernsthafter Besorgnis um mein Wohlergehen.

Aileen stand entgegen meiner Erwartung tatsächlich noch vor dem ersten Krähen des Hahnes aus dem Bett auf, nur um mich zu begleiten. Dann jedoch saß ich allein in der Stube und frühstückte, denn meine Schwester hatte ihr Ankleidezimmer seit der letzten Stunde nicht verlassen. Ich trug wie immer mein einfaches Kleid aus naturbelassener, nicht allzu fein gewebter Seide, mit einer frischen Schürze in zartem Flieder und ein paar Stickereien, die mir unser Küchenmädchen zu meinem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Diese mochte ich am liebsten, denn sie harmonierte meines Erachtens sehr schön mit meinem hellbraunen Haar, das ich wie immer zu einem lockeren Knoten gebunden hatte. Es offen zu tragen erschien mir nicht zweckmäßig, sehr zum Leidwesen meiner Schwester, die es so »um ein Vielfaches glanzvoller und damenhafter« gefunden hätte. Ich verspeiste den letzten Löffel meines Haferbreis und fürchtete bereits, mein Zuspätkommen des vergangenen Morgens könnte sich wiederholen, als ich hörte, wie sich die Tür des Ankleidezimmers meiner Schwester öffnete. Sie sah aus wie eine Elfe und schwebte förmlich die Treppe herunter, mir entgegen. Als ich die Nase rümpfte angesichts ihres nicht ganz für den Markt geeigneten Kleides, grinste sie mich gut gelaunt an.

»Ich möchte doch angemessen gekleidet sein, sollte uns dieser geheimnisvolle Gentleman heute tatsächlich über den Weg laufen«, sagte sie süffisant.

Ich selbst hielt meine gestrige Wahrnehmung heute nur noch für bloße Einbildung und rechnete nicht ernsthaft damit, dass uns überhaupt irgendetwas begegnen würde und schon gar kein Gentleman. Solche Männer trafen nur junge Frauen wie meine Schwester, die mit perfektem goldenen Haar durch die guten Gegenden dieser Stadt schwebten und dabei besser dufteten als jede Blumenwiese, davon war ich fest überzeugt. Für mich, die ich schon immer in ihrem Schatten gestanden hatte – und das störte mich nicht im Geringsten, denn Aufmerksamkeit mochte ich nicht besonders – blieben nur die Söhne der deutlich weniger glanzvollen Unterschicht. Das Einzige, das einem auf den heruntergekommenen Straßen dieser Stadt tatsächlich begegnen könnte, dachte ich amüsiert, sind die zahlreichen und bemerkenswert großen Ratten, die sich in jedem Winkel der Gosse vermehrten.

Den ganzen Weg zum Marktplatz hinweg drehte sich Aileen immer wieder um und suchte mit ihren Augen die vorbeilaufenden Menschenmassen ab. Ich wies sie ein paar Mal darauf hin, dass ihr Verhalten dem eines Spürhundes glich, doch das interessierte sie reichlich wenig. Im Gegenteil schien es ihr nun sogar noch mehr Freude zu bereiten, in jeden kleinen Hinterhof zu spähen, als erwartete sie, dort irgendetwas Verdächtiges zu finden. Ich war froh, als wir den Platz vor der Kirche erreichten. Heute waren, sehr zu meiner Erleichterung, noch einige der besseren Stände frei und ich begann rasch, meine diversen Nähutensilien und Stoffe auf dem Tisch auszubreiten. Es herrschte ein recht angenehmes Klima und ich war guter Hoffnung, heute etwas mehr Arbeit zu bekommen als in den letzten Tagen. Aileen beschloss, noch eine Weile zu bleiben und sah mir mit großem Interesse bei meiner Arbeit zu. Ihre zarten Hände hatten die Nadeln bisher nur zum kunstvollen Sticken gehalten und dabei würde es wahrscheinlich auch bleiben.

Viele Dutzend Menschen tummelten sich an diesem Mittag auf dem Markt, was wahrscheinlich dem nahenden Feiertag geschuldet war. Alle waren emsig wie die Bienen damit beschäftigt, das große Fest zur Erinnerung an die kriegerischen Erfolge der vergangenen Könige vorzubereiten. An diesen Tagen würde wieder viel getrunken und gut gegessen werden und die Türen der Burg würden für alle Schaulustigen geöffnet sein. Man verzierte die Häuser mit Girlanden aus Blumen und legte seine besten Kleider an. Auf den Anwesen des Adels wurden große Bälle gegeben und das alles nur, weil vor vielen Jahren ein kriegssüchtiger König alles unterdrückt hatte, was sich ihm nicht hatte unterwerfen wollen. Und angesichts der Tatsache, dass die meisten Menschen zu dieser Zeit noch nicht gelebt hatten oder gar wussten, wer in diesen blutigen Kriegen auf der anderen Seite gestanden hatte, mich eingeschlossen, erschienen mir die Feierlichkeiten doch höchst grotesk. So glich der Markt heute mehr einem Ameisenhaufen und meine Finger hatten den ganzen Tag nicht eine Minute Nadeln und Schere losgelassen.

Die Sonne stand bereits tief am Himmel, als ich begann, meinen Stand wieder zu räumen. Ich war die ganze Zeit über so beschäftigt gewesen, dass ich gar nicht daran gedacht hatte, mir Sorgen zu machen. Ein Gefühl der Beruhigung umschloss mich bei dem Gedanken, dass ja tatsächlich gar nichts passiert war. Meine Beine waren schwer vom langen Stehen und ich machte mich erschöpft auf den Weg nach Hause, als ich die Händlerin vom Vortag zwischen den anderen Ständen erblickte.

Sie stand dort, als wäre keine Zeit vergangen, und es wirkte, als hätte ich mich eben erst von ihr verabschiedet. Irritiert blieb ich stehen und betrachtete ihre Ware, die gänzlich unverändert dort ausgestellt war. Erst da fiel mir auf, dass ich die alte Dame die ganze Zeit unentwegt angestarrt hatte. Sie lächelte freundlich, aber dennoch schien ihr Blick mich zu durchdringen. Unvermittelt musste ich mich ihrem Stand nähern. Es fühlte sich an wie in Trance, als wären es nicht meine eigenen Beine, die mich trugen. Vielmehr schien ich über den Platz zu ihr zu schweben. Und dort stand ich an exakt derselben Stelle, genau einen Tag später. Derselbe schwere Geruch der Gewürze erfüllte die Luft und ich spürte, wie Schwindel in mir aufstieg.

»Da bist du ja.« Die Stimme der Händlerin klang Meilen weit entfernt und hallte in meinem Kopf wider.

»Ja.« Die Worte kamen wie von selbst aus meinem Mund. Ich starrte auf den Adler, der aus der Menge der anderen Figuren immer noch hervorstach. So blickte ich auf die kleine Figur, als wäre ich meiner Gedanken nicht mehr mächtig und war wie gebannt. Ein Dröhnen breitete sich immer weiter in meinem Kopf aus und der Schwindel drohte mich zu überwältigen.

»Gott sei Dank, da bist du ja!« Aileen packte mich an der Schulter und sah mich entgeistert an.

»Ja, da bin ich.« Mehr vermochte mein verwirrter Verstand nicht zu antworten.

Sie zog mich weg von den Ständen und wir bogen in eine der Straßen ein, die uns fort von dem Markt führte.

»Ist alles in Ordnung? Du siehst etwas blass aus. Ich dachte schon, du hättest dich ohne mich zurück auf den Weg gemacht, aber wie ich dann sah, scheinst du eine Faszination für ausländische Produkte zu entwickeln«, sagte Aileen und lächelte mich besorgt an.

»Es ist alles gut«, antwortete ich knapp.

Der Weg nach Hause hätte normaler nicht ablaufen können. Ganz ohne jedweden heimlichen Verehrer oder andere unbekannte Verfolger. Doch meine Gedanken schienen sich immer noch im Kreise zu drehen und ich folgte meiner Schwester wie im Schlaf. Dass ich dabei mehr als einmal über meine eigenen Füße gestolpert, aber nicht im Dreck gelandet war, hatte ich dem festen Griff meiner Schwester zu verdanken. Sie hatte mich gefragt, ob ich etwa getrunken habe, doch das verneinte ich beharrlich. Dass sie mir nicht glaubte, war offensichtlich und die Sorge in ihrem Gesichtsausdruck schmerzte mich, doch ich war meines Verstandes nicht mächtig genug, um etwas zu sagen, das sie hätte beruhigen können.

Ich war sofort ins Bett gegangen. Aber an Schlaf war seit Stunden nicht zu denken. Mein Körper fühlte sich immer noch an, als würde er nicht mehr zu mir gehören, und ich befand mich in einem Zustand, den ich mir nicht wirklich erklären konnte. Meine Gedanken waren in einer Art Schwebe, nicht in der Realität und auch nicht vollständig im Traum. Ich erinnerte mich an eine Zeit, als ich sehr klein gewesen war, ich schätze, höchstens vier Jahre alt und noch im Heim für Waisen lebte, da bekam ich die Pocken. Das Fieber war derart hoch, dass die Nonnen sehr nervös wurden. Ich hatte das alles damals wie in Trance durch einen Fiebertraum wahrgenommen. So fühlte ich mich auch jetzt. Das Dröhnen war seit dem Markt nicht mehr aus dem Kopf verschwunden und die kleine, hölzerne Figur des Adlers kreiste unaufhörlich in meinen Gedanken. Die Realität verschwamm zunehmend und ich trieb davon in einen schweren, tiefen Schlaf.

Über mir war alles still und weit und ein gleißendes Licht blendete mich. Der Wind blies mir heftig ins Gesicht und ich kam ins Trudeln. Als ich unter mich blickte, traf mich beinahe der Schlag. Ich befand mich Hunderte Meter über dem Boden, aber ich konnte mich nicht bewegen oder gar fliegen. Alles, die Bäume, die Häuser und die Menschen erschienen so winzig klein, als könnte ich sie zwischen Zeigefinger und Daumen halten. Plötzlich kam der Boden näher. Schneller und immer schneller stürzte ich hinunter. Ich war verzweifelt und begann panisch zu werden. Die Luft wurde mir so fest ins Gesicht gedrückt, dass ich nicht mehr atmen konnte. Ich fiel bereits zwischen den ersten Bäumen hindurch, als der laute, markdurchdringende Schrei eines Greifvogels die Zeit zu verlangsamen schien. Ich konnte jedes einzelne Blatt der Bäume um mich genau erkennen und sogar ein kleines Nest mit jungen Vögeln, die nach ihrer Mutter riefen. Plötzlich erschien über mir ein riesiger Adler. Er schien mindestens so groß zu sein wie ich. Erst als er dicht über mir flog, erkannte ich, dass etwas an ihm nicht normal aussah. Er bestand gänzlich aus hellem Holz. Seine kunstvoll geschnitzten Federn wogten sanft im Wind und seine starren hölzernen Augen fixierten mich. Die kräftigen Krallen des Tieres hielten zielsicher auf mich zu und fingen mich auf, nur Sekunden bevor ich auf dem Boden aufgeschlagen wäre.

Ich schreckte aus dem Schlaf auf. Mein Nachthemd war nass geschwitzt und ich zitterte am ganzen Leibe. Erleichtert stellte ich fest, mich nicht in der Luft, sondern in den sicheren Federn meines Bettes zu befinden. Der Stoff des Betthimmels wehte sanft in der kühlen Nachtluft und mein Verstand schien mir wieder einigermaßen klar. Ich stand auf, um das kleine Fenster meines Zimmers zu schließen. Das alte, rostige Scharnier klemmte schon seit Jahren und ich musste auf den Zehenspitzen stehend mit aller Kraft das Fenster ins Schloss drücken. Ich stützte mich auf die große alte Kommode aus schwerem, dunklem Holz mit ein paar schlichten Schnitzereien, denn meine Beine waren noch schlaftrunken. Ungeschickt stolperte ich und stieß eine Vase hinunter. Klirrend fiel das gute Stück zu Boden und zersprang in Dutzende Scherben.

Der Schlaf meines Vaters war äußerst leicht und ich hoffte, ihn mit meiner anscheinend angeborenen Tollpatschigkeit nicht geweckt zu haben. Ich entzündete eine Kerze und ihr Schein erhellte den Raum in einem warmen, dumpfen Licht, das gerade ausreichte, um die Scherben auf dem Boden aufzukehren. Gerade war ich fertig, da entdeckte ich noch etwas anderes zwischen den Porzellansplittern. Und da lag er, im Wasser meiner Blumen: ein kleiner, hölzerner Adler. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass es sich um die Figur vom Markt handelte. Auch als ich versuchte, mir den Schlaf aus den Augen zu reiben, blieb das Bild vor meinen Augen dasselbe. Aber wie war er hierhergekommen? Es schien, als wäre er aus meinem Traum direkt in mein Zimmer geflogen. Es sei denn, ich träumte noch immer. So musste es sein, denn eine andere logische Erklärung gab es nicht. Ich hielt es für das Beste, mich wieder ins Bett zu begeben und über alles vielleicht, vielleicht aber auch nicht wirklich Geschehene erst mal eine Runde zu schlafen. In der wohligen Überzeugung, eigentlich gar nicht wach gewesen zu sein, zog ich mir die Decke wieder über den Kopf und fiel in einen so festen Schlaf, dass zwischen meiner Seele und der Nacht kein Raum für Träume mehr war.

Ein surrender, lauter Ton erfüllte meinen Kopf und meinen gesamten Körper und mir war unglaublich schlecht. Alles tat mir weh, ich fasste mir an den Kopf und versuchte, mich an diesen seltsamen Traum zu erinnern, aber es wollte mir nicht gelingen. Ich hatte so tief geschlafen, dass ich mir für einen Moment nicht ganz sicher war, ob ich überhaupt noch lebte. Und da war sie wieder, diese Übelkeit. Ja, ich fühlte mich beinahe seekrank. Also gut, Zeit die Augen zu öffnen, sagte ich mir, wahrscheinlich hat sich mal wieder niemand um das Frühstück gekümmert.

Doch es war nicht meine kleine Kammer, in der ich erwachte, und es war auch nicht der löchrige, staubige mintgrüne Stoff meines Himmelbettes, den ich sah. Über mir war nur der offene Himmel, an dem an diesem Morgen nicht eine Wolke hing, und die Sonne blendete mich so stark, dass ich meine Augen zusammenkneifen musste. Ich blinzelte und richtete mich langsam auf. Mein Kopf hämmerte regelrecht und mir war immer noch speiübel. Als ich mich umsah, überfiel mich auf einen Schlag die blanke Panik und mein Herz begann zu rasen. Ich war weder auf der Bank in unserem kleinen Garten eingeschlafen, noch an einem Ort, den ich je zuvor schon einmal gesehen hatte. Ich lag auf einer Art Pritsche, zugedeckt mit einer bunten, gewebten Decke, wie ich sie auf dem Markt schon öfter an den Ständen der reisenden Händlerinnen aus dem Norden gesehen hatte. Ein warmes Licht erfüllte den Ort. Es schien sich um ein Zelt zu handeln, durch dessen dünne, beinahe seidigen Wände das Licht drang. Das Dach war zur Seite hin zusammengerollt, sodass die warme Sommerluft das Zelt erfüllte und meine anfängliche Panik einem unbestimmten Gefühl der Geborgenheit wich, wenn ich auch immer noch nicht den Hauch einer Ahnung hatte, wo ich mich befand. Ich stand auf, um das Zelt zu verlassen und mich, von wo auch immer ich hier war, auf den Weg nach Hause zu machen, wo sich Aileen vermutlich schon um mich sorgte. Mir fiel auf, dass ich mein Kleid trug und nicht das Nachthemd, in dem ich zu Bett gegangen war, doch die Frage, wie ich in das Kleid gekommen war, musste vorerst warten. Meine Füße berührten den Boden und das Gras umschmeichelte meine Zehen und mit neu gefasstem Mut strich ich mein Kleid und meine Schürze zurecht und trat aus dem Zelt.

Doch schnell verschwand mein Mut wieder und machte erneut der Angst Platz, denn entgegen all meinen Vermutungen befand ich mich nicht annähernd an einem Ort, den ich kannte. Ich stand zwischen einer Vielzahl an Zelten und die Menschen, die mich umgaben, hatte ich noch nie zuvor gesehen. Panisch begann ich nach allem und jedem Bekannten zu rufen, der mir in den Sinn kam. Doch weder meine Schwester noch der Graf oder Scott, unser Hund, antwortete mir. Das Einzige, das mein verheultes Gebrüll erreichte, war, dass sich mehr und mehr Mensehen um mich versammelten, was meine schiere Panik nur noch verstärkte. So entschied jener unterentwickelte und ursprüngliche Teil meines Kopfes, das einzig Naheliegende zu tun und die Flucht ins Ungewisse zu ergreifen. Ich packte mein Kleid am Rock und stürmte durch die sich sammelnde Gruppe von Menschen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und der Matsch spritzte an meine Beine, als ich durch die Reihen von Zelten rannte wie ein gejagtes Reh und es nicht wagte, nach rechts oder links zu blicken. Die Sonne brannte auf mich herab und ich hatte kaum noch genug Atem für einen einzigen weiteren Meter, doch meine Beine trugen mich fort in Richtung des Waldes, der sich hinter den letzten Zelten auftat.

»Stopp!« Der Ruf dieser unbekannten Stimme drang mir durch Mark und Bein und rückblickend vermag ich auch bis heute nicht genau zu sagen, was mich dazu bewog, stehen zu bleiben. Doch es war wie ein Impuls, der meinen Tunnel aus Angst und Panik durchbrach und ich hielt an. Mein ganzer Körper zitterte, wohl zu gleichen Teilen aus Angst und aus Erschöpfung, als ich mich umdrehte.

Hinter mir stand eine junge Frau, etwa in meinem Alter, mit braunem Haar und dunklen, aber trotzdem weichen und freundlichen Augen. Sie war ein ganzes Stück kleiner als ich, aber dennoch war ich davon überzeugt, dass es ihr ein Leichtes wäre, mich auf der Stelle dem Boden ein Stück näher zu bringen, daran ließ ihr muskulöser Körperbau keinen Zweifel. So entschied ich mich, ruhig stehen zu bleiben und den Gedanken der Selbstverteidigung in der Theorie zu belassen.

»Möchtest du uns schon wieder verlassen, bevor wir die Gelegenheit hatten, uns vorzustellen?«, fragte sie. »Abgesehen davon, dass man ohne sich angemessen zu stärken und zu wissen, wo man ist, nicht blindlings in einen fremden Wald laufen sollte.« Sie grinste mich schelmisch an.

»Wo bin ich und wie bin ich überhaupt hierhergekommen?«, stammelte ich und schämte mich für meine piepsende Stimme.

Sie drehte sich um und ging zurück in Richtung der Zelte.

»Komm mit, Evanna, ich stelle dich den anderen vor und besorge dir etwas Anständiges zum Anziehen. In dem Haufen aus Stoff wird das hier nichts«, sagte sie im Vorbeigehen.

Und während der eine Teil von mir noch darüber nachdachte, die Flucht zu ergreifen, hatten sich meine Beine schon auf den Weg gemacht, der Frau zu folgen. Ich fragte mich, woher sie mich kannte, und überlegte verzweifelt, ob ich sie schon einmal gesehen hatte, immerhin wusste sie meinen Namen. Und was hatte sie überhaupt mit mir vor, wofür mein Kleid nicht tauglich genug wäre? Es war weiß Gott nicht das Neueste und auch die Spitze war recht schlicht, aber um auf dem Markt zu stehen und zu arbeiten, hatte es noch immer gereicht.

»Nein, wir kennen uns noch nicht«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. Der Gedanke, ich könne wieder fortlaufen, schien ihr wohl zu abwegig. »Dich hingegen kennt hier so gut wie jeder. Aber keine Sorge, du hast bestimmt eine Menge Fragen und wir können sie dir hoffentlich alle beantworten.«

Es machte den Eindruck, als würde mein verzweifeltes Ich so laut denken, dass man es einige Meter vor mir noch hören konnte. Verwirrt beschloss ich, ihr einfach weiter hinterher zu laufen und mich in mein Schicksal zu fügen. Es gab ja schließlich eh nicht viel, das ich zu verlieren hatte. Na ja, eigentlich hatte ich gar nichts zu verlieren.

Wir hielten an und standen vor einem der Zelte. Es war etwas größer als die anderen und der Eingang war bestickt mit allerhand obskuren Zeichen und Symbolen, die ich nicht kannte, aber die dennoch wunderschön waren.

»Da sind wir«, sagte meine Begleiterin und bedeutete mir, ihr in das Zelt zu folgen.

Zögernd trat ich ein. Ein schwerer, intensiver Duft, der mir fremd war, lag in der Luft und trübes Licht erfüllte den Raum. Auch dieses Zelt war ähnlich aufgebaut wie das, in dem ich kurz zuvor aufgewacht war. Der Boden war nur teilweise ausgelegt mit Fellen und in der Mitte befand sich eine Art Sitzbereich mit allerlei Kissen, Hockern und gewebten Decken. Eine ältere Frau saß in einem Sessel und schaute mich mit gutmütigen Augen an.

»Komm zu mir Mädchen«, sprach sie. Ihre Stimme klang, als hätte sie schon viel erlebt. »Wie ich sehe, bist du aufgewacht und wohl behalten. Wir sind froh, dich endlich bei uns, dem Stamm der Pouakai, zu haben. So lange schon warten wir darauf, dass du zurück in den Schoß deiner Familie kehrst, Evanna.«

Ich war starr vor Überforderung und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte.

»Wer seid Ihr und woher kennt Ihr mich? Ich weiß nicht, wo ich bin oder wie ich überhaupt hierhergekommen bin, und meine Familie sucht mich bestimmt schon.«

Ich war selbst überrascht, wie energisch meine Stimme klang. Doch das schien die betagte Dame nicht im Geringsten zu beeindrucken, sie lächelte mir gutmütig zu und wies auf einen der Hocker. Ich näherte mich so vorsichtig, dass ich mir kurz selbst ein wenig lächerlich vorkam. Als ich mich setzte, begann mein Körper, sich zum ersten Mal an diesem Morgen zu entspannen.

»Die nette junge Dame, die dich gerade zu mir gebracht hat, heißt Minna und ist eine unserer besten Kämpferinnen. Sie hat sich gemeinsam mit einigen anderen Kriegern unseres Stammes darum gekümmert, dass du wohl behalten zu uns gelangst.«

Ich beschloss, meine Fragen für den Augenblick zurückzustellen und der Frau zuzuhören, die den Anschein erweckte, noch eine Menge mehr zu sagen zu haben.

»Mein Name ist Melisande und ich bin die Stammesälteste«, fuhr sie fort. »Zu deiner eigenen Sicherheit haben wir uns entschlossen, dich aus der Stadt zu uns zu bringen. Wir hatten gehofft, dich mit diesem Leben und der Verantwortung, die sich daraus für dich ergibt, verschonen zu können. Doch leider haben dunkle Entwicklungen der neueren Vergangenheit es notwendig gemacht, dich aus deinem gewohnten Umfeld zu holen, um dich mit deinen wahren Wurzeln und der Vergangenheit vertraut zu machen.«

Sie schwieg einen Moment und schaute mich mit ihren kleinen, alten Augen an, als erwartete sie eine Reaktion. Doch in meinem Kopf war angesichts ihrer bisher für mich vollkommen unsinnigen Worte keine schlüssige Vorstellung von dem, was sie sich von mir erhoffte. Und so begann ich zu lachen, kein ehrliches, natürliches Lachen, sondern diese irrationale Reaktion des Körpers, die immer dann auftrat, wenn man nicht wusste, was man sonst tun sollte.

»Ihr habt mich zu euch geholt? Meinen wahren Wurzeln? Weil irgendeine, bisher noch nie in Erscheinung getretene Gefahr irgendwem droht?«, wiederholte ich die Worte der Stammesältesten fragend. Und es war mir nur unzureichend gelungen, den Hohn in meiner Stimme zu verdecken.

»So ist es meine Liebe«, antwortete sie ruhig. »Es mag noch gänzlich unverständlich für dich sein, aber wir bitten dich, uns die Chance zu geben, uns dir zu erklären. Damit du erfährst, woher du kommst, was dich ausmacht und warum wir dich schützen wollen.«

»Ich komme aus dem Heim für verwaiste Kinder, direkt neben der Kirche am großen Marktplatz und wohne mit meiner Schwester bei dem Grafen, der uns adoptiert hat. Und auch wenn ich mir ein schöneres Leben vorstellen könnte, so bin ich froh für das, was ich habe. Nichts auf der Welt gibt fremden Menschen das Recht, mich einfach so zu entführen!« Ich spürte, wie sich meine Stimme immer mehr hob und schriller wurde, und ich hatte Not, meine Tränen zurückzuhalten.

»Hast du dich nie gefragt, woher du eigentlich kommst?« Minna sah mir tief in die Augen. »Oder dich gewundert, warum andere Kinder anders waren als du? Zieht es dich nicht in den Wald mehr als in jedes Haus?«

Ich war aufgestanden, fest entschlossen zu gehen und diesen höchst seltsamen Morgen hinter mir zu lassen, doch Minnas Worte ließen mich innehalten und ich setzte mich wieder hin.

»Sag mir Evanna, auch dir und deiner Schwester hat man bestimmt die alten Geschichten und Sagen vorgelesen, als ihr noch Kinder wart. Und hat man euch die Geschichte der Adler erzählt? Jene Tiere, größer und schöner als alle, die man heute am Himmel sehen kann?« Melisandes Augen glänzten, als sie mich ansah, meine Antwort gespannt erwartend.

»Mag sein«, antwortete ich und zuckte mit den Schultern. Ich erinnerte mich bruchstückhaft an Märchen, die man uns vorgelesen hatte, bevor wir uns schlafen legten. Geschichten von riesigen Adlern und fliegenden Menschen und grausamen Wesen, die bei der Jagd auch vor Hirschen und sogar Menschen keinen Halt machten.

»Und was wäre«, sie sah mir so tief in die Augen, dass ich wegsehen musste, »was wäre, wenn ein kleiner Teil, ja ein kleiner Funke der Wahrheit in all dem wäre. Wenn es solche Tiere wirklich gegeben hätte und wenn die Menschen sie vertrieben und ihre Existenz auf nichts weiter als ein paar Ammenmärchen beschränkt hätten. Was wäre, wenn ich dir sagte, mein liebes Kind, dass es sie gibt, diese Menschen, die sich in Adler verwandeln, größer und schöner als alles, was du je zuvor gesehen hast. Denn so ist es, Evanna, es gibt sie und du befindest dich gerade mitten unter ihnen.«

Stille machte sich in dem Raum breit und Minnas Blick konzentrierte sich so fest auf mich, als wäre ich ein Hase, der jeden Moment davonlaufen könnte.

»Was soll das? Ist das ein schlechter Scherz?« Ich spürte, wie die Verzweiflung allmählich der Wut wich.

»Ich wusste, sie würde uns nicht glauben«, sagte Minna zu der alten Dame. »Bitte lass mich es ihr zeigen.«

Ich sah sie verständnislos an. Bis zu diesem Augenblick hatte ein Teil von mir Minna als sympathisch und angenehm normal empfunden in diesem grotesken Chaos, doch jetzt schien auch sie vollkommen den Verstand verloren zu haben. Und als ich gerade das Wort erheben wollte, um mich freundlich von diesen Menschen zu verabschieden und zu gehen – warum auch immer ich dachte, einfach gehen zu können – geschah das schlicht Unmögliche: Minna schob die Ärmel ihrer Leinenbluse hoch und ging in die Hocke. Kurz hob sie ihren Blick, grinste mich verheißungsvoll an und stieß sich vom Boden des Zeltes ab, als wollte sie durch sein Dach hindurch springen. Doch anstatt in derselben Position einfach wieder zu landen, war es, als verginge die Zeit plötzlich langsamer. Warmes Licht umgab die zierliche Frau und Federn begannen dort zu sprießen, wo eben noch ihre Kleidung gewesen war. Ihre Arme formten sich zu majestätischen Flügeln und das freundliche Gesicht wich dem Kopf eines Greifvogels, mit einem Schnabel so scharf, dass er alles hätte zerschneiden können. Vor mir stand nicht mehr die Menschenfrau Minna, sondern ein Adler von solcher Größe, dass er mir bis zu den Schultern reichte. Noch nie hatte ich etwas so Schönes und gleichzeitig doch so Tödliches gesehen. Und als sie ihre Flügel ausbreitete und so beinahe das gesamte Zelt ausfüllte, verlor ich das Bewusstsein.

Langsam kam ich wieder zu mir und bemerkte Melisande, die mir sanft einen kühlen Lappen auf die Stirn legte. Minna schaute mich mit einer Mischung aus Sorge und Belustigung an. Von dem riesigen Adler einige Minuten zuvor war nichts mehr zu erkennen. Langsam erhob ich mich wieder vom Boden und setzte mich auf einen der Hocker.

»Wir müssen uns bei dir entschuldigen«, sagte Melisande liebevoll. »Das alles ist wahrscheinlich sehr viel für dich. Und unsere liebe Minna ist manchmal etwas zu voreilig, aber sie meint es nur gut.«

In diesem Moment öffnete sich die Tür des Zeltes und ein kleiner Junge kam herein. In seinen Händen hielt er einen Teller mit einer Art Eintopf, wie mir schien.

»Komm näher«, sagte die Stammesälteste. Sie nahm das Essen entgegen und bedankte sich bei dem Jungen, der mich unentwegt mit großen Augen anstarrte.

»Gern«, flüsterte er. »Ist sie das? Alle reden davon, dass sie wieder da ist.«

»Ja, das stimmt, nun endlich ist sie wieder zu Hause angekommen. Und nun lauf schnell zurück zu deiner Mutter.« Sie sah den Jungen gütig an. »Iss etwas, Evanna, damit du zu Kräften kommst, und lass mich dir währenddessen erzählen, warum du hier bist.« Melisande drückte mir den Teller in die Hand und setzte sich zu mir.

Ich hörte ihr zu und versuchte, nicht allzu sehr zu schlingen. Erst jetzt, wo ich etwas zu mir nahm, fiel mir auf, dass ich den ganzen Morgen noch nichts gegessen hatte und die Aufregung hatte meinen Hunger nur verstärkt. Minna setzte sich nun auch neben mich und so begann die Stammesälteste zu erzählen.

»Einst gab es eine Zeit, in der die Menschen und unsere Stämme in Frieden und Einklang miteinander lebten. Denn in dieser Welt, die uns allen geschenkt wurde, war schon immer Platz und Liebe genug für alle da. Doch das Wesen der Menschen ist schwach, das war es schon immer und so dauerte diese frühe Zeit nicht lange an. Schon bald, das Land des Großen Geistes war damals noch jung, wollten die Menschen alles Land und seine Güter für sich und machten Jagd auf alles und jeden, der ihnen im Weg stand. Einer von ihnen aber stellte sich dem Zorn seiner Brüder in den Weg und rettete so einem Adlerweibchen das Leben. Als Geschenk für seinen Mut erhielt er die Gabe, die seit jeher unseren Stamm auszeichnet. Aber auch er konnte die Gier der Menschen nicht ewig in Schach halten. Erneut dauerte es nicht lange, bis Missgunst und Neid sich unter einigen von ihnen ausbreiteten. Denn wir hatten etwas, das sie nicht hatten: Wir konnten uns verwandeln in diese wunderbaren Vögel, uns in die Lüfte erheben und in der Jagd waren wir ihnen weit überlegen. Wir spürten eine Freiheit, die wir nicht mit ihnen teilen konnten. Doch wo Unmut gedeiht und einige dies für ihre unmoralischen und bösen Absichten nutzen, dort wächst vor allem die Angst derer, die alles Fremde und Unerklärliche fürchten und sich um ihre Kinder und ihr Hab und Gut sorgen. Und so dauerte es nicht lange, bis der Konflikt sich zuspitzte und immer wieder in Kriegen eskalierte. Denn was die Menschen nicht zu begreifen vermochten, das konnten sie nicht akzeptieren und so taten sie das, was sie am besten konnten, mit aller Waffengewalt kämpfen. Unser Volk liebt den Frieden und verabscheut das Böse, doch auch wir waren irgendwann gezwungen, uns zu verteidigen. So trug es sich zu, viele Hundert Jahre und kein König der Menschen hat je den Frieden mit unseren Stämmen angestrebt, zu groß war die Furcht, wir könnten nach ihrer Macht streben und uns über die Menschen stellen. Doch so sind wir nicht. Macht, Einfluss oder gar der Anspruch auf Land liegen uns fern. Wir wollen leben, auf dem Boden, der für alle Wesen gedacht ist, die geschaffen wurden und der Wunsch nach Frieden, besonders mit den Menschen, liegt tief in unser aller Herzen. So kam es schon vor vielen Generationen, dass sich unser Volk immer mehr zurückzog und fern ab der Stadt und den Dörfern der Menschen siedelte. Aber auch das hat die Lust an der Jagd auf uns Adler bei ihnen nicht bremsen können. Und so brach vor einigen Jahrzehnten wieder ein Krieg aus. Doch dieser war anders. Es wurde gnadenlos gemordet. Männer, Frauen und Kinder fielen dem Blutdurst der Menschen zum Opfer und sie starben zu Hunderten. Des Krieges und Tötens müde, riefen die Stammesältesten den größten Kriegsrat zusammen, den es seit Generationen gegeben hatte, geleitet von den Obersten Adlern. Seit unser Volk erschaffen wurde, stammen unsere Obersten Anführer aus unserem Stamm. Viele Tage und Nächte berieten sie, doch einig wurden sie sich nicht. Eine große Mehrheit der Stammesführer hatte die Dummheit der Menschen und ihre Lust am Krieg satt. Sie wollten alle Krieger ihrer Stämme vereinen und gemeinsam das Heer des Königs schlagen. Doch der andere Teil der Anwesenden teilte diese Meinung nicht. Denn was uns ausmacht, ist unsere Aufgabe, den Frieden zu wahren zwischen allem, was auf diesem Land lebt. Und ein blutiger Frieden und die Unterdrückung der Menschen wären nicht der richtige Weg gewesen. Sind wir doch zur Hälfte wie sie. Dieser Meinung waren auch die Obersten Adler und so kam es zu einer Einigung unter den Stämmen: Einige Tage zuvor hatten Boten eine Einladung in unser Lager gebracht, in der die Menschen die Führer der Stämme um ein Gespräch zur möglichen Übereinkunft baten. Dies sollte der letzte Versuch für eine Übereinkunft ohne Opfer sein. Um das Leben der ihren nicht aufs Spiel zu setzen und den Menschen ihren Respekt zu erweisen, trafen die Obersten Adler die Entscheidung, selbst zu dem arrangierten Treffen in der großen Stadt zu erscheinen. Viele der Stammesführer versuchten, das zu verhindern, zu groß seien das Risiko und der mögliche Verlust ihrer geliebten Anführer im Falle eines Hinterhaltes. Doch sie bestanden darauf und sahen es als ihre Pflicht, ihr Volk zu vertreten und zu schützen. Sie wussten, wie groß die Gefahr war, verraten zu werden, doch der Glaube an das Gute, auch in den Menschen, ließ sie wider jeder Vernunft diesen letzten Versuch wagen.

So machten sie sich schon in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages auf den Weg in die Stadt, denn auch wenn es erheblich einfacher gewesen wäre zu fliegen, schien es ihnen das Beste, den Weg zu Pferd anzutreten, denn sie wollten die Menschen nicht provozieren. Ihr Ziel aber erreichten sie nie.

Als sie auch nach vielen Tagen nicht zurückkehrten, schickte man einige unserer Kämpfer aus, nach ihnen zu suchen, doch sie kamen zu spät. Es hatte sich bei der Einladung tatsächlich um eine Falle gehandelt und man hatte sie auf dem Weg überfallen und brutal ermordet. Ohne Führung, so hofften die Menschen, sei das Volk der Adler endgültig dem Untergang geweiht. Nun war eine große Schlacht nicht mehr zu verhindern. Aber wieder sollte es anders kommen. Eine kleine Gruppe von abtrünnigen Adlern, die schon vor langer Zeit das Leben in ihren Stämmen aufgegeben hatten, verriet den genauen Ort, an dem sich die versammelten Stämme aufhielten, dem König. Sie hofften wohl, so in dessen Gunst zu gelangen. Das Heer der Menschen überfiel das Lager in der Nacht, steckte die Zelte in Brand und tötete alles und jeden, der ihnen vor die Füße kam. Und wieder starben die unseren zu Hunderten. Die wenigen, die diese Hölle überlebten, flohen und halten seit jeher ihre Identität geheim. Der König und seine Männer jedoch ließen sich für ihre Taten feiern und brüsten sich seitdem mit der Ausrottung der Adlermenschen. Und nun kennst du den Grund, warum wir vermeintlich nur noch in Märchen existieren. Doch wir sind noch da und die Stämme unserer Art sind heute wieder so zahlreich wie vor langer Zeit, nur leben wir im Verborgenen, versteckt vor den Menschen und zeigen uns nur dort als Adler, wo wir sicher sein können, dass man uns nicht erkennt.«

Ich schwieg eine ganze Weile. Zweifelsohne war ihre Geschichte wahr, denn dass man sich so etwas ausdachte, konnte ich mir nicht vorstellen, von Minnas Verwandlung zuvor ganz zu schweigen.

»Ich sehe, dass du mit dir haderst, Evanna. Du bist hier bei deiner Familie, sprich frei von der Seele, was dich beschäftigt. Das alles sind zweifelsohne viele neue Eindrücke«, sagte Melisande.

Ich fand schließlich den Mut, meine Gedanken in Worte zu fassen. »Nun, genau das verstehe ich nicht«, sagte ich, »Was hat all das mit mir zu tun? Ihr bringt mich an diesen fremden Ort und ich kenne keinen von euch und dann erzählt ihr mir all das. Warum geht ihr dieses Risiko ein? Und warum kennt mich hier anscheinend jeder, selbst der kleine Junge, der das Essen gebracht hat?«

Minna schaute betreten zu Boden.

»Du hast vollkommen recht.« Melisande lächelte mich an. »Tatsächlich war das nur die halbe Wahrheit. Du, meine Liebe, müsstest, wenn ich mich richtig erinnere, bald Geburtstag haben. Und die Ereignisse, von denen ich dir gerade berichtet habe, jähren sich bald zum nächsten Mal.«

Doch ich konnte ihr immer noch nicht folgen, vielleicht wollte ich es aber auch einfach noch nicht verstehen.

»Kurz vor dem Ausbruch dieses letzten furchtbaren Krieges wurde hier im Stamm der Pouakai ein großes Fest gefeiert, denn unsere Familie war um ein weiteres Mitglied gewachsen. Und auch wenn das immer ein Grund zur Freude