Adlertochter - Hannah Marie Schmitz - E-Book

Adlertochter E-Book

Hannah Marie Schmitz

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Beschreibung

Ein düsteres Geheimnis, eine erzwungene Verbindung und eine Prophezeiung, die das Schicksal aller besiegelt. In letzter Sekunde konnten Adler und Geächtete gemeinsam die ewige Nacht vertreiben und die Stämme und Menschen einander näherbringen. Doch der König nutzt die in seiner Gewalt verbliebenen Geächteten, um eine Ehe zwischen Kronprinz Dracon und Evanna zu erzwingen. Um die Geächteten zu retten und den Frieden zu wahren, begibt sich Evanna in die Burg und muss ihr Volk und ihre große Liebe Balian zurücklassen. Dort stellt sie fest, dass die Burg nicht nur zahlreiche Gefahren, sondern auch ein düsteres Geheimnis birgt. Zu alledem offenbart sich den Adlern eine Prophezeiung, die das Schicksal aller besiegeln soll. Werden die Adler einen Weg finden, Menschen und Stämme endlich zu vereinen und die Prophezeiung zu erfüllen? Das packende Finale des Fantasy-Epos rund um die Stämme der Adler.

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Für meine Leser*innen, weil ihr es seid, für die ich meine Bücher schreibe.

Für LF, danke, dass du meine Minna bist.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Im Lager der Pouakai

Kapitel 3

Kapitel 4

Im Lager der Pouakai

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Diana

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Balian

Kapitel 23

Kapitel 24

Prolog

Leicht und munter tanzten zarte Schneeflocken in der Luft und rieselten zu Boden. Noch wärmten die letzten Strahlen der schwächer werdenden Sonne die Erde, sodass der Schnee direkt schmolz. Ich konnte Stunden damit zubringen, den Tanz des Schnees zu beobachten. Jede einzelne Flocke war besonders, hatte einen weiten Weg zurückgelegt und landete schließlich vor mir auf dem Boden, um sogleich zu vergehen. War dieses Schicksal bereits für jede Flocke vorbestimmt, als ihr Weg hoch oben im Himmel begonnen hatte? Hätte ein Windstoß in die richtige Richtung etwas an ihrem Schicksal geändert? Welche Auswirkungen hätte es auf die anderen Schneeflocken oder gar das ganze Land, würde auch nur eine einzelne Flocke ihren Weg nicht antreten?

Ich hatte mich nie beklagt, ganz gleich welche Hürden sich auf meinem Weg auftaten, war ich doch durch ein so besonderes Leben gesegnet. Zu jeder Zeit hatte ich die Gewissheit, nicht alleine zu sein, und wusste, wofür ich kämpfte.

Doch das Schicksal spielt ein gnadenloses Spiel, dessen Einsatz wir selbst nicht bestimmen und dessen Regeln wir bisweilen nicht immer verstehen. Was also bleibt uns, als uns zu fügen in jenes Spiel um Glück, Liebe und das blanke Leben? Wer weiß, wofür er kämpft, für wen er kämpft und wer bereit ist, alles zu opfern, der kann seinem Schicksal ins Auge sehen. Der Tanz des Schnees ist kalt und wirr. Einfach zu fallen, ist leicht. Doch achte auf den Wind, der von jeder Seite kommen kann …

Es war ein grauer Morgen, der mich empfing, als ich die schweren Fensterläden öffnete. Das alte Holz knirschte und ächzte, als wäre es noch zu früh am Tag, um bewegt zu werden. Ich atmete die frische und kühle Luft tief ein und schloss für einen Moment die Augen. Die Luft im Inneren meiner Kammer war stickig und feucht, auch wenn ich stets das Fenster geöffnet hielt. Nicht jeder Bewohner der Burg hatte das Glück, ein so großes Fenster zu haben, doch ich empfand es mehr wie ein winziges Guckloch, durch das ich nur einen kleinen Blick auf die unendlichen Weiten außerhalb der Burgmauern erhaschen konnte. Ich ging zu der mächtigen Truhe am Fuß meines Bettes und ließ den Anblick des Aeger hinter mir. Heute war der Tag, an dem die gefangenen Geächteten aus den Minen des Aeger freigelassen werden sollten. Heute war der Tag, für den ich die Stämme hinter mir gelassen hatte, und mit ihnen auch den Mann, den ich liebte. Balian. Es verging kein Augenblick, kein Atemzug, an dem ich ihn nicht mit jeder Faser meines Körpers vermisste. Doch viel schlimmer als die unerträgliche Sehnsucht nach ihm war die Ungewissheit, wie es ihm erging. Ich wusste, dass er nicht böse sein würde und dass er meine Entscheidung verstand, denn niemand auf dem Land des Großen Geistes kannte mich besser als er. Aber so vollkommen von ihm getrennt zu sein, war, als versuche eine scharfe Klinge unser junges Band zu durchtrennen.

Das Licht der Sonne konnte sich kaum den Weg in meine Kammer bahnen und so entzündete ich einige Öllampen, um einen besseren Blick auf die Kleider in meiner Truhe zu bekommen. Der Staub tanzte in der Luft, als ich sie öffnete, und eine kleine Motte flog mir entgegen. Sie erinnerte mich an eine Zeit, lange bevor ich überhaupt von den Adlern wusste. Es war eine mächtige Burg, in der ich mich befand, und dennoch, ich würde alles dafür tun, wieder in meinem Zelt sein zu dürfen.

Lustlos kramte ich in der Truhe, fand aber kein Kleid, das ich auch nur im Ansatz gerne tragen würde. Meine lederne Hose und die lockere Bluse aus Leinen hatte man mir abgenommen, noch bevor ich die erste Nacht an diesem Ort verbracht hatte. An ihrer statt besaß ich nun Kleider, um die mich selbst die feinsten Damen der Stadt beneiden würden. Ich aber hasste jedes einzelne davon.

»Wenn es mir nicht einmal möglich ist, diese Dinger alleine anzuziehen, wie soll ich mich darin bewegen können?«, fragte ich Lucia niedergeschlagen.

Lucia schloss die Tür meines Zimmers hinter sich und eilte zum Fenster, um die Läden wieder zu verschließen. »Es ist viel zu kalt, Ihr werdet euch verkühlen«, tadelte sie mich.

»Wie konnte ich nur die letzten Jahre überleben«, antwortete ich und rollte übertrieben mit den Augen. »Mir ist vollkommen gleich, welches dieser Dinger ich heute tragen werde, ich werde diesen Raum vermutlich ohnehin nicht verlassen.«

»Verliert nicht den Mut«, sagte Lucia und lächelte höflich. »Bald werdet Ihr mehr Freiheiten bekommen, dessen bin ich mir gewiss. Dracon ist ein guter Mann, er will gewiss nur das Beste für Euch.«

Lucia war eine wunderschöne Frau und ungefähr in meinem Alter. Ihr dickes, braunes Haar trug sie immerzu in einem tiefen Zopf, der von einem dunkelblauen Band zusammengehalten wurde. Wie an jedem Tag trug sie auch heute die schlichte Arbeitskleidung, die jede Magd oder Zofe besaß. Ich genoss ihre Gegenwart, denn sie ließ mich für den Moment vergessen, wie einsam ich war.

»Wann wirst du mir endlich verraten, welcher junge Mann dir dieses schöne Haarband geschenkt hat?«

Lucia errötete augenblicklich. »Als Erstes werde ich Euch in dieses Kleid helfen und dann habt Ihr hoffentlich vergessen, dass Ihr mich gefragt habt«, sagte sie verlegen.

»Ich habe dir schon an die hundert Mal gesagt, dass du mich nicht mit diesen höfischen Floskeln ansprechen musst. Ich verstehe nicht, warum ich darauf bestehen sollte, in der Mehrzahl angesprochen zu werden?«, fragte ich und ließ mich auf dem Schemel neben dem großen Kamin nieder, damit Lucia meine Haare kämmen konnte. Es war mir ein Rätsel, warum ich mir nicht selbst einen Zopf flechten durfte, aber sie bestand beharrlich darauf, sodass ich meinen Widerstand aufgegeben hatte.

»Ihr seid die zukünftige Gemahlin des Prinzen und so seid Ihr nur dem König und Eurem Mann unterstellt. Ihr werdet die mächtigste Frau im ganzen Land sein. Euch anders anzusprechen, wäre respektlos, vor allem für eine einfache Zofe wie mich«, erklärte Lucia und band mein Haar hoch.

»Ich bin bereits die mächtigste Frau im Land«, sagte ich gedankenversunken. »Eigentlich ist der König mir unterstellt, doch im Augenblick bin ich nicht mehr als seine Gefangene.«

»Ihr müsst Vorsicht walten lassen. Solche Worte können Euch schnell zum Verhängnis werden.«

»Wenn die Wahrheit einem zum Verhängnis wird, dann hat sich in dieser Stadt wahrhaftig nichts verändert. Ich hatte gehofft, es wäre anders«, sagte ich, ermüdet von Erkenntnissen wie diesen.

»Ihr irrt euch«, sagte Lucia schmunzelnd. Das Kleid, das sie aus der Truhe zog, war aus kostbarer dunkelroter Seide gefertigt. Andächtig strich sie über die feinen Blumenranken, die an Saum und Kragen gestickt und mit winzigen Rubinen besetzt waren. Die Schnürung auf der Rückseite des Kleides verriet mir, dass ich mich weder darin bewegen, geschweige denn vollständig einatmen können würde.

»Dieses Kleid passt zu einem wichtigen Tag wie diesem. Der Prinz ist bereits in der Morgendämmerung mit einer Gruppe Soldaten zu den Silberminen aufgebrochen. Stellt Euch vor, das ist allein Euer Verdienst.«

Ich machte einen großen Schritt und stieg vorsichtig in das Gewand, das einen blumigen Duft verströmte. Zahlreiche kleine Säckchen, mit getrocknetem Lavendel gefüllt, lagen zwischen meinen Kleidern in der Truhe. Sie sollten wohl die Motten fernhalten, die sich so gerne von kostbarer Kleidung ernährten. Mit mäßigem Erfolg, wie sich gezeigt hatte. Lucia zog das Gewand über meine Schultern und strich den feinen Stoff glatt.

»Es mag mein Verdienst sein, doch zu welchem Preis?«, fragte ich und betrachtete mich in dem großen Spiegel, der zwischen Kamin und Tür stand. »Ich habe mein eigenes Volk im Stich gelassen, um ein anderes zu retten. Ich kann die Geschicke meines Stammes nicht mehr leiten, geschweige denn weiß ich, wie es ihnen ergeht. Ich kann dir gar nicht sagen, wie gerne ich die Fensterläden öffnen und einfach losfliegen würde, zurück zu meiner Familie.«

Lucia sah mich mit diesem Blick an, den ich auch in Dracons Augen gesehen hatte, damals, als ich mit Balian auf die Burg gekommen war, um mit dem König zu verhandeln. Ihre Augen glühten voller Neugierde und Ungläubigkeit, dass es Menschen wie mich gab, denen es möglich war, sich einfach so in den Himmel zu erheben und zu gigantischen Adlern zu werden.

»Versprecht mir, dass Ihr das nicht tun werdet«, sagte sie ernst. »Die Wachen würden Euch vermutlich vor Schreck vom Himmel schießen, ehe Ihr den Burghof überquert habt. Doch wenn es Euch so sehr schmerzt, von den Stämmen getrennt zu sein, und Ihr all das hier gar nicht wollt, warum seid Ihr hergekommen? Ich weiß nicht viel von dem, was in den Sälen des Königs gesprochen wird, aber ich dachte, ihr wärt freiwillig auf das Angebot eingegangen.«

»Mich hat niemand gezwungen, das ist richtig, doch eine Wahl hatte ich nicht. Wäre ich nicht auf die Forderung eingegangen, hätte man die Geächteten getötet. Das konnte ich nicht zulassen, denn es ist auch ihr Verdienst, dass wir die ewige Nacht besiegen konnten. Ganz davon zu schweigen, dass der König durch sein Verhalten mehr als deutlich gezeigt hat, wie viel ihm an dem Frieden liegt. Ohne Zweifel hätte mein Volk den König dazu zwingen können, sein Versprechen zu halten, doch das hätte viele Menschen das Leben gekostet und das widerspricht den Werten der Adler. So habe ich mich dafür entschieden, vorerst dem König seinen Willen zu geben und dafür alles zurückgelassen, was ich liebe.«

»Was liebt Ihr denn?«, fragte Lucia neugierig und sah sogleich verlegen zu Boden, als sie begriff, dass ihr Fragen wie diese eigentlich nicht zustanden.

Ich liebe Balian, mehr als alles andere auf der Welt und mein Herz schmerzt so entsetzlich, dass ich fürchte, daran zu zerbrechen, dachte ich. »Ich liebe meine Freiheit und meine Familie«, sagte ich und rang mir ein kleines, flüchtiges Lächeln ab.

»Vielleicht ist heute der richtige Tag, um mit Dracon über Euren Wunsch zu sprechen. Das wollt Ihr schon seit Tagen, und wenn es mir freisteht, das zu sagen: In diesem Kleid wird er Euch keine Bitte abschlagen können«, stellte Lucia fest und verließ meine Kammer mit einem höflichen Knicks.

Sofort ging ich zum Fenster, um die Läden erneut weit zu öffnen. Auch wenn es mittlerweile bereits Mittag sein musste, war die Spitze des Aeger noch immer in dichten Nebel gehüllt. Ob die Geächteten bereits frei waren? Vielleicht hatte ich heute tatsächlich die Gelegenheit, mit Dracon zu sprechen. Nur sehr selten durfte ich meine Kammer verlassen, denn insbesondere der König gab sich die größte Mühe, mich von allem und jedem abzuschotten. Dass ich in seinen Handel eingewilligt hatte, hieß keineswegs, dass ich meine Position als Oberste Adlerin aufgegeben hatte, auch wenn er das vergessen zu haben schien. Seufzend ließ ich mich rücklings auf das riesige Bett fallen und blickte in den schweren, dunkelblauen Stoff, aus dem der Betthimmel gefertigt war. Blau war eine der teuersten Farben, das wusste ich noch allzu gut von damals. Dieses alte Leben schien mir so weit entfernt, als wären Jahrzehnte seitdem vergangen. Der Wert des Betthimmels allein könnte wohl ein Jahr lang eine ganze Familie ernähren. Der Gedanke widerte mich an. Ja, heute würde ich Dracon darum bitten, zumindest den Briefkontakt zu meinem Stamm aufnehmen zu dürfen. Ich mochte ja seine Gemahlin werden und auch war ich nicht blind und konnte sehen, dass ich für den König nicht mehr als ein Druckmittel war, um die Stämme in Schach zu halten, doch sie konnten mich nicht vollkommen von den Adlern fernhalten. Ich streckte meine Arme von mir und stellte mir vor, ich würde nicht vollkommen allein in einem viel zu großen Bett liegen, sondern mit Balian durch die Luft wirbeln. Ich sah sein Gesicht genau vor mir. Seine dunklen Haare, durch die ich so gerne meine Finger wandern ließ, das Gold in seinen Augen, das flüssig zu werden schien, wenn man genau hinsah, und seine Wangenknochen, an denen man glaubte, sich schneiden zu können. Für einen Augenblick sah ich ihn so deutlich vor mir, dass ich versucht war, die Hand nach ihm auszustrecken. Unser Band war noch sehr jung, aber ich spürte seine Stärke und dass es uns verband, auch wenn wir auf diese Weise getrennt waren. Noch eine ganze Weile lag ich so dort, die Augen geschlossen und stellte mir all die Dinge vor, die ich so unendlich vermisste. Wie konnte es sein, dass ich erst seit einem Mond in dieser Burg war, wenn es sich doch anfühlte wie eine unerträgliche Ewigkeit?

Als ich es nicht mehr länger ertragen konnte, mir Balians Gesicht auszumalen, griff ich nach dem kleinen Buch, das Dracon mir vor einigen Tagen gegeben hatte. Das Lesen hatte mir nie besonders am Herzen gelegen, denn seit jeher fehlte mir die Geduld. Nun aber, da es rein gar nichts gab, was ich Besseres mit meiner Zeit hätte anstellen können, waren Geschichten eine willkommene Ablenkung. Zudem konnte ich mich so davon abhalten, mir alle möglichen Fluchtwege zu überlegen. Wir werden einen Weg finden, diese verzwickte Situation zu lösen, sagte ich mir. Wenn jemand das schafft, dann Balian und meine Freunde. Ich strich über den Einband aus dunkelbraunem Leder, der von feinen Rissen durchzogen war. Das Buch musste bereits sehr alt sein. Die Ecken waren in goldene Klammern gefasst und auch die tief in das Material geprägten Buchstaben waren mit Gold veredelt. Es handelte sich um eine Sammlung alter Geschichten und Sagen, die das Leben im Land des Großen Geistes schilderten, lange bevor es die Stadt und die Burg gegeben hatte. Ich hatte es bisher nicht über die ersten Seiten hinausgeschafft, sodass ich noch keine Worte über mein eigenes Volk gefunden hatte, doch ich konnte mir sehr gut vorstellen, in welcher Weise wir dargestellt wurden. Als ich die Seiten aufschlug, empfing mich der Geruch nach altem Papier und lang vergangener Zeit. Ich wusste nicht, warum, doch dieser Duft, der Anblick der vergilbten Seiten und die verschlungenen Buchstaben hatten eine beruhigende Wirkung auf meinen sich windenden Verstand. Vielleicht war das der Grund, warum Aileen mich schon als Kind immer zum Lesen animieren wollte. In diesen Tagen dachte ich oft an meine Schwester, ja, sogar den Grafen, wo auch immer er war. Sie hätte gewusst, wie ich mich verhalten musste, wie man mit dem König sprach, ohne ihn zu verärgern, und was es bei der Vermählung mit einem Prinzen noch alles zu bedenken gab. Auch an sie wollte ich schreiben, auch wenn ich mir sicher war, dass meine Freunde sie bereits darüber in Kenntnis gesetzt hatten, wo ich war.

»In jener Zeit, als das Gras so hoch stand, dass es auch erwachsene Männer überragte, arbeiteten die Menschen härter denn je, das Land urbar zu machen und seinen Wert zu steigern …«, begann ich zu lesen und versank in der Geschichte.

Ein zaghaftes Klopfen an meiner Tür riss mich unvermittelt aus meinen Gedanken. Ich hatte das Zeitgefühl ganz und gar verloren und mich vollkommen in mein Buch vertieft.

»Evanna?« Ich glaubte, Dracons Stimme vor meiner Tür zu erkennen.

Schnell erhob ich mich aus dem Bett und strich den Stoff meines Kleides glatt. Nun war also der Moment gekommen, alles zu versuchen, um wieder Kontakt mit meinem Volk aufnehmen zu können. Mein Herz raste, aber ich versuchte, einen selbstsicheren Eindruck zu vermitteln.

»Kommt herein«, sagte ich so selbstbewusst ich konnte.

Dracon betrat zögerlich den Raum und senkte seinen Blick höflich zur Begrüßung.

»Es freut mich, Euch wohlauf zu sehen, Evanna«, sagte er freundlich. Er war in der Tat das genaue Gegenteil seines Vaters und ich fragte mich seit unserer ersten Begegnung, wie wohl seine Mutter ausgesehen haben mochte. Dracon trug Beinkleider, wie sie seit längerem Mode in der Stadt waren: nicht mehr so weit geschnitten und aus festem Stoff gewebt, der jedoch Bewegung erlaubte. Ich musste schmunzeln, denn die Kleidung der Menschen wurde der unseren immer ähnlicher. Seine hohen Stiefel verrieten mir, dass er eben erst mit seinem Pferd zurückgekehrt sein musste. Auch das dunkelblonde Haar war etwas zerzaust und seine glatt rasierten Wangen leicht gerötet von der kühlen Luft.

»Was kann ich für Euch tun, mein Prinz?«, fragte ich und konnte es nicht vermeiden, dass ein leichter Spott aus meinen Worten klang. Die höfischen Floskeln lagen mir allzu bitter auf der Zunge.

»Eure Anwesenheit auf unserer Burg ist wahrlich Tat genug«, antwortete Dracon und wurde noch ein wenig röter. »Gestattet mir zu bemerken, dass Euer Anblick die schönste Blume in den Schatten zu stellen vermag.«

»Ich danke Euch«, sagte ich. »Setzt Euch, ihr seht erschöpft aus.« Ich deutete auf die beiden Lehnstühle, die neben dem Kamin standen. Dracon nahm das Angebot dankend an und ich nahm neben ihm Platz.

»Es war wahrhaftig ein wichtiger Morgen«, sagte Dracon. »Noch vor Sonnenaufgang habe ich mich mit einigen meiner Männer auf dem Weg zum Aeger gemacht, um das Versprechen meines Vaters einzulösen. Ich hoffe, es freut Euch so sehr wie mich, dass alle Geächteten die Silberstollen verlassen haben und sich nun auf dem Weg zurück in ihre Schluchten befinden.«

»Fürwahr, das sind wunderbare Nachrichten«, sagte ich so überzeugend ich konnte. Mir fiel in der Tat ein Stein vom Herzen, doch es machte mich wütend, was dazu notwendig gewesen war, dieses Versprechen wahr werden zu lassen.

»Dennoch liegt Euch etwas auf dem Herzen, wenn ich mich nicht irre«, sagte Dracon mild.

»Ihr irrt Euch nicht.«

»Bitte sprecht offen. Nichts liegt mir mehr am Herzen als Euer Wohlbefinden«, sagte er und ich glaubte es ihm.

»Nun, ich weiß all das zu schätzen, was man mir hier entgegenbringt«, begann ich vorsichtig. »Doch eines scheint mir dabei leider in Vergessenheit geraten zu sein: Ich bin noch immer Oberste Adlerin und somit Anführerin der geeinten Stämme. Seit einem ganzen Mond bin ich nun hier und konnte noch keinen Kontakt mit meinem Volk pflegen. Ich weiß um die Sorgen des Königs, aber ich fürchte die Konsequenzen werden schlimm sein, wenn ich mich nicht um die Belange meines eigenen Volkes kümmern kann.«

Ich sah Dracon erwartungsvoll an und hoffte inständig, die richtigen Worte gefunden zu haben. Er starrte einige Augenblicke in die Flammen des Kaminfeuers, als könnte er dort die geeignete Antwort auf mein Bitte finden.

»Ich verstehe Euch, Evanna«, sagte er schließlich. »Ich würde Euch von Herzen gerne jeden erdenklichen Wunsch erfüllen und es trübt meine Gedanken, Euch in dieser Einsamkeit zu wissen. Doch Ihr kennt meinen Vater gut genug, um zu wissen, dass diese Entscheidung nicht mir allein obliegt. Ich werde mit ihm reden, denn auch ich bin davon überzeugt, dass es nicht weise ist, die Stämme ihrer Führung zu berauben. Die Geschichten über Eure Krieger ängstigen unsere tapfersten Soldaten und auch mich, der ich den berüchtigtsten von ihnen bereits kennenlernen durfte. Damals, als ich Euch das erste Mal gesehen habe.«

Mein Herz schlug höher, als er von Balian sprach, und es zerbrach sogleich in Tausende kleine Scherben, doch ich durfte mir nichts anmerken lassen. »Auch ich erinnere mich noch gut an diesen Tag und Ihr liegt sehr richtig. Unsere Krieger sind nicht zu unterschätzen«, sagte ich. Im Gegensatz zu seinem irren Vater konnte Dracon offensichtlich einschätzen, dass er es mit der Siegermacht des letzten Krieges zu tun hatte.

»Ich werde mit dem König sprechen, aber erwartet bitte nicht zu viel. Euch zu enttäuschen, wäre das Letzte, was ich will«, sagte Dracon.

»Wenn es Euch gelingen würde, dass ich mich zumindest über Briefe an mein Volk wenden kann, so wäre das eine wahre Erleichterung.«

Dracon nickte zustimmend und ließ seinen Blick durch den Raum wandern. Lucia hatte mir bereits erzählt, dass der Prinz persönlich das Zimmer für mich hatte herrichten lassen. Er schien zu begreifen, dass es sein Vater war, der mich durch sein Ultimatum gezwungen hatte, auf die Burg zu kommen. Diese Ehen, wie auch wir eine eingehen sollten, waren gang und gäbe bei den Adligen der Menschen, doch auch Dracon war offensichtlich nicht wohl bei dem Gedanken daran, dass ich nicht freiwillig hier war. Wenigstens gab er sich alle Mühe, es mir so angenehm wie möglich zu gestalten, und sein Interesse an mir schien aufrichtig.

»Ihr lest gerne?« Dracon deutete zum Bett, wo mein Buch noch immer aufgeschlagen lag.

»Ja«, antwortete ich und lächelte. »Es lenkt mich von dem Gedanken ab, ein Vogel in einem Käfig zu sein. Es mag ein goldener Käfig sein, doch es bleibt, was es ist.«

Dracon sah betroffen zu Boden. »Es betrübt mich, dass Ihr so empfindet«, sagte er. »Wenn es nach mir ginge, so dürftet Ihr Euch frei bewegen, doch der König fürchtet, Ihr könntet fliehen oder Unfrieden stiften. Er will Euch so lange abschotten, bis unsere Verlobung offiziell ist und auch dem Volk verkündet wurde. Es schmerzt mich sehr, dass Ihr darunter leiden müsst.«

»Eure Aufrichtigkeit erfreut mich sehr«, sagte ich, denn ich sah, wie sehr sich Dracon ob seiner Unmündigkeit schämte. »Nun seid Ihr es, dem etwas auf dem Herzen liegt, nicht wahr?«

Das Knistern der Glut erfüllte die Stille zwischen uns, wie leises unverständliches Flüstern. Wenn ich des Nachts nicht schlafen konnte, glaubte ich manchmal, die Flammen sprechen zu hören.

»Lasst mich Euch ein Geschenk machen«, sagte Dracon schließlich und stand schwungvoll auf. Ich musste lachen, als sein Stuhl beinahe nach hinten umgefallen wäre.

»Ich verstehe nicht ganz«, sagte ich.

»Folgt mir«, flüsterte Dracon geheimnisvoll und führte mich zur Tür. »Mein Vater hält gerade eine Audienz für seine treuen Anhänger ab, sodass uns wohl niemand auf den Gängen begegnen dürfte.«

Gleichermaßen überrascht und neugierig folgte ich dem Prinzen aus meinem Zimmer, hinaus in die dunklen Gänge der Burg. Mein Zimmer lag im Ostflügel, so viel hatte ich bei den wenigen Malen, in denen ich es verlassen hatte, herausfinden können. Das Kerzenlicht hüllte die langen Flure in einen gelblichen Schein und erfüllte die Luft mit dem schweren Duft nach Bienenwachs und Ruß. Wir bogen zwei Mal nach rechts ab und erreichten eine Wendeltreppe, die hinauf in den hinteren, nach Westen gewandten Turm führte. An einem der kleinen Turmfenster hielt ich inne. Der Turm war hoch genug, um mir das Gefühl zu vermitteln, den gigantischen Aeger auf Augenhöhe zu betrachten.

»Gelegentlich glaube ich, er beobachtet uns«, sagte Dracon und blickte über meine Schultern.

Mir fiel auf, dass ich noch nie mit ihm alleine gewesen war.

»Ich denke, das tut er«, sagte ich, und wir stiegen weiter die lange gewundene Treppe empor, bis wir eine schwere hölzerne Tür erreichten. Dracon schloss sie auf und reichte mir die Hand. Für den Bruchteil eines Augenblickes sah ich Balian vor mir und spürte ein leichtes Ziehen, tief in meinem Herzen. Wie gerne wäre ich doch bei ihm. Als ich Dracon über die Türschwelle folgte, stockte mir der Atem. Der kreisrunde Raum, den ich betrat, war vollkommen anders als alles, was ich bisher in dieser Burg gesehen hatte. Die Wände aus kaltem Gestein waren mit Holz vertäfelt und das Gewölbe der Decke mit Kalk weiß getüncht. Bis ganz nach oben ragten Regale, gefüllt mit Abertausenden Büchern, von denen keines dem anderen glich. Ein riesiger Kronleuchter hing von der Decke herab und tauchte den großen Raum in ein warmes, angenehmes Licht. Von der Tür aus, in der ich noch immer wie gebannt stand, sah ich vier große Turmfenster, deren Fensterbänke sehr breit und mit Fellen ausgelegt waren, sodass man sich dort zum Lesen niederlassen konnte. Aileen hatte mir schon von diesem Ort erzählt, den nur sehr wenige Menschen je zu Gesicht bekamen. Sie selbst war nie hier gewesen. Dies musste die private Bibliothek des Prinzen sein, für die er Bücher aus dem ganzen Land kommen ließ.

»Es ist nur ein Raum voll mit Büchern, doch bis ich meinen Vater überzeugen kann, Euch mehr Freiraum zu geben, bieten die Bücher Euch vielleicht ein wenig Abwechslung.«

»Es ist wunderbar«, sagte ich dankend. Es war ein großes Geschenk, das Dracon mir machte, und ich wusste um das Risiko, das er einging, indem er mich hierherbrachte. Doch so sehr ich mich drüber freute, so sehr schämte ich mich dafür, denn ich wusste, wie viele Frauen in dieser Stadt alles dafür getan hätten, nun an meiner Stelle zu sein. Ich aber dachte unentwegt an den Mann, den ich eigentlich liebte und nach dem sich mein ganzes Herz und mein ganzer Körper verzehrten. Ich stand inmitten der kostbarsten und schönsten Bücher und hätte alles dafür getan, nicht hier, sondern im Wald zu sein, allein, nur mit Balian. Gefesselt von der Vorstellung sah ich aus dem Fenster und vergaß alles um mich herum.

»Ich gebe Euch den Schlüssel, damit Ihr herkommen könnt, so oft Ihr möchtet«, sagte Dracon, und ich musste zurück in die Realität finden.

»Ich danke dir«, sagte ich und nahm den schmiedeeisernen Schlüssel entgegen. In Anbetracht des Vertrauens, das Dracon mir bewiesen hatte, beschloss ich, die Floskeln abzulegen und seine Reaktion abzuwarten.

»Ich lasse dich nun allein«, sagte Dracon mit einem Lächeln und verließ die Bibliothek.

Ich setzte mich auf die Fensterbank und ließ meinen Blick über die unzähligen Buchrücken schweifen. In ihrer Gesellschaft fühlte ich mich behütet und weniger einsam. Schnell schweiften meine Gedanken wieder zu Balian und mir, alleine irgendwo im Wald der Lichter.

Im Lager der Pouakai

Als ich mich zur rechten Seite des Bettes drehte und mein Griff ins Leere ging, fuhr ich erschrocken hoch. Entmutigt und kraft los ließ ich mich wieder zurückfallen. Seit einem ganzen Mond erwachte ich nun auf diese Weise, meist Stunden, bevor die ersten Strahlen der Sonne die Nacht vertrieben hatten. So war es auch dieses Mal. Ich gab mir nicht die Mühe, es noch einmal mit dem Einschlafen zu versuchen. Die vergangenen Nächte hatten gezeigt, wie sinnlos das war. Kein Schrecken, den ich je erlebt hatte, kam dem gleich, jeden Morgen aufs Neue festzustellen, das Ev nicht mehr da war. Ich streifte meine Kleidung über und trat in die Nacht. Die Ruhe im Lager war trügerisch. Seit Ev sich entschieden hatte, der Forderung des Königs vorerst nachzugeben, war der Stamm in Aufruhr. Ich wusste, dass sie versuchte, den Frieden für uns alle zu sichern, und empfand keine Wut, nur Verständnis vom ersten Augenblick an, aber das linderte den Schmerz nicht. Im Gegenteil. Die Kälte der Nacht durchdrang meine Kleidung erbarmungslos, doch ich fror nicht. Ohne Evanna war mir jegliche Wärme abhandengekommen und Kälte und Dunkelheit erschienen mir in diesen Tagen gute Begleiter zu sein. Ich lenkte meine Schritte durch die Reihen der Zelte, ohne zu wissen, wohin sie mich führten. Mein Verstand fühlte sich an wie eine dunkle, undurchsichtige Wolke und ganz gleich, wonach ich suchte, das Einzige, was ich fand, war Evannas Abbild und der Schmerz, den es brachte. Fest und kraftvoll sprang ich vom Boden ab, spürte, wie die Federn den Wind einfingen und die Instinkte des Adlers die Führung übernahmen. Hoch in der Luft, in Gestalt des mächtigen Raubvogels, fühlte ich mich nicht mehr machtlos und untätig. In diesem Körper konnte ich vor allem ein Gefühl vergessen: Angst. Die Angst, der Frau, die ich liebte, könnte etwas geschehen. Angst, die Frau, die ich liebte, könnte sich in der Burg heimisch fühlen. Angst, die Frau, die ich liebte, würde mich vergessen. Als Adler spürte ich das Band, das Evanna und mich verband, noch viel intensiver. Es dauerte nicht lange und ich flog so hoch, dass die Wolken unter mir lagen wie eine zweite Welt. Hier oben schien die Zeit langsamer zu vergehen, und die Erbarmungslosigkeit des Lebens verlor an Bedeutung. Noch nie hatte ich so sehr den Wunsch verspürt, für immer in dieser Gestalt zu bleiben, fernab von den Machtspielen der Menschen und den Opfern, die sie forderten. Die Sonne erwärmte allmählich die Luft und hüllte die Wolken in einen sanften Schein. Wie ein Meer aus Gold schwebten sie über dem Land des Großen Geistes. Ich schloss die Augen und verlagerte mein ganzes Gewicht nach vorne. Schneller als jeder Pfeil schoss ich senkrecht nach unten, durchdrang die Wolken und näherte mich so schnell dem Boden, dass alles um mich herum verschwamm. Wie einfach wäre es gewesen, die Flügel nicht zu spreizen und wie ein Blitz in den Boden einzuschlagen … Doch Evannas Bild vor meinen Augen verbot mir diesen Gedanken und ich spannte die Flügel weit auf. Bevor ich den Boden berührte, hatte ich wieder die Form eines Kriegers angenommen, der sich erbärmlich und machtlos fühlte.

»Schläfst du überhaupt noch, mein Freund, oder verbringst du die Nächte nur noch in gefiederter Gestalt?«, fragte Farin, der mich mit wissendem Blick am Eingang des Lagers erwartete.

»Ich wünschte, es wäre so«, sagte ich.

»Schlaf ist für uns ebenso wichtig wie Wasser und Nahrung«, sagte Farin und begleitete mich zurück ins Viertel der Krieger.

»Was wäre ich nur ohne deine Weisheiten«, entgegnete ich kühl. Ich wusste genau, dass er versuchte mich aufzumuntern, doch das war ebenso zwecklos wie in den Tagen zuvor. »Ich schätze dich sehr, mein Freund, aber es gibt nichts, was du sagen oder tun könntest, das den Schmerz meines Herzens zu lindern vermag.«

Farin sah mich durchdringend an. Ich sah, wie sehr ihn meine Worte besorgten, doch er war mein ältester Freund und kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich recht hatte.

»Evanna ist die stärkste und klügste Frau, die ich kenne«, sagte Farin eindringlich. »Und wenn ich eines mit Sicherheit weiß, dann, dass sie uns und vor allem dich nicht im Stich lassen wird.«

»Pass besser auf, dass Minna das nicht hört«, sagte ich und stieß Farin mahnend in die Seite.

»Das sind ihre Worte, nicht die meinen«, sagte Farin grinsend. Offensichtlich war er erleichtert, dass ich meinen Humor nicht gänzlich verloren hatte.

Wir erreichten den Übungsplatz, wo mich bereits eine Gruppe junger Krieger erwartete. Diana sorgte dafür, dass an keinem Tag das Training vernachlässigt wurde, auch wenn es mich alle Kraft kostete, den jungen Kriegern die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie verdienten.

»Wie es aussieht, erwartet man dich schon«, sagte Farin. »Lass deine Laune und deine Wut auf den König nicht an deinen armen Schülern aus.«

»So lernen sie wenigstens, was es bedeutet, einem aufgebrachten Gegner entgegenzutreten«, sagte ich und betrat den Platz.

»Verausgabe dich nicht zu sehr, heute Abend wird ein großer Rat stattfinden. Es soll um Evanna gehen«, sagte Farin im Weggehen.

»Ich weiß«, murmelte ich und verpasste der Strohpuppe zu meiner Rechten einen heftigen Schlag in die Bauchregion. Es gruselte mir zutiefst vor dieser Ratssitzung, denn was wollten wir schon verhandeln? Dass Ev fort war und mit ihr unsere Führung? Oder vielleicht, dass es tatsächlich genügend Stammesmitglieder zu geben schien, die ernsthaft fürchteten, sie habe die Seiten gewechselt? Wenn es jemand wagen sollte, diese Vermutung auszusprechen, wusste ich nicht, ob ich im Stande sein würde, mich zu beherrschen.

Es war ein trister, kalter Morgen, an dem die Sonne kaum zu sehen war. In der Nacht war die Feuchtigkeit aus dem Boden gestiegen und sammelte sich in kleinen Pfützen auf dem sandigen Boden des Trainingsplatzes. Es war keiner der goldenen Herbsttage, wie Evanna sie so sehr liebte, sondern einer dieser Morgen, an denen man am liebsten das Bett nicht verlassen wollte. Es war in den Gesichtern der jungen Krieger zu lesen, dass es ihnen ebenso erging. Ich allerdings konnte es kaum noch ertragen, alleine in unserem Zelt zu sein. Überall sah ich Ev vor mir und sogar ihr Duft lag noch in der Luft. Nicht mehr lange, dachte ich, und er wird verflogen sein. Sogar hier konnte ich ihr Gesicht vor mir sehen und musste an die zahlreichen Male denken, an denen ich sie und Diana beim Üben beobachtet hatte. Ich war damals bereit gewesen, alles zu tun, um Evanna vor den Gefahren zu schützen, die auf uns zukamen, und doch hatte ich sie nicht schützen können.

»Ich dachte schon, du kommst nicht mehr«, sagte Diana und ging an den in einer Reihe aufgestellten Kriegern vorbei. »Schön, dass du da bist.«

»Wie ich sehe, hast du schon angefangen«, sagte ich, ihren beunruhigten Blick ignorierend.

»Nur ein paar einfache Übungen an den Strohgegnern zum Warmwerden.«

Ich sah, dass es etwas gab, das auch sie belastete, doch wer Diana kannte, wusste, dass man sie besser damit in Ruhe ließ, bis sie selbst mit der Sprache herausrückte. Vielleicht war die Sache mit diesem Henry von den Soldaten des Königs doch ernster gewesen, als ihr bewusst war.

Es dauerte nicht lange, bis alle Krieger tropfnass und mit Schlamm überzogen waren, sodass wir das Training abbrachen und auf einen weniger nassen Tag verschoben.

»Lust, selbst ein wenig zu üben?«, fragte Diana und machte eine auffordernde Geste. Oh, sie kennt mich gut, dachte ich.

»Glaubst du etwa, ich hätte das Bedürfnis, mich abzureagieren?«, fragte ich kühl und umwickelte meine Handgelenke mit einem dunklen Stück Leinen.

»Sag mir, dass ich mich täusche«, sagte sie herausfordernd.

Mit aller Energie, die ich nach einem Monat mit viel zu wenig Schlaf aufbringen konnte, schlug ich in ihre Richtung, und Diana wich blitzschnell aus. Sie war eine ebenbürtige Kriegerin und nur wenige andere Frauen konnten ihr auf dem Schlachtfeld das Wasser reichen. Evanna gehörte mittlerweile dazu und ich wusste, dass ihr das nicht gefiel. Jeder Tritt, den ich einstecken musste, erinnerte mich daran, wie wenig Kraft ich hatte, seit Ev das Lager verlassen hatte. Nur mit Mühe schaffte ich es endlich, Diana auf den Boden niederzuringen, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob sie mich nicht hatte gewinnen lassen. Nass bis auf die Haut und vollkommen außer Atem stand ich auf dem Platz.

»Was soll ich nur tun?«, fragte ich wie benommen vor innerem Schmerz.

»Ich weiß es nicht«, sagte Diana. »Das, was euch beide verbindet, habe ich noch nie für jemanden empfunden. Die Stämme kamen schon immer irgendwie zurecht, doch für dich wünsche ich mir von ganzem Herzen, dass wir einen Weg finden, Evanna zu uns zurückzuholen.«

»Wenn es nach mir ginge, hätte ich sie schon längst aus dieser Burg geholt, aber ich weiß, dass sie das nicht will«, sagte ich bitter und verließ den Trainingsplatz. »Sie will nur das Beste für die Menschen und die Adler und vergisst dabei sich selbst. Und mir bleibt nichts, als dabei zuzuschauen, wie ich sie verliere …«

»Du wirst sie nicht verlieren«, rief Diana mir nach, doch warum sollte ich das glauben.

Wie so oft, seit Ev fort war, streifte ich ziellos durch das Lager. Ich konnte mich kaum noch daran erinnern, wie mein Leben ausgesehen hatte, bevor sie zu uns gekommen war. Als ich das hintere Ende des Lagers erreicht hatte, kochte erneut hilflose Wut in mir auf. Hier standen bis vor wenigen Wochen die Zelte, die wir für Adham und seine Männer errichtet hatten. Er war in derselben Nacht verschwunden wie Evanna. Vermutlich hatte er geahnt, wie die Stimmung im Lager sein würde und die Rückkehr in die Schluchten vorgezogen. Wütend trat ich nach einem Stein und schrie meinen Frust hinaus. Er flog einige Meter weit und landete lautlos im hohen, blassen Gras. Verschreckt sprang ein Kaninchen auf und sah sich nervös um.

»Keine Sorge, ich werde dir schon nichts tun«, sagte ich verächtlich und ging zurück ins Lager. »Ich kann ja ohnehin nichts tun.« Als ich über meine Schulter blickte, sah es mir noch immer nach. In seinem Blick lag etwas Nachdenkliches, als versuche es zu verstehen, was an mir nicht stimmte. Liebe, dachte ich, macht selbst den stärksten Krieger hilflos wie ein kleines Kind. Die Sonne hatte sich inzwischen durch das dichte Wolkendach gekämpft, doch der Boden im gesamten Lager war zu feucht, um abzutrocknen, sodass jeder meiner Schritte ein schmatzendes Geräusch verursachte. Nicht mehr lange und es würde der erste große Rat stattfinden, seit Evanna den Stamm verlassen hatte. Joline gab jeden Tag ihr Bestes, um die aufgewühlten Gemüter im Lager zu beruhigen, denn den Rat wollten wir erst abhalten, wenn genügend Zeit vergangen war, um zu wissen, wo wir standen.

»Beim Großen Geist, da bist du ja endlich«, rief Minna mir sichtlich genervt entgegen. »Ich dachte schon, du würdest dich vor dem Rat drücken.«

»Glaube mir, das würde ich gerne«, sagte ich nüchtern.

»Nie zuvor habe ich dich so glücklich gesehen wie mit Evanna, und dich nun so niedergeschlagen zu sehen, bricht mir das Herz. Du hast deine Mauer um dich herum wieder errichtet und dieses Mal ist sie dicker und höher als je zuvor.« In Minnas Worten lag aufrichtige Sorge.

»Ich habe das Licht in meinem Leben verloren, was also sollte mich davon abhalten, mich einzumauern? Ich bin alleine, so wie ich es den größten Teil meines Lebens war«, sagte ich und wollte an Minna vorbei in das große Zelt treten, als sie sich mir in den Weg stellte.

»Du warst nie alleine und bist es auch jetzt nicht«, sagte Minna eindringlich. »Wir werden beraten, was zu tun ist, und eine Lösung finden. Evanna hat dich nicht verlassen und wir werden sie zurückbringen. Ohne sie wären wir alle verloren.«

Ein undurchdringliches Gewirr vieler murmelnder Stimmen drang mir bereits entgegen, als ich das große Zelt noch nicht betreten hatte. Ich hielt kurz inne und ließ die kühle Luft meinen Körper durchströmen. Ich wusste nicht, was ich mehr fürchtete, die Gerüchte und Beschlüsse, die in diesem Rat fallen würden, oder Evannas leerer Stuhl, der neben dem meinen stehen würde, wie eine schmerzhafte Mahnung. Wie ein eiserner Schleier fiel eine kalte Miene über mein Gesicht und ich trat in das Zeltinnere. Augenblicklich verstummten alle Gespräche. Ich war Reaktionen wie diese auf mein Erscheinen hin durchaus gewohnt, dieses Mal aber war es anders. Es geschah nicht aus Respekt, sondern aus Mitleid. Als ich meinen Blick durch die Runde wandern ließ, sahen die meisten Anwesenden peinlich berührt zur Seite. Joline jedoch wirkte wie die Ruhe selbst, auch wenn ich mir gut vorstellen konnte, wie es tatsächlich in ihr aussah. Wer hätte ahnen können, dass es so schnell nach Melisandes Tod zu einer so schweren Prüfung für unseren Stamm kommen würde. Zu meiner Rechten hatten Farin und Minna Platz genommen, gleich neben ihnen Diana. Der Stuhl zu meiner Linken blieb frei. Die Leere neben mir bohrte sich förmlich in mein Inneres, sodass ich es kaum ertragen konnte, ruhig sitzen zu bleiben. In einem Kreis um das wärmende Feuer in der Mitte des Zeltes hatten sich Mitglieder aus jeder Gruppe des Stammes versammelt. Gleich neben Diana saß eine Handvoll der besten Krieger, gefolgt von Jägern und Spähern. Im Kreis uns gegenüber, direkt neben Joline, befanden sich auf der einen Seite die Heiler und auf der anderen die Stammesältesten. Nicht selten brachten Mütter ihre Kinder zu den Versammlungen mit, damit sie lernten, wie wir Adler wichtige Entscheidungen trafen. Evanna hatte diese Idee gehabt und sich vehement dafür eingesetzt. Heute aber waren keine Kinder zugegen und das war vermutlich auch besser so. Die Stimmung war spürbar angespannt, und seitdem ich das Zelt betreten hatte, füllte nur das Knistern des Feuers die Stille.

»Es ist an der Zeit zu beginnen«, sagte Joline ruhig, aber so bestimmt, dass kein Zweifel daran entstand, dass sie diesen Rat leitete. »Ich denke, wir haben lange genug gewartet und es gibt viel zu besprechen. Inzwischen haben wohl alle Mitglieder des Stammes mitbekommen, dass unsere Oberste Adlerin Evanna das Lager verlassen musste, um dem Drängen des Königs zu folgen. Wir wollen nun beraten, was zu tun ist und wie die Geschicke des Stammes unter diesen Gegebenheiten weiter gelenkt werden sollen.«

»Warum folgt unsere Anführerin dem Drängen des Königs? Sollte es nicht andersherum sein?«, fragte ein älterer Späher verstimmt. In seinem Gesicht stand die gleiche Mischung aus Wut und Unverständnis geschrieben, wie ich sie bei vielen der Anwesenden sehen konnte.

»Weil sie keine Wahl hatte«, sagte Minna genervt. »Der König hat sie erpresst. Er hat ihre Verlobung mit dem Prinzen für das Leben der im Aeger verbliebenen Geächteten gefordert. Ev hätte es nie über sich gebracht, ihr Wohlergehen dem wahnsinnigen König zu überlassen.«

Nachdenkliches Gemurmel erfüllte das Zelt.

»Minna hat recht«, sagte Joline sanft. »Die Geächteten haben uns geholfen, die ewige Nacht zu besiegen. Wer weiß, ob wir das ohne sie geschafft hätten. Sie nun der Gnade der Menschen zu überlassen, hätte gegen alles verstoßen, für das wir Adler stehen.«

»Lasst mich an dieser Stelle die Ängste meiner Männer vortragen«, sagte Dean und erhob sich. Joline nickte ihm zustimmend zu. »Ich kann an dieser Stelle nur für die Späher sprechen, doch ich glaube, dass ich auch vielen anderen Stammesmitgliedern aus dem Herzen spreche. Wir alle lieben und respektieren Evanna, denn nie hat jemand mehr für uns getan als sie. Ihr verdanken wir den Frieden und die neu gewonnene Freiheit. Was aber, wenn sie uns vergisst? Was, wenn sie sich wieder an ihr Leben bei den Menschen erinnert und es dem Leben bei uns vorzieht? Was wären wir, die Pouakai, aber auch alle geeinten Stämme, ohne unsere Anführerin?«

»Vielen Dank, Dean«, sagte Joline und beipflichtendes Nicken ging durch die versammelte Runde.

Ich aber spürte Hitze in mir aufsteigen. Dean hatte die größte Sorge meines Herzens ausgesprochen. Die Erkenntnis, dass ein so großer Teil unseres Stammes diese Sorge teilte, versetzte mich in Panik und Wut zugleich. Mit jedem Gesicht, in das ich sah und in dem ich diese Gedanken ablesen konnte, stieg meine Wut und mit ihr der Frust in unermessliche Höhen. Für einen kurzen Moment noch gelang es mir, mich zu zügeln, in die Flammen zu sehen und diese Worte zu ignorieren, doch dann verlor ich die Fassung.

»Wie könnt ihr es wagen, so über sie zu sprechen!« Meine Stimme donnerte durch das Zelt und es wurde so leise, dass man eine Feder hätte fallen hören. »Nach allem, was sie für uns getan hat, nach allem, was sie aufgegeben hat. Sie hatte doch keine Wahl. Wenn sie dem Fordern des Königs nicht gefolgt wäre, hätte er nicht nur die Geächteten ermordet, es hätte auch nicht mehr lange gedauert, bis uns ein neuer Krieg heimgesucht hätte, und alles, was wir erreicht haben, wäre umsonst gewesen. Während wir hier darüber streiten, ob sie die Gesellschaft der Menschen der unseren womöglich vorzieht, sitzt Evanna dort als Gefangene. Sie hat ihr Leben hier und sich selbst aufgegeben, um eure Zukunft zu sichern. Sie hat sich aufgegeben für euch. Sie hat mich …«

»Balian spricht die Wahrheit«, sagte Farin und bewahrte mich davor, meine Gedanken und Gefühle weiter aussprechen zu müssen. »Es sollte nicht darum gehen, was wir fürchten, sondern darum, was wir tun können.«

Als die Wut meinen Verstand allmählich wieder frei gab und mein Blick klarer wurde, sah ich, dass Farins Worte tatsächlich Anklang fanden.

»Was können wir tun?«, fragte eine Heilerin. Ich hatte sie des Öfteren mit Aileen gesehen, doch noch nie ein Wort mit ihr gewechselt.

»Ich denke, wir sollten sie so schnell es geht befreien«, sagte Diana. »Die Geächteten sind in Sicherheit und wir verfügen über viele fähige Krieger, die sofort bereit wären, alles zu tun, um unsere Anführerin zu retten.«