Adoptiv- und Pflegekindern ein Zuhause geben - Irmela Wiemann - E-Book

Adoptiv- und Pflegekindern ein Zuhause geben E-Book

Irmela Wiemann

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Beschreibung

Es sind meistens ähnliche Herausforderungen, denen sich Eltern stellen müssen, egal ob sie ein Kind adoptieren oder in Pflege nehmen. Wie fängt man frühe seelische Verletzungen durch das Verlassenwerden auf? Wie fördert man Identitätsentwicklung? Wie gestaltet man Kontakte zur Herkunftsfamilie und Geschwisterbeziehungen? Einfühlsam und kenntnisreich gibt dieser Ratgeber Anregungen, welche inneren Haltungen und Konzepte die Familien entwickeln können, um diesen jungen Menschen einen guten Start ins Leben zu ermöglichen. Die Autorin Irmela Wiemann gilt als ausgewiesene Expertin in der Beratung von Pflege- und Adoptiveltern sowie den Herkunftsfamilien. Für diesen Ratgeber hat sie alles Wissenswerte für diese Familien und ihre (Wunsch-)Kinder zusammengetragen, um ihnen eine möglichst positive Entwicklung zu ermöglichen.

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Kinder mit zwei Familien

»Die Autorin sieht stets die Kinder im Mittelpunkt des Geschehens und schreibt in klarer, lesbarer Sprache, was Wichtiges zum Thema ›Angenommene Kinder‹ zu sagen ist. Hier die Meinung einer vom Buch begeisterten Adoptivmutter: ›Dieses Buch gehört zu den besten Sachbüchern, die ich in letzter Zeit zu unserem Thema gelesen habe! In ihrer klaren Sprache gibt Frau Wiemann einen sehr guten Einblick in verschiedene Facetten des Lebens von Adoptiv- und Pflegekindern und deren Familien.‹« Adoption unser Weg e. V.

Irmela Wiemann

Adoptiv- und Pflegekindern ein Zuhause geben

Informationen und Hilfen für Familien

B A L A N C E ratgeber

Irmela Wiemann

Adoptiv- und Pflegekindern ein Zuhause geben

Informationen und Hilfen für Familien

6., überarbeitete Auflage 2021

ISBN: 978-3-86739-287-7

ISBN E-Book (PDF): 978-3-86739-288-4

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-86739-289-1

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© BALANCE buch + medien verlag, Köln 2009, 2014, 2018, 2021

Der BALANCE buch + medien verlag ist ein Imprint

der Psychiatrie Verlag GmbH, Köln. Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlages vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.

Lektorat: Uwe Britten, textprojekte, Eisenach

Umschlagkonzeption: GRAFIKSCHMITZ, Köln,

unter Verwendung eines Fotos von Saimen. / photocase.com

Typografiekonzept: Iga Bielejec, Nierstein

Satz: BALANCE buch + medien verlag, Köln

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

Zu diesem Buch

1 Pflege- und Adoptiveltern – nicht die einzigen Eltern des Kindes

Eltern und Jugendamt geben den Auftrag

Adoption

Familienpflege: unterschiedliche Zeitperspektiven für Pflegekinder

Verwandtenpflege

Sonderpflege und professionelle Pflegefamilien

Bereitschaftspflege

Paten- bzw. Assistenzfamilien

2 Die leiblichen Eltern von Pflege- und Adoptivkindern

Wie können »abgebende« Mütter und Väter ihre Situation bewältigen?

Standort der Herkunftseltern im System »Pflegefamilie – Kind – Herkunftsfamilie«

Rolle und Auftrag von »Besuchseltern«

Was brauchen Kinder von ihren leiblichen Eltern?

3 Der Schmerz, von den Eltern weggegeben worden zu sein

Wie können annehmende Eltern dem Schmerz des Kindes begegnen?

Die Bewältigung des Fortgegebenseins – ein lebenslanger Prozess

4 Frühe Bindungs- und Verlusterfahrungen

Mögliche Folgen früher Verluste auf die Beziehung zu den annehmenden Eltern

»Attacken« auf das Bindungssystem – ein Liebesbeweis des Kindes

Sich nicht wie »andere Eltern auch« verhalten

Neudefinition von Elternsein: mehr Eigenleben für alle Familienmitglieder

5 Das innere Bild von den leiblichen Eltern

Was ist Identität?

Die Identität von Pflege- und Adoptivkindern

Die innere Haltung der annehmenden Eltern gegenüber den Herkunftseltern

Hilfen für die Identitätsentwicklung

Wenn Mutter oder Vater unbekannt bleiben

6 Intensität und Qualität der sozialen Elternschaft

Kurzzeitpflege und zeitlich befristete Pflege

Dauerpflege: unterschiedliche Ausprägungen sozialer Eltern-Kindschaft

Soziale Eltern-Kindschaft in Adoptivfamilien und vergleichbaren Verhältnissen

Glückliche und weniger glückliche Eltern-Kind-Beziehungen

7 Die Wirkung früher Stresserfahrungen auf die Kinder

Seelische Verletzungen

Reaktionsmöglichkeiten in bedrohlichen Situationen

Frühe Stresserfahrungen und ihre Auswirkungen auf die Persönlichkeit

Sind seelisch verletzte Kinder »familienfähig«?

8 Hilfen für Kinder mit frühen Stresserfahrungen

Die innere Haltung der erwachsenen Bezugspersonen

Hilfen und Schutzfaktoren für das alltägliche Zusammenleben

Therapeutische Hilfen für seelisch verletzte Kinder

9 Kontakte der Kinder zu ihren leiblichen Eltern

Seelisch hilfreiche Aspekte der Kontakte für das Kind

Gestaltung von Kontakten

Der Besuchstag – Freude und Kummer für das Kind

Herkunftsfamilie und Pflegefamilie in Balance: Entlastung für die Kinder

Wenn Kinder Kontakte ablehnen

Wann sollten Kontakte ausgesetzt werden?

Kontakte bei offener Adoption

10 Pflege- und Adoptivkinder aus anderen Regionen der Erde

Abrupte Übergänge

Erste Hilfe für die seelischen Wunden

Wie können ältere Kinder schon im Herkunftsland vorbereitet werden?

Angekommen

Große Kraftanstrengungen für das Kind

Die Identität von Adoptivkindern aus fernen Ländern

Pflegekinder aus Einwanderer- und Flüchtlingsfamilien

11 Geschwisterbeziehungen in Pflege- und Adoptivfamilien

Geschwisterbeziehungen – Bedeutung und Entwicklung

Die Geschwistersituation bei Fremdplatzierung

Die Dynamik bei der Aufnahme von Geschwistern

Leibliche Geschwister in der Pflege- und in der Herkunftsfamilie

Leibliche und angenommene Kinder in Pflege- und Adoptivfamilien

Besuchskontakte zu Geschwistern in anderen Familien

12 Jugendzeit und Erwachsenwerden

Jugendzeit von Pflege- und Adoptivkindern

Neue Zweifel am Stellenwert der seelisch-sozialen Elternschaft …

Suche und Wiederfinden der leiblichen Eltern

Nachwort

Literaturverzeichnis

Zu diesem Buch

Pflege- und Adoptivkinder haben – trotz aller Unterschiedlichkeit individueller Lebensläufe – zwei Familien: eine, in der sie leben, und eine, aus der sie stammen.

Was bewegt diese jungen Menschen? Was sind ihre spezifischen Themen? Welche inneren Haltungen und inneren Standorte, welche gesprochenen oder aufgeschriebenen Worte von den sie begleitenden Erwachsenen sind hilfreich? Was können ihnen Pflege- oder Adoptiveltern geben? Aber auch: Was brauchen diese Kinder von ihren leiblichen Eltern, wenn sie zu ihnen Kontakt haben?

Junge Menschen, die in Pflege- oder Adoptivfamilien aufwachsen, haben – neben allen anderen Herausforderungen des Lebens – die Zusatzaufgabe, zwei Familien konstruktiv in ihr Leben einzubauen und in ihrem Innersten zu verbinden. Sie sind häufig von frühen Verwundungen und Abschieden, immer zumindest durch die Trennung von der Ursprungsfamilie geprägt worden und sprechen deshalb eine andere »Seelensprache« als viele Menschen ihrer Umgebung. Dieser Ratgeber will helfen, Kinder und Jugendliche, die von ihrer leiblichen Familie getrennt aufwachsen, zu verstehen und ihnen dadurch besser zur Seite stehen zu können.

So richtet sich das Buch an Menschen, die vor der Entscheidung stehen, ob sie ein Pflege- oder Adoptivkind aufnehmen sollen, an jene, die bereits mit Pflege- oder Adoptivkindern zusammenleben, und auch an diejenigen, die ihr Kind in eine andere Familie abgeben mussten. Es richtet sich aber auch an alle, die fachlich mit Pflege- und Adoptivkindern in Berührung kommen: in Kindergärten, Tagesstätten, Schulen, ob therapeutisch und beratend Tätige und als Bezugspersonen in Institutionen wie Psychiatrie oder Heimerziehung. Und natürlich richtet es sich an soziale Fachkräfte der Jugendhilfe, die Kinder in Adoptions- oder Pflegefamilien vermitteln, begleiten und betreuen und die Hilfeplanung gestalten.

Nach einem Überblick über einige strukturelle Rahmenbedingungen von Pflege und Adoption widme ich diesen Ratgeber den immer wieder aktuellen Themen: frühe seelische Verletzungen der Kinder, der Schmerz, fortgegeben worden zu sein, Identitätsentwicklung für Kinder mit zwei Familien, Kontakte zur Herkunftsfamilie, Geschwisterbeziehungen, Jugendzeit und Erwachsenwerden. An eingefügten Familienbeispielen zeige ich die inneren Haltungen und auch Konzepte auf, die Erwachsene entwickeln können, um angemessene Worte und Handlungen für die jungen Menschen zu finden.

Dieses Buch widmet sich in erster Linie der Konfliktbewältigung und enthält damit viele schwierige Lebensgeschichten von Pflege- und Adoptivkindern. Die glücklichen und konfliktarmen Entwicklungen von Pflege- und Adoptivkindern habe ich nur am Rande erwähnt. In erster Linie wollte ich auf Themen und Fragen eingehen, die mir bei Fortbildungen, Seminaren und Vorträgen oft gestellt wurden. Und das sind nun einmal die bedrängenden Themen. Selbstverständlich aber gibt es immer wieder beglückende Erfahrungen im Zusammenleben mit Pflege- oder Adoptivkindern.

Die emotionalen, frühen Muster in uns allen sind nur schwer zu verändern; der Veränderungsprozess braucht manchmal viele Jahre. Dieses Buch wird auch Schmerz und Trauer anrühren. Das Zulassen dieser Trauer und das damit verbundene neue Fühlen und Denken kann der Beginn für ein zufriedenes Zusammenleben mit Pflege- und Adoptivkindern sein.

Alle gewählten Familienbeispiele sind typisch für viele Familien. Ähnlichkeiten sind rein zufällig. Alle Beispiele wurden so verändert, dass der Schutz der persönlichen Daten gewährleistet ist, oder aber das Einverständnis zur Veröffentlichung wurde von den Betroffenen gegeben.

Mitgeholfen, kritisch gelesen und ermutigt haben mich Gerda Stößinger, Jutta Hitzler und Otto Salmen. Ihnen danke ich. Besonders herzlich bedanke ich mich bei meiner Kollegin und Freundin Eva Ris für ihre fachliche Unterstützung. Herzlichen Dank auch dem Lektor Uwe Britten und dem BALANCE buch + medien verlag für die konstruktive Zusammenarbeit.

Irmela Wiemann

1 Pflege- und Adoptiveltern – nicht die einzigen Eltern des Kindes

»Als Adoptivkind bin ich eine Schwindlerin. Ich bin eine von jenen Trickfiguren, die ständig ihre Größe und Gestalt ändern. Manchmal bin ich ein hilfloses, wankelmütiges Geschöpf, manchmal ein allmächtiges Wesen vom anderen Stern. Ich bin nicht wirklich.« (Lifton 1982, S. 12)

Es ist beachtlich, was Adoptiv- und Pflegeeltern leisten: Sie entwickeln eine Eltern-Kind-Bindung zu einem Kind, das anderswo Eltern hat. Das ist nicht immer einfach. Annehmende Eltern haben einen Doppelauftrag: Sie übernehmen die Elternrolle für ein Kind und sie sollten zugleich das Kind bei seinem außergewöhnlichen Schicksal, nicht bei seinen leiblichen Eltern aufwachsen zu können, intensiv unterstützen und begleiten.

In früheren Jahren konnten die meisten Familien mit dieser besonderen Situation nur umgehen, indem sie die Herkunftsfamilie der Kinder ausklammerten, vielleicht den Kindern gar nichts davon sagten. Heute wissen wir, dass dieses Abtrennen der Existenz der Herkunftsfamilie den Kindern am allerwenigsten hilft. Ihr Vertrauen in ihre zweiten Eltern wird inniger, wenn diese die Herkunftseltern achten, mit dem Kind deren Grenzen betrauern, und ihnen einen emotionalen Platz im Leben des Kindes einrichten. Für die positive Entwicklung von Kindern in Adoptiv- und Pflegefamilien ist die innere Haltung der annehmenden Eltern zu den Herkunftseltern von großer Bedeutung.

BEISPIEL Die fünfjährige Leonie (von Baby an in der Pflegefamilie) trifft ihre leibliche Mama Katja besuchsweise zwei- bis dreimal im Jahr. Dazwischen malt Leonie ihrer Katja-Mama Bilder, bastelt kleine Geschenke und bittet die Pflegemama, diese der Katja-Mama zu schicken. Es vergeht kaum ein Tag, an dem Leonie nicht über ihre Katja-Mama spricht und sich beschwert, dass diese ihr Kind nicht behalten hat. Ihre Pflegemama hat ihr erklärt, dass die Katja-Mama Leonie sehr lieb hat, aber nicht genug Kraft, jeden Tag für ein Kind da zu sein. Leonie fragt dann: »Was ist denn so schwer daran, ein Kind großzuziehen? Die müsste doch nur Essen einkaufen. Alles andere geht doch von selbst.« Und dann versichert sie schnell: »Aber eigentlich will ich ja bei euch bleiben. Hier bin ich daheim!« •

Die Herkunftsfamilie – ganz gleich, wie nah sie ist, ob es Umgang mit ihr gibt oder ob sie für immer unauffindbar bleibt – spielt im Seelenleben der Kinder und damit auch in der annehmenden Familie eine bleibende Rolle. Die Kinder tragen ihre Eltern in sich. »Wir können die Kinder aus ihren Familien nehmen, aber nicht die Familien aus den Kindern«, sagte Riet PORTENGEN (2006) einmal.

BEISPIEL Leonie ist eines dieser Kinder, die zeigen können, dass es wehtut, von der Mama »hergegeben« worden zu sein. Leonie bezieht das ausschließlich auf ihre Mutter. Über den Papa und dass auch dieser sie hätte behalten können, darüber macht sich Leonie keine Gedanken. Hier spiegelt sich das gesellschaftliche Rollenklischee: Es erlaubt Vätern, ohne ihre Kinder zu leben. Den Müttern wird dasselbe jedoch nicht gestattet.

Vermutlich spürt Leonie bei Kontakten zur leiblichen Mutter, wie hilfebedürftig ihre Katja-Mama ist, und möchte gut für sie sorgen.

Es gibt aber noch eine andere mögliche Bedeutung für Leonies demonstrative »Verehrung« gegenüber der leiblichen Mama: Nahezu in jedem fremdplatzierten Kind gibt es die unbewusste oder offene Angst, seine neuen Bindungspersonen könnten es auch wieder hergeben. Deshalb sorgt Leonie vor: Sie signalisiert ihrer Pflegemama: Komme mir nicht zu nah. Ich habe Angst, mich dir ganz auszuliefern.

Leonies Pflegemama, die verunsichert und ein wenig eifersüchtig war, lernte in der Beratung, eine neue innere Haltung sowie die Perspektive des Kindes einzunehmen. Die folgenden Worte zeigen diese innere Haltung. Dies sind keine Worte, die zum Kind direkt gesprochen werden, sondern es handelt sich um eine »innere Ansprache«, eine innere Orientierung: Du hast Angst, auch mich zu verlieren. Die Erfahrung, von der Katja-Mama verlassen worden zu sein, kann ich dir nicht abnehmen. Aber ich kann für dich da sein. Ich erlaube dir, dass du manchmal Stacheln mir gegenüber ausfährst, weil du dich vor meiner Zuneigung schützen willst. Ich will meine Zuneigung unbeirrt aufrechterhalten. Und du darfst deine Katja-Mama verehren und um sie trauern. Ich bin und bleibe deine Jeden-Tag-Mama. •

Wenn es annehmenden Eltern gelingt, die Eltern der ihnen anvertrauten Kinder in ihren Krisen und ihrer Not und ihrem »Anderssein« zu achten und die Untröstlichkeit ihres Kindes anzuerkennen, dann kann das Kind sein Leben mit seinen zwei Familien bewältigen und zu einem starken, das Leben mit seinen glücklichen und schwierigen Seiten meisternden Menschen heranwachsen.

Eltern und Jugendamt geben den Auftrag

Ob ein Kind in Heimerziehung kommt oder ob die Hilfe einer Privatfamilie in Anspruch genommen wird, ob die leiblichen Eltern gar das Kind zur Adoption freigeben, all das ist das Ergebnis eines Klärungs- und Beratungsprozesses der sozialen Fachkräfte des Jugendamtes zusammen mit den betroffenen Herkunftseltern. Und wenn die Kinder alt genug sind, werden auch sie in diesen Prozess mit einbezogen.

Genau genommen erbringen Pflege- oder Adoptiveltern eine »Leistung« für die Kinder- und Jugendhilfe und für die Eltern des Kindes. Auch die Adoption ist zunächst eine »Jugendhilfemaßnahme«. Adoption dient nicht in erster Linie dazu, kinderlosen Paaren zu einem Kind zu verhelfen, sondern will Kindern, die nicht mit ihren leiblichen Eltern leben können, im Auftrag dieser leiblichen Eltern passende neue Eltern zur Seite stellen.

Anders als bei einer Adoptivfamilie bleiben bei einem Pflegekind die leiblichen Eltern mit dem Kind gesetzlich verwandt, selbst dann, wenn ihnen einzelne oder alle Elternrechte entzogen wurden. Pflegeeltern sind einerseits Privatfamilie und erfüllen andererseits einen öffentlichen Auftrag des Jugendamtes. Die leiblichen Eltern haben einen Rechtsanspruch auf diese Hilfe.

Pflegeeltern bekommen Unterhalt für die Lebenskosten des Kindes und ein (kleines) »Erziehungsgeld« für die pädagogische Leistung. Pflegefamilien leben durch das Kind in einem veränderten Familien- und Beziehungsgeflecht. Das Jugendamt hat Beratungs- und Aufsichtspflicht. Durch die Präsenz der leiblichen Eltern gibt es oftmals zusätzliche Themen und Konflikte. Außerdem mischt sich die »Öffentlichkeit« häufig ein: Freunde, Lehrer, Nachbarn, Verwandte, Großeltern des Kindes etc. fühlen sich für ein Pflegekind »mit zuständig«.

Die Besonderheiten einer Adoptiv- oder Pflegefamilie werden in den folgenden Abbildungen der vier Dimensionen der Elternschaft aufgezeigt. Väter und Mütter und auch Pflege- und Adoptiveltern können damit einordnen, welche elterlichen Aufgaben sie innehaben.

Vier Dimensionen der Elternschaft bei Familienpflege

In dem sehr empfehlenswerten Buch Wo gehöre ich hin? von T. Ryan und R. Walker werden nach Vera Fahlberg drei Bereiche der Elternschaft aufgezeigt: die leibliche Elternschaft, die nie mehr aufhebbar ist, die soziale Elternschaft, die nach Jahren der Bindung und des Zusammenseins ebenfalls nicht mehr austauschbar ist, und die rechtliche Elternschaft (RYAN/ WALKER 2020, S. 85).

Vera Fahlberg ordnet die ökonomische Elternschaft der rechtlichen Elternschaft zu. Doch dies ist meines Erachtens ein vierter zentraler Bereich, weil rechtliche Elternschaft und ökonomische Elternschaft oftmals auf verschiedene Personen oder Institutionen verteilt sind.

Die beiden Abbildungen zeigen den Unterschied zwischen einer Pflege- und einer Adoptivfamilie auf. Das Kind wurde von den leiblichen Eltern geboren. Die Pflegefamilie hat ausschließlich – je nach zusammengelebter Zeit – den Bereich der sozialen elterlichen Beziehung inne. Die Rechte liegen entweder weiterhin bei den leiblichen Eltern oder bei einem Vormund. Der Auftraggeber Jugendamt übernimmt die Aufgabe der zahlenden Elternschaft (und die leiblichen Eltern werden weiterhin für die Kosten des Kindes herangezogen). Doch auch viele leibliche Eltern haben Lebenszeit mit dem Kind verbracht und sind soziale Eltern für ihr Kind gewesen. Sie haben jedoch ihre Jeden-Tag-Verantwortung für ihr Kind abgeben müssen.

Vier Dimensionen der Elternschaft bei Adoption

Adoption

Nach dem Abschluss der Adoption sind Adoptivfamilien – im Gegensatz zu Pflegefamilien – ausschließlich Privatfamilien. Adoptiveltern haben alle elterlichen Aufgaben, Verantwortungen und Rechte, genauso wie leibliche Eltern. Sie sind die gefühlsmäßigen Eltern, die rechtlichen Eltern und sie kommen für das Kind allein finanziell auf, bis es einmal selbstständig ist. Das Kind ist auch erbberechtigt. Die rechtmäßige Verwandtschaftsbeziehung zur Herkunftsfamilie ist laut Gesetz erloschen. Allerdings sieht die psychische Realität anders aus. Adoptiveltern leben eine »soziale Elternschaft« und haben es mit nicht leiblichen Kindern zu tun, die in einer anderen Familie Teil einer Generationenkette sind.

Bei der Adoptivfamilie liegt nur die leibliche Elternschaft außerhalb. Die drei restlichen elterlichen Aufgaben, Jeden-Tag-Beziehung, rechtliche Elternschaft und zahlende Elternschaft, werden von den Adoptiveltern übernommen.

Es gibt heute offene Adoptionen, in denen leibliche und annehmende Familien einander kennen, ebenso nach wie vor Inkognito-Adoptionen, bei denen es keinen Datenaustausch zwischen Annehmenden und Herkunftseltern gibt. Seit August 2020 ist ein reformiertes Adoptionsvermittlungsgesetz (AdVermiG) in Kraft getreten. Schwerpunkt der Neuregelungen ist die Aufforderung an die Adoptionsfachkräfte, auf direkte Kommunikation und die Gestaltung von Kontakten zwischen Adoptivfamilie und leiblichen Eltern hinzuwirken. Adoptionswillige und Herkunftseltern sollen frühzeitig für geöffnete Adoptionen gewonnen werden. Auch das Recht des adoptierten jungen Menschen auf Akteneinsicht mit 16 Jahren soll künftig deutlicher gegenüber allen am Adoptionsprozess Beteiligten, auch gegenüber den Jugendlichen selbst, hervorgehoben werden. Im deutschsprachigen Raum nimmt die Zahl der Adoptionen in den letzten Jahren ständig ab – eigentlich eine gute Entwicklung, denn Adoption bedeutet ja immer, dass eine Mutter und ihr Kind sich in einer Notlage befunden haben.

Literatur› K. HAURY, S. LOERKE, J. STAPELMANN und H. ZIMMERLING (2020): Praxisbuch Adoption. Weinheim. ‹

Auslandsadoptionen

Viele unfreiwillig kinderlose Paare bewerben sich um ein Adoptivkind aus einem anderen Land. Wichtig ist, dass diese Eltern nicht ausschließlich »Normalfamilie« sein wollen, sondern sich als internationale und interkulturelle Familie definieren. Eine Auslandsadoption ist eine Alternative für Kinder, die in ihrem Herkunftsland keine Chance auf ein privates Familienleben und eine gute Schulbildung haben. Es darf aber nicht übersehen werden, dass diese Kinder eine besondere Biografie mit vielen tiefen Brüchen mitbringen. Auch bekommen sie bei uns oftmals Diskriminierung und Rassismus zu spüren. Sie benötigen besonders viel Hilfe und Unterstützung durch ihre Bezugspersonen (siehe dazu auch das Kapitel 10).

Bewerberpaare sollten besonders wachsam sein, nicht in illegale Adoptionspraktiken verwickelt zu werden. In manchen Ländern blüht der Handel mit Babys oder Kleinkindern, und selbst ältere Kinder wurden in der Vergangenheit zum Beispiel aus Indien und anderen asiatischen Ländern (teilweise ohne Einwilligung ihrer Eltern) nach USA oder Europa »exportiert«. Ein ähnlicher Handel zeichnet sich in Osteuropa ab.

Anonyme Kindesabgabe

Hochproblematisch ist das Angebot von Babyklappen und anonymer Geburt. Viele Menschen denken zunächst: »Das ist doch ein gutes Angebot. Mütter, die in Gefahr sind, ihr Baby zu töten, können es hier unauffällig in Sicherheit bringen.« Doch anonym geboren oder in eine Babyklappe gelegt worden zu sein, empfinden Kinder als eine besonders radikale Form der Ablehnung. Deshalb wehren sich erwachsene Adoptierte heftig gegen die Möglichkeit der anonymen Kindesabgabe. 2015 wurde das Gesetz zur »vertraulichen Geburt« verabschiedet: Mütter sollen bei der Entbindung ihre Identität vertraulich hinterlassen. Im Alter von 16 Jahren werden diese Daten dem jungen Menschen dann mitgeteilt, falls keine schwerwiegenden Gründe dagegen sprechen (z. B. die Gefährdung des Lebens der Mutter).

Die Anzahl getöteter oder ausgesetzter Babys geht trotz des Angebots zur anonymen Kindesabgabe nicht zurück. Mütter, die ihr Kind töten, tun dies in einem psychischen Ausnahmezustand, der sie daran hindert, vernünftig zu denken und zu planen. Sie sind gar nicht in der Lage, sich in ein Krankenhaus zu begeben oder eine Babyklappe aufzusuchen. So wird das Angebot von anderen Menschen in Anspruch genommen. Wir wissen inzwischen, dass Studentinnen oder Frauen ohne Krankenversicherung anonym entbunden haben.

Das Angebot, Kinder in einer Babyklappe abzulegen, bietet Angehörigen, Partnern und unter Umständen sogar Zuhältern die Möglichkeit, der Mutter (die vielleicht illegal hier lebt) das Kind gegen ihren Willen zu entziehen. Oder die Mütter werden lebenslang mit einer situativ getroffenen Entscheidung alleingelassen. Sie erhalten die staatlich akzeptierte Berechtigung, ihr Kind zu »entsorgen«, ohne auch nur irgendeine Verbindlichkeit einzugehen oder Hilfe durch Beratung zu erhalten (SWIENTEK 2007; WILSON 2007). Die »vertrauliche« Geburt enthält zwar ein Beratungsangebot für die Mütter, lässt Kinder und Adoptiveltern jedoch 16 lange Jahre im Ungewissen.

Familienpflege: unterschiedliche Zeitperspektiven für Pflegekinder

Interessenwidersprüche zwischen Herkunftseltern, Kind und Pflegeeltern gehen immer mit Spannungen für das Kind einher. Die Verantwortlichen sollten bei der Weichenstellung klären: Will die Pflegefamilie Ergänzungsfamilie auf Zeit oder Ersatzfamilie auf Dauer sein? Und die Perspektiven der Kinder und ihrer Herkunftseltern sollten zu dem passen, was die jeweilige Pflegefamilie leisten kann.

TIPP Das oberste Gebot im Pflegekinderwesen muss sein, dass eine Pflegefamilie zeitlich nur zu der Aufgabe herangezogen wird, die sie auch erfüllen kann und will. Pflegefamilien sollten sich niemals zu einer Perspektive drängen oder verleiten lassen, die sie sich nicht wirklich zutrauen.

Dauerpflege

Im deutschen und internationalen Recht haben Kinder und ihre leiblichen Eltern grundsätzlich einen Anspruch auf ein Zusammenleben. Da es Menschen gibt, die ihre elterliche Alltagsverantwortung wegen psychischer Beeinträchtigungen, chronischer Abhängigkeitsprobleme, langjähriger Inhaftierungen oder körperlicher Krankheiten nie werden wahrnehmen können, wird es jedoch weiterhin Dauerpflegeverhältnisse ohne Rückkehroption geben. So werden Pflegeeltern gesucht und gebraucht, die für ein Kind dauerhaft die Elternrolle übernehmen wollen, also »Ersatzeltern« werden. Diese »adoptionsähnlichen Dauerpflegeverhältnisse« kommen dem Bedürfnis der meisten Pflegeelternbewerber entgegen. Wenn das Kind jung in die Familie kommt, entwickelt es Familienbindungen und liebt seine sozialen Eltern und Geschwister. Seine Herkunftsfamilie behält gleichwohl weiterhin eine große Bedeutung.

Abgesehen von einzelnen dramatischen Ausnahmen werden die meisten dieser Kinder in ihren Pflegefamilien groß. Einige werden dann im Alter von achtzehn Jahren nach Minderjährigenrecht von ihren Pflegeeltern adoptiert.

Zeitlich befristete Pflege

Für eine zeitlich befristete Fremdunterbringung von bis zu zwei Jahren ist eigentlich die Heimerziehung gut geeignet, wenn die Kinder nicht mehr im Kleinkindalter sind. Doch da Heimplatzierungen um ein Vielfaches teurer sind als Pflegeeltern, ist es politisch erwünscht, auch Kinder mit einer Rückkehrperspektive zwischenzeitlich in Pflegefamilien unterzubringen.

Die Kinder können davon auch durchaus profitieren, wenn sie während ihrer Fremdunterbringung in einer Familie leben. Sie verinnerlichen auf diesem Weg hilfreiche Normen und Werte für ihr späteres Leben. Und eine Unterbringung in privaten Räumen mit »Privatmenschen« ist persönlicher als das Leben in einem Heim. So suchen viele Jugendämter Pflegeeltern (als »Ergänzungseltern«), die sich darauf eingestellt haben, dass das Kind nur ein Gastkind »auf Zeit« sein wird. Das Kind soll nach zwei, manchmal auch mehr Jahren wieder nach Hause zurückkehren. Diese Aufgabe erfordert ein hohes Maß an Bindungstoleranz und innerer Unabhängigkeit der Pflegeeltern bei gleichzeitiger stabiler Zuneigung für das Kind.

Dies ist ein komplizierter Auftrag für die annehmenden Eltern und das Kind. Kinder in Heimen bleiben Kinder ihrer Eltern und haben nur eine Familie. Das Kind, das eine private Vater- oder Mutterfigur gernhat, fragt sich, ob es seine Eltern gegen die neuen elterlichen Bezugspersonen austauschen oder ihnen treu bleiben soll. Und es ist ein schwerer Abschied für die Kinder, wenn sie ihre zweite Familie nach einem längeren Zeitraum wieder verlassen. Hier sollten »weiche Übergänge« für das Kind zwischen allen Beteiligten vereinbart werden.

Die Pflegeeltern sollten sich auch die Auswirkungen auf ihre leiblichen Kinder vor Augen halten. Sie muten ihnen zu, dass auch sie sich auf ein neues Familienmitglied einlassen und sich wieder lösen müssen. Solche Pflegekinder sollten deshalb klar als »Gastkinder« in der Familie definiert werden.

Zeitlich befristete Pflege wird am besten von einem Träger angeboten, der konkrete Unterstützungsangebote für die Pflegeeltern und die Herkunftseltern anbietet. Nur so kann eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie so gestaltet werden, dass die Kinder diese auch bewältigen.

Rückkehr in die Herkunftsfamilie oder »für immer« in der Pflegefamilie?

Was für ein Kind das Richtige ist, hängt davon ab, wie früh es in seinem Leben von seinen ersten Eltern getrennt wurde und wie lange es schon in seiner Pflegefamilie lebt. Ist es schon viele Jahre an die neue Familie gebunden, so ist aus bindungstheoretischer Sicht eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie meist nicht mehr im Interesse des Kindes, selbst wenn Vater und/oder Mutter ihre Krisen überwunden haben und sie wieder die Elternrolle für ihr Kind übernehmen könnten. Hier stehen kindliche Bedürfnisse nach Bindungskontinuität im Widerspruch zu den Grundrechten der Eltern. Kam die Trennung von den Eltern erst spät (etwa wenn das Kind schon älter als vier oder sechs Jahre war), dann ist es häufig im Interesse des Kindes, wieder zurückzukehren, wenn sich in der Familie eine nachhaltige Verbesserung der Lebensumstände entwickelt hat.

Da wir es im ganzen Pflegekinderbereich mit menschlichen Bedürfnissen zu tun haben und vielfältigen Einwirkungen des persönlichen Schicksals, können wir nicht alles bis ins Letzte kalkulieren. Es gibt keine pauschalen Lösungen. Die Rückkehroption sehr lange offenzuhalten kann für manche Kinder und ihre Eltern das Richtige sein, vorausgesetzt, die Pflegefamilie hat die innere Unabhängigkeit, um dies mitzutragen.

In strittigen Fällen muss für jedes einzelne Kind sorgfältig abgeklärt werden, welche Perspektive seinem Wohl entspricht. Und hierbei ist das Interesse der Erwachsenen – der leiblichen Eltern, manchmal auch der annehmenden Eltern – nicht immer identisch mit den Interessen der Kinder. Die Interessen der Kinder sollten jedoch Priorität haben (siehe »Rechtslage«).

Die offene Zeitperspektive

Fachkräfte können in der Regel prognostizieren, ob ein Kind auf Dauer in einer Pflegefamilie leben soll oder ob eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie im Interesse des Kindes liegt.

»Rechtslage«› Nach § 36 SGB VIII (2) ist ein Hilfeplan über die Art, den Umfang, die Ziele und die Dauer der gewährten Hilfe zu erstellen. Hilfeplangespräche finden auf Einladung des Jugendamtes jedes Halbjahr statt. Teilnehmende sind die Sorgeberechtigten, das Kind bzw. der Jugendliche, die Pflegeeltern und andere Fach- und Bezugspersonen. § 37 SGB VIII (1) besagt unter anderem: »Ist eine nachhaltige Verbesserung der Entwicklungs-, Teilhabe- oder Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie innerhalb dieses Zeitraums nicht erreichbar, so dienen die Beratung und Unterstützung der Eltern sowie die Förderung ihrer Beziehung zum Kind der Erarbeitung und Sicherung einer anderen, dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen förderlichen und auf Dauer angelegten Lebensperspektive.« ‹

Aber es können auch ganz unvorhersehbare Perspektivenänderungen eintreten. Ich habe schon viele Pflegeeltern erlebt, die sich auf die Rückkehr des Kindes in die Herkunftsfamilie eingestellt haben, doch diese Rückkehr stellte sich im Lauf der Zeit als unrealisierbar heraus, weil im Leben der Mütter und Väter neue Konfliktlagen hinzugekommen sind (Trennung vom Partner, Krankheit, Verlust der Wohnung usw.).

Deshalb vereinbaren manche Jugendämter mit den Pflegeeltern eine offene Zeitperspektive. Diese Pflegeeltern nehmen ein Kind auf, bei dem noch nicht entschieden ist, ob es zurückkehren wird oder ob es bleiben kann, bis es erwachsen ist. Zunächst wird von der Rückkehr des Kindes in seine Familie ausgegangen. Später entwickelt sich dieses Pflegeverhältnis »auf Zeit« möglicherweise doch noch zu einem Dauerpflegeverhältnis.

Kontinuität für Pflegekinder

In Großbritannien und den USA gibt es das Konzept des »Permanency Planning«. Ziel ist es, das Kind dauerhaft in einer sicheren, stabilen Umgebung aufwachsen zu lassen. Zunächst wird alles getan, dass diese dauerhafte stabile Umgebung bei der Herkunftsfamilie des Kindes geschaffen wird (»Reunification«). Wenn ein Kind allerdings in den letzten 22 Monaten 15 Monate nicht bei seinen leiblichen Eltern leben konnte, soll es nicht mehr in seine Familie zurückkehren, sondern anderswo diesen festen, stabilen Platz bekommen: in einer Adoptiv- oder Dauerpflegefamilie.

Unter »Reunification« (Wiedervereinigung) versteht man den Erhalt der Bindungen und Beziehungen zwischen Kind und leiblichen Eltern auch bei dauerhaftem Getrenntleben. »Diese Betrachtungsweise von Reunification verdeutlicht die Wichtigkeit der Erhaltung und Förderung der Verbundenheit zwischen Pflegekind und leiblichen Eltern durch verschiedene Formen und Ebenen des Kontakts.« (EVERS 2008, S. 3)

Solche Planungssysteme wie in diesen beiden Ländern haben den Vorteil, dass sich alle Beteiligten an klar geregelten zeitlichen Fristen orientieren können. Der Nachteil: Individuelle Konstellationen sind eher ausgeschlossen. Bis eine schwer alkoholkranke Mutter dauerhaft und stabil »trocken« ist, dauert es länger als 15 Monate. Im deutschsprachigen Raum gibt es wegen der starken Elternrechte flexiblere Konzepte.

»Rechtslage«› Diese flexibleren Konzepte wurden anlässlich der Reform des SGB VIII und des § 1632 (4) im BGB im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) verankert, das im Juni 2021 rechtskräftig wurde: Auf die Fachkräfte der Jugendhilfe kommen zusätzliche Beratungs- und Kontrollaufträge sowie eine präzisere Hilfeplanung zu. Sowohl die Eltern als auch die Pflegeeltern haben während der gesamten Zeit der Hilfe zur Erziehung einen Anspruch auf Beratung und Unterstützung.

Die Familiengerichte haben im BGB des erweiterten § 1632 (4) die Gesetzesgrundlage, um für ein Pflegekind den Verbleib in seiner Pflegefamilie auf Dauer anzuordnen. Das Anrecht der Eltern auf ein Wiederzusammenleben mit ihrem Kind bleibt ebenfalls erhalten. Zugleich sollen die Familiengerichte den Anspruch des Kindes auf Kontinuität und Stabilität berücksichtigen. Die Familiengerichte haben nun also die gesetzliche Option, sowohl den dauerhaften Verbleib eines Kindes in der Pflegefamilie anzuordnen als auch eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie. ‹

BEISPIEL Marina wurde als Baby mit einem halben Jahr in Pflege gegeben, und zwar mit dem Ziel, dass sie mit dreieinhalb Jahren, wenn ihre junge Mutter ihre Ausbildung beendet haben würde, wieder mit ihr zusammenleben sollte. Die Mutter holte das Kind jedes Wochenende und in ihrem Urlaub und sie telefonierten täglich miteinander. Die Pflegeeltern, die schon zwei Pflegekinder großgezogen hatten, übernahmen den Auftrag gern. Marina erlebte ihre Mutter und die Pflegefamilie als ein einziges großes Familiensystem mit gemeinsamer Elternschaft und konnte mit dreieinhalb gut zu ihrer Mutter überwechseln. Sie kam weiter an einigen Wochenenden im Jahr und an einigen Tagen in den Ferien zu ihrer ehemaligen Pflegefamilie. Marina musste nie die eine gegen die andere Familie austauschen. •

Für jedes einzelne Kind muss geprüft und geplant werden: Was können alle dazugehörigen Bezugspersonen leisten, damit es dem Kind in seiner besonderen Situation gutgeht? Im besten Fall sollten leibliche Eltern und Pflegeeltern gemeinsam dafür sorgen, dass das Kind keine seiner beiden Familien je wieder ganz verlieren muss. Auch so wird Bindungskontinuität in seinem Leben verwirklicht.

Verwandtenpflege

Wenn Großeltern, Onkel, Tanten oder andere Verwandte ein Kind aus dem erweiterten Familienkreis zu sich nehmen, so kann dies unter unterschiedlichen jugendhilferechtlichen Rahmenbedingungen geschehen. Es gibt Verwandte, bei denen ein Kind im Auftrag seiner sorgeberechtigten Eltern lebt, die dem Jugendamt gar nicht bekannt sind: Eine solche Verwandtenpflege braucht laut § 44 SGB VIII keine Erlaubnis der Jugendbehörde. Andere Kinder leben ebenfalls »erlaubnisfrei« zum Beispiel bei der Großmutter, erhalten jedoch Hilfe zum Lebensunterhalt und werden auch von den sozialen Diensten beraten.

Die dritte Gruppe von Verwandtenpflege wird offiziell als »Familienpflege« anerkannt, da sie eine »Hilfe zur Erziehung« nach den §§ 27 und 33 SGB VIII erbringt. Diese Angehörigen des Kindes erfüllen ihren Auftrag unter denselben Konditionen wie »Fremdpflegefamilien«: Sie erhalten Pflegegeld, Beratung, Fortbildungsangebote und werden jedes halbe Jahr zum Hilfeplangespräch eingeladen.

Vorzüge der Verwandtenpflege

Verwandtenpflege wird in vielen anderen Ländern stärker favorisiert als bei uns in Deutschland. In den Niederlanden beispielsweise befinden sich mehr Kinder in Verwandtenpflege als in Fremdpflege. Dort gibt es Konzepte, bei denen die Professionellen der Jugendhilfe zunächst das soziale Netzwerk (Verwandtschaft, befreundete Personen, Nachbarschaft) beauftragen, die bestmögliche Lösung für das Kind zu suchen, wenn ein Kind von seinen Eltern nicht ausreichend betreut werden kann.

Verwandtenpflege kann für die Kinder große Vorzüge haben: Sie müssen ihre Familie nicht komplett verlassen, sie bleiben bei vertrauten Menschen. Ich kenne außerordentlich konstruktive Pflegeverhältnisse: Oma und Opa betreuen das Kind, während die Tochter in Ausbildung ist. Die Tochter übernimmt das Kind jedes Wochenende und telefoniert täglich mit ihm. Die Großeltern bleiben die Großeltern, während das Kind bei ihnen wohnt. Das Kind wechselt nach einigen Jahren zurück zur Mutter. Nach der Rückkehr in die Ursprungsfamilie bleibt die bisherige »Großeltern-Pflegefamilie« erhalten.

Diese Kinder verfügen über eine hohe Kontinuität ihrer Bindungspersonen, obwohl sie nicht von klein an jeden Tag mit ihrer Mutter oder ihrem Vater zusammenleben konnten.

TIPP Großeltern oder Onkel und Tante können ein idealer Pflegeplatz auf Zeit sein, wenn sie dem Kind zubilligen, eine Bindung zur Mutter oder zum Vater zu bewahren, und nach einer Rückkehr des Kindes zu den Eltern verfügbar bleiben.

Risiken bei der Verwandtenpflege

Es gibt aber auch eine Kehrseite bei der Verwandtenpflege: Befinden sich die Verwandten mit den leiblichen Eltern »im Krieg«, haben sie ihnen gegenüber enttäuschte und verbitterte Gefühle, dann wird das Kind von starken Identitäts- und Loyalitätskonflikten belastet. Verwirrend ist für das Kind zudem, wenn die biologisch vorgegebenen Verwandtschaftsverhältnisse nicht mehr gelten und es zu seiner Oma oder zu seiner Tante »Mama« sagt oder zu seinem Opa oder Onkel »Papa«.

Was für alle Adoptiv- und Pflegefamilien zutrifft, gilt auch für Verwandtenpflege: Die Kinder können ihr besonderes Schicksal dann tragen, wenn die Erwachsenen miteinander eine wie auch immer geartete Balance gefunden haben. Das bedeutet, dass annehmende Verwandte bereit sein sollten, sich mit den leiblichen Eltern des Kindes – wie auch immer – auszusöhnen. Leibliche Eltern und annehmende Verwandte haben eine gemeinsame Familiengeschichte. So sollten sich nicht nur die leiblichen Eltern, sondern auch die annehmenden Verwandten mit ihren möglichen Anteilen am Geschehen, das zur Trennung von Eltern und Kind geführt hat, auseinandersetzen.

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