Aelita – Ein Marsroman - Leo Tolstoi - E-Book

Aelita – Ein Marsroman E-Book

Leo Tolstoi

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Beschreibung

Längs des Äquators lagen deutlich sichtbar fünf dunkle runde Flecken. Sie waren durch gerade Linien verbunden, die zwei gleichseitige Dreiecke und ein drittes, längliches Dreieck bildeten. Die Base des östlichen Dreiecks war von einem regelmäßig geschwungenen Bogen eingefasst. Von der Mitte desselben ging bis zum äußersten Punkt im Westen ein zweiter Halbkreis. Mehrere Linien, Punkte und Halbkreise lagen im Westen und Osten von dieser äquatorialen Gruppe verstreut. Der Nordpol verschwand im Nebel. Lossj blickte gierig auf dieses Liniennetz: da sind sie, diese die Astronomen verrückt machenden, sich ewig verändernden, geometrisch regelmäßigen, unbegreiflichen Marskanäle. Lossj unterschied unter dieser scharfen Zeichnung ein zweites, kaum wahrnehmbares, gleichsam verwischtes Liniennetz. Er begann es in seinem Notizbuche zu skizzieren. Die Marsscheibe erzitterte plötzlich und begann durch das Gesichtsfeld des Okulars zu gleiten. Lossj stürzte zu den Rheostaten.

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Aelita – Ein Marsroman

 

 

 

Graf Alexei Nikolajewitsch Tolstoi

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

 

 

 

2022 ©Verlag Heliakon

Umschlaggestaltung: Verlag heliakon

Titelbild: Pixabay (Kellepics)

 

Druck und Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

 

Übersetzer: Alexander Eliasberg

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Über-setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Inhaltsverzeichnis

Title Page

Impressum

Eine seltsame Annonce

In Lossj' Werkstätte

Der Reisegenosse

Schlaflose Nacht

In der gleichen Nacht

Der Abflug

Im schwarzen Himmel

Die Landung

Der Mars

Das verlassene Haus

Der Sonnenuntergang

Lossj blickt auf die Erde

Die Marsianer

Jenseits der gezackten Berge

Soazera

Im himmelblauen Haine

Die Rast

Die Nebelkugel

Auf der Treppe

Aëlitas erste Erzählung

Eine zufällige Entdeckung

Der Morgen Aëlitas

Die zweite Erzählung Aëlitas

Gussjew beobachtet die Stadt

Tuskub

Liebeszauber

Das alte Lied

Lossj fliegt Gussjew zur Hilfe

Gussjews Tätigkeit am vergangenen Tage

Wendung der Ereignisse

Der Gegenangriff

Das Labyrinth der Königin Magr

Chao

Die Flucht

Nichtsein

Die Erde

Die Stimme der Liebe

Eine seltsame Annonce

 

 

Um vier Uhr nachmittags erschien in Petersburg, auf dem Prospekt der Morgenröte, eine seltsame Annonce – ein kleines Blatt graues Papier, mit Nägeln an die abgebröckelte Mauer eines leer stehenden Hauses angeschlagen. Der Korrespondent einer amerikanischen Zeitung, Archibald Skiles, sah im Vorbeigehen eine junge Frau in einem reinlichen Kattunkleid barfuß vor der Annonce stehen, sie las sie, die Lippen bewegend. Das müde, liebe Gesicht der Frau drückte keinerlei Erstaunen aus, die Augen blickten heiter, gleichgültig, ein wenig verrückt. Sie strich sich eine Strähne des gewellten Haares hinter das Ohr, hob den Korb mit Gemüse vom Trottoir auf und ging über die Straße.

Die Annonce verdiente Beachtung. Skiles las sie mit großem Interesse, trat näher heran, fuhr sich mit der Hand über die Augen und las noch einmal. »Twenty three«, versetzte er schließlich, was offenbar besagen sollte: »Hole mich der Teufel mit allen meinen Knochen.«

Die Annonce lautete:

Ingenieur M. S. Lossj fordert diejenigen, die mit ihm am 18. August auf den Mars fliegen wollen, auf, bei ihm zwecks persönlicher Besprechung zwischen 6 und 8 Uhr abends vorzusprechen. Shdanow-Kai Nr. 11, im Hof.

Mit gewöhnlichem Tintenstift war die Aufforderung geschrieben, auf den Mars zu fliegen. Skiles griff sich unwillkürlich an den Puls – er war normal. Er blickte auf seine Uhr: 5 Uhr 10 Minuten; der Zeiger des kleinen roten Zifferblatts zeigte auf den 14. August.

Skiles war in dieser verrückten Stadt mit ruhigem Mut auf alles gefasst. Aber diese an die abgebröckelte Mauer angenagelte Annonce wirkte auf ihn im hohen Grade schmerzlich. Durch den menschenleeren Prospekt der Morgenröte wehte der Wind. Die vielstöckigen Häuser mit den teils eingeschlagenen, teils mit Brettern vernagelten Fenstern schienen unbewohnt, kein Kopf sah heraus. Die junge Frau hatte ihren Korb wieder aufs Trottoir gestellt und blickte von der andern Straßenseite zu Skiles herüber. Ihr liebes Gesicht war ruhig und müde.

Skiles zitterten die Backenknochen. Er holte einen alten Briefumschlag aus der Tasche und notierte sich die Adresse. Um diese Zeit blieb vor der Annonce ein großgewachsener, breitschultriger Mann ohne Mütze stehen, der Kleidung nach zu schließen ein Soldat; er trug eine Hemdbluse ohne Gürtel und Wickelgamaschen. Seine Hände steckten träge in den Taschen. Während er die Annonce las, spannten sich die Muskeln in seinem Nacken.

»Nicht schlecht – auf den Mars!« sagte er vergnügt und wandte sein sonnengebräuntes, sorgloses Gesicht Skiles zu. Quer über seine Schläfe zog sich eine weiße Narbe. Seine graubraunen Augen blickten träge, und in ihrer Tiefe blitzten, genau wie in den Augen der jungen Frau, verhaltene Funken. Skiles hatte diese eigentümlichen Funken in den russischen Augen schon längst bemerkt und sie sogar in einem seiner Artikel erwähnt:

… Dieses Fehlen jeder Bestimmtheit, dieser ewige Wechsel zwischen Spott und wahnsinniger Entschlossenheit und schließlich dieser unbegreifliche Ausdruck von Überlegenheit wirken auf einen ungewohnten Menschen äußerst schmerzvoll.

»Mit ihm fliegen – sehr einfach«, sagte der Soldat gutmütig lächelnd und musterte mit einem schnellen Blick Skiles von Kopf bis zu den Füßen. Plötzlich kniff er seine Augen zusammen, und das Lächeln verschwand von seinem Gesicht. Er sah aufmerksam über die Straße auf die junge Frau, die noch immer unbeweglich neben dem Korb stand. Er nickte ihr zu und sagte:

»Mascha, was stehst du da?« Sie zwinkerte schnell mit den Augen. »Geh lieber heim.« Sie bewegte ihre staubigen, kleinen Füße, und man sah, wie sie aufseufzte und den Kopf senkte. »Geh, geh, ich komme gleich nach.«

Die Frau hob ihren Korb auf und ging. Der Soldat sagte:

»Ich bin als verwundet entlassen. Gehe herum, lese die Ladenschilder, es ist so furchtbar langweilig.«

»Gedenken Sie sich auf diese Annonce zu melden?« fragte Skiles.

»Ich will unbedingt hin.«

»Es ist aber Unsinn – fünfzig Millionen Kilometer durch den luftleeren Raum zu fliegen …«

»Weit ist es allerdings.«

»Es ist ein Schwindel oder Wahnsinn.«

»Alles ist möglich.«

Skiles kniff die Augen zusammen, musterte den Soldaten, errötete vor Zorn und ging mit sicheren, großen Schritten in die Richtung zur Newa. Er setzte sich auf eine Bank auf der Promenade, steckte die Hand in die Tasche, in der er als alter Raucher und viel beschäftigter Mensch den Tabak offen liegen hatte, stopfte sich mit einer einzigen Bewegung des Daumens die Pfeife, zündete sie an und streckte die Beine vor sich aus.

Die alten Linden rauschten. Die Luft war feucht und warm. Auf einem Sandhaufen saß, ganz allein in den Anlagen, offenbar schon seit Langem ein kleiner Junge in schmutzigem Hemd, ohne Hose. Der Wind bewegte ab und zu seine hellen, weichen Haare. Er hielt in der Hand eine Schnur, an deren Ende eine alte, zerzauste Krähe festgebunden war. Sie saß unzufrieden und böse da und blickte wie der Junge Skiles an.

Plötzlich – es war nur der Bruchteil einer Sekunde – glitt ein Wölkchen über sein Bewusstsein hinweg, so seltsam schwindelte ihm der Kopf: sieht er dies alles nicht im Traum? … Der Junge, die Krähe, die leeren Häuser, die leeren Straßen, die sonderbaren Blicke der Passanten und diese mit Nägeln angeschlagene Annonce – jemand fordert auf, aus dieser Stadt in die leeren Sternenräume zu fliegen.

Skiles zog den starken Rauch tief in die Lunge ein. Er lächelte. Dann entfaltete er den Stadtplan von Petersburg und suchte, mit dem Mundstück der Pfeife über das Papier fahrend, den Shdanow-Kai.

 

 

In Lossj' Werkstätte

 

 

Skiles trat in einen schlecht gepflasterten Hof, auf dem Haufen verrosteten Eisens und leere Zementfässer herumlagen. Auf den Schutthaufen wuchs zwischen Drahtgewirr und zerbrochenen Maschinenteilen spärliches Gras. In der Tiefe des Hofes erhob sich ein hoher Schuppen, dessen staubige Fenster das Abendrot spiegelten. Eine kleine Tür im Schuppen stand halb offen, und auf der Schwelle hockte ein Arbeiter, der in einem kleinen Eimer rotbraune Mennige anrührte. Auf die Frage Skiles, ob er den Ingenieur Lossj sprechen könne, wies der Arbeiter mit einer Kopfbewegung ins Innere des Schuppens. Skiles trat ein.

Über einem mit Plänen und Büchern bedeckten Tisch brannte in einem Blechschirm eine elektrische Lampe. In der Tiefe des Schuppens erhob sich bis zur Decke ein Gerüst. Daneben brannte in einer Schmiedeesse Feuer, das ein anderer Arbeiter mit einem Blasebalg anfachte. Zwischen den Balken des Gerüsts funkelte die metallische, dicht mit Nieten bedeckte Oberfläche eines sphärischen Körpers. Durch das offene Tor sah man die blutroten Streifen im Westen und die vom Meere aufsteigenden Wolken.

Der Arbeiter am Blasebalg sagte leise:

»Es ist wer zu Ihnen gekommen, Mstislaw Ssergejewitsch.«

Hinter dem Gerüst trat ein kräftig gebauter Mann von mittlerem Wuchs hervor. Seine dichten Haare waren weiß wie Schnee; das Gesicht jugendlich, glatt rasiert, mit einem schönen, großen Mund und durchdringenden, hellen, unbeweglichen Augen, die dem Gesicht vorauszufliegen schienen. Er trug ein schmutziges, an der Brust offenes Hemd aus grober Leinwand und eine geflickte, mit einem gewöhnlichen Strick umgürtete Hose. In der Hand hielt er eine schmierige, zerrissene Werkzeichnung. Als er sich dem Amerikaner näherte, wollte er das Hemd an der Brust zuknöpfen, aber es war kein einziger Knopf daran.

»Sie kommen auf die Annonce? Sie wollen mitfliegen?« fragte er mit dumpfer Stimme und zeigte Skiles einen Stuhl unter der Lampe. Dann setzte er sich ihm gegenüber, warf die Zeichnung auf den Tisch und begann sich die Pfeife zu stopfen. Das war der Ingenieur M. S. Lossj.

Während er mit gesenkten Augen die Pfeife anzündete, beleuchtete das Streichholz von unten sein derbes Gesicht mit zwei bitteren Falten an den Mundwinkeln, die weiten Nasenlöcher und die langen, dunklen Wimpern. Skiles war mit dem ersten Eindruck zufrieden. Er erklärte, dass er nicht die Absicht habe, zu fliegen, aber die Annonce auf dem Prospekt der Morgenröte gelesen habe und es für seine Pflicht halte, seine Leser mit einem so außergewöhnlichen und sensationellen Projekt einer interplanetarischen Verbindung bekannt zu machen. Lossj hörte ihm zu, ohne seine unbeweglichen, hellen Augen von ihm zu wenden.

»Schade, dass Sie nicht mitfliegen wollen, schade«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Die Leute meiden mich wie einen Wahnsinnigen. In vier Tagen verlasse ich die Erde und kann noch immer keinen Reisegenossen finden.« Er rieb ein neues Streichholz an, ließ eine Rauchwolke aufsteigen und fragte: »Was wünschen Sie für Daten?«

»Die wichtigsten Züge Ihrer Biografie.«

»Das kann niemand interessieren«, erwiderte Lossj. »Nichts von Belang. Ich habe fast keine Schule besucht, musste vom zwölften Jahre an selbst verdienen. Jugend, Lehrjahre, Armut, Arbeit, Dienst – während der ganzen fünfunddreißig Jahre nichts, was Ihre Leser interessieren könnte, nichts Bemerkenswertes, außer …« Lossj streckte die Unterlippe vor, runzelte die Stirn, die Falten an den Mundwinkeln traten plötzlich besonders deutlich hervor. »Nun, also … An dieser Maschine« – er wies mit der Pfeife aufs Gerüst – »arbeite ich schon lange. Habe mit dem Bau vor einem Jahr begonnen. Genügt das?«

»In wie viel Monaten ungefähr gedenken Sie die Strecke zwischen der Erde und dem Mars zurückzulegen?« fragte Skiles, auf die Spitze seines Bleistifts blickend.

»In neun oder zehn Stunden, ich glaube kaum, dass es mehr wird.«

Skiles versetzte darauf: »Aha«, errötete, und seine Backenknochen zuckten. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden«, sagte er mit einschmeichelnder Höflichkeit, »wenn Sie mehr Vertrauen zu mir hätten und mehr Ernst für unser Interview zeigten.«

Lossj legte beide Ellbogen auf den Tisch und hüllte sich in eine Rauchwolke, durch die seine Augen funkelten.

»Am achtzehnten August nähert sich der Mars der Erde auf vierzig Millionen Kilometer«, sagte er, »und diese Entfernung muss ich zurücklegen. Woraus besteht sie? Erstens aus der Höhe der Erdatmosphäre – fünfundsiebzig Kilometer. Zweitens aus der interplanetarischen Strecke im luftleeren Räume – vierzig Millionen Kilometer. Drittens aus der Höhe der Marsatmosphäre – sechzig Kilometer. Für meinen Flug sind nur diese hundertfünfunddreißig Kilometer Luft von Belang.«

Er stand auf und steckte die Hände in die Hosentaschen; sein Kopf verschwand im Schatten und Rauch, beleuchtet waren nur die offene Brust und die behaarten Arme mit den über die Ellbogen aufgekrempelten Ärmeln.

»Unter Flug versteht man gewöhnlich den Flug eines Vogels, eines fallenden Blattes, eines Aeroplans. Das ist aber kein Flug, sondern ein Segeln durch die Luft. Reiner Flug ist der Fall, bei dem der Körper sich nur unter der Wirkung einer ihn stoßenden Kraft bewegt. Ein Beispiel dafür ist die Rakete. In einem luftleeren Räume, wo es für den Flug keinen Widerstand gibt, wird sich die Rakete mit einer ständig anwachsenden Geschwindigkeit fortbewegen – ich kann dort offenbar auch die Lichtgeschwindigkeit erreichen, wenn mich die magnetischen Einflüsse nicht stören. Mein Apparat ist nämlich nach dem Prinzip der Rakete gebaut. In der Atmosphäre der Erde und des Mars werde ich hundertfünfunddreißig Kilometer zu durchfliegen haben. Mit dem Aufstieg und dem Abstieg wird es anderthalb Stunden dauern. Eine Stunde brauche ich, um aus dem Bereich der Anziehungskraft der Erde zu kommen. Im luftleeren Raum kann ich mit einer beliebigen Geschwindigkeit fliegen. Aber ich habe mit zwei Gefahren zu rechnen: bei einer übermäßigen Beschleunigung können erstens die Blutgefäße platzen; zweitens, wenn ich mit der kolossalen Geschwindigkeit in die Marsatmosphäre hineinfliege, kann der Anprall gegen die Luft so stark sein, wie wenn ich in Sand stieße. Der Apparat kann sich mit seinem ganzen Inhalt in Gas verwandeln. Im Himmelsraume treiben sich Splitter von Planeten, ungeborenen oder zugrunde gegangenen Welten herum. Wenn sie in die Atmosphäre gelangen, verbrennen sie in ihr in einem Nu. Die Luft ist ein fast undurchdringlicher Panzer. Und doch ist dieser Panzer der Erde einmal durchbohrt worden.«

Lossj zog die Hand aus der Tasche, legte sie mit der inneren Fläche nach oben auf den Tisch unter die Lampe und ballte die Finger zusammen.

»In Sibirien grub ich im ewigen Eise Mammute aus, die in den Erdspalten umgekommen waren. In ihren Zähnen war Gras, sie hatten geweidet, wo jetzt nichts als Eis ist. Ich aß von ihrem Fleisch: es war noch nicht verwest. Sie waren in wenigen Tagen erfroren. So lagen sie im Schnee begraben. Die Ablenkung der Erdachse war wohl in einem Nu geschehen. Die Erde war mit einem riesengroßen Himmelskörper zusammengestoßen, oder aber wir haben noch einen zweiten Trabanten, der kleiner als der Mond war, gehabt. Wir haben ihn angezogen, er fiel auf die Erde, zerschlug die Erdkruste und verschob die Erdpole. Vielleicht ist gerade bei diesem Zusammenstoß der Kontinent untergegangen, der im Westen von Afrika, im Atlantischen Ozean lag. Wenn ich also in die Atmosphäre des Mars eindringe, werde ich die Geschwindigkeit bedeutend bremsen müssen. Darum rechne ich für den ganzen Flug durch den luftleeren Raum sechs bis sieben Stunden. In einigen Jahren wird eine Reise auf den Mars nicht komplizierter sein als heute der Flug von Moskau nach Berlin.«

Lossj trat vom Tische weg und drehte an einem Schalter. Unter der Decke entzündeten sich zischend die Bogenlampen. Skiles sah auf den Bretterwänden Zeichnungen, Diagramme und Karten; Regale mit optischen Instrumenten und Messapparaten; Taucheranzüge, Konservenbüchsen, Pelze; in einer Ecke des Schuppens stand auf einem Stativ ein Teleskop.

Lossj und Skiles gingen auf das Gerüst zu, das ein metallisches Ei umgab. Skiles stellte nach dem Augenmaß fest, dass der eiförmige Apparat mindestens achtundeinhalb Meter Höhe und sechs Meter im Durchmesser hatte. Um die Mitte des Eies lief ringsherum ein stählerner Gürtel, der sich wie ein Schirm nach unten umlegen ließ – das war die Bremse, die den Widerstand des Apparates beim Fallen durch die Luft vergrößerte. Unter diesem Fallschirm waren drei runde Eingangsluken angebracht. Das untere Ende des Eies lief in einem engen Hals aus. Dieser war von einer runden, doppelten, in zwei entgegengesetzte Richtungen zusammengerollten Spirale aus massivem Stahl umgeben – das war offenbar der Puffer. So sah das interplanetarische Lenkschiff von außen aus.

Lossj erklärte, mit dem Bleistift auf die genietete Umhüllung des Eies klopfend, die Details. Der Apparat war aus weichem, schwer schmelzendem Stahl erbaut und innen durch Rippen versteift. Das war nur die äußere Hülle. In dieser befand sich eine zweite Hülle aus sechs Lagen Gummi, Filz und Leder. Im Innern dieser zweiten gesteppten Lederhülle waren die Apparate zur Beobachtung und Bewegung, Sauerstoffbehälter, Vorrichtungen zur Absorption der Kohlensäure und Kissen für die Instrumente und Vorräte untergebracht. Kurze Metallröhren mit Prismengläsern gingen durch die äußere Umhüllung des Apparates hinaus und dienten zum Ausguck.

Der Motor befand sich in dem von der Spirale umwundenen Halse. Dieser war aus Obin-Metall gegossen, das sich durch außergewöhnliche Elastizität auszeichnete und die Härte von astronomischer Bronze hatte. Durch die ganze Dicke des Halses waren senkrechte Kanäle gebohrt. Jeder dieser Kanäle mündete, sich nach oben erweiternd, in eine sogenannte Explosionskammer. Jede Explosionskammer enthielt eine an ein gemeinsames Magneto geschaltete Zündkerze und eine Speiseröhre. Genau so wie den Zylindern eines gewöhnlichen Motors Benzin zugeführt wird, so wurden die Explosionskammern mit Ultralyddit gespeist, einem feinen Pulver von höchster Explosivkraft, das im Jahre 1920 im Laboratorium des Tentelewschen Werkes zu Petersburg entdeckt worden war. Das Ultralyddit übertraf an Wirkungskraft alle bisher bekannten ähnlichen Stoffe. Der Explosionskegel war ungewöhnlich eng. Damit die Achse des Explosionskegels mit den Achsen der senkrechten Kanäle im Halse zusammenfalle, musste das in die Explosionskammern eintretende Ultralyddit ein Magnetfeld passieren. So war in allgemeinen Zügen das Prinzip des Bewegungsmechanismus: eine Rakete. Der Vorrat an Ultralyddit war für hundert Stunden berechnet. Indem man die Zahl der Explosionen in der Sekunde erhöhte oder herabsetzte, konnte man die Geschwindigkeit des Aufstieges und des Fallens regulieren. Der untere Teil des Apparates war erheblich schwerer als der obere, und darum musste er, wenn er in die Anziehungssphäre des Planeten geriet, sich ihm mit dem Halse zuwenden.

»Auf wessen Kosten ist der Apparat erbaut?« fragte Skiles.

»Das Baumaterial gab die Regierung. Zum Teil habe ich auch meine Ersparnisse dazu verbraucht.«

Lossj und Skiles kehrten zum Tisch zurück. Nach einigem Schweigen fragte Skiles etwas unsicher:

»Rechnen Sie auf dem Mars lebende Wesen vorzufinden?«

»Das werde ich Freitag, den 19. August, frühmorgens sehen.«

»Ich biete Ihnen zehn Dollar für die Zeile Reiseeindrücke. Vorschuss für sechs Feuilletons zu zweihundert Zeilen. Den Scheck können Sie in Stockholm einlösen. Einverstanden?«

Lossj lachte und nickte mit dem Kopf. Skiles setzte sich an den Tisch und schrieb den Scheck. »Schade«, sagte Lossj, »dass Sie nicht mitfliegen wollen: es ist ja so nahe, eigentlich viel näher als nach Stockholm.«

 

 

 

Der Reisegenosse

 

 

Lossj stand mit der Schulter an den Pfosten des offenen Tores gelehnt. Seine Pfeife war erloschen.

Hinter dem Tore zog sich bis zum Shdanow-Kai ein unbekannter Platz hin. Einige trübe Laternen spiegelten sich im Wasser. In der Ferne ragten die verschwommenen Umrisse der Parkbäume. Hinter ihnen verglomm ein trauriges, trübes Abendrot und schien nie erlöschen zu wollen. Von seinem Lichte am Rande getönte längliche Wolken lagen wie Inseln im grünen Wasser des Himmels. Über ihnen leuchtete ein dunkles Blau. Einige Sterne funkelten darin. Es war still und alles beim alten auf der alten Erde. Aus der Ferne tönte die Sirene eines Dampfers herüber. Der graue Schatten einer Ratte huschte über den Platz.

Der Arbeiter Kusmin, der vorhin im Eimer Mennige angerührt hatte und nun neben Lossj im Tore stand, warf den noch glimmenden Zigarettenstummel in die Finsternis.

»Es ist nicht leicht, sich von der Erde zu trennen«, sagte er leise, »selbst von seinem Hause trennt man sich schwer. Wenn ich einst aus dem Dorf zur Station ging, pflegte ich unterwegs an die zehnmal zurückzublicken. Das Haus ist zwar nur eine strohgedeckte Hütte, aber man hängt daran. Ja, es ist nicht leicht, die Erde zu verlassen.«

»Das Wasser kocht«, rief der andere Arbeiter, Chochlow, dazwischen, »Kusmin, komm, Tee trinken.«

Kusmin seufzte noch einmal: »Ja, es ist nicht leicht«, und ging in den Schuppen. Der mürrische Chochlow und Kusmin setzten sich auf die Kisten neben der Schmiedeesse, tranken Tee, brachen behutsam das Brot, lösten aus den Dörrfischen die Gräten aus und kauten langsam. Kusmin kniff die Augen zusammen, schüttelte sein dünnes Bärtchen und versetzte halblaut:

»Er tut mir leid. Solche Menschen findet man jetzt kaum.«

»Beeile dich nicht, ihn ins Grab zu singen.«

»Ein Flieger erzählte mir mal: als er im Sommer acht Werst hoch in die Luft stieg, fror ihm das Schmieröl im Apparat ein, so kalt ist es oben. Aber noch höher? Kalt und finster.«

»Ich sage aber: es ist noch zu früh, ihn ins Grab zu singen«, wiederholte Chochlow finster.

»Kein Mensch will mit ihm fliegen, niemand glaubt es ihm. Die Annonce hängt ja schon seit zwei Wochen da.«

»Ich aber glaube daran«, versetzte Chochlow.

»Dass er oben ankommt?«

»Das ist es eben, dass er ankommt. Da werden sich aber die Leute in Europa giften.«

»Wer wird sich giften?«

»Was heißt, wer? Unsere Feinde werden sich giften. Denn wem wird dann der Mars gehören? Doch uns Russen.«

»Ja, das wäre schön.«

Kusmin rückte auf seiner Kiste etwas weg. Lossj ging zu ihnen heran, setzte sich und nahm einen Becher mit dampfendem Tee in die Hand.

»Chochlow, würden Sie nicht mit mir mitfliegen?«

»Nein, Mstislaw Ssergejewitsch«, antwortete Chochlow ernst, »ich fürchte mich.«

Lossj lächelte, nahm einen Schluck Tee und schielte auf Kusmin.

»Und Sie, lieber Freund?«

»Mstislaw Ssergejewitsch, ich würde schon gern mitfliegen, aber meine Frau ist krank, sie ißt nichts. Wenn sie auch das Geringste zu sich nimmt, muss sie sich gleich übergeben. Es ist ein wahrer Jammer mit ihr …«

»Ja, ich werde wohl allein fliegen müssen«, sagte Lossj. Er stellte den leeren Becher weg und wischte sich mit der Hand den Mund. »Es gibt nicht viel Liebhaber, die Erde zu verlassen.« Er lächelte wieder und schüttelte den Kopf. »Gestern hat sich ein Fräulein auf die Annonce gemeldet: „Gut«, sagte sie, „ich will mit Ihnen fliegen, ich bin neunzehn Jahre alt, kann singen, tanzen, Gitarre spielen. Ich will nicht länger in Europa leben, ich habe alle die Revolutionen satt. Ein Visum für den Mars ist doch nicht nötig?« Was dieses Fräulein im Kopfe hatte, kann ich auch jetzt nicht begreifen. Dann setzte sie sich hin und fing zu weinen an: „Sie haben mich betrogen, ich glaubte, dass die Reise viel näher geht.« Später kam ein junger Mann, sprach im Bass, hatte schweißige Hände. „Sie halten mich für einen Idioten«, sagte er, „auf den Mars zu fliegen ist unmöglich. Wie kommen Sie dazu, eine solche Annonce anzuschlagen?« Ich konnte ihn nur mit Mühe beruhigen.«

Lossj stützte die Ellbogen in die Knie und blickte in die Kohlenglut. Sein Gesicht schien in diesem Augenblick müde, die Stirn war von Runzeln durchfurcht. Offenbar ruhte er jetzt von der langen Willensanspannung aus. Kusmin ging den Teekessel mit Wasser füllen. Chochlow hüstelte und sagte:

»Mstislaw Ssergejewitsch, ist es denn Ihnen selbst nicht schrecklich?«

Lossj richtete auf ihn seine in der Kohlenglut warm gewordenen Augen.

»Nein, es ist mir gar nicht schrecklich. Ich bin überzeugt, dass ich das Ziel glücklich erreiche. Und wenn es misslingt, so wird der Stoß augenblicklich und schmerzlos sein. Schrecklich ist etwas anderes. Denken Sie sich den Fall, dass meine Berechnungen nicht stimmen und ich in die Anziehungssphäre des Mars nicht gelange, sondern vorbeifliege. Die Vorräte an Betriebsstoff, Sauerstoff und Speise werden mir für lange reichen. Und so fliege ich durch die Finsternis. Vor mir leuchtet ein Stern. In tausend Jahren wird meine erstarrte Leiche in den Feuerozean dieses Sterns stürzen. Aber die langen Tage, solange ich noch leben werde – ich werde in diesem verdammten Kasten sehr lange leben – die langen Tage der hoffnungslosen Verzweiflung: ganz allein im Weltall. Nicht der Tod ist schrecklich, sondern die Einsamkeit. Ich werde nicht mal die Hoffnung haben, dass Gott meine Seele errettet. Bei lebendigem Leibe in der Hölle!! Die Hölle ist ja meine hoffnungslose, in die ewige Finsternis gestürzte Einsamkeit. Das ist schrecklich. Ich habe darum so wenig Lust allein zu fliegen.«

Lossj blickte mit zusammengekniffenen Augen wieder in die Kohlen. Sein Mund war trotzig geschlossen. Im Tore erschien Kusmin und rief mit leiser Stimme:

»Mstislaw Ssergejewitsch, es ist wer zu Ihnen.«

»Wer?« Lossj stand schnell auf.

»Ein Soldat fragt nach Ihnen.«

In den Schuppen trat der Soldat, der vorhin auf dem Prospekt der Morgenröte die Annonce gelesen hatte. Er streifte Lossj mit einem schnellen Blick, musterte das Gerüst und trat zum Tisch.

»Sie suchen einen Reisegenossen?«

Lossj schob ihm einen Stuhl hin und setzte sich ihm gegenüber.

»Ja, ich suche einen Reisegenossen. Ich fliege auf den Mars.«

»Ich weiß es, so steht es auch in der Annonce. Ich ließ mir vorhin diesen Stern zeigen. Gewiss, es ist weit. Ich möchte die Bedingungen wissen, wie ist es mit dem Gehalt und der Verpflegung?«

»Haben Sie Familie?«

»Ich bin verheiratet, habe aber keine Kinder.«

Der Soldat klopfte geschäftig mit den Fingern auf den Tisch und sah sich neugierig um. Lossj erzählte ihm kurz von den Bedingungen der Fahrt und machte ihn auf das mögliche Risiko aufmerksam. Er erklärte sich bereit, seine Frau zu versorgen und das Gehalt in Geld und Produkten vorauszubezahlen. Der Soldat nickte mit dem Kopf, hörte aber zerstreut zu.

»Ist es Ihnen bekannt«, fragte er, »ob dort Menschen oder irgendwelche Ungeheuer leben?«

Lossj kratzte sich den Nacken und lachte.

»Ich glaube, dass dort Menschen sein müssen. Wenn wir einmal oben sind, werden wir es ja sehen. Die Sache ist nämlich die: die großen Funkstationen in Europa und Amerika haben schon seit einigen Jahren eine Reihe unverständlicher Signale aufgenommen. Anfangs glaubte man, es sei die Wirkung der Magnetstürme an den Erdpolen. Aber die geheimnisvollen Zeichen erinnerten allzu sehr an alphabetische Signale. Jemand bemüht sich hartnäckig, mit uns in Verbindung zu treten. Woher kommen die Signale? Auf keinem einzigen Planeten außer Mars sind bisher Anzeichen eines Lebens festgestellt worden. Die Signale können nur vom Mars kommen. Schauen Sie sich doch seine Karte an – er ist von einem ganzen Netz von Kanälen durchzogen. Offenbar hat man dort die Möglichkeit, Funkstationen von ungeheurer Kraft zu errichten. Mars will mit der Erde sprechen. Vorläufig haben wir noch nicht die Möglichkeit, seine Signale zu beantworten. Aber wir fliegen auf seinen Ruf. Es ist schwer anzunehmen, dass die Funkstationen auf dem Mars von Ungeheuern, von Wesen, die uns unähnlich wären, errichtet seien. Der Mars und die Erde sind zwei winzige Kugeln, die nebeneinander kreisen. Für uns und für sie gelten die gleichen Gesetze. Durch das ganze Weltall schwebt ein lebenspendender Staub, eine in Anabiose erstarrte Lebenssaat. Die gleichen Samen fallen auf den Mars und auf die Erde, auf alle die Myriaden der erkaltenden Sterne. Überall entsteht Leben, und jedes Leben wird von Anthropoiden beherrscht: denn man kann kein vollkommeneres Wesen schaffen als es der Mensch ist, das Ebenbild des Herrn des Weltalls.«

»Ich fahre mit Ihnen«, sagte der Soldat entschlossen. »Wann soll ich mit meinen Sachen kommen?«

»Morgen. Ich muss Sie erst mit dem Apparat vertraut machen. Sie heißen?«

» Alexej Iwanowitsch Gussjew.«

»Ihr Beruf?«

Gussjew sah Lossj zerstreut an und senkte dann den Blick auf seine immer noch auf die Tischplatte klopfenden Finger.

»Ich verstehe zu lesen und zu schreiben«, antwortete er, »kann auch mit einem Auto umgehen. Bin schon als Beobachter im Flugzeug geflogen. Von meinem achtzehnten Jahre an bin ich im Krieg – das ist mein Beruf. Bin über zwanzigmal verwundet worden. Jetzt hat man mich entlassen.« Er fuhr sich plötzlich mit der Hand über den Scheitel und lachte kurz auf. »In diesen sieben Jahren habe ich manches erlebt. Von Rechts wegen müsste ich jetzt ein Regiment kommandieren – aber ich habe einen unverträglichen Charakter. Wenn die Kriegsoperationen aufhören, kann ich nicht ruhig auf einem Fleck sitzen. Alles ist in mir vergiftet. Entweder nehme ich Urlaub oder laufe einfach davon.« Er rieb sich wieder den Scheitel und lächelte. »Vier Republiken habe ich gegründet – in Sibirien, im Kaukasus, die Namen weiß ich nicht mehr. Einmal sammelte ich dreihundert Burschen, und wir machten uns auf, Indien zu erobern. Aber wir verirrten uns unterwegs im Gebirge, gerieten in Schneestürme, in Schluchten, verloren alle Pferde. Nur wenige kehrten zurück. Dann war ich zwei Monate beim Hetman Machno. In Troikas jagten wir über die Steppe – das war schön! Schnaps und Essen nach Belieben, Weiber nach Herzenslust. Wenn wir auf die Weißen oder auf die Roten stoßen, gibt es gleich eine Schlägerei. Wir nehmen ihnen den Train ab und sind am Abend schon achtzig Werst weit. Auf die Dauer freute es mich nicht mehr. Auch die Bauern hatten schon den Machno satt. Ich ging zur roten Armee. Als man die Polen aus Kiew vertrieb, war ich in Budjonnyjs Reiterei. Der ganze Feldzug im Trabe. Die Polen bekamen von uns genug Prügel. Aber vor Warschau blamierten wir uns: die Infanterie hielt nicht stand. Das letztemal bin ich bei der Einnahme von Perekop verwundet worden. Dann lag ich fast ein ganzes Jahr in verschiedenen Lazaretten herum – was sollte ich anfangen? Da stieß ich zufällig auf ein Mädel und heiratete. Ich habe eine gute Frau, sie tut mir leid, aber ich kann nicht zu Hause leben. In meinem Heimatsdorf habe ich nichts zu suchen: die Eltern sind gestorben, die Brüder sind erschlagen, das Land ist verwahrlost. Auch in der Stadt habe ich nichts zu tun. Augenblicklich gibt es keinen Krieg und ist auch keiner in Aussicht. Mstislaw Ssergejewitsch, nehmen Sie mich doch, bitte, mit. Sie werden mich auf dem Mars brauchen können – ich erschrecke vor nichts, bin alles gewöhnt.«

»Gut, es freut mich«, sagte Lossj und reichte ihm die Hand. »Also morgen.«

 

 

 

Schlaflose Nacht

 

 

Alles war zum Abfluge bereit. Die beiden folgenden Tage wurden auf das Verpacken einer Menge von Kleinigkeiten im Innern des Apparats verwandt. Alle Instrumente und Vorrichtungen wurden nachgeprüft. Man brach das Gerüst, das den Apparat umgab, ab und nahm einen Teil des Daches auseinander. Lossj zeigte Gussjew den Bewegungsmechanismus und die wichtigsten Vorrichtungen. Gussjew erwies sich als geschickt und gelehrig. Der Abflug war für sechs Uhr abends am nächsten Tage festgesetzt.

Spät am Abend entließ Lossj die Arbeiter und Gussjew, schaltete die Beleuchtung bis auf die Lampe über dem Tische aus und legte sich in Kleidern auf das eiserne Bett, das in einer Ecke des Schuppens, hinter dem Teleskopstativ stand.

Die Nacht war still und sternenklar. Lossj schlief nicht. Er lag, die Hände im Nacken verschränkt, blickte in das Dunkel unter dem von Spinngewebe überzogenen Dach, und das, wovor er morgen von der Erde fliehen wollte, quälte ihn wieder so schmerzlich wie noch nie. Viele Tage hatte er sich nicht gehen lassen. Aber in dieser letzten Nacht auf der Erde gab er seinem Herzen volle Freiheit: quäle dich, weine!

In seiner Erinnerung erstand die noch frische Vergangenheit … an der Wand, auf den Tapeten – Schatten von Gegenständen. Das Licht ist mit einem Buche verstellt. Es riecht nach Arzneien, die Luft ist stickig. Auf dem Fußboden steht ein großes Metallbecken. Wenn man aufsteht und am Becken vorbeigeht, gleiten über die langweiligen, verrückten Tapetenblumen die Schatten der Gegenstände. Diese Qual! Im Bette liegt das, was ihm teurer als die ganze Welt ist – Katja, seine Frau –, sie atmet leise und hastig. Auf dem Kissen ruhen ihre dunklen aufgelösten Haare. Die Knie sind unter der Bettdecke erhoben. Katja geht von ihm. Das vor Kurzem noch so reizende, sanfte Gesicht hat sich verändert. Es ist rosig und unruhig. Sie hat ihre Hand unter der Decke befreit und nestelt am Bettrande. Lossj ergreift schon wieder diese Hand und steckt sie unter die Decke.

»Nun, mach' die Augen auf, sieh mich an, verabschiede dich von mir.« Sie spricht mit leidender, kaum hörbarer Stimme: »Mach' das Fenster auf, mach' das Fenster auf.« Diese kaum hörbare, unglückliche Kinderstimme! Schrecklicher als jeder Schrecken ist das Mitleid mit ihr, mit dieser Stimme. »Katja, Katja, sieh mich an.« Er küsst sie auf die Wangen, auf die Stirn, auf die geschlossenen Augen. Aber das Mitleid gibt keine Erleichterung. Ihre Kehle zittert, ihre Brust hebt sich stoßweise, ihre Finger klammern sich an den Saum der Decke. »Katja, Katja, was ist mit dir?« … Sie antwortete nicht, sie geht von ihm … Sie hat sich auf den Ellbogen aufgerichtet, die Brust gehoben, als stieße man sie von unten. Der liebe Kopf hat sich vom Kissen gelöst und ist in den Nacken gesunken … Sie ist wieder in die Kissen gefallen. Lossj hat sie, vor Schrecken und Mitleid zitternd, mit beiden Armen umfasst, sich an sie gedrückt. Er hat sich einen Zipfel der Bettdecke in den Mund gestopft.

Es ist kein Erbarmen auf Erden …

Lossj erhob sich vom Bett, nahm vom Tische die Schachtel mit den Zigaretten, steckte sich eine an und ging eine Zeit lang im dunklen Schuppen auf und ab. Dann trat er vor das Teleskop, fand mit dem Sucher den Mars, der sich schon über Petersburg erhoben hatte, und sah lange auf die kleine, klare, warme Kugel. Der Stern zitterte leise in den Kreuzfäden des Okulars.

»Ja, es ist kein Erbarmen auf Erden«, sagte Lossj leise. Er trat vom Teleskop weg und legte sich wieder aufs Bett … In seiner Erinnerung erstand ein Gesicht. Katjuscha liegt im Gras auf einem Hügel. In der Ferne hinter den wogenden Feldern funkeln die goldenen Kuppeln von Swenigorod. Habichte kreisen in der Sonnenglut über den Korn- und Buchweizenfeldern. Katjuscha ist von der Hitze ganz faul. Lossj sitzt neben ihr, beißt an einem Grashalm, blickt auf das bloße blonde Köpfchen Katjuschas, auf ihre sonnengebräunte Schulter mit dem hellen Streifen am Ärmelrand, auf ihr von einer Mücke gestochenes Fäustchen, in das sie ihre Wange stützt. Ihre grauen Augen sind herrlich und gleichgültig, auch in ihnen kreisen die Habichte. Katja ist achtzehn Jahre alt, sie denkt ans Heiraten. Sie ist außergewöhnlich, ja gefährlich hübsch. »Wollen wir«, sagt sie, »heute Nachmittag auf dem Hügel liegen, von dort sieht man so weit.« Nun liegt sie da und schweigt. Lossj denkt sich: Nein, meine Liebe, ich habe Wichtigeres zu tun, als mich hier auf diesem Hügel in Sie zu verlieben. In diese Falle gehe ich nicht, ich komme nicht mehr zu Ihnen in die Sommerfrische.

Ach, mein Gott, was konnte es Wichtigeres geben als Katjuschas Liebe! Wie unvernünftig hatte er jene heißen Sommertage vorbeigehen lassen. Wenn doch die Zeit damals auf dem Hügel stillgestanden hätte. Sie kommt nicht wieder. Sie kommt nicht wieder! …

Lossj stand wieder vom Bett auf, rieb ein Zündholz nach dem andern an, rauchte, ging auf und ab. Aber auch dieses Aufundabgehen längs der Bretterwand war schrecklich: wie ein Tier in einer Grube. Lossj machte das Tor auf und blickte zu dem schon hoch am Himmel stehenden Mars hinauf.