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Arbeitnehmer:innen müssen sich heute kontinuierlich weiterbilden. Betriebliches Lernen wird dabei flexibel, individuell, zeit- und arbeitsnah nach Bedarf erfolgen - eben agil. Dieses Buch stellt zukunftsfähige Lernformate und eine Definition der neuen Rollen von Personalentwickler:innen, Führungskräften und Mitarbeiter:innen vor. Es zeigt, wie die Zukunft der Personalentwicklung aussehen kann und welche Kompetenzen die Mitarbeitenden benötigen. Sie erfahren, wie diese gefördert werden und wie eine Kultur des Lernens entsteht, mit der Unternehmen die Herausforderungen der Zukunft erfolgreich meistern. Inhalte: - Die VUCA-Welt: Welche Faktoren die Personalentwicklung beeinflussen - Das neue Verständnis von Personalentwicklung: Angebots- versus Nachfrageorientierung - Das neue Lernen: Learning on demand statt Lernen auf Vorrat - Agile Lernformate: von Hackathons bis TED Talks - Die Rolle der Führungskraft als LerncoachNeu in der 3. Auflage: - Weitere agile (Lern-)Formate - Lernen in Transformationsprozessen - Studienergebnisse zu Agilem Lernen und Metaskills der Zukunft - Definitionen zu agiler LernkulturDie digitale und kostenfreie Ergänzung zu Ihrem Buch auf myBook+: - Zugriff auf ergänzende Materialien und Inhalte - E-Book direkt online lesen im Browser - Persönliche Fachbibliothek mit Ihren BüchernJetzt nutzen auf mybookplus.de.
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Seitenzahl: 436
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Haufe Lexware GmbH & Co KG
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Nele Graf/Denise Gramß/Frank Edelkraut
Agiles Lernen
3. Auflage, September 2022
© 2022 Haufe-Lexware GmbH & Co. KG, Freiburg
www.haufe.de
Bildnachweis (Cover): © Magnia, shutterstock
Produktmanagement: Dr. Bernhard Landkammer
Lektorat: Peter Böke, Berlin
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Eine Ausbildung oder ein Studium reicht fürs ganze Berufsleben – von dieser Vorstellung müssen sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer angesichts des rasanten technischen Fortschritts endgültig verabschieden. Stattdessen gewinnt berufliche Weiterbildung zunehmend an Bedeutung. Aber sind die Beschäftigten und die Unternehmen hierauf schon eingestellt? Wie ist das derzeitigen Lernverhalten von Mitarbeitenden und wie sollte sich die Personalentwicklung darauf einstellen?
Unter der Prämisse der Zukunft des Agilen Lernens haben sich Prof. Dr. Nele Graf und Dipl.-Psych. Denise Gramß mittels einer Befragung von über 10.000 Beschäftigten zu deren Lernkompetenzen und dem daraus folgenden Handlungsbedarf in den Betrieben genähert. Die Ergebnisse sind spannend zu lesen und fließen in dieses Buch ein. Zudem stellen sie sowohl Mitarbeitende, Führungskräfte und Verantwortliche in der Personalentwicklung als auch Politikerinnen und Politiker vor einige nicht ganz einfache Aufgaben, um Personalentwicklung zukunftsorientiert gestalten zu können.
Geschieht an dieser Stelle in den Unternehmen schon genug, um die Beschäftigten an Agiles Lernen heranzuführen? Werden die Mitarbeitenden bei diesem Wandel hinreichend unterstützt?
Agiles Lernen und damit vorausgesetzt die Lernkompetenzen der Mitarbeitenden werden in den nächsten Jahren für die Produktivität von Unternehmen einen immer größeren Stellenwert gewinnen. Wollen diese Unternehmen also auch in der Zukunft bestehen, sind sie gut beraten, sich diesen Fragen zu stellen.
Prof. Dr. Michael Heister
Abteilungsleiter für Berufliches Lehren und Lernen, Programme und Modellversuche am Bundesinstitut für Berufsbildung, Bonn
»Agiles Lernen« – Mindestens eines der beiden Worte im Buchtitel hat Sie angesprochen, sonst würden Sie diese Einleitung jetzt nicht lesen.
Wenn es das Wort »agil« war, das Ihre Aufmerksamkeit erregt hat, gehören Sie zu der wachsenden Zahl an Personen, die verstanden haben, dass die vielfältigen, immer schneller auftretenden Veränderungen in der Wirtschaft ein steigendes Maß an Agilität von ihren Akteuren verlangen. Dann ist Ihnen auch klar, dass Lernen zu den zentralen Erfolgsfaktoren der agilen Welt gehört.
Wenn Ihr Fokus auf dem »Lernen« liegt, haben auch Sie sehr wahrscheinlich in den letzten Jahren vielfältige Veränderungen in der Arbeitswelt wahrgenommen. Neue Methoden und Instrumente des Lernens sind dabei nur die Spitze des Eisbergs. Mit wachsender Wucht setzen sich neue Denkweisen zum Lernen durch und verändern die Rollen von Mitarbeitenden und Führungskräften ebenso wie die von Trainern und Personalentwicklern. Selbstgesteuertes Lernen und immer individuellere Angebote sind nur zwei Trends, die auch das Lernen selbst immer agiler werden lassen.
Dabei ist der Begriff »Agiles Lernen«, den wir in diesem Buch groß schreiben, doppeldeutig: Zum einen muss das Lernen im Sinne der klassischen Personalentwicklung dynamischer und performance-orientierter werden, zum anderen muss »agiles Arbeiten« gelernt werden – also neue Arbeitsweisen, Denkmuster etc.
Ob Sie nun über die Agilität des Lernens oder Lernen für agiles Arbeiten zu diesem Buch gekommen sind, wir wollen beide Aspekte beleuchten. Letztlich gehören sie ja auch zusammen. Wir haben hierin unsere Erfahrungen in agilem Arbeiten, moderner Personalentwicklung und der Lernforschung zusammengeführt, weil wir überzeugt sind, dass Lernen zu dem Erfolgsfaktor für Unternehmen und Mitarbeiter in der VUCA-Welt wird. Dafür muss allerdings die gesamte Logik der Personalentwicklung in Unternehmen neu gedacht werden.
Um die Dimension dieser Veränderung aufzuzeigen, werden wir in den beiden ersten Kapiteln erläutern, was agiles Arbeiten bedeutet, welche Konsequenzen sich daraus für das Thema Lernen ergeben, und darstellen, wie unser Verständnis davon aussieht, was Agiles Lernen eigentlich ist. Das führt uns zunächst von der Realität in den meisten Unternehmen weg, und manches in dieser Darstellung wird auch in Zukunft nicht für alle Unternehmen und Personen relevant sein. Wir glauben jedoch, dass ein umfassendes Verständnis Agilen Lernens die Voraussetzung dafür ist, das mögliche Extrem einer rein agil arbeitenden Organisation und Belegschaft zu kennen. Erst mit dieser [14]Kenntnis ist es möglich, den eigenen Status und die für den eigenen Kontext sinnvollen Schritte zu erkennen.
Die ersten beiden Kapitel werden vielleicht manche Leserinnen und Leser in eine Welt führen, in der sie noch nicht zu Hause sind. Wir würden uns freuen, wenn Sie sich trotzdem darauf einlassen und dem gewählten Aufbau folgen wollen. So erhalten Sie ein vollständiges Bild dessen, was Agiles Lernen wirklich bedeutet. Das wiederum versetzt Sie später in die Lage, sich zu entscheiden, was Sie wann und wie tun wollen.
Der weitere Aufbau des Buches ist dann deutlich konkreter und praxisnäher. Wir gehen vom aktuellen Status des Lernens in der Mehrheit der Organisationen aus und diskutieren Lernen in der real existierenden Wirtschaft. Wir stellen Ihnen Studien, Ideen, Modelle und Vorgehensweisen vor, die es Ihnen erlauben, das Lernen in Ihrer heutigen Organisation zu analysieren, fördern und zukunftsfähig zu gestalten. Insbesondere gehen wir dabei auch auf die Veränderungen der Verantwortlichkeiten zwischen Mitarbeitendem, Führungskraft und Personalentwicklung ein und thematisieren die Bedeutung verschiedener Formate und Ansätze. Dadurch können Prozesse ausgelöst werden, die es Ihrer Organisation erlauben, den Schritt in eine agilere Organisation zu beschreiten. Für diejenigen, die genau diesen Schritt jetzt schon gehen wollen, vielleicht in einzelnen Pilotprojekten, haben wir im Anhang umfangreiche Informationen bereitgestellt. Lassen Sie sich also von uns mitnehmen auf eine Reise in die agile Zukunft des Lernens. Wir wünschen Ihnen viel Spaß!
Prof. Dr. Nele Graf, Denise Gramß und Dr. Frank Edelkraut
Braunschweig, 2017
P.S.: Wir haben bewusst die wissenschaftliche Diskussion zu Definitionen von Grundbegriffen wie Lernen etc. außen vor gelassen, um den Fokus nicht zu verlieren. Wer daran Interesse hat, dem seien die Lehrbücher aus der Erwachsenenbildung und pädagogischen Psychologie empfohlen.
Wir danken allen Leserinnen und Lesern, die die erste Auflage gelesen und gekauft haben!
Die Resonanz war überwältigend und zeigt, dass die Neuaufstellung der Personalentwicklung und das Lernen im betrieblichen Kontext einen Umbruch erfahren (werden).
Ob es sich lohnt, die zweite Auflage zu kaufen – auch wenn man bereits die erste gelesen hat? Wir meinen Ja!
Auch wir gehen mit der Zeit und haben das Buch mit Augmented-Reality-Content angereichert. Sie finden zahlreiche Tipps und Checklisten, die Sie direkt nutzen können, sowie Erklärvideos, die Praxisbeispiele zeigen oder inhaltlich ins Detail gehen.
Zudem haben wir neue Erkenntnisse, Leserfeedback und aktuelle Diskussionen in diese Auflage einfließen lassen. Das sind u. a.:
Der Versuch von Definitionen und Abgrenzungen: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Agilem Lernen, New Learning und Lernen 4.0?Der Personalentwickler: Es ist eine fünfte Rolle dazugekommen – der Learning Designer.Neue Formate: Lean Coffee, Barcamp, kollegiale Fallberatung etc. sind nun auch dabei.Lernkultur und Rahmenbedingungen: Auf Wunsch vieler Leserinnen und Leser haben wir das Thema intensiver beleuchtet und geben Tipps zur Auseinandersetzung mit dem Thema und dessen Gestaltung.Wir freuen uns, Ihnen hier die überarbeitete zweite Auflage präsentieren zu können, und wünschen Ihnen viel Spaß, Mut und Leidenschaft zum Experimentieren!
Prof. Dr. Nele Graf, Denise Gramß und Dr. Frank Edelkraut
Braunschweig, 2019
Als wir in 2018/19 begannen, die zweite Auflage von »Agiles Lernen« vorzubereiten, war an eine dritte Auflage noch gar nicht zu denken. Ebenfalls war nicht zu ahnen, was wir alle in den Jahren 2020 und 2021 erleben würden. Die Corona-Pandemie hat die Wirtschaft und auch die Art, wie Personalentwicklung und Lernen gesehen werden, massiv verändert. Auf einmal gingen Dinge wie das flächendeckende Homeoffice, neue Kollaborationstools und virtuelle Trainings, die zuvor nur schwer vorstellbar waren.
Auch für uns als Lernexpertinnen und -experten änderte sich nahezu alles. Zu Beginn des Lockdowns wurden bei uns innerhalb von drei Tagen viele Aufträge storniert. Dem stand eine massive Nachfrage nach neuen Themen, Formaten und Formen der Zusammenarbeit gegenüber. Also waren neue Angebote zu konzeptionieren und in Experimenten und Feedbackschleifen mit den Klienten weiterzuentwickeln. Beispielsweise haben wir unsere Qualifizierung von Mentoren auf ein Online-Format umgestellt oder die Weiterbildung zum agilen Lerncoach gleich parallel virtuell und in Präsenz geplant. Wir haben sehr schnell sehr viel gelernt und plastisch vor Augen geführt bekommen, wie agiles Arbeiten und Agiles Lernen funktionieren.
Damit ergab sich quasi eine Blaupause für die nächsten Jahre und Herausforderungen, denn die agile Vorgehensweise, kombiniert mit schnellen und intensiven Lernzyklen, ist offensichtlich sehr robust und kann völlig unabhängig vom Inhalt auf nahezu alle neuen Themen angewandt werden. Damit sehen zumindest wir recht entspannt auf die neuen Megathemen, egal ob sie New Work, Dekarbonisierung oder weiterhin Digitalisierung heißen.
Heute ist aber auch klar: So wie die zweite Auflage von Agiles Lernen gestaltet war, konnte das Buch nicht bleiben. Die radikalen Entwicklungen in der Pandemie haben einen massiven Erfahrungssprung bei den potenziellen Leserinnen und Lesern bewirkt, die Bedeutung der Personalentwicklung für den Unternehmenserfolg aufgezeigt und ganz neue Ansatzpunkte geliefert. Zudem haben sich die Erkenntnisse zum Agilen Lernen massiv weiterentwickelt – erste Promotionen sind in Bearbeitung und auch international steigt die Aufmerksamkeit für das Thema. Inhaltlich passt jetzt nicht mehr alles und wir haben uns entschieden, die dritte Auflage zu realisieren und dabei einige Kapitel komplett neu zu gestalten.
Wir hoffen sehr, dass Sie mit dieser neuen Auflage ein Werk vorfinden, dass Ihnen hilft, Ihre persönliche Lernreise ebenso erfolgreich zu gestalten, wie die (Neu)Gestaltung der Personalentwicklung in Ihrer Organisation. Lassen Sie uns möglichst viel Schwung, den Corona für das (Agile) Lernen erzeugt hat, in die Zukunft mitnehmen. Denn eines ist sicher: Lernen wird noch wichtiger und vielfältiger!
[18]An dieser Stelle möchten wir noch den vielen leidenschaftlichen Lernenthusiasten und insbesondere der Community »unserer« agilen Lerncoaches danken, die mit uns experimentieren, reflektieren und diskutieren, um das Lernen ein bisschen besser zu machen.
Viel Erfolg für Ihre agile Lernreise!
Nele Graf & Frank Edelkraut
Braunschweig, Juni 2022
»Kind, was bist Du groß geworden!« Wer hat diesen Ausruf von Oma nicht noch im Ohr? Und, hat es genervt oder waren Sie stolz über die Entwicklung? Wie auch immer, die Szene zeigt Aspekte, die in jeder persönlichen Veränderung und sogar in der Wirtschaft immer wieder auftauchen:
Innen- vs. Außensicht: Prozesse, hier das Wachstum, werden anders wahrgenommen, wenn man selbst betroffen ist und die gesamte Entwicklung quasi von Innen erlebt. Bei punktueller Betrachtung von außen erscheinen Sprünge deutlich größer.Wert einer Veränderung: Der eigene Standpunkt hat großen Einfluss auf die Bewertung eines Veränderungsprozesses. Zwischen »Sie werden so schnell erwachsen« und »Wann darf ich endlich …« besteht ein großer Unterschied.Geschwindigkeit der Veränderung: Manche Aspekte einer Veränderung lassen sich nur sehr eingeschränkt beschleunigen (»Wächst nicht schneller, wenn man dran zieht«), andere dagegen sind steuerbar (»Das Sport-Camp hat die Leistung erkennbar erhöht«).Egal, wie wir Veränderungen wahrnehmen, jede ist ein Lernprozess. Neues Wissen entsteht, neue Fertigkeiten sind zu erlernen und die nötigen Kompetenzen müssen sich entwickeln. Wie wir Lernen gestalten und wie lange Lernen dauert, hat einen zentralen Einfluss auf jede anstehende Veränderung. Daher lohnt es sich, dem Lernen hohe Aufmerksamkeit zu widmen und zu versuchen, es möglichst professionell zu gestalten. Je besser unsere Lernkompetenzen als Individuum und als Organisation ausgeprägt sind, desto besser sind wir auf die vielfältigen Veränderungen, denen wir uns gegenübersehen, vorbereitet.
Wenn wir über die Personalentwicklung und Lernen in Unternehmen sprechen, empfiehlt es sich, zuerst die Metaebene einzunehmen und die Veränderung aber auch den Lernbedarf und Lernkontext umfassend zu betrachten. Welche Rolle wird Lernen in und für unsere Organisation in den nächsten Jahren spielen? Mit dieser Frage aus der strategischen Personalentwicklung wollen wir starten und schauen zuerst, mit welchen Veränderungen eigentlich zu rechnen ist. Einen ersten Hinweis gibt uns der Spiegel der Wirtschaft, der Aktienmarkt.
6 – 3 – 5 – 9 – 2. Nicht unbedingt regelmäßig, aber definitiv im Abstand weniger Jahre werden die Wirtschaft und die Aktienmärkte durch krisenhafte Ereignisse erschüttert. Egal, ob Kriege, Firmenzusammenbrüche oder eine Pandemie, die Wirtschaft sieht sich [22]innerhalb kürzester Zeit massiven Risiken und Veränderungen gegenüber, mit denen sie umgehen muss. Seit dem Zusammenbruch der Tulpenpreise im Februar 1637 (vgl. Infokasten »Die Tulpenkrise«) sind unzählige Krisen an Börsen zu verzeichnen gewesen und man kann getrost annehmen, dass dies auch in Zukunft der Fall sein wird.
Was sich in den letzten Jahrzehnten verändert hat, ist die Geschwindigkeit, mit der sich Krisen manifestieren. In der globalen, digitalisierten Wirtschaft treten sie immer überraschender und weniger vorhersehbar auf, die Ausschläge auf der Kurstafel werden größer und die Komplexität des Wirtschaftens wächst in der Folge deutlich an.
Die Tulpenkrise
Schnelle Veränderungen, radikale Umbrüche und die Notwendigkeit, Neues zu lernen, sind kein Alleinstellungsmerkmal moderner Wirtschaft. Bereits zu Beginn der Börsengeschichte waren die gleichen Mechanismen und Entwicklungen zu beobachten. Ein schönes Beispiel sind die Ereignisse zu Beginn des Jahres 1637. Die Niederlande erleben ihr Goldenes Zeitalter, große Meister wie Rubens, Hals oder Vermeer schaffen zeitlose Meisterwerke und für einen Sack Pfeffer kann man in Amsterdam ein repräsentatives Stadthaus kaufen. Der globalisierte Handel macht die VOC zum erfolgreichsten Unternehmen der Weltgeschichte und technische Fortschritte sind gerade im Schiffbau und in der Wasserwirtschaft an der Tagesordnung.
In dieser Zeit macht eine Blume aus Zentralasien Karriere und schreibt Wirtschaftsgeschichte: Die Tulpe. Tulpenzwiebeln werden innerhalb kürzester Zeit zum beliebten Spekulationsobjekt. Tausende von Menschen investieren in Tulpen und erfinden ganz nebenbei den Terminhandel. Zuletzt werden 10.000 Gulden für eine Zwiebel der Semper Augustus verlangt. Im Februar 1637 passiert, was passieren musste, die Spekulationsblase platzt, und wer jetzt noch auf Optionsscheinen saß, hat alles verloren. So auch Peter Paul Rubens, der in der Folge sein Haus verkaufen muss.
So weit, so lange her. Warum sollte uns die Tulpenkrise in Zusammenhang mit Agilem Lernen und der agilen Wirtschaft 400 Jahre später interessieren? Die Geschichte um die Tulpenkrise ist deswegen spannend, weil sich nichts, aber auch gar nichts geändert hat. Technik, Märkte und Spekulationsobjekte haben sich verändert, aber die Mechanismen menschlichen Denkens und Verhaltens bleiben identisch. Wer die Tulpenkrise und die heutigen Spekulationsblasen tiefer analysiert, erkennt, dass Menschen sehr vorhersehbar agieren und sich manche Prozesse immer wiederholen. Das mag böse klingen, gibt uns aber zwei Hinweise, die wir für unsere Personalarbeit nutzen können:
Es wird wieder passieren. Wir können uns aber auf die kommende Spekulationsblase vorbereiten. Die Art, wie Menschen denken und handeln, ist der einzig entscheidende Faktor für viele Entwicklungen; Technik usw. spielt eine untergeordnete Rolle.Bildung und Lernen kann uns helfen, die Organisation auf die nächste Krise vorzubereiten. Egal, ob Pandemie, Spekulationsblase oder politische Krise, ein Stamm an gut ausgebildeten und erfahrenen Mitarbeitenden hilft, schnell und kompetent zu reagieren und der Organisation Handlungsspielraum zu verschaffen. Bei der Vorbereitung auf die nächste Krise und dem [23]Aufbau einer Kriseninterventionsmannschaft kann der Blick auf die Tulpenkrise oder die VOC übrigens helfen, denn durch die zeitliche Distanz und die scheinbare Andersartigkeit werden die relevanten Faktoren für eine Krisenvorbereitung klarer ersichtlich und man tappt nicht in die Falle, aktuellen Trends hinterherzulaufen.
Der Langzeitverlauf des DAX zeigt auch die gute Nachricht. Die Wirtschaft erholte sich von allen Einbrüchen und ging am Ende gestärkt aus jeder Krise hervor. Der DAX steigt im langjährigen Mittel stetig an. Daran sind mindestens zwei Faktoren beteiligt:
Besser machen: Krisen lösen eine Restrukturierung und Optimierungswelle aus, die deutliche Optimierungen nach sich zieht und schlecht aufgestellte Marktteilnehmer verschwinden lässt.Neues schaffen: Innovationen, neue Geschäftsmodelle und ganze Märkte werden permanent weiterentwickelt und sorgen für zusätzliche Wertschöpfung, die sich im Kursverlauf niederschlägt.Abb. 1: Langzeitverlauf des DAX (Quelle: https://www.finanzen.net/index/dax/seit1959, Abruf am 15.01.2022)
Auslöser für Verluste im DAX
16. Oktober 1989: -14,3 % – Finanzierungsschwierigkeiten bei United Airlines lösen eine Kettenreaktion aus
6. August 1990: -5,7 % – Irakische Truppen marschieren in Kuwait ein
19. August 1991: -10,4 % – Versuchter Putsch gegen Michail Gorbatschow
28. Oktober 1997: -8,7 % – Finanz-, Währungs- und Wirtschaftskrise in Asien
21. August 1998: -6,3 % – Finanzkrise in Russland
1. Oktober 1998: -7,6 % – Dem US-Hedgefonds LTCM droht Zahlungsunfähigkeit
11. September 2001: -9,2 % – Terroranschläge in den USA
[24]5. August und 3. September 2002: -6,0 % und -6,2 % – Angst vor der Rezession in den USA
24. März. 2003: -6,5 % – Beginn des Irak-Krieges
21. Januar 2008: -7,7 % – Erneute Ängste vor einer Rezession in den USA
6. Oktober 2008: -7,6 % – Pleite von Lehman Brothers
6. November 2008: -7,3 % – Die Finanzkrise wird zur Wirtschaftskrise
9. März 2020: -8,2 % – Der Dax bricht Corona-bedingt ein
24. Februar 2022: -4 % – Russland überfällt die Ukraine (innerhalb der ersten Woche -14 %)
Der DAX bildet nur einen kleinen Teil der Gesamtwirtschaft ab und schaut man auf diese, zeigen die letzten Jahrzehnte sogar eine noch viel deutlichere Entwicklung. Gerade die Digitalisierung hat zu massiven, teilweise exponentiellen Veränderungen in vielen Branchen geführt. Heute wird die Liste der wertvollsten Unternehmen durch IT und Internetkonzerne angeführt, während es vor 20 Jahren noch die Energiebranche war, die hier dominierte. Man muss kein Prophet sein, um anzunehmen, dass die Digitalisierung auch für die nächsten Jahre relevant bleibt und zu weiteren massiven Veränderungen führen wird.
Weitere Veränderungen werden wahrscheinlich auch dazu führen, dass die Komplexität des Wirtschaftens weiter steigt. Jede Veränderung in der Wirtschaft ist bei genauer Betrachtung ein Konglomerat aus verschiedenen Veränderungselementen, die sich oft uneinheitlich schnell entwickeln. Der Human Capital Trend 2017 von Deloitte hat dies sehr schön am Beispiel der unterschiedlichen Veränderungsgeschwindigkeiten in der Digitalisierung diskutiert.
Abb. 2: Parallel verlaufende Entwicklungen in exponentiellem Change (Quelle: Deloitte University Press, 2017)
Während sich die Technologie sehr schnell, oft exponentiell verändert, erschließen sich die Nutzer das Angebot etwas langsamer und nutzen auch nicht alle Angebote. [25]Die Unternehmen wiederum benötigen länger für die Einführung neuer Technologien, was nicht verwundert, da Investitionen, Sicherheitsthemen, Schulungsbedarfe, die Dauer der entsprechenden Qualifizierungen usw. zum Tragen kommen. Die Politik und der Gesetzgeber wiederum sind noch langsamer, denn sie müssen die gesellschaftliche Ebene, d. h. noch höhere Komplexität, abbilden und dies erfordert viel Zeit.
Wie sich die Komplexität auf gesellschaftlicher Ebene darstellt, lässt sich sehr schön an der Frage, wie sich Technologie auf Bildung auswirkt, aufzeigen. Die OECD hat in ihrem Lernkompass 2030 (Abb. 3) zusammengefasst, was passiert, wenn technologische Entwicklung und Bildung nicht parallel verlaufen. Hinkt die Bildung hinter der technischen Entwicklung hinterher, werden viele Menschen mit der Entwicklung nicht Schritt halten und negative Konsequenzen, wie etwa den Verlust des Arbeitsplatzes, erleben. Ist der Bildungsstand dagegen höher, als es für die aktuelle Technologie nötig wäre, entsteht eine Phase der Prosperität, da die Menschen die Technik und die Art zu arbeiten weiterentwickeln können und weiteres Wachstum entsteht. Damit ist bereits ein Dilemma beschrieben, das sich in den letzten Jahren immer weiter verschärft hat. Denn eine zwingende Frage ist, wie sich die Bildung verändern muss, wenn die technische Entwicklung immer schneller voranschreitet. Wie kann die Bildung die Geschwindigkeit der Veränderung abbilden? Wie kann der entstehende Lernaufwand realisiert werden? Solche Fragen werden uns in den kommenden Jahren in der Gesellschaft aber auch in jedem einzelnen Unternehmen intensiv beschäftigen.
Abb. 3: Der Wettlauf zwischen Technologie und Bildung (Quelle: OECD 2020)
[26]Dass diese Fragen unbedingt beantwortet werden müssen, zeigt auch die Veränderung der Aufgabentypen oder, anders ausgedrückt, die Veränderung im Charakter der Arbeit. Was müssen Mitarbeitende in verschiedenen Tätigkeiten können, um in der sich verändernden Arbeitswelt mitzuhalten und einen wertvollen Beitrag zu leisten?
Abb. 4: Veränderungen in der Relevanz unterschiedlicher Arbeitsaufgaben (Quelle: OECD, 2020)
Der starke Anstieg der Bedeutung IT-relevanter Berufe und der Bedeutungsrückgang mechanischer Arbeit bzw. von Routinearbeit steht für die digitale Schere und das Risiko einer größer werdenden gesellschaftlichen Spaltung. Damit steigt die Relevanz von Bildung und Lernen noch einmal an und es lohnt sich, etwas detaillierter auf die besonders begehrten und besonders gefährdeten Tätigkeiten zu schauen.
Wie groß der Bedarf an Weiterbildung (Upskilling) und dem Erwerb neuer Kompetenzen (Reskilling) ist, hat das World Economic Forum in seinem Report »The Future of Jobs« (WEF 2020) berechnet. Man kommt zu dem Schluss, dass sich ungefähr 40 % der Berufstätigen signifikant neu qualifizieren müssen. Wo Qualifizierungsbedarf besteht, zeigen die Rollen, die sich am stärksten verändern werden. Der deutlichste Bedarfsanstieg ergibt sich wenig überraschend im Bereich der weiter voranschreitenden Digitalisierung, aber auch die Bereiche Automatisierung, Management und Transformation werden als zunehmend relevant eingestuft. Die Verliererseite ist dagegen vollständig durch (manuelle) Routinearbeiten gekennzeichnet. Hier wird die (digitale) Automatisierung zu einem Wegfall der Tätigkeiten führen. Somit ergibt sich aus Sicht der Unternehmen ein massiv ansteigender Lernbedarf, der entweder zu höherwertigen Tätigkeiten führt oder auf ganz neue Einsatzbereiche vorbereitet. Im Prinzip ist dies eine Entwicklung, die bereits vor Jahrzehnten eingesetzt hat, man denke beispielsweise an die Veränderungen im Maschinenbau, wo die reine Mechanik immer mehr um digitale Anteile ergänzt wurde.
Abb. 5: Die jeweils 20 Rollen mit steigendem oder abnehmendem Bedarf, über alle Branchen betrachtet (Quelle: WEF, 2020)
Neben den Rollen lohnt auch die Betrachtung der Kompetenzen und Fähigkeiten, die für eine erfolgreiche Tätigkeit in den genannten Rollen benötigt werden. Auch hier gibt der Report Auskunft (Abb. 6) und listet ganz oben analytisches Denken und Innovation, aktives Lernen und Lernstrategien und Lösung komplexer Probleme auf. Nach der bisherigen Diskussion dürfte diese Liste nicht wirklich überraschen. Die angeführten Kompetenzen zeigen vor allem, dass die Wirtschaft immer komplexer wird und die »Kopfarbeit« (Knowledge Work) als besonders erfolgskritisch angesehen wird. Auch dies spricht für einen deutlich zunehmenden Lernbedarf, nicht nur wegen des Nachholbedarfes vieler Menschen, sondern auch wegen einer weiteren Verschiebung der profitablen Tätigkeiten in die Bereiche kreativer und steuernder Aufgaben und der Dienstleistung.
Abb. 6: Die 15 wichtigsten Skills für 2025 (Quelle: WEF, 2020)
Wenn die gerade diskutierten Entwicklungen zu einem zunehmenden Lernbedarf führen, stellt sich automatisch die Frage, wo wir als Individuen, Organisationen und als Gemeinschaft stehen. Schaue wir zunächst darauf, wie Lernen in der Gesellschaft ver[28]ankert ist. Dieser Frage hat sich die Initiative D21 gewidmet und in der Studie »Digital Skills Gap« (D21, 2021) veröffentlicht. In Abbildung 7 sind die wesentlichen Erkenntnisse und daraus abgeleitete Handlungsempfehlungen wiedergegeben.
Abb. 7: Die wichtigsten Ergebnisse zur Digitalkompetenz in Deutschland (Quelle: Initiative D21, 2021)
Die D21-Studie erfasste zwar nur die digitalen Skills der deutschen Bevölkerung, kann aber auch darüber hinaus als Indikator für den Kontext dienen, in dem sich deutsche Unternehmen und Organisationen bewegen. Sie sind schließlich ein Abbild der umgebenden Gesellschaft und die Studienergebnisse können im ersten Schritt auch auf die Belegschaften übertragen werden. Vor allem die bereits angesprochene Spaltung der Gesellschaft in gut für Wandel und die Zukunft gerüstete Mitarbeitende und diejenigen, die den Anschluss zu verpassen drohen, ist ein Aspekt, der in der Personalentwicklung beachtet werden sollte. Die Studie zeigt dabei vor allem, dass es gar nicht so sehr um die Inhalte geht als um die Fähigkeiten, mit verfügbaren Instrumenten und Angeboten adäquat umzugehen. Anders formuliert, es geht nicht um die Vermittlung von Wissen, sondern um die Befähigung zum eigenständigen Lernen.
Die Erhebung zeigt im Wesentlichen, dass die große Mehrheit der Deutschen bereits in der digitalen Welt angekommen ist und Geräte und Webangebote umfassend nutzt. Die Studie zeigt aber auch, dass gerade im Bereich der Metakompetenzen, etwa dem Verständnis von Zusammenhängen oder Risiken, aber auch beim Lernen deutliche Defizite bestehen.
Die zunehmende Bedeutung von Metakompetenzen wird auch in anderen Studien klar und in Kapitel 5.3 werden wir darauf vertiefend eingehen. Für die Personalentwicklung in den Unternehmen ergibt sich hieraus eine Herausforderung, denn welche [29]Kompetenzen sind relevant und auf welchem Niveau sind sie im Unternehmen überhaupt schon vorhanden? Derartige Fragen sind gar nicht so leicht zu beantworten, denn bisher lag der Fokus eher auf Fach- und Methodenkompetenzen. Metakompetenzen unterlagen deutlich seltener einer gezielten Entwicklung.
Beim (Neu-)Start in eine strukturierte Kompetenzentwicklung kann es sinnvoll sein, sich einen ersten Überblick zum Status der Kompetenzen in der Organisation zu verschaffen. Aber wo anfangen? Es gibt eine Reihe von Kompetenzanalysen am Markt, die allerdings oft auf Digitalkompetenzen fokussieren oder ein sehr großes Kompetenzspektrum abdecken, was mit einigem Aufwand und Kosten verbunden ist. Eine kompakte und fokussierte Analyse mit wenigen aber relevanten Kompetenzen (vgl. Abb. 8) führt dagegen schnell und kostengünstig zu einem ersten Überblick, der dann deutlich fundiertere Entscheidungen hinsichtlich weiterer Maßnahmen erlaubt. Eine detailliertere Darstellung der Valcom® Future Skills-Analyse finden Sie, wenn Sie die folgende Abbildung mit Ihrer Haufe-smARt-App scannen.
Abb. 8: Die 16 Future Skills der Valcom® Future Skills-Analyse (Quelle: https://valcom.org/future-skills-entwickeln/)
Wenn wir die bisher diskutierten Erkenntnisse zusammenfassen, können wir folgende Annahmen für die zukünftige Personalentwicklung in den Unternehmen treffen:
Wirtschaft und Gesellschaft ist sowohl ein permanenter als auch immer wieder disruptiver Veränderungsprozess, dessen Komplexität permanent ansteigt. → Lernen wird wichtiger und muss schneller erfolgen.Veränderungen müssen immer öfter gestartet werden, bevor das finale Ergebnis überhaupt formulierbar ist. → Metakompetenzen und der Umgang mit Ambiguität spielen zukünftig eine größere Rolle.[30]Arbeit verändert sich, hin zu Rollen, in denen mehr und anspruchsvollere Kompetenzen gefordert sind. → Lernen wird anspruchsvoller, zeitintensiver und situativer.Der Spagat zwischen den Menschen, die anstehende Veränderungen mitgehen können, und denen, die möglicherweise abgehängt werden, wird größer. → Lernen ist individuell zu gestalten.Lernen ist die Kernkompetenz für eine erfolgreiche Zukunft.
Der Blick in die Zukunft wirft für diejenigen, die sich mit Lernen in Organisationen befassen, sofort die Frage auf, wie gut Organisation, Teams und Individuen für kontinuierliches und wertschöpfendes Lernen in einer sich schnell verändernden Welt aufgestellt sind.
Betrachten wir exemplarisch eines der vielen Beispiele für Veränderungen, denen sich Unternehmen aktuell gegenübersehen. Die Klimakrise ist wissenschaftlich unbestritten und die Zeit, angemessen zu reagieren, ist extrem knapp. Privatpersonen leisten zunehmend individuelle Beiträge, können aber bestenfalls einen Teil zur Lösung des Problems beitragen. Die Politik wiederum scheut sich erkennbar, die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Die Wirtschaft steckt in der Klemme zwischen zunehmend umweltbewussten Kunden und Geschäftspartnern und unklaren Rahmenbedingungen aus der Politik. Was also tun? Unstrittig dürfte sein, dass auch die Unternehmen einen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz leisten und sich alle Unternehmer früher oder später dem Thema stellen müssen.
Wie können in dieser Gemengelage sinnvolle Entscheidungen getroffen, Maßnahmen eingeleitet und gelernt werden? Die Herausforderung ist, wie bei den anderen großen Veränderungsthemen auch, zu einem möglichst frühen Zeitpunkt handlungsfähig zu werden und dabei eine Balance zwischen den oft widersprüchlichen Aspekten hinzubekommen. Wer früh agiert, hat mehr Optionen und länger Zeit, sinnvolle Maßnahmen zu ergreifen. Der richtige Zeitpunkt spielt also eine zentrale Rolle: Wer erfolgreich sein und bleiben will, muss schnell sein. Genau hier kommt die Fähigkeit zu lernen, genauer gesagt, die Fähigkeit zu Analyse, Optionsentwicklung und Entscheidungsumsetzung zum Tragen.
Je schneller ein Unternehmen lernt, umso früher kann es agieren.
Im Fall der Klimarettung ist der Zug bereits ins Rollen gekommen, denn einige relevante Unternehmen haben sich für Maßnahmen zur Erreichung von Klimaneutralität [31]entschieden und sind in die Umsetzung gestartet. Somit erhöht sich der Handlungsdruck für die anderen Unternehmen, während sich gleichzeitig die Anzahl der Handlungsoptionen reduziert. Wichtige Partner, zum Beispiel für den Aufbau einer eigenen erneuerbaren Energieversorgung, gehen anderweitige Partnerschaften ein, genau wie die Anzahl verfügbarer Spezialisten geringer wird. Wer jetzt noch nicht begonnen hat, wird zunehmende Schwierigkeiten hinsichtlich verfügbarer Optionen haben. Der Handlungsdruck … Aber das hatten wir schon. Klar wird an diesem Beispiel, dass die Geschwindigkeit des Lernens bzw. die Berücksichtigung der Dauer von Lernprozessen zukünftig eine größere Rolle in der Personalentwicklung spielt.
Kommen wir noch einmal auf die Ausgangsfrage dieses Kapitels zurück. Sind die Unternehmen hinsichtlich des Lernens gut aufgestellt? Ist das Lernen so organisiert, dass es schnell, anspruchsvoll und wirksam erfolgen kann? Ist die Personalentwicklung auf das vorbereitet, was Deloitte (Abb. 2) und die OECD (Abb. 3) aufzeigen? Schauen wir noch einmal auf den Teil der OECD-Grafik, der die heutige Situation darstellt (Abb. 9). Heute und in Zukunft stehen Unternehmen vor der Aufgabe, die sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten von inkrementellen und transformationalen Veränderungen abzubilden, wobei der Anteil transformativer Veränderungen wächst. Dies bedeutet ja, dass der Qualifizierungsstand in der Belegschaft so hochgehalten werden muss, dass Marktveränderungen mitgegangen und idealerweise sogar gestaltet werden können.
Abb. 9: Der Wettlauf zwischen Technologie und Bildung (Ausschnitt) (Quelle: OECD 2020)
Hinsichtlich der strategischen Personalentwicklung ergeben sich mehrere Konsequenzen, die einen echten Paradigmenwechsel bedeuten:
[32]Paradigmenwechsel 1: Die Time to Skill, d. h. die Dauer des Lernprozesses vom Erkennen des Lernbedarfs bis zum Einsatz der erworbenen Kompetenzen, muss möglichst kurz sein.Paradigmenwechsel 2: Der Fokus von Qualifizierungen verschiebt sich von der Vermittlung von definierten Themen hin zur Entwicklung von Metakompetenzen, etwa der Lernkompetenz.Paradigmenwechsel 3: Statt der Anforderungen von Positionen/Stellen werden die individuellen Kompetenzen und Entwicklungspfade der einzelnen Mitarbeitenden in den Mittelpunkt gestellt.Wenn wir diese Paradigmenwechsel als sinnvoll annehmen, ergeben sich sofort vielfältige Konsequenzen und Herausforderungen für die Personalfunktion. Wir müssen die Personalentwicklung verändern, aber ebenso die strategische Personalplanung, das Talent-Management, Karrieremodelle und so weiter. Mit der steigenden Bedeutung des Lernens für die Transformationsfähigkeit der Unternehmen kommen mehr Arbeit, mehr Widersprüche und eine viel größere Verantwortung auf die Personalfunktion zu. Wenn die Relevanz menschlicher Kompetenz für die Bewältigung komplexer Themen steigt, steigt auch die Bedeutung der Funktion, die für die Mitarbeitenden die besten Rahmenbedingungen gestalten kann.
Jetzt ist der richtige Zeitpunkt für die Transformation der Personalarbeit und entwicklung, und intelligent gesteuert sind die dargestellten Aufgaben und Widersprüche auch gut zu meistern. Hierzu können wir auf die Erfahrungen und Rahmenwerke des agilen Arbeitens zurückgreifen, die für ähnlich komplexe Aufgabenstellungen in anderen Fachbereichen bereits erfolgreich eingesetzt werden. Im folgenden Kapitel wollen wir diskutieren, wie agiles Arbeiten und Agiles Lernen zusammenhängen und wie wir beide Bereiche sinnvoll kombinieren können.
Think Big – Start Small – Scale Fast
Literatur
BCG (2021): The Future of People Management Priorities, Juni 2021, siehe: https://web-assets.bcg.com/16/b1/c25cb9e2471c81c355c9dccb8d4f/bcg-creating-people-advantage-2021-jun-2021.pdf
Deloitte University Press (2017), siehe: https://www2.deloitte.com/content/dam/Deloitte/global/Documents/HumanCapital/hc-2017-global-human-capital-trends-gx.pdf
Initiative D21 (2021): Digital Skills Gap, siehe: https://initiatived21.de/d21skillsgap/
OECD Lernkompass 2030 – ECD-Projekt Future of Education and Skills 2030 Rahmenkonzept des Lernens (2020), siehe: https://www.oecd.org/education/2030-project/contact/OECD_Lernkompass_2030.pdf
WEF (World Economic Forum) (2020): The Future of Jobs Report 2020, siehe: https://www.weforum.org/reports/the-future-of-jobs-report-2020
[33]Videotipps
Die Tulpenkrise: https://www.youtube.com/watch?v=sZTTg7-hono
Die VOC: https://www.youtube.com/watch?v=wEj6oP6fUXU&t=1147s
Kunst im Goldenen Zeitalter: https://www.youtube.com/watch?v=MZLUkS3lH9c
Die bisherige Diskussion zeigt, dass man kein Prophet sein muss, um vorherzusagen, dass alle Organisationen mehr oder weniger stark von schnellen Veränderungen betroffen sind und allein die Frage nach den nötigen Qualifizierungen zügiges Handeln erfordert. Lernen ist eine Schlüsselkompetenz auf individueller und organisatorischer Ebene!
Für Unternehmen und deren Mitarbeitende sind somit umfassendere Ansätze nötig, um schnell genug die jeweils relevanten Kompetenzen zu erwerben und Lernsysteme zu etablieren, die auf die digitale bzw. die agile Welt vorbereiten, als wir bisher betreiben.
Daher werden wir in diesem Kapitel einen umfassenderen Blick auf das Lernen in der agilen VUCA-Welt wagen und versuchen, daraus zukunftsfähige Lernstrategien abzuleiten.
Im vorherigen Kapitel haben wir gesehen, dass Unternehmen aktuell eine große Zahl technologischer, sozialer und anderer Veränderungen erleben, die häufig in unterschiedlichen Formen miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Somit hängt zukünftiger Erfolg immer mehr davon ab, Komplexität, Widersprüchlichkeit etc. professionell und flexibel handhaben zu können.
Die Herausforderungen für die Unternehmen sind im Personalmanagement dabei besonders vielfältig:
Globalisierung des Arbeitsmarktesalternde Belegschaften bei einem Rückgang der Zahlen von BerufseinsteigernMangel an qualifizierten Fachkräftenveränderte Erwartungshaltung der Mitarbeitendenneue Formen der Unternehmens- und Arbeitsorganisation, wie z. B. die Nutzung agiler Methoden oder hybrider Arbeitsmodelle…Im Personalmanagement resultiert hieraus eine immer geringere Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte. Die Situation wird durch die beschriebenen Veränderungen bei Technologien und Geschäftsmodellen weiter verschärft, da relevante Qualifizierungen erst noch erworben werden müssen.
In der Konsequenz gehört das kontinuierliche Lernen von Mitarbeitenden, Führungskräften und der Organisation zu den zentralen Aufgaben moderner Personalentwicklung.
[36]Der Status der Weiterbildung in Firmen (vgl. auch Abb. 10) zeigt einen immer weiter steigenden Handlungsbedarf, da sich sowohl die Art als auch der Umfang der zu erwerbenden Kompetenzen stetig erhöht (World Economic Forum, 2020). In einer Studie von Oxford Economics wurden bereits 2014 die wesentlichen Treiber und Widersprüche beschrieben:
Der Bedarf an Technologie-Know-how wird steigen, doch nur wenige Mitarbeitende glauben, dass sie hier vertiefte Kenntnisse erwerben können. Mehr als die Hälfte von ihnen erwartet, dass sie in drei Jahren auch Fachexperte im Bereich Datenanalysen ist, doch weniger als ein Drittel glaubt, dass sie bei Cloud und mobilen Lösungen ausreichende Kompetenz erwerben wird.53 % der deutschen Führungskräfte geben an, dass ihr Unternehmen in großem Umfang zusätzliche Schulungsprogramme zum Aufbau neuer Qualifikationen anbietet. Doch nur 48 % der Mitarbeitenden meinen, dass ihr Unternehmen die richtigen Wege und Werkzeuge bereitstellt, die sie für eine Weiterentwicklung und die Steigerung ihrer Leistung brauchen.39 % der Mitarbeitenden geben an, dass ihr Unternehmen Fortbildungs- und Schulungsmaßnahmen zur Förderung der Karriereentwicklung unterstützt.Nur 6 % der Mitarbeitenden geben an, den Großteil ihrer beruflichen Weiterentwicklung durch formale Ausbildung erzielt zu haben.Nur 59 % der Führungskräfte sagen, in ihrem Unternehmen herrsche eine Kultur der kontinuierlichen Weiterbildung.Abb. 10: Qualifizierungsbedarf nach Anteil der Berufstätigen und deren Kompetenzen (Quelle: WEF 2020)
An den Zahlen hat sich auch im Jahr 2022 wahrscheinlich wenig geändert und die bisherigen Überlegungen in dem Buch zeigen, dass Lernen eine zentrale Rolle in der Weiterentwicklung von Personen und Organisationen spielt – allerdings scheinen die meisten Personen und Unternehmen noch nicht wirklich darauf vorbereitet zu sein (Abb. 10). In einer groß angelegten, globalen Befragung von Personalleitern hat die Boston Consulting Group festgestellt, dass die Themen Qualifizierung, Führungskräfteentwicklung [37]und Talent-Management als besonders relevant angesehen werden, die eigenen Fähigkeiten, diese Themen umzusetzen, jedoch sehr kritisch bewertet werden (Abb. 11).
Abb. 11: Schlüsselthemen des Personalmanagements in Relation zur Umsetzungsfähigkeit (Quelle: BCG 2021)
Bis hierher haben wir immer wieder die Begriffe »agil« oder »Agilität« verwendet, und es dürfte offensichtlich geworden sein, dass Agilität in der modernen Wirtschaft eine zunehmende Bedeutung hat. Daher wird es Zeit, den Begriff und die dahinterstehenden Konzepte und Methoden etwas genauer zu betrachten und anschließend zu reflektieren, welche Konsequenzen sich für das Lernen in einer agilen Welt ergeben und was man unter Agilem Lernen verstehen kann.
Was bedeutet »agil« eigentlich? Manche verstehen es im Sinne der Duden-Definition, d. h. als regsam und wendig (www.duden.de), und meinen damit, dass Organisationen sich entsprechend am Markt verhalten. Andere sehen allein die agilen Methoden wie Scrum, während wiederum andere betonen, dass agil vor allem eine Haltung (engl. Mindset) sei. [38]Die Begriffsverwirrung resultiert zu einem Gutteil daraus, dass das Wort Agilität in den letzten Jahren immer umfassender verstanden wurde. Es wird nicht mehr nur synonym für »agile Methoden« und »agiles Arbeiten« verwendet, das Verständnis der Historie »agiler Methoden« hilft jedoch, die Bedeutung und Tragweite agilen Arbeitens zu verstehen.
Agiles Arbeiten ist eine globale Bewegung, die nach allgemeinem Verständnis im Jahr 2001 mit der Verfassung des »Agilen Manifests« (s. u.) ihren Ursprung hatte. Wie bei allen Bewegungen mag dieser Ursprung kontrovers diskutiert werden, entscheidend ist jedoch, dass sich agiles Arbeiten bis heute in fast alle Regionen, Branchen, Funktionsbereiche ausgebreitet hat. Agile Methoden und agiles Arbeiten sind Stand der Technik, spätestens seit das einflussreiche Management-Magazin Harvard Business Review über »Agile« geschrieben hat (Rigby, Sutherland, Takeuchi 2016).
Was aber ist »agiles Arbeiten« genau? Wenn man sich die Masse der Publikationen und Diskussionen zum Thema ansieht, entsteht eher Verwirrung, denn es gibt rund 40 Methoden, die unter »agil« zusammengefasst werden. Die aktuell am weitesten verbreitete Methode ist Scrum. Gerade für diejenigen, die bisher keine eigene Erfahrung mit agilen Methoden haben, lohnt sich die intensivere Auseinandersetzung mit Scrum, da hier die Grundwerte und Prinzipien des Agilen Manifestes und der agilen Arbeit gut erkennbar sind. Um den Rahmen dieses Kapitels nicht zu sprengen und den Fokus auf Lernen nicht zu verlieren, haben wir eine Diskussion zu agilen Methoden mit dem Schwerpunkt Scrum im Anhang des Buches (Kapitel 11.4 »Agile Methoden, agiles Arbeiten und Personalmanagement«) aufgenommen. Dort finden Sie auch Erläuterungen der Begriffe, die im Zusammenhang mit agilen Methoden immer wieder benutzt werden.
Das Agile Manifest
Das Agile Manifest entstand 2001 während eines Skiurlaubs mehrerer Experten für Software-Entwicklung. Es resultierte im Wesentlichen aus einer tiefsitzenden Unzufriedenheit mit der Art, in der Software entwickelt wurde. In den Jahren zuvor war immer klarer geworden, dass die im sogenannten »Wasserfall-Projektmanagement« definierten Ziele für Entwicklungsprojekte, deren Planung und Abarbeitung der definierten Arbeitspakete nicht mehr in die Zeit passten. Software wurde immer wieder als monolithisches Produkt konzipiert, das für die Kunden nicht mehr tauglich war, wenn es endlich fertig entwickelt war. Es galt, eine dynamischere, kundennähere und vor allem an Veränderungen anpassbare Art der Programmierung zu finden. Die Überlegungen zur Verbesserung führten zum Agilen Manifest, in dem vier Grundwerte agilen Arbeitens und zwölf Prinzipien diese Anforderungen aufgreifen. In der allgemeinen Diskussion wird meist auf die Werte Bezug genommen, obwohl die Prinzipien mehr Aufschluss darüber geben, wie agiles Arbeiten konkret funktionieren sollte:
Agile Werte
Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge. Funktionierende Software ist wichtiger als umfassende Dokumentation.[39] Zusammenarbeit mit dem Kunden ist wichtiger als Vertragsverhandlung. Reagieren auf Veränderung ist wichtiger als das Befolgen eines Plans.»Das heißt, obwohl wir die Werte auf der rechten Seite wichtig finden, schätzen wir die Werte auf der linken Seite höher ein.«
Agile Prinzipien
Unsere höchste Priorität ist Kundenzufriedenheit durch frühe und kontinuierliche Lieferung. Änderungswünsche sind willkommen, auch in späten Phasen, denn es geht um die Wettbewerbsfähigkeit des Kunden. Wir liefern regelmäßig, bevorzugt in kurzen Zyklen. Alle Funktionsbereiche arbeiten gemeinsam. Organisiere Teams um motivierte Menschen herum. Gib Teams die Ressourcen und Unterstützung, die sie brauchen, und vertraue ihnen. Die beste Art der Kommunikation ist von Angesicht zu Angesicht. Funktionsfähige Produkte sind die Maßeinheit des Fortschritts. Alle Stakeholder sollten einen kontinuierlichen Arbeitsfluss aufrechterhalten. Kontinuierliches Streben nach technischer Exzellenz und gutem Design verstärkt Agilität. Einfachheit, die Kunst, Dinge nicht zu tun, ist essenziell. Die besten Ergebnisse kommen aus selbstorganisierten Teams. In regelmäßigen Abständen reflektiert das Team Möglichkeiten, noch besser zu werden, und setzt entsprechende Maßnahmen um.«Quelle: Agiles Manifest, 2001: http://agilemanifesto.org/
Eine vollständige Fassung des Agilen Manifests finden Sie, wenn Sie die folgende Abbildung mit der Haufe smARt-App scannen.
Abb. 12: Das Agile Manifest in der Haufe-smARt-App
In einer agil arbeitenden Organisation fokussieren selbstorganisierte Teams darauf, neuen bzw. gesteigerten Nutzen für den Kunden zu realisieren. Dazu wird iterativ und in ständigem Austausch mit dem Kunden in kurzen Sprints gearbeitet und das permanente Lernen und Suchen nach Verbesserungsmöglichkeiten besitzt einen hohen Stellenwert. Mit der richtigen agilen Organisation basiert die Arbeit auf einem agilen Business-Modell und alle Ressourcen werden dazu eingesetzt, immer smarter zu arbeiten. Es geht darum, einen konstanten Arbeitsfluss zu realisieren und mit weniger Arbeit mehr Wert zu generieren.
Einige werden jetzt sagen, dass alle genannten Punkte doch nicht neu sind und auch die bestehenden Organisationen auf Kundennutzen und permanente Verbesserung ausgerichtet sind. Stimmt, keiner der im agilen Kontext genutzten Faktoren ist zu 100 % neu. Aber werden die genannten Faktoren in »klassisch« arbeitenden Organisationen konsequent genutzt? Meist nicht, und hier liegt ein wesentlicher Vorteil der aktuellen Diskussion um agiles Arbeiten. Die eigenen Prozesse und die »gelebte Realität« kommen auf den Prüfstand, und dabei zeigt sich oft, dass in den Unternehmen viel zu lange nicht über sinnvolle Weiterentwicklungen nachgedacht wurde. Der Schwenk auf agiles Arbeiten erlaubt es den Unternehmen daher ganz nebenbei, viel des aufgebauten Ballasts in Form von Bürokratie, Prozessverschleiß etc. abzuschaffen und durch ein effizienteres System zu ersetzen.
Ein weiterer Faktor, der für eine Ausbreitung agilen Arbeitens spricht, ist die Kombination agiler Methoden mit den Entwicklungen, die allgemein unter dem Stichwort »4.0« zusammengefasst werden. Die meisten dieser Entwicklungen beinhalten eine technologische Komponente (IT-System, Software etc.), die vielfältigeren Möglichkeiten schaffen und eine klare Entwicklung zur Individualisierung (Losgröße 1, 3D-Druck usw.) zum Ziel haben. Die drastisch steigende Anzahl technischer Möglichkeiten erlaubt neue Geschäftsmodelle, den Eintritt neuer Spieler in bestehende Märkte und dies in immer kürzeren Zyklen. Die Komplexität von Wirtschaft steigt in der Folge dramatisch. Hierzu sei das Buch von Salim Ismail et al. »Exponential Organizations« (2014) empfohlen, in dem aufgezeigt wird, wie die Kombination moderner Technologien und Managementmethoden zu völlig neuen, exponentiell skalierbaren Geschäftsmodellen führen kann.
Ismails These lautet: Klassische Organisationen, die als funktionale oder regionale Matrixorganisationen mit Produktgruppen organisiert sind, haben keine Chance, schnell mit Angeboten am Markt zu erscheinen, die den modernen Anforderungen entsprechen. Die Logik solcher Organisationen fördert die Fokussierung auf die Organisation selbst statt auf den Markt. Unter anderem deswegen sourcen Konzerne das [41]Thema Innovation inzwischen häufig in sogenannte Start-up-Hubs aus, um dort die organisatorischen Zwänge zu minimieren und agiles Arbeiten zu ermöglichen.
Agile Organisationen setzen auf crossfunktional besetzte Teams, die in schnellen Zyklen und mit permanenter Abstimmung mit dem Kunden zu nutzenstiftenden Ergebnissen kommen. Dabei wird bewusst auf das Experimentieren, d. h. das Prinzip von Versuch und Irrtum, gesetzt, um im Entwicklungsprozess schnell den größten Nutzen erzielen zu können.
Gehen wir noch eine Ebene tiefer und schauen uns die oben angesprochenen Kernelemente agilen Arbeitens etwas genauer an.
Ein Charakteristikum agiler Organisationen ist die konsequente Ausrichtung auf kleine, autonome Teams, die in kurz getakteten Zyklen an relativ kleinen Aufgabenpaketen arbeiten und die Ergebnisse immer wieder mit dem Kunden evaluieren. Wie eine Mannschaft im Sport, eine Einsatzgruppe der Feuerwehr, Polizei oder im Militär oder sonst einem Hochleistungsteam verstehen sich die Teams, vertrauen in die Leistung der anderen Teammitglieder, entwickeln sich gemeinsam weiter und streben nach permanenter Verbesserung. Sie besitzen hierzu alle notwendigen Kompetenzen, den Freiraum, zu üben und zu experimentieren, und die Ermächtigung, eigenverantwortlich handeln zu können. Spätestens hier ist der Unterschied zu den meisten heute existierenden Unternehmen klar: Die sind auf Einhaltung und Konformität von Prozessen und Regeln aufgebaut und entmündigen den einzelnen Mitarbeitenden weitgehend zugunsten einer zentralen Steuerung, klaren Struktur und möglichen Kontrolle.
Abb. 13: Gegenüberstellung der Interaktionen in bürokratisch und agil organisierten Teams (modifiziert nach Denning 2016)
[42]Unabhängig von der Organisation von Teams besteht immer die Hoffnung, dass sogenannte Hochleistungsteams entstehen. Unter Hochleistungsteams versteht man allgemein ein Team, dass mit großer Professionalität und hohem Zusammenhalt auch schwierigste Aufgaben bewältigen kann. Während solche Teams in durchorganisierten und regulierten Organisationen eher ein seltener Glücksfall sind oder mit großem Aufwand aufgebaut werden müssen, haben agil arbeitende Organisationen immer öfter die Erfahrung gemacht, dass die Mischung aus Selbstorganisation und diszipliniertem Einhalten der (selbstdefinierten) Regeln für agiles Arbeiten die Bildung von Hochleistungsteams massiv begünstigen. Dabei spielt eine große Rolle, dass Motivation und soziale Interaktion in selbstorganisierten Teams deutlich zunehmen.
Der zweite Erfolgsfaktor agilen Arbeitens ist der unverstellte Blick auf den Nutzen. Bereits im Agilen Manifest steht der Kundennutzen an erster Stelle, und inzwischen ist der regelmäßige Austausch mit dem Kunden oder zumindest mit dem sogenannten Product Owner etablierter Standard. Da auch in klassisch arbeitenden Unternehmen der Kundennutzen an erster Stelle steht, zumindest als Erkenntnis, dass er die Rechnungen zahlt, stellt sich die Frage, was genau anders geworden ist. Zum einen haben sich die Kunden selbst verändert. Globalisierung, Digitalisierung und weitere Trends haben es diesen ermöglicht, direkt auf individuell passende Angebote zuzugreifen. Die massive Verbreitung von Bewertungsmöglichkeiten und direktem Austausch in Kundenforen zwingt die anbietenden Unternehmen, ihre Leistungsfähigkeit hochzuhalten und genau zu schauen, wie der Kunde zufriedengestellt und sein Problem gelöst werden kann. Das eigene System mit all seinen Limitierungen ist nicht mehr der Maßstab für die Marktfähigkeit. Wenn ein Kunde nicht bekommt, was er benötigt, geht er einfach weiter.
Auf dem Weg zu einer wirklich kundenfokussierten Organisation nutzen viele Unternehmen das Design Thinking. Eigentlich als Methode zur Ideenfindung und Produktentwicklung entwickelt, stellt sie den potenziellen Nutzer und seine Bedürfnisse an den Anfang. Der anschließende Prozess führt sehr häufig zu grundlegend neuen Ergebnissen, und diejenigen, die sich bereits auf Design Thinking eingelassen haben, erkennen schnell, wie sehr sich die eigene Sicht- und Arbeitsweise verändern. Aus diesem Grund wird Design Thinking häufig zu den agilen Methoden gezählt, obwohl dies methodisch nicht ganz korrekt ist.
Der Fokus agiler Praktiker auf die Bildung von Netzwerken resultiert unter anderem aus dem (scheinbaren) Grundwiderspruch der Organisation in kleinen, agil arbeitenden Teams und der Fähigkeit einer Organisation, große Projekte und Themen zu bewältigen (Skalierung). Um größere Projekte zu bewältigen, müssen viele Teams zusammenarbeiten, deren Koordination spielt somit eine wichtige Rolle. Weiterhin besitzen Gruppen aus mehreren kleinen Teams eine Tendenz, sich in unterschiedliche Richtungen und Geschwindigkeiten zu entwickeln und die Strategie des Unternehmens aus den Augen zu verlieren.
In der Anfangszeit agilen Arbeitens wurde dieser Aspekt entweder ganz vernachlässigt, wodurch die Unternehmen in der Folge massiv an Leistungsfähigkeit einbüßten, oder es wurde versucht, eine zentrale Koordination und Steuerung der Teams zu etablieren. Dieser Rückfall in die bürokratische Konformitätswelt war ebenfalls von wenig Erfolg gekennzeichnet. Heute gehen die meisten Agil-Praktiker davon aus, dass ein Netzwerk aus Teams die beste Möglichkeit ist, die Effektivität von Hochleistungsteams skalierbar zu machen. In einem Netzwerk agiler Teams erfolgt die Steuerung über den Austausch der Teams untereinander und dies auf Basis eines einheitlichen Mindsets (Abb. 14). Eine spannend zu lesende Auseinandersetzung mit dem Thema »agile Netzwerke« findet sich in Stanley McChrystals Buch »Team of Teams« (2015).
Abb. 14: Gegenüberstellung der Prinzipien in bürokratischen Organisationen, agil organisierten Teams, agilen Teams in bürokratischen Organisationen und agilen Netzwerken (modifiziert nach Denning 2016)
[44]Reflexion: Mein Netzwerk
Die moderne Welt ist eine Netzwerkwelt. Die eigene Wirksamkeit und Karriere hängen zunehmend davon ab, wie der Einzelne vernetzt ist. Hierzu ein paar Anreize für eine kurze Selbstreflexion:
In welchen Netzwerken bin ich präsent?Welche Aktivität zeige ich in den Netzwerken?Was bekomme ich aus den Netzwerken zurück, wie haben sie mir genützt?Welche Netzwerke kann ich zukünftig intensiver nutzen, was muss ich dazu tun?Wenn Sie Schwierigkeiten haben, die Fragen zu beantworten, weil Sie zum Beispiel bisher relativ wenig auf Netzwerke geachtet haben, dann empfehlen wir, »agil« vorzugehen. Das heißt konkret:
Definieren Sie für sich einen Nutzen, den ein Netzwerk bringen kann. Beispiel: Ich lerne schnell und einfach das Wichtigste über neue Technologien.Suchen Sie ein passendes Netzwerk. Hierbei kann Ihnen die Logik von Netzwerken helfen, indem Sie beispielsweise Kolleginnen oder Kollegen, von denen Sie wissen, dass diese in Netzwerken aktiv sind, um Rat fragen.Zeigen Sie in dem von Ihnen ausgesuchten Netz Präsenz (offline: Veranstaltungen besuchen etc., online: Profil anlegen).Beginnen Sie, aktiv zu sein und gehen Sie dabei iterativ vor: beobachten, erste indirekte Aktivitäten (Beiträge liken, Kommentare posten usw.), eigene Beiträge einstellen.Werten Sie regelmäßig aus, welche Erfahrungen Sie machen und wie Sie die gewünschte Wirkung mit möglichst geringem Aufwand vergrößern können (Retrospektive).Erweitern Sie Ihr Netzwerk kontinuierlich.Viel Erfolg!
Agiles Arbeiten ist auch zwanzig Jahre nach dem Agilen Manifest noch relativ jung, dementsprechend befinden sich selbst die Vorreiter der Bewegung noch in einer Art Experimentierstadium. Agile Methoden selber und die Art, wie Teams effizient agil arbeiten, sind vielfach definiert. Falls Sie bisher keine eigene Erfahrung mit agiler Arbeitsorganisation sammeln konnten, haben wir für Sie in Kapitel 11.3 »Was agiles Arbeiten im Kern bedeutet« die wichtigsten Elemente zusammengefasst.
Die übergeordnete Organisation erweist sich zunehmend als harte Nuss, hier sind noch einige Dinge zu regeln. Wie die Aufbauorganisation einer rein agil arbeitenden Organisation aussehen kann, haben Unternehmen wie Valve (vgl. Abb. 15) oder Spotify (Kniberg und Ivarsson 2012) gezeigt. Valve hat konsequent auf agiles Arbeiten gesetzt und versteht es so, dass es quasi keine Organisation mehr geben soll. Die Mitarbeitenden sind gefordert, sich selbst zu organisieren und sinnvolle Wege für ihren Beitrag zu finden. Als Hilfestellung gibt es das unternehmensinterne Handbuch, in dem einige typische Fragen geklärt sind.
Abb. 15: Ausschnitt aus dem Handbuch für neue Mitarbeiter der Firma Valve (Quelle: Valve 2012)
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