Ahrenshoop - Kristine von Soden - E-Book

Ahrenshoop E-Book

Kristine von Soden

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  • Herausgeber: Transit
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Still und unberührt lag Ahrenshoop am mecklenburgi­schen Ende der Welt, als der Fremdenverkehr anderswo an der Ostseeküste schon längst auf Hochtouren lief. Doch das änderte sich allmählich, als »Sandhoop« als inspirierende Idylle entdeckt wurde und 1892 die Künstlerkolonie entstand. Als Gründungsvater gilt Paul Müller Kaempff. Das von ihm damals eröffnete Atelierhaus St. Lukas samt Pension wirkt heute als international renommiertes Künstlerhaus. Peter Wawerzinek, Ulrike Draesner und Judith Zander trugen sich in die Gästebücher ein. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges rollte die erste Welle von Malern an - gefolgt von Poeten, Bühnendarstellern, Selbstdarstellern, Bohemiens. Bürgerschreck George Grosz und Wieland Herzfelde schaufelten Ende der zwanziger Jahre Sandburgen, beflaggt mit roter Fahne, was viele Strandkorbnachbarn vor Empörung in die Fluten trieb. Gerhart Hauptmann reiste 1929 nach kurzem Intermezzo beleidigt ab, fand die Ahrenshooper Badegesellschaft »intrigant«. Andere wiederum genossen die Stille in der urwüchsigen Natur, stimmten Hymnen über das Hohe Ufer, den Darßer Wald oder die »Boddeneinsamkeit« an, so Marie Luise Kaschnitz. Wissenschaftler, Filmleute, Künstler suchten vor den Nazis in Ahrenshoop Unterschlupf, darunter der Bildhauer Gerhard Marcks. Nach der Spaltung Deutschlands wurde Ahrenshoop zum »Bad der Kulturschaffenden«: mit Johannes R. Becher, Bert Brecht und Helene Weigel, Hanns Eisler nebst Gattin Lou, Arnold Zweig, Anna Seghers und dem Verleger Peter Erichson. Spätere Gäste waren Uwe Johnson, Franz Fühmann, Helga Schütz, Christa Wolf und Brigitte Reimann. Mit einem in Strandnähe öffentlich produzierten Hörspiel ging Jürgen Becker im Jahr 2000 in die Ahrenshooper Literaturgeschichte ein.

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Seitenzahl: 142

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Für

Max und Carolin

Kristine von Soden

AHRENSHOOP

»Balancieren auf der Meerschaumlinie«

© by TRANSIT Buchverlag GmbH

Postfach 121111 | 10605 Berlin

www.transit-verlag.de

Der Untertitel ist ein Zitat von

Judith Zander (s. Literaturverzeichnis)

Umschlaggestaltung, unter Verwendung

eines Fotos von Harald Hauswald/OSTKREUZ,

und Layout: Gudrun Fröba

eISBN 978-3-88747-321-1

INHALT

Zum Auftakt

»Ah – wie Ahrenshoop!«

Zuerst an den Strand. Immer zuerst an den Strand

»In jeder Wolke eine Flunder«

Vom Hohen Ufer auf dem Grenzweg zur Dorfstraße

»Jetzt bin ich Pommern! Jetzt bin ich Mecklenburg!«

Zu Wasser und zu Lande in die Künstlerkolonie

»Der erste Malersmann soll eine Frau gewesen sein…«

Schmökern im Logbuch des Künstlerhauses Lukas

»Allmonatlich wechselt die Crew«

Vom Kurhaus zum Kunstkaten

»Sandhoop kam in Mode!«

Am Flutsaum mit honiggelbem Tang und Quallen

»Das Meer ist ja, hols der Deibel, immer schön!«

Von Albert Einstein bis zu heimlichen Treffen der »Roten Kapelle«

»Die Friedenstaube zeigt die Windrichtung an«

Zum rätselhaften Verschwinden Alfred Partikels im Ahrenshooper Holz

»Und Du, der Du fortgingst…«

Kulturbundgäste um Bertolt Brecht & Co.

»Bettwäsche selbst mitbringen«

Nach Althagen und zum Althäger Hafen

»Kaum schaukeln die Boote auf dem schlafenden Wasser«

Erinnerungen an Fritz Koch-Gotha in der Fulge

»Vom Steinzeitfieber gepackt«

Abschied von Gerhard Marcks in Niehagen

»Nur die Seeadlerfeder sagt: ich bin noch da!«

Auf dem Bakelberg

»Kirchtürme melden sich in der Ferne«

FKK

»Schämen Sie sich nicht…?«

Bodden und Bülten

»Wo die Strömung das Rohr durchkämmt…«

Anhang

ZUM AUFTAKT

»Ah – wie Ahrenshoop!«

An der Kasse im örtlichen Supermarkt, den Einheimische noch immer Kaufhalle nennen, wird seit einer Weile ein schmaler rechteckiger Aufkleber verkauft, der sich mit zwei einsilbigen Worten von einer nicht ganz unbekannten nordfriesischen Insel distanziert. Unüberhörbar mehren sich kritische Geister, die da meinen, Ahrenshoop sei das Kampen der Ostsee. Oder zumindest auf dem Wege dorthin. Nicht wegen Schickimicki, nein! Dass jeder noch freie Bodenquadratmeter renditelüstern beäugt und allzu oft dem Monopolyspiel geopfert wird, stößt auf. Ansonsten hat Ahrenshoop mit jenem Dorf am Roten Kliff, wo sich Gunter Sachs einst mit Champagner übergoss und Fremdgänger in geliehenen Luxusflitzern ewig cool drauf inszenieren, nichts gemein. Sehen und Gesehenwerden gibt es in Ahrenshoop nicht. Noch jedenfalls nicht. Würde aufgesetzt und albern wirken. Gibt auch keine Medienstars und Supermodels, die vor laufenden Kameras ihre dritte oder vierte Hochzeitsparty in den Dünen feiern. Die Geschäfte in der Dorfstraße, kaum ein Dutzend, schließen selbst während der Saison in der Regel schon um 18 Uhr. Und eine der meist gekauften Waren scheint außer köstlichem Kuchen und Körnerbrot von Bäcker Hagedorn das Buch zu sein. Eine feine Auswahl bietet das Lektüresortiment in der legendären Bunten Stube. Wer sich für schöne alte Bildbände und Geschichtsbücher über Mecklenburg und Pommern, für Nautisches oder Erstausgaben aus der Feder der Fischlandchronistin Käthe Miethe interessiert, stöbert im Antiquariat des Ahrenshooper Kunsthändlers am Eingang der Dorfstraße. Gern öffnen er und seine Frau, beide aus Sachsen, ihre Glasschränke, um bibliophile Kostbarkeiten zu präsentieren. Bücher sind in Ahrenshoop ein mindestens so wichtiges Gesprächsthema wie das Wetter. Über lesenswerte Entdeckungen redet man wie über Bernsteinfunde am Strand. Lesesüchtige vergessen Zeit und Stunde auf stillen Bänken an den Boddenwiesen, am Hohen Ufer, bäuchlings im Sand oder auf der Terrasse von Buhne 12 mit Seefahrerblick über die Ostsee zum Horizont. Und wenn alljährlich am Tag der Deutschen Einheit die Ahrenshooper Literaturtage starten, sind alle Betten ausgebucht.

Lärmendes spielt sich in Ahrenshoop eher selten ab. Seit der Gründung der Künstlerkolonie prägen Strandwanderer, Kulturfreudige, Tagträumer und Individualisten den Ferienalltag. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges rollte die erste Welle von Malern aus den rasant anwachsenden Großstädten an, gefolgt von Dichtern, Kolumnisten, Feuilletonisten, Lebensphilosophen, Bühnendarstellern, Selbstdarstellern, Licht-Luft-Sonne-Enthusiasten und hin und wieder Bohemiens. Auch Malerinnen reisten nach Ahrenshoop, vor allem solche, die es werden wollten – angezogen von der Sommermalschule im 1894 erbauten Atelierhaus St. Lucas. Mit seinen zweieinhalb Stockwerken stach es weithin sichtbar aus der Dorfsilhouette hinaus. Inzwischen änderte sich das Antlitz von Ahrenshoop…

Zahlreiche Fremde, alias »Forensen«, gingen hier vor Anker. Auf der Flucht vor den Nazis suchten verfemte Wissenschaftler, Illustratoren, Bildhauer zwischen Meer und Bodden Unterschlupf. Mitglieder der Widerstandsgruppe »Rote Kapelle« hielten zwischen 1938 und 1942 ihre Pfingstreffen in Ahrenshoop ab. Zum »Bad der Kulturschaffenden« avancierte Ahrenshoop im geteilten Deutschland um Johannes R. Becher, Bertolt Brecht und Helene Weigel, Hanns Eisler nebst Gattin Lou, Arnold Zweig, Victor Klemperer, Anna Seghers, Elizabeth Shaw. Später kamen Uwe Johnson, Franz Fühmann, Christa Wolf oder auch Brigitte Reimann hinzu. Ungekrönter König der bunt zusammen gewürfelten Gesellschaft blieb der ehemalige Hinstorff-Verleger Peter E. Erichson, genannt Peter E. – ein Mythos und Mecklenburger Original.

In fünfzehn Streifzügen durch Ahrenshoop werden berühmte Gäste in ihren einstigen Quartieren und Wirkungsstätten »besucht« – veranschaulicht durch literarische Erinnerungen, Reiseskizzen, Tagebücher, Briefe, Gedichte. Dabei kommen keineswegs nur Stimmen aus der Vergangenheit zu Wort. Ist doch Ahrenshoop längst ein beliebter Treffpunkt für Menschen aus der heutigen schreibenden Zunft. Unter ihnen Judith Schalansky, Ingo Schulze oder Stammgast Peter Wawerzinek, der 1954 in Rostock geboren wurde und in Rerik an der Ostsee aufwuchs. Für den poetischen Wolkengucker gleicht Ahrenshoop einem Boot: auf der einen Seite schäumt das Meer, auf der anderen wellt sich der Bodden, also ein von zwei Seiten umspülter Ort, »von Luv oder Lee, von Wind und Wellen gestört, betört, umtost«. Eine solche Lage salzt die Sinne, bringt phantasievolle Texturen hervor – gekritzelt auf Zettel, in Romane gefasst, ausgeflippt gedichtet: »DON’T CRY FOR ME AHRE / NSHOOP SINCE I KNOW YOU / THERE IS ALL NEW HOPE…« oder auf Notenpapier gebracht: »Ah – wie Ahrenshoop!« Stets frühmorgens vor dem Frühstück an den Strand, schwärmt Judith Zander. Dabei scheint der vielfach ausgezeichneten Autorin schon nach wenigen Tagen unvorstellbar, »hier jemals wieder aufzubrechen«. Denn welch ein Geschenk: Richtung Weststrand durch den Sand zu stapfen oder »auf der Meerschaumlinie zu balancieren«!

 

Seien Sie eingeladen, sich den Streifzügen anzuschließen – vom Strand über das Hohe Ufer bis zum Schifferberg mit Abstechern ins Ahrenshooper Holz und vom Althäger Hafen über die Fulge bis zum Bakelberg. Vom »Gipfel« dieser höchsten Erhebung auf dem Fischland sieht man beides zugleich, Meer und Bodden, und glaubt, beim Flug der Möwen am Himmel seinen Ohren nicht zu trauen. »Oh, ja doch. Sie rufen hier anders, die Möwen«, weiß Peter Wawerzinek. »Sie rufen irgendwie kindlich naiver und posaunen stolz die Namen der Künstler, die für sie hierzulande tonangebend sind. Man muss nur genau hinhören…«

ZUERST AN DEN STRAND. IMMER ZUERST AN DEN STRAND

»In jeder Wolke eine Flunder«

Ob im Frühling, wenn das Meer smaragdgrün irisiert… Oder im Sommer, wenn der Sanddorn in den Dünen glüht, ein Hoch das nächste ablöst und in der Windstille Saharahitze aufkommen lässt… Ob im Herbst bei stürmischen Böen, wenn die Seeschwalben im Gegenwind rückwärts fliegen… Oder im Winter, wenn die baltische Schneekönigin ihre Gestade mit Eiskristallen übersprüht: Zuerst an den Strand. Immer zuerst an den Strand. Die Ostsee begrüßen. Guten Morgen, Du Schöne!

Am Strandübergang hinter dem Haus Nordlicht schräg gegenüber vom Paetowweg, der zum Schifferberg und Saaler Bodden führt, eröffnet sich auf der Anhöhe der Düne ein prächtiges Postkartenpanorama: Linkerhand in naher Ferne das schroffe Steilufer Richtung Wustrow, rechts die Umrisse vom Darßer Wald Richtung Weststrand, dazwischen Buhnen in exaktem Abstand wie »gestrandete U-Boote«, so der Essayist und Dramaturg Karl-Heinz Ott, der auf einer Reise nach Ahrenshoop im wiedervereinten Deutschland zum ersten Mal das Baltische Meer gesehen hat. Für den Oberschwaben mit Wohnsitz im Dreiländereck Freiburg, Basel, Elsaß lag Italien schon immer näher, gab es nichts Attraktiveres als das mediterrane Arkadien, erschien die pommersche Riviera unendlich weit weg. »Die Ostsee, das war Grenzgebiet, Fluchtgebiet, Kriegsgebiet, auf dessen Grund Dutzende von Schiffen lagen. Und wenn ich den Namen Pommern hörte, dachte ich an dicke Bäuerinnen in ärmlichen Strickjacken, wie man ihnen in Grass-Romanen begegnet, und an endlose Kartoffelfelder unter bleiernen Himmeln.«

Möwen halten auf den Buhnen in strandräuberischer Manier Ausschau, setzen mit ihren weiß gefiederten Köpfen auf den braunschwarzen Pflöcken einen Kontrapunkt. Die stolzen Silbermöwen unter ihnen haben den Zerfall der DDR mitunter noch miterlebt, denn ihre Art, Larus argentatus, wird bis zu dreißig Jahren alt – »kiu, ka«! Schon nach der ersten Bekanntschaft mit dem Ahrenshooper Strand fällt dem Gast aus dem Süden auf, dass fast jeder, dem man am Flutsaum begegnet, seinem eigenen inneren Takt folgt, dem rhythmischen Rauschen der Wellenkämme lauscht, gebannt staunt, wie sie ihre üppigen Schaumschleppen ausbreiten, deren wie Pailletten glitzernde Bläschen sich im Nu verflüchtigen, in Nichts auflösen. Bei stärkerem Seegang vermitteln jene »U-Boote« rasch, dass sie dem Schutz der Küste dienen, die Kraft des Meeres bändigen.

Der Ahrenshooper Strand ist schmal. Das verleiht ihm etwas Privates. Und da es hier wie überall an der Ostsee keine Gezeiten gibt, zieht sich das Wasser auch nie zurück. Überzeugte Ostseeanhänger meiden darum auch die Nordsee. Umgekehrt stören sich echte Nordseefreaks an der unentwegten Meerespräsenz. Verrät diese doch, dass das Wasser in diesem vergleichsweise flachen Meer, einem Binnenmeer, steht und nur selten aufgefrischt wird. Schuld daran ist das Kattegat, durch das keine Flutwelle passt. Im Gegenzug läuft auch kein Wasser ab, weshalb an der Ostseeküste keine Ebbe entstehen kann. Alles das heißt nun aber nicht, dass die Ostsee stets brav und zahm daliegt. Stürme aus dem Atlantik schieben ihr Wasser wie grollende Bären gen Osten, lösen immer wieder dramatische Überflutungen aus. Und auf dem Fischland und Darß rauben aufgepeitschte Wellen gefährlich große Sandbrocken aus der Steilküste. Besonders deutlich erlebt man die Launen der Ostsee aus der Vogelschau oder als Segler, schreibt der preisgekrönte Schweizer Autor Christoph Neidhardt, der die Ostsee aus beiden Perspektiven von der Lübecker Bucht bis nach Tallinn, Helsinki und St. Petersburg kennt, in seinem Buch Das Meer in unserer Mitte (2003). »Nur bleiben die Segler zu Hause, wenn die Jungfer ihre Launen hat. Oder fröstelt. Dann wagen sich nur die Eissegler auf ihre kalte, oft brüchige Haut.«

Der Weimarer Journalist und Herausgeber der Weltbühne, Siegfried Jacobsohn, liebte die Nordsee. Sein junger Freund und Mitarbeiter, Kurt Tucholsky, liebte die Ostsee. Nie gelang es Jacobsohn, »Tucho« abzuwerben. Der Mann mit den »5 PS« (Tucholskys Artikel waren so stark gefragt, dass er unter fünf Pseudonymen, PS, publiziert hat) blieb der Ostsee treu, bereiste ihre Bäder von Graal und Müritz (damals noch zwei getrennte Orte) bis nach Usedom. »Soll er«, meinte der väterliche Mentor leicht eingeschnappt, wenn ihm »dicke Milch lieber« ist. Jacobsohns bessere Hälfte Edith mochte die Nordsee auch nicht, »heulte egalweg«. Gut möglich, dass Tucholsky in Ahrenshoop gewesen ist.

 

Strandhafer

Viele Gäste erkundeten von Graal und Müritz aus das Fischland und den Darß. So hatte sich auch Lyonel Feininger 1921 von dort über Ribnitz nach Ahrenshoop aufgemacht. Wahrscheinlich mit seinem Fahrrad. 1908 gehörte der deutsch-amerikanische Maler und spätere Bauhaus-Lehrer zu den ersten, die mit dem noch neuen sensationellen Vehikel die Ostseeküste erkundeten, mehrere tausend Kilometer legte er jährlich zurück, davon einen nicht unbeträchtlichen Teil auf dem heutigen Ostseeküstenradweg.

Sanfte Strandwellen spülen den feinen weißen Quarzsand an, der sich auf der badenassen Haut wie ein Peeling anfühlt und beim Barfußlaufen in milder Brise alle Lasten aus dem Kopf wirft. Bernstein suchen? Nicht im Frühling. Nicht im Sommer. Obwohl man gelegentlich Glück haben kann. Normalerweise aber findet man die goldenen Harztränen aus Landsaurierzeiten nur im Herbst und Winter nach starkem Nordost, wenn das »Bernsteinkraut« aus den Tiefen des Meeres aufgewühlt und mit abflauendem Wind, dem »Bernsteinwind«, an Land gespült wird. Reich an Bernstein ist es dann am Darßer Weststrand und Darßer Ort. Aber auch der Ahrenshooper Strand wartet mit Schmuckstücken bis hin zu kleinsten Splittern aus dem Goldrausch, versteckt in Tangbüscheln, auf. Es war einmal ein Urwald mit Dattelpalmen, Magnolien, Zimtbäumen, Kiefern, Lorbeeren, bewohnt von Zuckmücken, Moosskorpionen, Taumelkäfern, Gottesanbeterinnen, der Baltische Bernsteinwald…

Wellenfurchen durchziehen wie Schriftlinien den Sand. Das Meer spült verblichene, nasse Hieroglyphen an. Und am Himmel ballen sich Wogenwolken. Oder Flundern – jedenfalls in der fabelhaften Welt einer Hallenser Lyrikerin und Hörspielautorin, die am Ahrenshooper Strand mit Fischern ins Gespräch kam. Besser gesagt, in einen knappen Dialog:

 

Rippelmarken

Na, ordentlich was gefangen?

Das ist verschieden.

Und werden Sie die verkaufen?

Das ist verschieden.

Wo fangen Sie die?

Das ist verschieden.

Kann man davon leben?

Das ist verschieden.

Kann man da mal mitfahren?

Nee.

Am folgenden Tag ergab sich über ein paar Ecken eine Begegnung mit redseligeren Vertretern des vom Aussterben bedrohten Küstenberufes. Simone Trieder und ihre Freunde, selbst wohl auch ein wenig behutsamer und herantastend an Begriffe wie Stellnetz und Fanggeschirr, durften nun mit ins Boot, die Fischer mit Fragen löchern, sie in ihrem orangefarbenen Ölzeug und ihre Fische im Netz fotografieren. »Die Eindrücke ließen uns nicht mehr los, bis wir in jeder Wolke eine Flunder sahen.«

Geduld, Geduld lehrt das Meer.

VOM HOHEN UFER AUF DEM GRENZWEG ZUR DORFSTRASSE

»Jetzt bin ich Pommern! Jetzt bin ich Mecklenburg!«

Die wohl meist erzählte Geschichte über die Ahrenshooper Künstlerkolonie fängt so oder so ähnlich an: Es war im Sommer 1889, als der aus Oldenburg im Großherzogtum Oldenburg stammende Landschaftsmaler Paul Müller-Kaempff und der Berliner Tiermaler Oskar Frenzel von Wustrow auf dem Hohen Ufer eine Wanderung zum Darß unternahmen. Die beiden Männer, achtundzwanzig und fünfunddreißig Jahre alt, ließen sich von der Weite der Ostsee betören, von den milden Lüften, vom nordischen Licht. Nach rund dreieinhalb Kilometern Wegstrecke – bis heute eine der beliebtesten Touren zu Fuß oder mit dem Fahrrad auf dem Fischland und Darß – hielten die Freunde hinter der letzten Anhöhe überrascht an, denn vor ihnen lag ein bescheidenes, kleines Dorf, von dessen Existenz sie bis dahin weder gehört noch gelesen hatten: Ahrenshoop. Vermutlich standen Müller-Kaempff und Frenzel nahe jener Stelle, wo heute eine Webcam das Strandquartier Grimmelei unter den drei hohen Pappeln mit Blick auf das Meer rund um die Uhr fotografisch einfängt. Das Motiv oberhalb vom Ahrenshooper Strand am Grenzweg 11 ziert Buchumschläge, Ansichtskarten, Tourismusbroschüren. 1889, ein Jahr nach der Thronbesteigung Wilhelm II. zum letzten Deutschen Kaiser, war Ahrenshoop ein noch weithin unbekanntes Nest, während der Bäderbetrieb an vielen anderen Orten der Ostsee, zum Beispiel in Binz auf Rügen, in Heringsdorf auf Usedom oder in Misdroy auf der Insel Wollin, längst auf Hochtouren lief. Im stolzen Schifferdorf Wustrow, wo die Kapitäne einst Schiffseigner und Reeder waren und eine Flotte aus zweihundertvierzig Schiffen mit Fischländer Seeleuten von Riga über London, Amsterdam, Bordeaux und Lissabon bis nach Rio de Janeiro auf den Weltmeeren segelte, sogar um Kap Hoorn, belächelte man Ahrenshoop als »Powerdörp«, hatte es doch kaum anderes zu bieten als Sand, Sand, Sand. Genau das faszinierte unsere naturhungrigen Maler, die gleich am nächsten Tag wiederkamen, ausgerüstet mit Zeichenblock und Stiften, Pinsel, Farbe und Staffelei. »Kein Mensch war zu sehen, die altersgrauen Rohrdächer, die grauen Weiden und grauen Dünen gaben dem ganzen Bilde einen Zug tiefsten Ernstes und vollkommener Unberührtheit. So sah Ahrenshoop damals aus«, erinnert sich Paul Müller-Kaempff, der Grau im Unterschied zum verbreiteten »Atelierton« Braun sehr mochte und mit grauem Grafit viele Zeichnungen anfertigte, 1926 in den Mecklenburgischen Monatsheften:

 

Die Grimmelei

Nirgends ein öder Nützlichkeitsbau mit Pappdach, nichts, was den Gesamteindruck störte, die Dorfstraße sehr breit und sandig – man sagte: den Ahrenshooper erkennt man an seinem Gange –, kein Drahtzaun, keine Reklametafel. Hinter dem Dorfe auf dem Schifferberge blickte der Kirchhof mit weißen und schwarzen Holzgittern und Kreuzen herüber, überwuchert von goldgelb blühendem Habichtskraute. Stieg man weiter hinauf auf die sogenannte Schwedenschanze, so sah man in die Einsamkeit hinaus. Nirgends ein Haus: Dünen, Wald und See, in der Ferne die dunkle Linie des Darß. Die Dünen gekrönt von uralten Weißdornbäumen, Stechpalmen und wilden Rosen. Das war ein Studienplatz, wie ich ihn immer gewünscht hatte!

Bevor sich Paul Müller-Kaempff 1892 in Ahrenshoop ein eigenes Haus baute, war er mehrfach zu Gast in der Pension Charlottenhof, Grenzweg 3. Ein gutes halbes Jahrhundert später übernachtete hier der Romanist Victor Klemperer, Vetter des Dirigenten und Komponisten Otto Klemperer. Zusammen mit seiner Frau Eva hatte Victor Klemperer die antijüdischen Pogrome in Nazi-Deutschland überlebt, nachdem man ihn 1938 aus seinem Lehramt an der Technischen Hochschule Dresden suspendierte und in ein Dresdner Judenhaus einwies. »Die Pension Charlottenhof besteht aus zwei ziemlich blaugestrichenen Kastenbauten – Blau ist hier eine Lieblingsfarbe – das vordere mit großer Eßveranda«, heißt es in Klemperers posthum erschienenen Tagebuchaufzeichnungen, deren Originale in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden archiviert werden. Seit 2012 ist der Charlottenhof möwenweiß, ein exklusives Hotel garni, die Veranda lädt zur kulinarischen Einkehr einschließlich Kaffee und Kuchen ein. Und wenn die Sonne scheint, was sie im Ahrenshooper Sommer gern reichlich tut, oft sogar noch bis weit in den Oktober hinein, sitzt man auf der Charlottenhof-Terrasse unter weißen Sonnenschirmen.