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Süditalien 1946. Die junge Alba verliebt sich Hals über Kopf und beginnt eine kurze Affäre mit Giorgio. Dieser ist jedoch im Begriff, ihre Schwester zu heiraten. Als Alba ungewollt schwanger wird und die Beziehung auffliegt, wird sie von ihrer Familie und dem kleinen Ort verstoßen. Alba und ihre Tochter Sam starten einen Neubeginn in Neapel. Dort beginnt Alba eine Liebesbeziehung mit Adelmo, die über Jahrzehnte hinweg von tiefer Liebe, Leidenschaft aber auch von Gewalt und Alkoholmissbrauch geprägt ist. Als es fast schon zu spät ist, eröffnet sich für Alba eine neue Chance...
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Seitenzahl: 549
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Für alle Frauen.
Aber vor allem, für dich Aldo-Aurelio. Immer nur für dich.
Teil 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Teil 2
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Teil 3
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Torre del Greco, 1961
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Teil 4
Kapitel 14
Kapitel 15
Brooklyn, 1965
Kapitel 16
Brooklyn, 1973
Kapitel 17
Mailand, eine Woche später
Torre del Greco, 1975
Teil 5
Kapitel 18
Torre del Greco
Little Italy, 1976
Brooklyn
Torre del Greco, 1977
Brooklyn
Torre del Greco, 1977
Brooklyn
Kapitel 19
New York, 2016
Epilog
Ein kleiner Gruß und ein dickes Dankeschön…
Prolog New York 2016
Als sie starb, berührte das Flugzeug die Landebahn.
Später, bei Gesprächen mit Freunden oder im Kreis der Familie, würde er behaupten, er hätte nichts gespürt, keine Vorahnung gehabt, aber das war gelogen.
Natürlich hatte er es gespürt.
Er war in einen traumlosen Schlaf gefallen, erschöpft von dem hektischen Aufbruch am Abend zuvor. Als die Boeing 747 der United Airlines auf die Landebahn des JFK Airport aufgesetzt hatte, hatte es Carlo überkommen wie aus dem Nichts. Er stieg aus, drängte sich an den anderen Passagieren vorbei und betrat mit hängenden Schultern die Empfangshalle. Als er in die leeren Augen seines großen Bruders sah, der bereits seit einer Stunde auf seine Ankunft gewartet hatte, wusste Carlo das er recht hatte.
"Sie ist von uns gegangen", sagte Arturo tonlos und beide standen sich gegenüber. Zwei Männer, die ausnahmsweise von derselben Mutter und demselben Vater stammten. Merkwürdigerweise dachte er an den Tag seiner Geburt zurück, an dem seine Mutter bereits einmal gestorben war und wie durch ein Wunder wieder zurück ins Leben gefunden hatte. Seit diesem Tag, wurde er in dem kleinen Dorf in Süditalien, als Hexensohn bezeichnet.
"Wann ist es passiert?", fragte er und schluckte seinen Frust herunter.
"Gerade eben, vor fünf Minuten." Und dann begann Arturo zu lachen, man hörte es nicht, aber seine Schultern bebten jedes Mal dabei.
Carlo konnte nicht anders und stimmte mit ein.
"Dieser verdammte Sturkopf hat es doch wahrhaftig fertiggebracht, dich kurz vorm Ziel hängen zu lassen", sagte Arturo. "Mamma halt, was anderes hätte mich auch gewundert", antwortete Carlo. Beide nahmen sich in den Arm, verbunden in ihrem Schmerz über den Verlust ihrer Mutter und ihrer Freude, sich nach all der Zeit wieder zu sehen.
"Lass uns zu ihr gehen“, sagte Arturo, nahm die Tasche seines kleinen Bruders und begab sich Richtung Ausgang.
Unglaublich, aber wahr, Arturo war zweiundsechzig Jahre alt und sah... mindestens zehn Jahre älter aus. Dieses verdammte Leben meinte es aber auch nie gut mit ihm.
"Du siehst beschissen aus Arturo, trinkst du wieder?", fragte Carlo. Arturo spuckte auf den Boden der Parkhalle.
"Zur Hölle, ich habe nie damit aufgehört. Dieses Scheißleben hängt an mir wie ein ausgehungerter Hund. Wann kann ich endlich in Ruhe abkratzen? Der Typ da oben will wohl, dass ich wie Mamma fast Hundert werde, aber nicht mit mir Kumpel. Nicht mit mir." Carlo schmunzelte.
Er hatte seinen Bruder wirklich vermisst.
***
Matera (Süditalien) 1946
Er sah sie wieder an.
Sie spürte seine Blicke überall, wie sie über ihren mageren Körper wanderten und allein das brachte sie wieder komplett aus der Fassung. Alba wusste, es war falsch, aber es war nun mal passiert und beide konnten es nicht aufhalten.
Es war Liebe. Gestern noch hatte er ihr gesagt, wie wunderschön sie ist und dass er nicht genug von ihr bekommen würde. Sehr bald schon würde er Valentina verlassen und dann allen die Wahrheit sagen. Dann würden sie endlich keine Lügen mehr mit sich rumtragen, und Mann und Frau sein. So wie es vorherbestimmt war.
Alba schaute auf und da war er. Schaute ihr direkt in die tiefschwarzen Augen. Augen, die sie eines Tages an ihren Sohn Carlo und der wiederum, an seine Tochter Alba jr. und die wieder, an ihren Sohn Aurelio vererben würde. Augen, die mit ihren zarten siebzehn Jahren so wenig gesehen hatten und doch mit einer gesunden Skepsis, in diese verlogene Welt dreinblickten. Er holte eine Zigarette aus seiner Brusttasche und zündete sie an. Alba sah, wie sich seine Brust hob, als er den Dunst der Zigarette tief einatmete. Zwischen ihren Beinen wurde es sofort warm und augenblicklich schämte sie sich für das unangemessene Gefühl. Sie wurde streng katholisch erzogen und nur der Gedanke daran, was sie und Giorgio in den letzten Wochen miteinander getrieben hatten, brachte sie schier um. Aber wer hätte denn ahnen können, dass es sich so unglaublich gut anfühlt von ihm berührt zu werden?
Als er sie das erste Mal küsste, saß sie auf ihrem Bett im Kinderzimmer. Nun, es war vielmehr ein Gemeinschafts-Schlafzimmer, das sie sich alle teilten. Ihre Eltern, Valentina und Alba. Sie lebten in ärmlichen Verhältnissen und somit hatte Familie Gentile nicht wirklich viel Privatsphäre in dieser Zweizimmerwohnung.
Valentina bereitete an diesem besagten Abend mit ihrer Mutter das Abendessen vor und ihr Vater saß im Sessel und hörte sich ein Fußballspiel im Radio an. Giorgio betrat das Zimmer und blieb am Türrahmen stehen. Er beobachtete Alba, die gerade an ihrem neuen Kleid nähte. Sie hatte durch ein Tauschgeschäft mit einem benachbarten Mädchen ein wunderbares Stück floralen Stoffes erworben. Giorgio hatte sie bereits seit Tagen beobachtet, mit diesem Blick, der sie buchstäblich auffraß. Sie war zwar jung, doch Alba wusste, welche Wirkung sie auf das männliche Geschlecht hatte und sie musste zu ihrer Schande gestehen, dass sie es auch ab und zu einsetzte, um sich Vorteile zu verschaffen.
Hier und da mal den Obsthändler anlächeln und bewusst ein Stück Haut zeigen. Nichts Verwerfliches, zum Beispiel den obersten Knopf ihrer Bluse offenlassen, damit man ein oder zwei Äpfel mehr eingepackt bekommt. Ihre Mutter tat jedes Mal so, als ob sie es nicht gesehen hätte. Es waren harte Zeiten und Familie Gentile musste schließlich etwas essen. Insofern wunderte es sie nicht, dass Giorgio sie, nach wochenlangem Anstarren, in ein Gespräch verwickelte.
Es wäre gelogen, wenn Alba behaupten würde, dass Giorgio ihr vollkommen egal war, auch wenn sie es zu diesem Zeitpunkt niemals zugegeben hätte. Das Problem an der ganzen Sache war, dass er in wenigen Monaten eine andere Frau heiraten würde. Und zwar Albas Schwester Valentina. Sie saß mit dem Rücken zur Tür und spürte seine blassgrünen Augen im Rücken.
"Was machst du da?", fragte er.
"Ich nähe mir ein neues Kleid für eure Hochzeit."
Er lachte leise.
"Verstehe." Sie schaute in den Spiegel, der vor ihr auf der Kommode stand und ihre Blicke trafen sich.
"Kann ich etwas für dich tun?"
Er rang einen Moment mit sich, überlegte wohl, ob es sich gehörte, mit einer jungen Dame allein im Schlafzimmer seiner zukünftigen Schwiegereltern zu sein. Nun, das tat es natürlich nicht. Dennoch schien es ihn nicht zu hindern. Er betrat das Zimmer und setzte sich Alba gegenüber.
"Alle reden von dieser Hochzeit. Dabei ist sie erst in vier Monaten. Warum die Aufregung?" Alba schaute nicht auf und nähte weiter.
"Nun, es scheint in diesem Kaff wohl ein Wunder zu sein, dass meine ältere Schwester endlich heiratet. Immerhin ist sie ja schon über zwanzig." Giorgio starrte sie eine Sekunde lang schweigend an. "Ist es das?", fragte er leise.
Sie spürte, wie sich die Temperatur im Zimmer veränderte. "Autsch!", schrie sie auf und ein Tropfen Blut landete auf dem neuen Stoff. Sie hatte sich mit der Nadel in den Finger gestochen.
"Mist! Jetzt ist es hin!", schimpfte sie und sah, wie sich der wunderschöne, helle Stoff rot verfärbte.
"Zeig mal."
Giorgio beugte sich vor und begutachtete ihren Finger.
Ein Bluttropfen rann an ihrer Fingerkuppe herunter- nichts Lebensbedrohliches.
Sie erschrak, als sie spürte, wie Giorgio ihren Finger an seinen Mund führte und das Blut sanft wegsaugte.
"Du... das solltest du nicht tun", flüsterte sie.
"Ach nein?"
Sie wusste später nicht mehr wer von beiden den ersten Schritt machte, aber ehe sie sich versah, spürte Alba seine Zunge in ihrem Mund. Sie war nass, weich und warm. Ihr Herz pochte und einen kurzen Augenblick hatte sie Sorge, sie bekäme einen Herzinfarkt. Giorgio zog sie näher an sich ran und das Stück Stoff zwischen ihnen glitt zu Boden.
"Ich kaufe dir ein schöneres Kleid", flüsterte er zwischen den Küssen. "Ich kaufe dir alles, was du willst, wenn du mit mir kommst."
Geschah das gerade wirklich? Sie spürte förmlich, wie er Wachs in ihren Händen wurde.
Da wurde Alba Gentile zum ersten Mal klar, welch eine Macht eine Frau über einen Mann haben konnte. Und wie lächerlich einfach man diese Macht bekam.
"Giorgio! Das Essen ist gleich fertig! Ruf die Kleine, damit sie den Tisch deckt!", rief Valentina den Flur runter.
Alba löste sich von ihm und sprang auf. Sie spürte noch seinen Bart auf ihren Lippen. "Das war fürchterlich! Was haben wir da nur getan?", wisperte sie panisch.
"Alba, bitte raste jetzt nicht aus“, flehte er, doch sie war schon aus der Tür und flüchtete in die Küche.
***
Tage später saßen Valentina, Alba und ihre Mutter Adele am Tisch und bereiteten das Abendessen vor. Ihr Vater Franco, war auf noch dem Feld und würde bald nachhause kommen. Alba hatte die ersten zwei Tage schwer mit Schuld und Scham zu kämpfen. Giorgio hatte sich nur einmal blicken lassen seit dem Vorfall und das, als Alba nicht zuhause war.
Der Vorfall.
So nannte sie es. Vielleicht hatte er einfach eingesehen, dass es falsch war, eine Dummheit, die ihm nie wieder passieren durfte. Auch Alba kam sich allmählich albern vor. Was hatten sie sich nur dabei gedacht? Allein die Vorstellung, jemand wäre ins Zimmer gekommen. Sie wollte gar nicht daran denken. Das durfte nie, nie wieder vorkommen! Sie hatte zwar nicht viele Gemeinsamkeiten mit Valentina, aber Alba würde ihrer Schwester niemals wehtun. Valentina war vier Jahre älter und das komplette Gegenteil ihrer kleinen Schwester. Valentina hatte seit dem Tag ihrer ersten Periode auf den Mann gewartet, der sie endlich ehelicht.
Sie war kurvig, da wo Alba flach und kantig war. Und sie hatte braunes Haar so wie ihr Vater. Alba hatte die tiefschwarzen Locken ihrer Mutter geerbt. Manch einer ging davon aus, dass Alba eine Zigeunerin war. Denn auch ihre Haut war dunkler als die der anderen Frauen im Dorf. Generell war Alba nicht sehr gern gesehen bei den anderen Damen in ihrer Umgebung
Die meisten Frauen hatten bereits mit siebzehn geheiratet und mindestens fünf Kinder, ehe sie ihr fünfundzwanzigstes Lebensjahr erreichten. Nicht, das Alba abgeneigt war, je zu heiraten oder Kinder zu bekommen.
Sie wollte es aber dann machen, wenn sie bereit dazu war.
Wenn der richtige Mann an ihrer Seite auftauchen und sie im Sturm erobern würde. Am liebsten einen von außerhalb, einen Fremden. In diesem Kaff heirateten sie alle untereinander.
Nein, den scheinheiligen Damen von Cavalina passte es einfach nicht, welch Wirkung Alba auf deren Ehemänner hatte. Die Blicke, die sie erntete und das Tuscheln hinter ihrem Rücken, hatte sie bereits im zarten Alter von dreizehn bemerkt. Damals weinte sie sich in den Schlaf, weil sie sich ausgenutzt und unverstanden fühlte. Doch heute war es ihr einfach gleich, was andere Leute von ihr dachten. Sie kannte die Wahrheit und alles andere zählte für Alba nicht mehr.
"Hallo?! Ich rede mit dir Madame!"
Valentinas Stimme holte sie zurück.
"Bitte?"
"Ich sagte, Giorgio hatte die Güte dir eine Beschäftigung in seinem Atelier anzubieten. Er hatte neulich bemerkt wie du an deinem Kleid genäht hattest und dachte, es wäre doch passend, wenn du in seinem Betrieb aushilfst. Eine seiner Näherinnen ist kurz vor der Niederkunft und kann wohl nicht mehr arbeiten. Was denkst du? Ich finde, du könntest so langsam mal etwas Geld auf die Seite legen, falls sich da draußen doch noch ein verrückter Kerl findet, der sich in dich verliebt und lebensmüde genug ist, dich zu heiraten."
Das fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube.
"Ich kann nicht", sagte sie. Valentina und ihre Mutter sahen sich an und Alba wusste in diesem Augenblick, dass die Entscheidung bereits gefallen war.
"Du wirst dieses Angebot annehmen. Wir brauchen das Geld und es ist unhöflich, ein so großzügiges Angebot der Familie deines Schwagers abzulehnen." Alba stand wütend auf und stapfte zum Ofen.
"Ich gebe nichts darum, was irgendwelche blasierten Leute von mir denken! Ich werde woanders eine Arbeit finden.“, schimpfte sie. Sie spürte einen stechenden Schmerz im Oberarm. Ihre Mutter packte sie und drehte sie zu sich.
"Alba, so wahr mir Gott helfe, du wirst dort arbeiten und dich verdammt nochmal sehr, sehr dankbar zeigen. Hai Capito?", zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen. Ja, sie hatte verstanden, auch wenn sich alles in ihr weigerte. Alba schmiss den Topf, samt Inhalt auf den Boden.
"Aber Ma-", wollte sie protestieren. Doch ein Blick ihrer Mutter reichte aus, um sie zum Schweigen zu bringen.
In Alba brodelte es.
"Fein! Wie du willst! Aber ich nenn ihn nicht Padrone!", schrie sie und ging ins Schlafzimmer.
***
"Alba meine Schöne!", rief Frau Vecchio und kam auf sie hinzu geeilt wie eine aufgebrachte Vogelscheuche.
So sah sie auch aus. Frau Vecchio war Giorgios Mutter und, nachdem sie auch ihren zweiten Ehemann unter die Erde gebracht hatte, die alleinige Inhaberin des Ateliers VECCHIO e Famiglia. Man munkelte, dass sie viele Liebhaber hatte, da sie durch den Tod ihres Mannes zu einem beachtlichen Vermögen gekommen war und natürlich waren in diesem verfluchten Kaff alle Männer habgierige Huren. Sie dachten wohl, wenn sie der alten Witwe Vecchio an die Wäsche gehen, würden sie ein Stück vom Kuchen abbekommen. Aber die Alte war gewieft genug, sich nicht lumpen zu lassen. Alba saß auf dem weichen Stuhl in Vecchios Büro. Das Büro befand sich in der Halle, hochgelegen, und man sah aus einem verstaubten Fenster die fünfzehn Näherinnen an ihren Maschinen arbeiten. Die Halle war nicht allzu groß, es war angenehm kühl und Alba starrte auf das saubere Wasser, das sich in einem Glas vor ihr befand. Zuhause, da tranken sie Wasser, das direkt aus einer Wasserpumpe kam. Diese Wasserpumpe teilte sich die komplette Nachbarschaft. Der Wasserhahn war schon so verrostet und morsch, dass das Wasser trüb rauskam. Man musste es erst abkochen, ehe man davon trank. Nun saß sie hier und starrte dieses glasklare, gekühlte Wasser an, das direkt aus einer sauberen Glasflasche ins saubere Glas geschenkt wurde. Die Witwe Vecchio setzte sich ihr gegenüber, in den großen weichen Sessel und hinterließ einen penetranten Duft in der Luft. Sie hatte ergrautes, krauses Haar und ihre Haut war für ihr Alter viel zu faltig. Alba dachte an ihre Mutter, die genauso alt war, aber weitaus schöner aussah als diese elegante Frau hier vor ihr, die nur halb so viel gearbeitet hatte wie ihre Mutter.
"Ich freue mich ja so auf die Hochzeit! Ist es nicht aufregend? Bald sind wir endlich eine Familie!", log die Witwe. Jeder im Dorf wusste, dass die Witwe Vecchio geschockt gewesen war, als ihr einziger Sohn Giorgio verkündet hatte, die alte Jungfer Valentina Gentile heiraten zu wollen.
"Hast du ihr etwa ein Kind angedreht!? Um Himmels Willen Gio', wir können das auch anders klären. Sie kann das Kind bekommen und wir zahlen dem Balg die Ausbildung!", hatte man die Witwe durch die ganze Straße schreien hören. Aber man konnte es ihr nicht verübeln. Selbst Albas Familie hatte nicht schlecht gestaunt als die Liebelei zwischen Giorgio und Valentina rausgekommen war. Ihr Vater hatte ihn sogar in einer ruhigen Minute gefragt, ob er noch ganz bei Sinnen war. Alba fand das alles fürchterlich. Valentina war eine großartige Frau und diese verdammte, arrogante Familie konnte froh sein, dass Valentina ihn heiratete. Giorgio war vielleicht ein gutaussehender Mann, aber dass er die Frechheit besaß Alba anzumachen, sie zu küssen… Sie schloss eine Sekunde die Augen bei dem Gedanken an seine warme Zunge.
"Liebes, ist alles in Ordnung mit dir? Fehlt dir was?", erkundigte sich die Witwe.
"Oh nein! Alles in bester Ordnung", log sie.
"Nun, also ich war ja so glücklich als ich hörte, dass wir für Maria Ersatz gefunden haben. Ist es zu glauben? Sie bekommt ihr fünftes Kind in sechs Jahren! Die Gute sollte vielleicht mal über einen Auszug aus ihrem Schlafzimmer nachdenken.", gackerte die Witwe drauf los. Alba lachte aus Höflichkeit mit.
"Ich wollte mit Ihnen nochmal über das Angebot sprechen. Also, ich bin wirklich sehr glücklich und fühle mich sehr geehrt, dass Sie mir diese Möglichkeit anbieten, aber ich habe bereits eine gute Arbeit gefunden und da diese viel näher an meinem Zuhause ist... Nun ja, da dachte ich vielleicht wäre es besser das andere Angebot anzunehmen", stotterte Alba. Augenblicklich erlosch die gespielte Freundlichkeit in den Augen der Witwe.
"Oh das ist ja traurig", murmelte sie.
Die Tür des Büros öffnete sich und Giorgio trat ein. Albas Herz setzte aus und beide blickten sich eine Sekunde in die Augen. Der Witwe entging die Atmosphäre nicht. Für einen kurzen Augenblick schaute sie zwischen den beiden hin und her.
"Alba. Du bist also doch gekommen?“, sagte Giorgio leise. Die Witwe erhob sich von ihrem Sessel und kam mit einem echten, strahlenden Lächeln ihrem Sohn entgegen.
"Natürlich ist sie gekommen. Sie war so freundlich unser Angebot persönlich abzulehnen", sagte sie bittersüß, während sie ihrem dreiundzwanzigjährigen Sohn einen Kuss auf die Wange hauchte.
"Mein Gott Gio' wann rasierst du dir endlich diesen scheußlichen Bart ab?" Giorgio ignorierte seine Mutter und ging einen Schritt auf Alba zu. Diese blickte zu Boden.
"Warum nimmst du das Angebot nicht an?", fragte er.
"Sie hat bereits eine andere Arbeit, in der Nähe ihres Elternhauses", antwortete seine Mutter stattdessen.
"Wo?", fragte er. Albas Wangen röteten sich. Was bildete er sich nur ein!
"Was?", stotterte sie. Er ging um ihren Stuhl, setzte sich auf die Tischkante und beugte sich etwas vor.
"Ich fragte, wo ist diese Arbeit?"
"Bei der Post. Am Bahnhof", log sie.
"Oh Liebes! Nicht das ich mich in deine Dinge einmischen möchte, aber in diesem Dorf kommt nur einmal die Woche die Post und dann sind es höchstens drei Briefe. Ich kann mir nicht annähernd vorstellen, dass die Bezahlung dort so gut ist wie hier", mischte sich die Witwe doch ein.
"Ja, ich weiß. Aber es ist eben näher an unserem Zuhause und naja, als junges Mädchen möchte ich ungern den weiten Weg bis nachhause zu Fuß gehen. Ich würde erst nach Einbruch der Dunkelheit zuhause eintreffen“, redete sich Alba raus. Die Witwe setzte sich wieder in ihren Sessel.
"Also wenn das dein einziges Problem ist, dann werde ich dafür sorgen, dass Giorgio dich nach Feierabend nachhause fährt", bot sie an. Alba wurde es speiübel.
Die Witwe wartete.
"Ich zahle dir das Doppelte", sagte sie dann eiskalt. Das überraschte selbst Giorgio, der erstaunt zu seiner Mutter rüber schaute. Alba erkannte die Absichten der Witwe. Sie schien wohl alles in Kauf zu nehmen, damit diese Hochzeit nicht zustande kam. Später in ihrem langen Leben, als Alba auf diese Zeit zurückblickte, verfluchte sie die Leute noch mehr als jetzt schon. Denn bei Gott, sie hatte doch versucht, es zu verhindern. Doch ihre Familie hatte sie ja förmlich in diese Situation gedrängt.
"Dann bedanke ich mich herzlich. Wann soll ich anfangen?"
***
Sie sollte gleich am nächsten Tag beginnen. Die Hexe Vecchio hatte es ganz schön eilig. Natürlich hatte sie bemerkt, dass etwas zwischen Giorgio und Alba vorgefallen sein musste. Ihre Eltern waren ganz aus dem Häuschen als sie hörten, dass Alba doppeltes Gehalt bekam.
"Diese Familie hat einfach eine unbeschreibliche Güte. Ich bin so froh, dass du dort einheiratest Valentina", schwärmte ihre Mutter. Ja, eine verdammte Heilige diese verfluchte Witwe. Am Abend legte sie sich früher ins Bett und machte das Licht aus. Sie wusste nicht was sie tun sollte. Warum zum Teufel benahm sie sich so seltsam, wenn Giorgio in ihrer Nähe war? Valentina kam ins Zimmer und legte sich zu ihrer kleinen Schwester. Sie bettete Albas Kopf in ihrem Schoß und strich ihr durch das widerspenstige schwarze Haar.
"NeNe' was bedrückt dich?", fragte sie. NeNe' ist eine Verniedlichung und heißt sowas wie Kleines. Valentina nannte sie schon immer so. Alba zuckte mit den Schultern. Sie liebte es, wenn ihre große Schwester ihr durchs Haar fuhr. Ihre Mutter war keine sehr liebevolle Frau, umso mehr gaben sich die Schwestern untereinander mal etwas Zuwendung. "Ich mag ungern dort arbeiten", schmollte sie.
Valentina seufzte.
"Bist du vielleicht eifersüchtig? Du wirst auch mal einen netten Mann finden. Und nur weil ich heirate, heißt es nicht, dass ich aus der Welt bin. Ich werde immer für dich da sein." Die Schwestern hatten ein merkwürdiges Band. Auch wenn sie sich viel neckten und absolut unterschiedlich waren, kannten sie einander blind. Alba fragte sich, wann dieses Band sich aufgelöst hatte.
Valentina lag sowas von falsch.
"Ach Tina, daran liegt es doch nicht. Ich weiß auch nicht, bist du dir ganz sicher, dass du Giorgio wirklich heiraten willst?" Valentina blickte ihre Schwester entsetzt an.
"Gott ja! Ich liebe ihn wie verrückt. Und er mich auch. Weißt du, sag nichts unserer Mutter, aber er kann unglaublich gut küssen!" Valentinas Augen glühten vor Freude.
Alba wurde es schwer ums Herz. Wie recht ihre Schwester doch damit hatte.
***
"Und hier ist deine Nähmaschine. Du hast bestimmt noch nie damit gearbeitet, deshalb zeige ich dir in den nächsten zwei Tagen, wie sie funktioniert."
Francesca war eine große, stämmige junge Frau mit feuerrotem Haar. Alba kannte sie seit ihrer Kindheit, in diesem Dorf war man sich manchmal näher als man wollte. Wenn Francesca durch die Straßen der kleinen Gemeinde Cavalina ging, dann wurden die Leute still und alle starrten sie an. Francescas Eltern waren viele Jahre kinderlos gewesen und man tuschelte schon, dass die alte Sofia, Francescas Mutter, keine Kinder empfangen konnte.
Sie war bereits in ihren Mittdreißigern und damit automatisch eine vertrocknete, unfruchtbare Gattung. Das jedenfalls wurde im Dorf so gesagt. Nando, ihr Ehemann, war dienstlich außer Landes gewesen, als ein gutaussehender rothaariger Brite auf Durchreise, Zwischenstation in Cavalina gemacht hatte. Nun, den Rest kann man sich ja denken. Nando und seine Sofia taten aber so, als ob nichts wäre. Sie waren einfach froh, dass der Herrgott so gnädig war und ihnen endlich ein Kind schenkte. Francesca hatte in ihrer Kindheit viel geweint, als sie bemerkte, dass Mütter aus ihren Häusern rausgerannt kamen und ihre Kinder von ihr wegzerrten, weil man mit ihr nicht spielen durften. Sie war eine Figlia di Puttana. Also eine Hurentochter. Glücklicherweise war es Alba wie so oft egal, was andere Leute sagten, insofern hatte sie als Kind ab und zu mit ihr gespielt. "Du musst nicht mit mir spielen!! Ich brauche dein Mitleid nicht, ich brauche euch alle nicht!! Ich werde mal eine große Berühmtheit und dann kaufe ich dieses blöde Kaff!", hatte die sechsjährige Francesca mal zu Alba gesagt.
Ihre roten Locken fielen ihr wild ins braungebrannte Gesicht und ihre Wange war schmutzverkrustet. Doch Alba hatte noch nie so rotes Haar gesehen und ihre Faszination war einfach zu groß.
"Ich möchte ja auch gar nicht mit dir spielen, sondern nur mit deinen Haaren!"
Und so begann eine lockere Bekanntschaft, die über Jahre hinweg nie wirklich vertieft wurde. Aber man grüßte sich und unterhielt sich ab und an höflich. Sofia war vor zwei Jahren verstorben, an irgendeiner Krankheit und nun musste Francesca ihrem spielsüchtigen Vater finanziell unter die Arme greifen.
Cavalina zeigte in solchen Zeiten auch mal seine gütige und zarte Seite. Jeder in diesem Siebenhundertseelendorf half Nando nach dem Tod von Sofia. Sie kamen ab und an mit Essen vorbei oder manch eine Frau hielt den Haushalt in Schuss. Francesca schloss in solchen Augenblicken Frieden mit diesem Ort, ganz im Süden Italiens. Und manchmal, wenn sie in ihrer kleinen Lehmhütte hoch in den Bergen Cavalinas, runter ins Tal schaute, dann musste sie zugeben, dass sie dieses gottverlassene, verbrannte Stück Erde liebte.
"Ich soll dir in den nächsten zwei bis drei Tagen zur Seite stehen und wenn du dann sicher genug bist, kannst du ja den Arbeitsplatz neben mir benutzten", bot Francesca an. Der Tag verging wie im Flug. Alba hörte Francesca aufmerksam zu und glücklicherweise lernte sie schnell.
Die Nähmaschine war wunderschön, in einem tiefen satten schwarz und wenn Alba auf das weiche Pedal trat, genoss sie das Geräusch, der auf und ab hüpfenden Nadel.
Was Alba aber mehr als alles andere begeisterte, waren die edlen Stoffe. Sie berührte die französische Seide und die Härchen auf ihrem Arm stellten sich auf. Sie floss durch ihre schlanken Finger wie feiner Sand. Die Pausen verbrachte sie mit Francesca, sie setzten sich unter einen Baum in den Schatten. Es gab für alle Näherinnen gekühlte, selbstgemachte Limonade. Noch nie in ihrem Leben hatte Alba etwas Gekühltes getrunken. Keiner im Umkreis von hundert Kilometern hatte genug Geld, um sich sowas wie einen Kühlschrank leisten zu können.
"Ist es nicht traumhaft?", schwärmte Francesca.
Sie strecke ihre weißen, wuchtigen Beine aus und richtete ihren Rock, als sie Giorgio erblickte. Alba folgte ihrem Blick und ihr wurde wieder einmal flau im Magen.
"Ist er nicht eine Wucht?", flüsterte Francesca.
"Wer? Redest du etwa von meinem Schwager in spe?"
Francesca gluckste.
"Ja! Deine Schwester kann sich glücklich schätzen. Ihr alle könnt eigentlich Luftsprünge machen! Vecchio ist ein großer Name, ihr werdet durch diesen Zusammenschluss zu mehr Ansehen gelangen. Stell dir mal vor, deine Nichten und Neffen werden das alles hier mal erben."
Der Gedanke, dass Valentina mal Mutter sein würde, war einfach absurd. "Ich denke meine Nichten und Neffen hätten auch so ein gutes Leben gehabt. Aus uns ist ja immerhin auch etwas geworden."
"Also ich kann dir sagen, dass fast jedes zweite Mädchen deine Schwester beneidet. Giorgio ist so ein lieber und gutaussehender Mann und ich weiß, dass es viele Frauen gab, die ihn umworben haben, aber dass er sich in eine so unscheinbare Person wie Valentina verliebt, macht ihn für die anderen Mädchen umso reizvoller."
Als ob er es geahnt hatte, blickte er gerade in diesem Augenblick rüber und schaute Alba lächelnd an. Sie lächelte schüchtern zurück. Alba hatte schon vorher bemerkt, dass sich viele junge Frauen um Giorgio scharten, aber sie empfand ihn dadurch nur noch abstoßender. Das hatte sich erst nach dem Kuss neulich geändert. Als Alba ein kleines Mädchen war, hatte Giorgio sie öfters angelächelt oder mal gefragt, wie es ihr ginge, aber sie hatte ihn meistens ignoriert. Francesca und Alba hatten die nächsten vier Stunden damit verbracht, eine Seidenbluse zu Ende zunähen. Die alte Witwe hatte über den sauber genähten Saum und die anständigen Kanten nicht schlecht gestaunt.
Vor Feierabend räumte Alba ihren Platz auf und kehrte den Boden. Ihr brannten die Augen als sie die kleine Halle verließ, sie schlenderte vor sich hin und dachte an nichts, als ein Auto neben ihr hielt. Sie kannte den Lancia Ardea. Jeder in diesem bettelarmen Ort kannte ihn.
"Ich sollte dich nachhause fahren", rief Giorgio durch das geöffnete Fenster. Alba ging weiter.
"Ich kann auch gerne zu Fuß gehen, es ist mild heute und da ich nur gesessen habe, tut mir der Spaziergang ganz gut." Giorgio hielt das Auto an und stieg aus, er lief Alba hinterher und packte sie sanft am Arm.
"Hey Alba, bitte lass mich nicht wie ein Dummkopf dastehen. Ich habe deiner Familie versprochen dich unversehrt nachhause zu bringen. Was für eine Figur lässt du mich machen, wenn ich ohne dich zum Abendessen erscheine."
Seine braunen Haare wehten im Wind, er war mal wieder viel zu schick gekleidet. Ein dreiteiliger Maßanzug in hellgrau und an seiner Hüfte hing die goldene Kette seiner Taschenuhr runter. Giorgio hatte abgenommen, das hatte sie erst jetzt bemerkt. Sein Gesicht war etwas magerer und unter seinen Augen zeichneten sich langsam dunkle Ringe ab. Anscheinend bedrückte ihn etwas und Alba störte es, dass sie wissen wollte, was es war.
"Na gut, aber wehe du fährst zu schnell. Ich habe gehört, dass Menschen ums Leben gekommen sind in diesen Dingern." Er lachte auf.
"Du bist verrückt! Ich werde dafür sorgen, dass wir heute nicht sterben."
Die Fahrt verlief die ersten paar Minuten schweigsam.
Sie genoss den lauen Fahrtwind, der ihre schwarzen Locken etwas aufwirbelte und schaute sich ihren Geburtsort an. Matera war eine kleine Stadt in der Region Basilicata. Wenn Alba als Kind ihre Mutter fragte, wo denn ihre Geburtsstadt liegt, dann hob Adele ihren Fuß und zeigte drauf.
„Wenn mein Fuß Italien ist, dann ist Matera mein Knöchel. Dreh und Angelpunkt dieses Landes.“
Doch richtige Bekanntheit erlange diese Region durch Carlos Levi’s Buch Christus kam nur bis Eboli.
Wenn man Alba fragte, dann traf dieser Schriftsteller ziemlich genau ins Schwarze, als er über die ärmlichen Verhältnisse dieser Provinz schrieb.
Ihre Mutter Adele war darüber empört, auch wenn sie das Buch nur durch Hörensagen kannte, da sie als Bäuerin nie lesen gelernt hatte.
„Mag sein das Christus nur bis nach Eboli kam. Doch Gott ist überall!“ hatte sie geschimpft.
Die Innenstadt Materas nannten die Einheimischen Sassi, Steine. Denn so sah diese Stadt auch aus, als ob man in einen überdimensional großen Felsen, kleine Höhlen und Gassen gemeißelt hätte. Umgeben von fruchtbarem Land und Olivenhainen, weit weg vom Meer. Hier und da sah man noch zerbombte Höhlen, doch diese fielen in Matera kaum auf.
Es war als ob man dieses Stück Erde irgendwann zwischen der Steinzeit und jetzt vergessen hatte.
Das Meer kannte Alba nur durch ihren Vater. Dieser war gebürtig aus Neapel. Als Kind war sie einige Male dort gewesen und Franco hatte seine Mädels in den Zug gepackt für einen kleinen Ausflug ans Meer. Doch Alba hatte fürchterliche Angst davor, weswegen sie bis heute nie schwimmen gelernt hatte.
Giorgio schaute zu ihr rüber und studierte ihr Profil.
"Und wie war dein erster Tag?" Sie überlegte eine Sekunde, ehe sie antwortete.
"Er war gut. Ich hatte es mir schwerer vorgestellt."
Sie bemerkte sein Schmunzeln. "Also hast du vor, zu bleiben?"
"Ich sehe keinen Grund, es nicht zu tun."
Sie hatte den ganzen Tag mit sich gerungen, aber am Ende des Tages hatte sie doch eine Entscheidung getroffen.
"Das freut mich." Er zögerte kurz, suchte wohl nach den richtigen Worten.
"Hör zu, Kleines. Ich weiß nicht, was da neulich in mich gefahren ist... Ich hatte etwas zu viel von dem Wein getrunken, den dein Vater zum Essen ausgeschenkt hatte. Jedenfalls verspreche ich dir, dass es nie wieder passieren wird.
Ich habe dich in eine unmögliche Situation gebracht und es tut mir leid." Es klang erstaunlich ehrlich und Alba musste zugeben, dass sie ein Problem damit hatte, dass es ihm wirklich leidtat.
"Gut, ich nehme die Entschuldigung an."
Sie sahen sich einen Augenblick an und lächelten.
"Schön, nun lass uns die Fahrt genießen."
Valentina stand vorm Spiegel und schaute an sich runter. Sie strich immer wieder sanft über die Seide und berührte mit ihren Fingern die edle Spitze am Kragen.
"Du siehst bezaubernd aus", schwärmte Alba und betrachtete ihre große Schwester in ihrem halbfertigen Kleid. Es musste noch etwas dran gearbeitet werden, aber bis zur Hochzeit in drei Monaten würde es passen.
"Ich bin so froh, dass du mir mein Brautkleid nähst und so dankbar, dass die alte Witwe dir die Nähmaschine dafür überlässt. So kann ich mir sicher sein, dass es genauso wird, wie ich es mir vorgestellt habe."
Valentinas Augen leuchteten, wie schon in den vergangenen Wochen und Alba freute es von Herzen, ihre Schwester so zu sehen. Sie arbeitete nun seit einem Monat bei der Witwe und langsam hatte sie den Dreh raus.
Zu Francesca hatte sie eine solide Freundschaft aufgebaut und mit Giorgio nachhause zu fahren wurde allmählich zur Gewohnheit. Eine äußerst schöne und lustige Gewohnheit. Sie lachten jedes Mal über etwas Neues. Neulich hatte Alba so heftig lachen müssen, dass sie Panik hatte zu ersticken.
"Übrigens, morgen Abend haben uns die Vecchios zu sich nachhause eingeladen. Deshalb geht schon mal Wasser holen, wir müssen uns baden und uns frische Sachen rauslegen", hatte ihre Mutter aus der Küche gerufen, nicht zum ersten Mal in dieser Woche. Die beiden Schwestern verdrehten ihre Augen und kicherten.
"Mamma dreht durch, seit sie diese Einladung bekommen hat", flüsterte Valentina.
"Ja, und Pa jammert und tobt seitdem. Das kann ja noch heiter werden“, erwiderte Alba.
Sie beobachtete, wie ihre Schwester sich wieder langsam zum Spiegel wandte und verträumt auf ihr Kleid schielte.
"Noch drei Monate, dann bin ich eine Vecchio, endlich. Dann bin ich Giorgios Frau und dieses ganze verfluchte Dorf kann mir den Arsch lecken!", den letzten Satz schrie Valentina raus.
Sekunden später ging mit einem Knall die Zimmertür auf. Mamma stand mit einem Kochlöffel in der erhobenen Hand da und stürmte auf Valentina zu.
Diese jedoch reagierte blitzschnell und rannte lachend davon, sprang aufs Bett und hob schützend die Hände über den Kopf.
"Che cazzo! Ich will solche Wörter nicht in diesem Haus hören!!", schrie Mamma und rannte ihr hinterher.
Alba musste mitlachen.
"Aber Mamma! Du hast doch gerade selbst Cazzo gesagt! Also bitte, entspann dich", nahm Alba ihre ältere Schwester in Schutz. Ihre Mutter musste sich ein Lachen verkneifen und warf sich auf ihre beiden Töchter.
"Ich darf das! Immerhin bin ich die Einzige von uns, die auch weiß was das ist."
Nun lachten alle drei wie von Sinnen. Draußen schlurfte gerade Vater an der Tür vorbei.
Er schaute wie immer etwas grimmig drein und schnaufte in seine Pfeife.
"In diesem Haus lebe ich mit drei verrückten Hühnern und trotzdem gehöre ich zu den fünf wenigen Männern in diesem gottverdammten Kaff, die nicht trinken. Versteht das einer?", murmelte er.
Sehr oft in ihrem Leben, würde Alba an diese Situation zurückdenken müssen und dann tat es am meisten weh.
***
"So, so, man munkelt, dass heute Abend offiziell die Verlobung stattfindet. Stimmt das?", fragte Francesca neugierig. Sie saßen wieder unter dem Baum und genossen gekühlte Limonade.
"Meine Güte, kann in diesem verfluchten Dorf denn nichts geheim bleiben? Und wer sagt denn, dass es eine Verlobung ist?“, fluchte Alba. Ihre Freundin schaute sie verdutzt an. "Du weißt doch, wenn sich die Eltern kennenlernen, ist es eine Verlobung."
"Ja, kann schon sein", murmelte Alba.
"He, ich habe die Regeln nicht gemacht. Fragt sich nur für wen diese Verlobung gilt, für dich und Giorgio oder für Valentina und ihn", kicherte Francesca. Alba schaute sie erschrocken an.
"Wie kommst du auf solche Gedanken?!", fragte sie empört. Ihre Freundin bemerkte, dass sie wohl zu weit gegangen war und schaute verlegen auf den Boden. "Nun ja, es war nur ein blöder Scherz. Nichts weiter. Ich meine nur... also naja."
Alba verschränkte ihre Arme.
"Naja was?!", fragte sie herausfordernd.
"Also, versteh mich nicht falsch, aber mir ist halt aufgefallen, dass er dich oft ansieht."
"Na und? Er schaut oft nach den Mitarbeiterinnen", verteidigte sich Alba.
"Ach ja? Und wie erklärst du dir dann das?"
Sie nickte leicht nach rechts und Alba folgte ihrem Blick.
Giorgio saß in seinem Büro und schaute auf Alba hinunter. Er starrte sie an, sodass ihr augenblicklich übel wurde.
"Hör zu, ich wollte dich nicht böse machen. Ich schwöre dir, es ist bis jetzt nur mir aufgefallen. Sonst hat bis jetzt niemand was gesagt oder bemerkt", beruhigte sie Francesca.
Alba zuckte mit ihren Schultern.
"Schon gut. Mir ist es sowieso egal, was andere sagen."
"Ich weiß, das habe ich schon früh bemerkt", sagte sie und lächelte Alba an. "Und ich wollte mich immer dafür bedanken, dass du mich behandelt hast wie ein normales Kind." Alba lächelte zurück, nichtsahnend, dass sie eines Tages das ganze Ausmaß ihrer Dankbarkeit zu spüren bekommen würde. Die nächsten drei Stunden hatte Alba damit verbracht, einen Hosenanzug fertig zu nähen. Sie hatte in den letzten Wochen acht von ihnen genäht und fragte sich, welche Herren es wohl tragen werden.
Sie wusste, dass alles was hier genäht wurde, den direkten Weg nach Mailand fand, in die Modestadt schlechthin. Der Gedanke, dass eine Berühmtheit mal ihre Sachen tragen würde, machte sie stolz. Die Stimmung im Land war zwar aufgrund der politischen Situation etwas angespannt, doch wie immer blieben die meisten Wohlhabenden von den Wehen der Nachkriegszeit verschont.
"Abend Kleines."
Sie blickte auf und sah Giorgio auf sich zukommen. Erst jetzt bemerkte sie, dass Francesca gegangen war.
Nur noch sie und die alte Näherin waren in der Halle.
"Oh, wieviel Uhr haben wir?", fragte sie verwirrt.
"Es ist fast Sieben. Komm du musst dich noch umziehen.", drängte er. Das tat sie dann auch. Sie schlüpfte aus ihrem Kittel direkt in ihr tailliertes Leinenkleid. Es war Sonnengelb und endete unterhalb ihrer Knie, ihre dunkelbraune Haut ließ das Gelb regelrecht leuchten. Sie bemerkte Giorgios Blick, als er Alba auf das Auto zu rennen sah. Sie stieg kommentarlos ein und er fuhr los. Während der ganzen Fahrt, spürte Alba seine Blicke und jedes Mal, wenn er den Gang neu einlegte, streiften seine Finger die ihre. Ihr wurde es langsam unbehaglich.
"Giorgio, du musst damit aufhören", sagte sie nach einer Weile.
Er schaute irritiert zu ihr rüber. "Womit?"
"Das weißt du genau! Francesca hat es schon bemerkt und es ist nur eine Frage der Zeit bis die anderen es auch tun."
Er schien eine kurze Sekunde zu zögern, war sich wohl nicht sicher, ob er weiter so tun sollte, als ob er nicht wüsste, wovon sie sprach. Doch dann fuhr er rechts ran und machte den Motor aus, obwohl sie bereits zu spät waren. Sein Blick wanderte aus dem Fenster neben sich. Sein Gesicht blieb ihr verborgen. Es dauerte eine Weile, ehe er etwas sagte.
"Ich verstehe. Aber ich weiß einfach nicht wie ich damit aufhören soll. Mir ist absolut bewusst, dass es falsch ist. Jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit, da schwöre ich mir, es nicht mehr zu machen. Aber dann sehe ich dich und alles beginnt von vorne. Ich kann nicht aufhören, an dich zu denken."
"Hör auf...“, flüsterte Alba, doch er schien es nicht zu hören. Oder er hörte es aber entschied, es bewusst zu ignorieren, er war wohl jetzt einmal in Fahrt gekommen und wollte sich nicht aufhalten lassen.
"Ich denke Tag und Nacht an dich. Es ist absolut krank, aber ich kann es nicht mehr kontrollieren.“
"HÖR AUF!", schrie sie.
Ihr wurde übel und in diesem stickigen Auto bekam sie keine Luft. Sie riss die Tür auf und stieg aus. In diesem Ort gab es genau zwei marode Straßen. Eine die in die Stadt und eine die wieder raus führte. Doch an diesem Abend fuhr niemand, weder stadtein- noch stadtauswärts. Also schrie sie all ihren Frust und ihre Wut einfach raus. Giorgio war mit zwei Schritten bei ihr und hielt sie fest. "Hey, Kleines beruhig dich!"
Die Ohrfeige traf ihn mitten ins Gesicht und das Echo hallte in den Bergen nach. Er starrte sie fassungslos an. Alba hielt sich die Hände erschrocken vor den Mund, geschockt darüber, was sie gerade getan hatte. Sie hatte damit gerechnet, dass er sie wegschubste, sie hier einfach stehen ließ und davonfuhr. Doch stattdessen küsste er sie.
Da war absolut nichts Zärtliches in dieser Geste, es war roh und hart. Giorgio zerrte sie zur Motorhaube und griff ihr unter den Unterrock. Seine Hände fanden sein Ziel und Alba stöhnte auf, gleich darauf schämte sie sich fürchterlich dafür, doch ihm schien es nur noch mehr Lust zu bereiten.
Seine Hände hatten wohl noch nie zuvor richtige Arbeit verrichtet, denn sie waren weich, ohne Schlieren und sauber. Und sie waren zwischen ihren Beinen.
Die Dunkelheit hatte sie beide bereits umhüllt, als er in sie eindrang. Es war ein stechender, brennender Schmerz. Der verflog jedoch nach jeder seiner Bewegungen und sie bekam langsam eine Ahnung davon, wie es sich wohl anfühlen könnte. Ehe sie verstand, was geschah, war es auch schon vorbei. Es passierte einfach und verschwand auch wieder.
Sie hatte Sünde begangen. Voreheliche Sünde mit dem Verlobten ihrer Schwester und von diesem Augenblick an, konnten beide nicht mehr damit aufhören.
Am Horizont tauchte ein Blitz auf, der zwischen den Bergen wieder verschwand. Es war ein einziger Blitz, sonst nichts. Kein Donner, kein Regen.
Wie eine Warnung.
***
"Da sind sie ja!" rief die Witwe Vecchio, als Giorgio mit Alba das Esszimmer betrat. Das Haus der Vecchios war imponierend. Alba war noch aufgewühlt von dem Geschehen und sprach kein Wort auf dem Rest der Rückfahrt. Giorgio ebenfalls nicht, bis sie das Haus oben an der Lichtung sahen. Alba war beeindruckt, zeigte es jedoch nicht. Es war ein einstöckiges Haus mit einer Holzveranda.
"Hör zu, Kleines. Ich weiß es ist alles verwirrend, aber wir müssen uns zusammenreißen."
"Ich habe mit dir geschlafen", flüsterte Alba, sie war sich sicher, dass ihre Mutter es sofort bemerken würde. Sie würde es riechen. Und dann wäre sie so gut wie tot.
"Hör auf so zu reden. Glaubst du, in diesem Kaff gibt es auch nur eine Frau, die unversehrt die Ehe eingegangen ist? Alba, ich mag dich wirklich. Ich hatte das nicht geplant."
Sie hob ihre Hand und schnitt ihm das Wort ab.
"Lass es. Nicht jetzt. Sie warten auf uns."
"Gut, also wir sagen wir hatten einen platten Reifen und deswegen hat es gedauert. Lass mich reden ok?", er stieg aus und sie folgte ihm.
"Wo wart ihr? Wir hatten schon Sorge", sagte Valentina und umarmte Giorgio. Sie sah bezaubernd aus. Ihre braunen Haare hochgesteckt. Rotes Kleid. Schwarze, hohe Schuhe. Sie sah aus wie eine Dame, die hier hingehörte.
Alba wurde es anders, als sie an Giorgios Hände unter ihren Rock dachte.
"NeNe´ alles gut? Du siehst blass aus", fragte Valentina besorgt. "Es tut mir leid, wir hatten einen platten Reifen und es war dunkel, ich konnte nicht so gut sehen. Du weißt schon, ich denke, Alba ist noch etwas verschreckt vom lauten Knall des geplatzten Reifens", antwortete Giorgio.
Die Witwe beobachtete Alba von ihrem Sessel aus, wie ein Tiger seine Beute. Sie war wieder elegant gekleidet, ein schwarzer Zweiteiler. Dezentes Parfüm.
"So, einen platten Reifen also. Nun Liebes, dann geh dich mal frisch machen vor dem Essen, damit du dich von diesem Knall erholen kannst.", sagte sie und stand auf. Ihre Eltern taten es ihr gleich und folgten der Witwe ins Esszimmer. Albas Mutter, ebenfalls lächerlich elegant gekleidet, zischte ihr beim Vorbeigehen noch was zu.
"Beeil dich und blamier uns nicht! Die Dame Vecchio wollte uns noch was verkünden. Also los!".
***
Es war reich gedeckt, mit genügend Gemüse, Brot und einem großen Vogel, goldbraun gebacken, der in der Mitte des langen Tisches thronte. Die Tischdecke war weiß und gestärkt, und an jedem Platz gab es silbernes Besteck und ein poliertes Glas. Mamma staunte nicht schlecht und Papa nahm dieses Bild kommentarlos auf. Das Essen war wunderbar und man hatte begonnen eine seichte Unterhaltung zu führen, die letztendlich nirgends hinführte. Alba spürte immer noch ein leichtes Brennen zwischen ihren Beinen. Sie hatte sich vorhin noch gewaschen und war entsetzt über die klebrige Masse, die im Abfluss verschwand. Sie hatte mal gehört, dass beim Sex Körperflüssigkeiten austreten, aber es jetzt in sich und an den Händen zu haben brachte sie zum Würgen. Und doch musste sie immer wieder an seine Finger denken und an die Lust, die sie dabei empfunden hatte. Und nun saß sie hier am Tisch mit ihrer Familie, mit diesem schmutzigen Geheimnis, hin und her gerissen zwischen Scham und Begierde.
Die Witwe ergriff das Wort.
"Liebe Familie Gentile, ich möchte nicht unerwähnt lassen, wie glücklich ich bin, dass wir nun endlich zueinander gefunden haben und dass ich mich sehr freue, sie alle hier in unserem Haus willkommen zu heißen, ehe ich zum eigentlichen Thema komme."
Valentina schaute misstrauisch zu Alba rüber, diese zuckte nur ihre Schultern.
"Ich weiß, dass es jetzt eine kleine Überraschung sein wird, aber wie ihr wisst, wollten wir die Hochzeit hier in diesem Haus feiern. Ich werde mich natürlich mit meiner bezaubernden Schwiegertochter um alles kümmern, allerdings gibt es eine kleine Planänderung", sagte die Witwe.
"Und die wäre, Signora?" fragte Mamma Gentile.
"Ich muss euch leider bitten, die Hochzeit um zwei Monate zu verschieben. Ich habe bereits mit Giorgio darüber gesprochen und er war auch nicht gerade begeistert, aber wie ihr wisst, bin ich alleinige Inhaberin meines Ateliers und in den letzten Monaten haben wir einige Großkunden dazu bekommen. So wie es aussieht, werden wir uns vergrößern und dafür müsste ich in den nächsten Wochen für ein paar Tage nach Mailand."
Valentina wurde kreidebleich. Auch Mamma Gentile schaute zuerst irritiert, doch sie riss sich schnell zusammen. Alba schaute Giorgio an, der Valentinas Hand ergriff, um sie zu beruhigen.
"Wieso hast du mir nichts gesagt?", fragte ihn Valentina leise. Sie versuchte, die Fassung zu bewahren vor ihrer Schwiegermutter. "Ich habe es auch erst gestern erfahren, aber es ist doch auch gut für uns. Das heißt, dass das Unternehmen wächst, wovon unsere Familie profitieren wird."
Alba spürte einen Schlag in der Magengrube, eben erst noch war er in ihr und jetzt sprach er über seine Familienpläne mit Valentina. "Also, ich muss zugeben, das kommt unerwartet. Aber natürlich verstehen wir Ihre Verpflichtungen. Es sind ja letztendlich nur zwei Monate", sagte Mamma.
Nur Papa saß da, kaute auf seinem Brot rum und trank Wein, als ob es ihm vollkommen egal wäre.
"Alba ist eine wahre Goldgrube! Ich habe gesehen, wie du an Valentinas Kleid arbeitest. Du hast ein unglaubliches Talent. Die Nachfrage ist groß, seit du bei uns bist. Alle reißen mir deine Arbeit aus den Händen", schwärmte die Witwe.
"Deine Arbeit?", fragte Giorgio.
Sie hatte den anderen verheimlicht, dass die Witwe ihr freie Hand ließ beim Designen diverser Kleidungsstücke. Die Witwe hatte immenses Vertrauen in Albas Geschmack und so wie es aussah, zahlte es sich aus.
"Oh ja! Alba hat den Zweiteiler entworfen und in Mailand schlägt es ein wie eine Bombe."
Papa hörte für einen Augenblick auf zu kauen und schaute Alba über den Tisch hinweg an. Er lächelte. Sein Stolz war nicht zu übersehen. Er war kein Mann großer Worte, aber er konnte mit kleinen Gesten Großes bewirken.
Der Augenblick verpuffte in einer Millisekunde und keiner hatte es bemerkt. Papa kaute stur weiter und starrte auf seinen Teller. Alba war ihm so dankbar für diesen Augenblick der Anerkennung, dass sie für einen kleinen Moment dieses ungute Gefühl vergessen hatte, das den ganzen Abend an ihr haftete.
"Das hast du mir ja gar nicht gesagt", es klang fast schon wie ein Vorwurf aus Giorgios Mund und das bemerkten wohl auch die anderen. Alba sah, wie sich Valentinas Stirn krauste. Er bemerkte die Stimmungsänderung am Tisch und lenkte schließlich schnell ein.
"Nicht, dass es schlimm wäre, aber es wäre schön gewesen davon zu erfahren Mamma, da ich ja indirekt auch Inhaber bin oder zumindest werde."
Die Witwe klatschte in die Hände und strahlte übers ganze Gesicht.
"Wo wir dann zur zweiten Neuigkeit kommen, für diesen Abend. Gio' mein Lieber möchtest du es verkünden oder soll ich?". Er schaute Alba kurz in die Augen und richtete seine Aufmerksamkeit dann an den gesamten Tisch.
"Wenn die Verhandlungen gut verlaufen in Mailand und Mamma mit erfolgreichen Nachrichten zurückkommt, dann werden wir wohl eine zweite Fabrik in Mailand eröffnen, in der ich dann die Führung übernehme."
Seine Verlobte brauchte Zeit diese Information zu verarbeiten. Doch Alba verstand sofort was das hieß. Giorgio und Valentina würden nicht mehr in Matera leben. Papa legte seine Gabel zur Seite, wischte sich mit der strahlend weißen Stoffserviette den Mund ab und schaute seinen Schwiegersohn an.
"Nun, das heißt also, du hast vor, meine Tochter mit nach Mailand zu nehmen und da diese Entwicklung wohl nicht erst seit heute auf dem Tisch ist, denke ich mal, dass du gestern, als du mit uns gegessen hast und mit mir eine Zigarre geraucht hast, es nicht für nötig gehalten hast, mich in Kenntnis zu setzen?", sagte er in ruhigem Ton.
Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, selbst die Witwe hielt die Luft an.
"Papa, ich denke -"
"Was denkst du Valentina?", schnitt Papa ihr das Wort ab.
"Ich hatte meinen Sohn um Diskretion gebeten, da bis jetzt noch nichts unterschrieben wurde", warf die Witwe ein.
"Nun und jetzt ist die Situation anders?", fragte Papa.
"Nein, ist es nicht, aber wir sind guter Dinge", antwortete Giorgio.
"Ich dachte, da Valentina bald eine Vecchio sein wird, wäre es selbstverständlich, dass sie als gute Ehefrau ihrem Mann den Rücken stärkt. Vor Ort", sagte die Witwe eiskalt.
Franco Gentile, Kriegsveteran und Vater zweier Töchter, fixierte die Witwe mit seinen dunklen Augen.
"Noch ist sie eine Gentile. Und das heißt, dass wir als Eltern das Recht haben, über den zukünftigen Werdegang unserer Tochter Bescheid zu wissen, jedenfalls sollte unser Stand der Informationen mit Ihren übereinstimmen."
Seine Frau Adele versuchte einzulenken.
"Was mein Mann damit sagen möchte ist, dass es in Zukunft schön wäre, direkt über solche Dinge informiert zu werden. Aber das ist jetzt nicht so schlimm, wir freuen uns für dich Gio' und natürlich legen wir das Schicksal unserer Erstgeborenen vertrauensvoll in deine Hände."
Amen hätte Alba liebend gern hinzugefügt, aber sie verkniff es sich. Valentina schaute die ganze Zeit nur hin und her und schien eher abwesend.
Papa gab nach und aß weiter, als ob nichts gewesen wäre.
"Aber Sie haben Recht Signore Gentile. Es tut mir leid und es wird nicht wieder vorkommen", sagte Giorgio, doch Papa aß weiter und hörte nicht zu.
***
"Wann kommt deine Mutter wieder?", fragte Alba, als sie von Giorgio abließ und ihren Kopf auf seine Brust legte. Alba hörte sein Herz wild pochen. Sie lagen in seinem Bett, die weiße Bettwäsche zerwühlt und zerknittert vom vielen Sex der vergangenen Tage. In ihrer Pause hatte sie ab und an eine Ausrede gefunden, die sie Francesca auftischte, um mit Giorgio schnell zum Haus hochzufahren und ihrer Lust nachzugehen. Anfangs hatte sie noch versucht, sich dagegen zu wehren, redete sich ein, dass es das letzte Mal gewesen war, doch mittlerweile spürte sie, dass es mehr als nur Lust war. Giorgio war ihr total verfallen. Er hielt keine Sekunde mit ihr zusammen aus, ohne sie anfassen zu wollen. Und sie hatte eingesehen, dass sie ihn liebte. Es war unbeschreiblich unfair, dass sie sich ausgerechnet in den Mann ihrer Schwester verliebte. Und wenn sie abends im Bett lag und Valentina beim Schlafen beobachtete, fühlte sie sich schlecht. Schmutzig. Grausam.
Giorgio sprach nie über Valentina, er tat so, als ob es sie nicht gäbe. Alba fragte auch nicht sonderlich nach.
"Nächste Woche. So wie es aussieht wird es Ende des Monats zu einem Vertragsabschluss kommen."
Die Stille war ohrenbetäubend.
"Ihr heiratet in vier Monaten", sprach Alba das offensichtliche aus.
Giorgio setzte sich auf und nahm ihr Gesicht in beide Hände.
"Ich möchte, dass du mich nach Mailand begleitest."
Sie schaute ihn überrascht an. "Ich liebe dich Alba. Ich habe nur noch nicht den Mut gefunden, es deiner Schwester und deiner Familie zu sagen, aber es wird passieren."
"Meine Eltern bringen mich um! Sie werden mich alle hassen -"
"Na und! Dann werden die uns halt hassen, wen interessiert das?! Wir haben uns und leben dann in Mailand, weit weg von diesem Ort hier. Wir werden Kinder haben und all das, was du dir wünschst. Uns wird nichts fehlen."
Alba wurde es schwer ums Herz. Ihr wurde allmählich die Aussichtslosigkeit ihrer Situation bewusst. Sie liebte ihre Familie und ein Leben ohne sie, war unvorstellbar.
"Hey Kleines, nicht weinen. Ich werde dafür sorgen das alles gut geht." Er küsste sie sanft und Alba spürte, dass er mehr wollte. Also gab sie sich ihm hin, wie immer und verdrängte so all ihre Sorgen und Ängste.
***
Francesca saß an ihrer Maschine und sah kurz auf, um Alba zu begrüßen, diese hastete schnell zu ihrem Platz. Fünf Minuten zu spät. Mist!
"Na Bella, wieder fünf Minuten. Du solltest ihm sagen, dass er dich immerhin pünktlich hier wieder absetzten soll.“, flüsterte Francesca. Sie hatte es geahnt, es wäre auch ein Wunder, wenn nicht. Alba schaute Francesca an, die wiederrum an dem Unterrock weiter nähte, der bis heute Abend fertig sein musste. Sie ließ ihre Schultern hängen und fühlte sich wiederwertig. Bestimmt hielt Francesca sie für eine kaltblütige Ehebrecherin.
"Hey, mir ist es egal, was du mit wem so treibst in deiner Freizeit. Du musst wissen was du tust, aber bedenke, dass du auch mit den Konsequenzen leben musst", sagte Albas Freundin. Alba hatte nicht auf Giorgios Angebot, mit nach Mailand zu gehen reagiert, weil sie einfach nicht wusste, ob sie bereit war für diesen endgültigen Schritt. Und nun saß sie hier und spürte wieder mal seine Blicke, überall auf ihrem Körper. Sie musste sich nicht mal umdrehen. Sie wusste das er da oben saß und sie anstarrte.
"Francesca, was soll ich nur tun?", fragte sie verzweifelt.
"Liebes, da kann ich dir leider nicht weiterhelfen."
Zwei Tage später saßen Valentina, ihr Verlobter und ihre Eltern mit Alba am Tisch und aßen zu Abend. Es war ein lauwarmer Sonntagabend. Alba hatte sich ein leichtes Baumwollkleid übergezogen und ihre nackten Füße auf den freien Stuhl gegenüber gelegt. Sie hatte von Giorgio roten Nagellack geschenkt bekommen, zu ihrem Namenstag letzte Woche und das leuchtende Rot auf Albas nackten Füßen stach ihm sofort ins Auge.
Mama stellte die Teller auf den Tisch und mahnte Alba, die Füße doch wieder runterzunehmen.
"Franco, rede du bitte mit der Kleinen. Sie ist unerhört zurzeit", bat Mamma ihren Gatten.
Doch dieser grunzte nur und hörte weiter seinem Fußballspiel im Radio zu.
"Wenn du dich weiterhin so benimmst, wird dich wirklich keiner heiraten. Kein Mann mag eine Frau, die tut wonach ihr der Kopf steht", sagte Valentina. Giorgio musste schmunzeln.
"Apropos, rate mal, wer Interesse an deiner kleinen Schwester gezeigt hat?", warf Mamma ein.
Alba spürte, wie sich Giorgios Nacken verspannte. Selbst Papa Gentile schaute kurz auf.
"Sag! Ich platzte gleich vor Neugier!", drängte Valentina.
"Giuseppe Chiavani."
Das hatte selbst Alba überrascht.
Giuseppe Chiavani war zwei Jahre älter als Alba. Er arbeitete am Bahnhof als Schaffner und hatte schon aufregende Orte gesehen. Seine Eltern waren nicht arm, aber auch nicht reich, sondern gehörten zur stabilen Mittelschicht. Er war Einzelkind und gutaussehend. Bis jetzt dachte Alba immer er sei verzaubert. So nannte sie die Homosexuellen. Es klang nicht so vulgär und ihr gefiel der Gedanke, dass man solche Orientierungen auch nett umschreiben konnte, statt es gleich als eine Art Krankheit zu behandeln. Giorgio bemerkte Alba‘s Veränderung.
"Ach, ich dachte bis heute immer er sei ein Homo."
"Gio'! Hier in Cavalina gibt's sowas nicht, das ist eine Todsünde", sagte Valentina halb lachend.
"Damals, im alten Pompeji war Homosexualität nichts Verwerfliches. Es gab Freudenhäuser, in denen man solchen Neigungen frei nachgehen konnte", entgegnete Alba.
Mamma gab ihr einen Klaps auf dem Hinterkopf.
"Lass solche dummen Aussagen. Sowas dulde ich nicht in meinem Haus. Franco sag doch nun endlich mal was!"
"Hör auf deine Mutter, Alba", kam es halblaut bei ihr an.
Valentina lehnte sich vor und lachte schelmisch.
"Giuseppe also. Was wirst du tun? Wirst du seiner Bitte nachgeben? Ich finde ihn ja ganz niedlich." Giorgio schnaubte.
Seine Verlobte legte ihre Hand auf seine.
"Natürlich nicht im Vergleich zu dir, Amore."
Die Situation war Alba zu unangenehm. Sie setzte sich auf, denn die Eifersucht traf sie völlig unerwartet.
"Mal sehen, vielleicht werde ich es tun. Er ist wirklich ganz süß", sagte sie nebenbei. Giorgio reagierte nicht darauf und bald begannen sie, zu essen.
Mamma sprach noch davon, dass man munkelte, in diesem Dorf eine Wasser- und Telefonleitung legen zu wollen. Sie hatte das Gerücht auf dem Wochenmarkt aufgefangen. Ganz aufgeregt und untypisch für Papa, ging er auf das Thema ein und bald entbrannte eine hitzige Diskussion darüber, ob Cavalina so traditionell bleiben, oder sich modernisieren sollte.
Valentina und Giorgio stiegen mit ein, doch Alba enthielt sich einer Meinung. Sie dachte über Giorgios Reaktion nach, wie egal es ihm war, dass sie eventuell mit einem anderen Mann ausgehen würde.
Einen Augenblick lang dachte sie ernsthaft darüber nach es zu tun. Vielleicht wäre es das Beste für alle. Giorgio würde mit Valentina wegziehen und mit der Zeit würde sie ihn endlich vergessen können. Und wer weiß, vielleicht würde sie aufhören, ihn zu lieben. Sie wünschte sich so sehr, dass sie das wirklich könnte, ihn nicht mehr lieben.
Papa und Giorgio setzten sich nach dem Essen in ihre Sessel und rauchten eine Zigarre, während die Frauen in der Küche das Geschirr abspülten.
"Alba Kleines, geh doch bitte raus und pump uns noch einen Eimer Wasser. Das hier ist schon viel zu schmutzig", bat Mamma sie.
Alba, die den Bogen durch Verhalten ohnehin schon etwas überspannt hatte, schnappte sich den Eimer neben der Tür und machte sich auf den Weg. Die Pumpe war einige Meter die Straße runter und sie war froh, dass sie rauskam. Cavalina bei Dunkelheit war bezaubernd. Man sah hier und da in den Bergen und Hügel kleine Lichter funkeln, aus den Hütten und Häusern, in denen gerade zu Abend gegessen wurde. Die Wege und Gassen waren leer und Alba erreichte bald die kleine Pumpe, gleich an der Rückwand der kleinen Dorfkapelle. Wie aus dem Nichts, presste sie jemand an die Wand. Sie dachte an einen Überfall und wollte schon lauthals um Hilfe schreien.
"Du willst also drüber nachdenken?", fragte Giorgio in ihr schwarzes Haar.
"Gio' spinnst du? Du hast mich zu Tode erschreckt!"
Er drehte sie zu sich und sie sahen einander an.
"Ich möchte nicht, dass du mit einem anderen Jungen ausgehst."
"Ach ja? Tja ich finde, dafür, dass du verlobt bist, hast du viele Ansprüche an mich. Ich werde sehen was ich mache", sagte sie, doch meinte es nicht so.
Er drückte sie gegen die Mauer und küsste sie, gleich unter dem Glockenturm der Kirche. Der Eimer fiel krachend um, doch beide nahmen es nicht mehr wahr. Sie küssten sich sehr leidenschaftlich.
Er schob Alba die Wand hoch und sie liebten sich an Ort und Stelle, in der Dunkelheit in einer verborgenen Ecke.
Dann hörte sie die Kapellentür, die sich öffnete und sah jemanden rauskommen.
Alba riss panisch die Augen auf, auch Giorgio hatte es gehört. Sie versuchte sich von ihm zu befreien, doch er ließ es nicht zu, wollte einfach nicht aufhören. Er legte seine Hand über ihren Mund und signalisierte ihr still zu sein.
"Ich meine, etwas gehört zu haben", murmelte die Stimme von Padre Ferro in der Ferne.
Giorgio lies nicht von Alba ab und machte einfach still weiter. Sie ließ es zu und musste zugeben, dass diese ganze Situation einen gewissen Reiz hatte.
Die Schritte entfernten sich wieder.
"Hm, vielleicht ein Waschbär oder so", stellte der Priester fest und kurz darauf schloss sich die Kirchentür wieder.
Beide kamen zum Abschluss.
Bald darauf spürte sie, dass sowohl sie selbst als auch Giorgio die Kontrolle über all das verloren hatten. Vor zwei Monaten noch war sie Jungfrau und hatte keine Ahnung von all dem und jetzt hatten sie sich hinter eine Kapelle geliebt, wie zwei Besessene.
"Sag mir, dass du nicht mit einem anderen Mann ausgehst, dass kein anderer dich anfassen darf, außer mir", forderte er, immer noch außer Atem. Sie küsste ihn, anstatt zu antworten.
***
Sie hatte es auf der Verlobungsfeier ihrer Schwester bemerkt. Man gab einen kleinen Empfang im Hause Vecchio, um sich auf die Hochzeit in acht Wochen einzustimmen.
Man hatte das Grundstück draußen vor dem Haus, mit Tischen und Stühlen bestückt. Überall waren frische Blumen und es wurden Häppchen verteilt. Die Leute, die gekommen waren, hatten sich die meiste Zeit mit Giorgio und Valentina abgegeben. Viele junge Mädchen scharten sich um Valentina und lachten hysterisch, beim Anblick ihres Verlobungsringes. Auf Bitten Albas war auch Francesca vorbeigekommen und saß nun neben ihr, ein Glas Sekt in der Hand und schon leicht angetrunken.
"Trink nicht zu viel, France' "
"Ach was, ist doch ein besonderer Anlass. Dein Geliebter und deine Schwester spielen allen heile Welt vor", flüsterte Francesca.
Alba bohrte ihre langen Finger in Francescas Rippen.
"Psst, lass das! Nicht so laut!"
"Keine Panik, es hat keiner was mitbekommen."
"Das ist doch lächerlich. Was habe ich mir dabei gedacht? Er hat so oft gesagt, dass er mit der Wahrheit rausrückt, und jetzt sitzen wir hier auf seiner Verlobung."
Die Wut kam aus dem Nichts und übermannte sie.
Francesca erhob ihr Glas und prostete ihr zu.
"Na endlich, willkommen in der Realität Schwester! Ich hatte schon Sorge, dass du etwas beschränkt bist. Aber ich habe schon davon gehört."
"Wovon?"