Albwolf - Jochen Bender - E-Book

Albwolf E-Book

Jochen Bender

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Beschreibung

Auf der Alb wird die blutig zerfetzte Leiche eines Wanderers gefunden. Handelt es sich um das erste menschliche Wolfsopfer seit über hundertfünfzig Jahren? Wegen der politischen Brisanz werden die Kommissare Jens Hurlebaus und Bianca Walter aus Stuttgart angefordert. Der Fundort wird bis zu deren Eintreffen nur schwach gesichert. Ein Fehler, denn Demonstranten überrennen die Absperrungen und vernichten wichtige Spuren. Die hitzige Diskussion, ob es tatsächlich Wölfe waren, erfasst auch das Ermittlerteam. Der Tote war Opfer einer Erpressung, ein Zeuge treibt mit Hurlebaus ein undurchsichtiges Spiel und im Hintergrund zieht die Politik ihre Fäden. Naturschützer verkünden laut, es müs-se sich um einen Angriff verwilderter Hunde gehandelt haben, da es auf der Alb keine Wölfe gebe. Währenddessen wird Kommissar Hurlebaus von seiner Vergangenheit eingeholt.

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Jochen Bender

forschte als Psychologe bei den Kriminalisten, arbeitete im Knast und unterstützte die Polizei bei Amok-Übungen.

Mittlerweile sind von dem erfolgreichen Autor acht Krimis und zahlreiche Kurzkrimis veröffentlicht. Schreiben ist sein Weg, sich kreativ mit der Welt auseinander zu setzen. Seine Markenzeichen sind spannende Unterhaltung, ein flüssiger Schreibstil und kunstvoll ineinander verflochtene Erzählstränge.

Jochen Bender

ALBWOLF

Ein Schwabenkrimi

Oertel+Spörer

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Durch den Tod einer britischen Touristin 2017 in Griechenland, die telefonisch von einem angreifenden Wolfsrudel berichtete, wurde der Autor zu diesem Krimi inspiriert. Die im Buch erwähnten Luz R, Josef Fritzl und die Polizistin Frau Atzeroth-Freier sind reale Personen der Kriminalgeschichte. Herr Armin Burger ist Pressestaatsanwalt in Ellwangen und erlaubte freundlicherweise die Verwendung seines Namens.Alle übrigen Personen und Handlungen sind frei erfunden.Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2019

Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen

Alle Rechte vorbehalten.

Titelbild: fotolia, Lonely

Gestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, Reutlingen

Lektorat: Bernd Weiler

Korrektorat: Sabine Tochtermann

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-96555-057-5

Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist.

Titus Maccius Plautus (ca. 254–184 v. Chr.)

Der stechende Schmerz in seiner rechten Wade holt ihn zurück. Langsam kommt Volker zu sich, unterbrochen von kurzen Rückfällen in die Bewusstlosigkeit. Ein gequälter Schrei entweicht seiner Brust, Tränen füllen seine Augen, kullern dann seine Wangen hinab. Benommen blickt er sich um. Es ist dunkel, eine fahle, runde Lampe verbreitet kaum Helligkeit. Er schließt die Augen, presst seine Handballen fest auf die Lider. Seine rechte Wade tut höllisch weh, ein pulsierender Schmerz kriecht von dort das Bein hinauf. Er öffnet die Augen wieder. Die fahle Lampe entpuppt sich als Vollmond, der über schwarzen, kahlen Bäumen am Himmel klebt. Ein richtiger Wolfsmond, kommt ihm in den Sinn. Nur wenige Sterne zeigen sich. Gemächlich treiben dunkelgraue Wolken am Mond vorbei.

Ein Zittern und Bibbern erfasst seinen Körper, beißende Kälte dringt immer tiefer in ihn ein. Sein Hintern und sein Rücken sind bereits taub. Warum liegt er im Freien auf dem Boden, noch dazu im Wald? Hat er nicht in der Hütte den Ofen angefeuert? Er kann sich nicht daran erinnern, bei der Eiseskälte nach draußen gegangen zu sein. Heute Morgen startete er zu einer einsamen Wanderung entlang des Nordrandweges der Schwäbischen Alb. Trotz der Kälte wollte er in der Rosensteinhütte übernachten. Zuletzt erinnert er sich an seine Brotzeit in der Hütte. Wenn er nur klar denken könnte und nicht so benommen wäre! War nicht …

»Auuu!«

Erneut brüllt er laut auf. Der Schmerz fühlt sich nicht mehr stechend, sondern eher beißend an. Endlich schaut Volker an seinem Bein hinunter. Was er dort sieht, lässt sein Herz für einen Schlag aussetzen. Ein großer, schwarzer Hund starrt ihn aus gelben Augen finster an.

»Weg da!«, brüllt Volker voller Panik. Hektisch strampelt er mit dem Bein, versucht die Bestie abzuschütteln. Die Zähne graben sich daraufhin noch tiefer in sein Fleisch. Ein drohendes Knurren erklingt.

Liebevoll betrachtet der Staatssekretär seine schlafende Frau. Wie konnte er nur so dumm sein, für den Job ihre Liebe zu riskieren? Seufzend packt er sein Handy. Das Teufelsgerät weckte ihn an diesem Sonntag schrecklich früh. Überhaupt klingelte es in den letzten Jahren viel zu oft in unpassenden Momenten. Daher kann er Karens Eifersucht gut nachvollziehen, versteht ihre Zweifel, ob sie ihm wirklich wichtiger ist als sein Smartphone. Einmal mehr sieht er sie an. Sie ist so süß, wie sie da liegt und schläft. Stumm verspricht er ihr, sich nicht länger dem Diktat seines Smartphones zu beugen, nicht ab sofort, aber bald wird es damit vorbei sein. Dann reißt er sich endlich von ihr los und verlässt das Schlafzimmer.

Der Ministerpräsident schätzt seine Bodenständigkeit und seinen Pragmatismus so sehr, dass er ihn in sein Kabinett berief. Er kann sich noch genau an den Anruf erinnern. Wie stolz er damals war! Voller Inbrunst und von ganzem Herzen wurde er zum Sekretär des Staates. Schließlich sagte der Ministerpräsident zu ihm, die Regierung braucht jemanden wie ihn, jemanden, der die Menschen versteht, der Probleme schon in ihrer Entstehung erkennt und lösen kann. Damit das Kabinett einigermaßen ungestört arbeiten und grüne Politik durchsetzen kann, braucht es einen zuverlässigen Problemlöser.

Leise summt er vor sich hin. In sich spürt der Staatssekretär noch den Rhythmus der Milonga vom Vorabend. Er will nicht mehr pragmatisch und bodenständig sein, lieber feurig und gefühlvoll. In diesem Augenblick, die Musik in sich spürend in der Küche eine stolze Haltung einnehmend und einige Schritte tanzend, ist er Tangotänzer. Ja, er will kein Staatssekretär mehr sein, lieber zu einem echten Tanguero werden! Schwungvoll führt er seine imaginäre Tanzpartnerin in Vorwärts- und Rückwärts-Ochos.

Der Moment geht vorüber. Leise seufzend sinkt er in sich zusammen und nimmt am Küchentisch Platz. Schicksalsergeben greift er sein Smartphone. Er hat schon viele Probleme gelöst, auch dieses wird sich lösen lassen. Sein Finger scrollt routiniert durch seine Kontakte. Die Datei ist riesig, enthält die Privatnummern von allen hohen Beamten und sonstigen wichtigen Repräsentanten des Landes. Wen braucht er? Zunächst die Aalener Polizeipräsidentin. Da fällt ihm ein, dass sich der Leiter der Kriminalinspektion 1, die in Waiblingen sitzt, kürzlich extrem unklug vor der Presse positionierte.

»So ein Mist!«, flucht er.

Das macht die Sache komplizierter. Auf jeden Fall muss er Waiblingen aus dem Spiel nehmen. Lösen lässt sich das Problem trotzdem und zwar so, dass die Regierung keinen Schaden nimmt.

Über die jägergrüne Motorhaube meines alten, rußenden Daimlers hinweg fixiere ich das Heck eines silbernen Kleinwagens. Mit einem irrwitzigen Tempo fliegen Häuser und Passanten vorbei. Die Immenhofer Straße führt steil bergauf und meine alte Karre ist total untermotorisiert. Dennoch gelingt es dem Kleinwagen nicht, mich abzuschütteln. Es muss am Martinshorn liegen, das mich laut tutend auf wundersame Weise den Berg hochjagt. Auf Dauer werde ich ihn trotzdem aus den Augen verlieren. Da begeht der Fahrer des flüchtenden Wagens einen fatalen Fehler. Statt der Kehre folgend nach links in die Zeller Straße abzubiegen, bleibt er weiter geradeaus auf der Immenhofer Straße. Ich frohlocke, handelt es sich doch um eine Sackgasse. Das Martinshorn klingt schrill und störend, ich will es abschalten, aber es gelingt mir nicht.

Eine unscharfe, schwarze Gestalt springt aus dem Wagen und rennt in den Wernhaldenpark. In Serpentinen schlängelt sich ein kopfsteingepflasteter Weg durch den Park hoch zur Neuen Weinsteige. Ich fliege hinter dem Flüchtenden her, renne den Weg nach oben, ohne auch nur im Geringsten außer Atem zu kommen. Wie kann das sein? Normalerweise keuche ich hier selbst bei Schritttempo. Und wieso schrillt mir das Martinshorn in unverminderter Lautstärke in den Ohren? Noch während ich mich hierüber wundere, erreichen wir die riesigen Mammutbäume im oberen Teil des Parks. Am Fuße eines der Baumriesen bricht der Mann zusammen. Halb auf einer Wurzel liegend, den Kopf an den Stamm gelehnt, sieht er zu mir auf. Ich grinse und hole die Handschellen aus der Tasche meiner Lederjacke. Um sie ihm anzulegen, beuge ich mich zu ihm hinab. Genau in diesem Augenblick verwandelt er sich in eine blutende, zerfetzte Leiche. Erschrocken zucke ich zurück, stolpere und stürze mit einem lauten Poltern zu Boden.

Verwirrt sehe ich mich um. In meinem Wohnzimmer liege ich zwischen Couch und Glastisch auf dem Boden. Bin ich auf der Couch eingeschlafen? Ich berapple mich und setze mich auf das schwarze, von meinem Körper noch warme Leder. Mein Blick fällt auf ein bauchiges Glas, darin ein Rest des schweren Rotweins, dem ich meinen Brummschädel verdanke. Missmutig hebe ich den Blick. Durch das Panoramafenster starre ich auf den Wasen, dahinter die Hügel des Stuttgarter Ostens, über die sich ein blassblauer Himmel spannt. Es muss bereits seit einiger Zeit Sonntag sein. Ich schüttele den Kopf, was dieser augenblicklich mit höllischen Schmerzen beantwortet. Mein Körper ist total verschwitzt, vermutlich eine Folge des Albtraumes. Erneut erscheint das Bild der zerfetzten Leiche am Fuße des Baumriesen vor meinem inneren Auge. Auch das Martinshorn schaltet sich wieder ein. Verliere ich gerade den Verstand? Erst allmählich begreife ich, dass ich die Türklingel höre, mit der jemand Sturm läutet. Wer wagt so etwas an einem Sonntagmorgen? Es kann nur die Nachbarin sein, die sich gestern über die von mir nicht gemachte Kehrwoche beschwerte! Na warte, die alte Vettel aus dem Nachbarhaus bekommt jetzt was zu hören! Zornig stürme ich zur Tür und reiße sie auf.

»Laugenbrötchen oder lieber Croissant?«

Irritiert starre ich auf das Lächeln meiner jungen Kollegin Bianca. In jeder Hand hält sie eine Papiertüte vom Bäcker.

»Du siehst schrecklich aus. Offen gesagt, miefst du auch. Am besten du stellst dich kurz unter die Dusche, während ich einen starken Kaffee koche.«

Ohne meine Erwiderung abzuwarten, drängt sie sich an mir vorbei.

»Wieso belästigst du mich, statt mit deinen drei Kindern und deinem Mann zu frühstücken?«

»Erst duschen, dann reden!«

Ich schließe die Wohnungstür und trotte Richtung Bad. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Mittlerweile bekomme ich das Leben ohne Sonja einigermaßen hin, aber bei den einsamen Frühstücken am Wochenende falle ich regelmäßig in ein Loch. Noch vor Kurzem wollte ich mit Bianca nichts zu tun haben. Dann lösten wir gemeinsam den Dreifachmord in der Finca des GinKönigs. Jetzt freue ich mich, wenn sie mir beim Frühstück Gesellschaft leistet.

Aus dem Spiegel starrt mir ein blasses, unrasiertes Gesicht mit tief eingegrabenen Furchen entgegen. Ich stürze einige Gläser Leitungswasser hinunter. Dann lege ich die verschwitzten Kleidungsstücke ab und steige in die Dusche.

Frisch angekleidet betrete ich in die Küche. Der kleine Tisch ist hübsch gedeckt. Der Cappuccino ist perfekt. Offensichtlich beherrscht Bianca meine alte Siebträger-Maschine von De’Longhi. Sie mustert mich kritisch.

»Zu viel gesoffen?«

»Wie du weißt, interessiert Alkohol mich nicht.«

»Aber spanischem Rotwein kannst du nicht widerstehen!«

»Manchen französischen und italienischen Rotweinen kann ich ebenfalls nicht widerstehen. Aber was führt dich zu mir? Hast du dich entschlossen, deine Familie zu verlassen?«

Sie verdreht die Augen. In der Kriminalinspektion 1 gehören Bianca und ich zur Resterampe. Keiner spricht es laut aus, aber niemand will eine dreifache Mutter als festen Teampartner haben. Jeder fürchtet, dann bliebe zu viel Arbeit an ihm hängen. Bianca bemerkt das nicht oder ignoriert es. Ich gelte hingegen nur als schwieriger Charakter.

»Also nicht, was verschafft mir dann die Ehre eines Sonntagsfrühstücks mit dir?«

»Lana hat dich zum Chef einer neuen SoKo ernannt!«

Meine Laune sackt in den Keller.

»Und deswegen klingelst du am Sonntagmorgen Sturm bei mir?«

»Du warst telefonisch nicht erreichbar. Also versprach ich ihr, persönlich bei dir vorbeizuschauen.«

»Du hättest meine Nachbarn wecken können!«

»Welche Nachbarn?«

Sie sieht mich spöttisch an. Natürlich hat sie mit ihrem Einwand recht, wohne ich doch gegenüber des Cannstatter Wasens einsam im Dachgeschoss eines Gewerbebaus.

»Woher wusstest du überhaupt, dass ich zu Hause bin?«

»Wo solltest du sonst sein?«

Leider hat sie auch hier Recht. Mein Sozialleben ist extrem übersichtlich. Es behagt mir nicht, dass sie mich so gut durchschaut, obwohl wir uns erst seit wenigen Wochen kennen.

»Warum bist du so schlecht gelaunt?«

»Ich bin morgens immer schlecht gelaunt!«

»Es ist elf Uhr!«

»Eben! Für einen Sonntag ist das früher Morgen. Wieso ernennt Lana mich zum Leiter einer SoKo? Wer gehört ihr alles an?«

»Ich.«

»Aha.«

»Als deine Stellvertreterin.«

Bianca grinst stolz.

»Wer noch?«

»Bisher niemand, aber das wird schon.«

»Welchen Fall will diesmal keiner haben?«

»Einen, für den der unbeliebteste Kommissar der K1 die perfekte Besetzung als leitender Ermittler darstellt.«

»Das wird ja immer schlimmer! Wieso bin ich die perfekte Besetzung?«

»Weil du weder im Verdacht stehst, ein Öko zu sein, noch den Vertretern des traditionellen Brauchtums nahe zu stehen!«

Mit offenem Mund starre ich sie an. Ist das hier die Fortsetzung meines Albtraumes?

»Was zum Teufel ist das für ein Fall, in dem wir ermitteln sollen?«

»Auf der Ostalb wurde eine Leiche gefunden. Böse Zungen behaupten, der Wanderer sei das Opfer eines Wolfsrudels geworden. Dabei gibt es auf der Ostalb gar keine Wölfe!«

»Auf der Ostalb? Wieso bearbeiten dann nicht die Aalener Kollegen den Fall?

»Der Leiter von deren K1 ist Vorsitzender der Jägervereinigung. Letzte Woche ging seine Warnung vor Wolfsrudeln, die eine Gefahr für den Menschen darstellen, durch die Medien. Daher bat die Aalener Polizeipräsidentin den Innenminister, ein anderes Präsidium mit den Ermittlungen zu betrauen. Außerdem sitzt deren K1 ohnehin in Waiblingen. Ob jemand von dort oder aus Stuttgart hinfährt, macht auch keinen großen Unterschied mehr.«

»Also weckst du mich am Sonntag zu einer unchristlichen Zeit, weil die Waiblinger Kollegen nicht die Eier haben, der Öffentlichkeit vom tödlichen Angriff eines Wolfes zu berichten?«

»Das kann kein Wolf gewesen sein!«

»Warum nicht?«

»Weil Wölfe Angst vor uns Menschen haben. Ein Wolf würde es nie wagen, einen Menschen anzugreifen!«

Mit offenem Mund starre ich meine Kollegin an. Würde sie mit ihren drei kleinen Kindern eine Wanderung durch Wolfsgebiet unternehmen?

»Hast du es schon ausprobiert?«

»Nein.«

Ihre Miene verfinstert sich. Um einer unnötigen Diskussion zu entgehen, erhebe ich mich.

»Bringen wir den Mist hinter uns.«

Im Kurzprogramm putze ich Zähne, während Bianca die Reste des Frühstücks zurück in den Kühlschrank räumt. Für einen Moment schließe ich die Augen und atme tief durch. Wie sehr ich eine Frau vermisse, die sich um mich kümmert und hinter mir her räumt!

Beim Durchqueren des Wohnzimmers bleibt mein Blick am großen Bildschirm hängen. Ich stutze. Hat sich heute Nacht, als ich mit einigen Gläsern Wein intus auf dem Sofa lag, der Bildschirm von selbst angeschaltet? Stand dort in schwarzen Großbuchstaben auf gelbem Hintergrund An den unbeliebten Kommissar?

»Siehst du Gespenster?«

Bianca sieht mich besorgt an.

»Nein.«

Ich kann ihr unmöglich erzählen, was mir soeben durch den Kopf geht. Das muss ich geträumt haben, mein Bildschirm schaltet sich nicht von selbst an und sendet mir Schwachsinns-Botschaften! Im Flur ziehe ich meine Lederjacke über und greife nach dem Schlüssel meines alten Daimlers.

»Beides keine gute Idee.«

Sie zeigt erst auf meine Jacke, dann auf den Autoschlüssel in meiner Hand.

»Warum nicht?«

»Draußen herrschen fünfzehn Grad minus. Der Fundort der Leiche liegt mitten im Wald. Zieh dir lieber eine Daunenjacke an.«

»Mitten im Wald?«

Ich erstarre.

»Was ist los mit dir?«

Bianca sieht mich erneut besorgt an.

»Nichts, lass uns gehen!«

Eilig stürme ich aus der Wohnung. Ich kann ihr unmöglich sagen, dass ich in meinem Albtraum beim Aufwachen von einem blutigen, zerfetzten Körper, der an einen Baum lehnte, träumte. Sollen mich die Kollegen auch noch für einen esoterischen Spinner halten?

Paula kann es nicht fassen. Irgendein Idiot klingelt Sturm bei ihr. Dabei ist es Sonntag und draußen noch nicht einmal richtig hell. Sie will die Störung ignorieren, vergräbt ihr Gesicht unter dem Kopfkissen. Es hilft nichts. Der penetrante Klingelton dringt mühelos durch die Daunen. Wütend pfeffert sie das nutzlose Kissen auf den Boden und springt aus dem Bett. Wer vor der Tür steht, kann sich auf ein Donnerwetter gefasst machen! Sie reißt die Tür ihrer Wohnung auf. Ihre beste Freundin Lena lächelt sie unschuldig an.

»Bist du verrückt geworden?«, faucht Paula.

»Du warst über dein Handy nicht zu erreichen.«

»Stimmt. Hast du dir auch mal überlegt, warum nicht?«

Einmal mehr ist Lena beeindruckt, wie finster ihre Freundin dreinschauen kann. Einschüchtern lässt sie sich hiervon jedoch nicht mehr. Sie lächelt entschuldigend, ehe sie antwortet.

»Wahrscheinlich, weil du nicht gestört werden willst.«

»Genau! Wieso störst du mich trotzdem?«

»Weil dein Typ gebraucht wird.«

Paula sieht ihre Freundin misstrauisch an. Diese wirkt fiebrig erregt.

»Von wem? Etwa von dir?«

»Quatsch!« Lena schiebt sich an ihr vorbei. »Bekomme ich einen Kaffee? Dann erzähle ich dir, worum es geht.«

»Nenne mir einen Grund, warum ich dich nicht davonjagen und mich wieder hinlegen sollte!«

Mürrisch folgt Paula ihrer Freundin in die Küche.

»Ganz einfach, weil ich deine beste Freundin bin! Außerdem bist du neugierig und willst erfahren, was mich am frühen Sonntagmorgen in deine Bude führt.«

Während Lena tiefschwarzes Pulver in die Caffettiera schaufelt, lächelt sie ihrer Freundin zu.

»Okay, ich gebe mich geschlagen.«

Paula nimmt auf dem einzigen gepolsterten Stuhl in der winzigen Küche Platz. Das gelbe Kunstleder ist zerschlissen, aus einem Riss quillt zerbröselnder Schaumstoff. Dennoch ist es die bequemste Sitzgelegenheit. Um sich vor der Kälte zu schützen, schlägt sie ihre nackten Beine unter.

»Schieß los, was führt dich her?«

»Die Wölfe brauchen unsere Hilfe.«

»Die Wölfe?« Elektrisiert richtet sie sich auf. »Wölfe sind nice, fast so nice wie Werwölfe. Weißt du eigentlich, dass gerade Wolfsmond ist?«

»Wolfsmond?«

Lena sieht ihre Freundin ratlos an.

»Wolfsmond oder Wolfsmonat nannten die Germanen den Mond nach der Wintersonnenwende, ehe sich die vom römischen Gott Janus abgeleitete Bezeichnung Januar durchsetzte. Wo brauchen die Wölfe uns?«

»Auf der Ostalb, der dortige Oberjäger ist ein hohes Tier bei den Bullen und will den Wölfen einen Mord unterschieben. Wenn wir ihm nicht auf die Finger klopfen und genau hinschauen, erzählt er das alte Märchen vom bösen Isegrim.«

»Das müssen wir verhindern!« Paula springt auf. »Ich ziehe mir kurz etwas über, dann können wir los!«

»Nur keine Hektik, der nächste Zug fährt erst in einer Stunde. Wir können noch in Ruhe einen Kaffee trinken. Während du dich anziehst, hole ich beim Bäcker ein paar Körnerbrötchen.«

Beim Verlassen des Hauses überfällt uns beißende Kälte. Auf Biancas Drängen trage ich einen dicken, von Sonja gestrickten Pullover unter meiner Lederjacke. Trotzdem schlottere ich bei den wenigen Schritten zum Auto. Ihr hellblauer Kleinwagen von Renault sieht nagelneu aus. Die gesichtslosen Produkte der Gegenwart sind mir verhasst, aber mein alter Daimler verweigert bei der Eiseskälte seinen Dienst. Bianca öffnet per Funk die Türen. Wir steigen ein. Der Geruch von Plastik und Lösungsmitteln empfängt uns.

»Ist das dein Privatwagen?«

»Ja.«

Sie ist sichtlich stolz.

»Neu?«

»Gestern habe ich ihn beim Händler abgeholt.«

Klar, dass sie nicht mit meinem alten Daimler fahren will.

»Dann zeig mal, was er drauf hat.«

»Du wirst überrascht sein.«

Sie grinst mich auf eine Art an, die nichts Gutes ahnen lässt. Ohne den Motor zu starten, setzt sie den Blinker und fährt los.

»Ein Elektroauto!«

»Du hast es erfasst! Mit meiner Zero-Emission kommst selbst du heute ökologisch völlig korrekt bis auf die Ostalb.«

»Wenn der Strom uns nicht vorher ausgeht.«

»Quatsch! Der hat über dreihundert Kilometer Reichweite!«

»Na dann.«

Ich drehe die Heizungsregler voll auf.

»Weiß man denn schon, wer das Opfer deines romantischen Wölfchens wurde?«

Sie wirft mir einen genervten Blick zu.

»Ein Einzelwanderer war als Übernachtungsgast auf der Rosensteinhütte angemeldet. Vermutlich handelt es sich bei dem Toten um ihn.«

»Hütte? Was für eine Hütte?«

»Der Rosenstein ist ein Berg bei Heubach. Dort gibt es eine Alpenvereinshütte, vor der ein Jogger die Leiche fand. Der Sportler ist Mitglied der Alpenvereinssektion, der die Hütte gehört. Wenn er morgens seine Runde dreht, schaut er immer an der Hütte vorbei, ob alles in Ordnung ist. Warst du eigentlich schon einmal auf einer richtigen Hütte? Ich …«

Die Heizung des kleinen Autos verbreitet eine behagliche Wärme. Bianca plaudert vor sich hin und mich überfällt bleierne Müdigkeit. Noch ehe wir die Stuttgarter Stadtgrenze erreichen, schlafe ich tief und fest.

»Aufwachen!«

Es dauert einige Sekunden, bis ich weiß, wo ich bin.

»Was ist da draußen los?«

Dutzende aufgeregt schnatternde Menschen drängen an Biancas Wagen vorbei.

»Anscheinend hat es sich herumgesprochen, dass ein Wolf unter Mordverdacht steht.«

»Und deswegen sind die alle hier?«

»Klar, viele Menschen interessieren sich für Wölfe.«

Ungläubig schüttele ich den Kopf. Da hat mir meine Chefin Lana Lansik ja wieder eine schöne Scheiße eingebrockt. Meine Kollegin ist hingegen voll in ihrem Element. Beim Aussteigen glänzen ihre Augen. Eine vorbeilaufende Frau spricht Bianca an. Die Stimmen beider Frauen schrauben sich in kieksende Höhen. Laute der Begrüßung und des Entzückens werden ausgestoßen, dann fallen sie einander in die Arme. Seufzend verlasse ich den Renault. Eine endlose Schlange von Autos parkt auf der rechten Hälfte einer zum Parken zu schmalen Straße, auf deren linker Hälfte ein Strom Fußgänger durch den Wald aufwärts zieht. Die Unbekannte verabschiedet sich von meiner Kollegin.

»Wer war das?«

»Anne, wir haben uns im Herbst auf einer Demo kennengelernt.«

»Du gehst auf Demos?«

»Klar, warum nicht.« Sie sieht mich herausfordernd an. »Etwa, weil ich Polizistin bin?«

»So war das nicht gemeint, du hast bisher einfach nie davon erzählt.«

»Weil ich dachte, dass es dich nicht interessiert!«

Ich winke ab und stapfe los. Bestimmt schüttelt sie hinter meinem Rücken den Kopf über mich. Kurz darauf taucht sie wortlos an meiner Seite auf. Wir lassen uns vom Strom aufwärts tragen. Sie wirft ständig einen Blick auf ihre Uhr.

»Seit wann hast du eine Uhr? Bisher genügte dir doch dein Smartphone.«

»Seit gestern.«

Sie lächelt stolz über ihre zweite Neuerwerbung neben dem Elektroauto. Typisch Frau, denke ich. Bald stockt der Strom aus Menschen. Laut rufend, unsere Dienstausweise hochhaltend, drängen wir uns durch die Menge. Vereinzelt ragen Transparente oder Pappschilder aus der Menschenmenge. Auf ihnen steht: »Wölfe sind nur in Märchen böse«, »Schützt unsere vierbeinigen Freunde« und Ähnliches. Nur ganz selten klingt mit Parolen wie »Schützt unsere Kinder« Kritik an.

Endlich erreichen wir den Absperr-Kordon der uniformierten Kollegen. Offensichtlich hat die Polizeiführung Kräfte der Bereitschaftspolizei angefordert, angesichts der Menschenmassen sicherlich kein Fehler. Ich versuche, mir nicht auszumalen was passiert, wenn hier eine Panik ausbricht. Weder Rettungsfahrzeuge noch Verstärkung könnten durch die verstopfte Zufahrt hier hoch gelangen.

»Wir sind die aus Stuttgart angeforderten Spezialisten!«, verkündet Bianca den Schupos.

Ich schüttele den Kopf. Die Trottel, die den Mist hier ausbaden müssen, fände ich passender. Laut frage ich:

»Wer leitet den Einsatz hier?«

»Das bin ich!«

Ein Endzwanziger tritt einen Schritt vor, vermutlich ein frischgebackener Kommissar von der Polizeihochschule in einem seiner ersten Einsätze als Verantwortlicher. Auch das noch!

»Hören Sie, ich will mich nicht in Ihren Job einmischen, aber Sie sind viel zu wenige Beamte, um diese Menschenmenge im Zaum zu halten.«

»Ich habe bereits nach Verstärkung gefragt.«

»Und?«

Er schluckt.

»Nun, es ist Sonntag …«

»Na und? Dann müssen Sie eben energischer sein! Denken Sie an die Silvesternacht in Köln! Wenn die Sache hier aus dem Ruder läuft, nagelt der Innenminister Sie ans Kreuz.«

Sein Blick wird abweisend.

»Britta, bringst du die Kollegen zur Leiche?«

Ohne ein weiteres Wort wendet er sich ab. Hoffentlich folgt er meinem Rat. Wir folgen der blonden Beamtin mit Pferdeschwanz auf einer schmalen Schotterstraße durch den Wald. Nach wenigen Hundert Metern biegt sie von dieser scharf links ab. Auf einer kleinen Anhöhe, zwischen Bäumen versteckt, liegt eine Holzhütte mit grünen Fensterläden, davor ein mächtiger Nadelbaum, der seine Genossen deutlich überragt. Ein Mann im grauen Overall der Kriminaltechnik kommt uns entgegen.

»Sind Sie die Kommissare Hurlebaus und Walter?«

Wir nicken.

»Endlich! Stiegele, Leiter der KTU. Unser Gerichtsmediziner ist vor zwei Stunden wieder abgerauscht. Er meinte, Sie sollen sich die Leiche ansehen, bevor wir sie abtransportieren.«

Bianca und ich sehen uns ratlos an.

»Warum das?«

»Ich glaube, Dr. Mannschreck ist sauer, dass er nicht die Obduktion vornehmen darf, sondern extra ein Kollege aus Griechenland eingeflogen wird. Dabei ist die Angelegenheit seiner Meinung nach mehr als eindeutig.«

»Aber die Leiche …«

»Der macht das nichts aus, die ist ohnehin tiefgefroren. Oder zumindest auf dem Weg dorthin. Kommen Sie mit.«

Wir folgen Stiegele hinter einen aus Absperrgittern und großen weißen Planen errichteten Sichtschutz. Ungefähr in der Mitte der abgesperrten Fläche prangt eine riesige Lache gefrorenen Blutes, um die herum sich undefinierbare, blutige Häuflein verteilen. Eine Blutspur führt in Richtung des mächtigen Nadelbaumes, an dessen Fuß die ausgeweidete Leiche lehnt. Nicht die Grausamkeit des Anblicks lässt mich taumeln, sondern die absolute Gewissheit, genau dieses Bild bereits in meinem Traum gesehen zu haben.

Bianca wird leichenblass. Ihre Hände schießen in Richtung ihres Mundes. Mit vorgebeugtem Körper dreht sie sich um und eilt davon. Auch ich muss schwer schlucken. Genau wie in meinem Traum starre ich mit einer Mischung aus Faszination und Grauen auf einen zerfetzten Körper am Fuße eines mächtigen Baumriesen. Die Heftigkeit des Déjá-vus stellt meine Nackenhaare auf. Entwickle ich plötzlich übersinnliche Kräfte? Oder ergreift mich eine, wie auch immer geartete Form des Wahnsinns?

Allmählich sickern die Würgegeräusche meiner jungen Kollegin in mein Bewusstsein.

»Unsereiner wird ja nicht fürs Denken bezahlt«, murmelt Stiegele neben mir. »Aber Sie und Ihre Kollegin extra aus Stuttgart anzufordern, ist überflüssig. Sehen Sie die blutigen Pfoten-Abdrücke?«

Rings um die Pfütze aus Blut sind auf dem steinhart gefrorenen Boden einige blutige Pfotenabdrücke zu erkennen. Ich nicke.

»Wer außer einem Wolf soll das hier angerichtet haben? Und dann auch noch die Spinnerei von denen ganz oben, extra einen Gerichtsmediziner aus Griechenland einzufliegen! Was das wohl kostet?«

»Warum eigentlich gerade einen Experten aus Griechenland?«

»Weil er den Fall einer von Wölfen getöteten Touristin aus England untersuchte. Aber wegen eines Falles wird keiner zum Spezialisten. Und wie die Griechen so arbeiten …«

Er winkt ab.

»Haben Sie alle Spuren gründlich gesichert?«

»Was sollen wir hier sichern? Im Grunde stehen wir uns bei der Eiseskälte die Beine in den Bauch …«

»Die Pfotenabdrücke …«

»Haben wir selbstverständlich vermessen und fotografiert! Für wie blöd halten Sie uns eigentlich? Noch einmal: Wer außer Wölfen sollte das hier gewesen sein?«

Ich zucke mit den Achseln.

»Das hier wird richtig böses Blut geben.«

»Das ist mir klar.«

»Wirklich? Sie gehören doch auch zu denen aus der Stadt, die sich im Büro den Hintern breit sitzen und samstags in der Markthalle Bio kaufen. Von unserem Leben hier auf dem Land und was uns bewegt, haben Sie keine Ahnung! In Niedersachsen gibt es einen Krankenwagen für Wölfe, finanziert von unseren Steuern, aber auf dem Land zu wenig Ärzte für Menschen. Unsere Bauern sollen ihre Tiere aus Gründen des Tierschutzes im Freien halten. Vor dem Wolf soll sie ein hoher Elektrozaun schützen, der zugleich so tief im Boden verankert ist, dass der Räuber sich nicht unten durch graben kann. Von diesem irrsinnigen Aufwand bekommt der Bauer natürlich nur ein Bruchteil bezahlt. Wird ein Tier gerissen, gibt es theoretisch eine Entschädigung, aber nur, wenn man den Aufwand und die Bürokratie nicht scheut, sie zu beantragen. Lässt man sich davon nicht abschrecken, kommt ein staatlicher Rissgutachter, der alle möglichen Gründe sucht, warum es kein Wolf gewesen sein kann. Kein Wunder, googelt man ihn, entdeckt man, dass er zugleich als Wolfsbotschafter unterwegs ist.

Es war doch nur eine Frage der Zeit, dass es den ersten Menschen trifft. Wahrscheinlich werden die Wolfsfreunde auch jetzt alles tun, um ihre Lieblinge als unschuldig darzustellen. Das Einzige was mich an der Sache wundert, ist, dass es ausgerechnet bei uns das erste menschliche Wolfsopfer gibt.«

»Fertig?«

»Eigentlich nicht, aber Sie voll zu jammern ist eh sinnlos. Wir haben übrigens einen Spürhund angefordert, um die Fährte der Wölfe aufzunehmen.«

»Okay.«

Schweigend lasse ich das Bild auf mich wirken. Erst in diesem Augenblick erkenne ich den Baum, zu dessen Füßen die Leiche liegt.

»Das ist ja ein Mammutbaum!«

»Klar, das ist einer der Mammutbäume des Königs«, reagiert Stiegele auf meinen erstaunten Ausruf.

Verständnislos sehe ich ihn an. Er fühlt sich ermuntert.

»Manche nennen das Ganze auch die Wilhelma-Saat. König Wilhelm von Württemberg bestellte im Jahr 1864 Samen der kurz zuvor entdeckten Baumriesen und ließ sie in seinem botanischen Garten züchten. Seine Hofgärtner waren so erfolgreich, dass Tausende Bäume über das gesamte Königreich an besonders zuverlässige Förster abgegeben wurden. Ein über hundertfünfzig Jahre altes Exemplar sehen Sie hier, aber auch in Bad Wildbad, bei Gomaringen und anderswo in Württemberg sind noch Mammutbäume von damals erhalten.«

Mein Blick folgt dem Stamm mit seiner rissigen, rötlich-braunen Rinde hinauf in die Krone. Plötzlich bin ich mir sicher, einen Film gesehen zu haben, bei dem vom Toten ausgehend die Kamera den Stamm hinauf fuhr. Sendete mir der Mörder tatsächlich ein Video mit dieser Szene nach Hause auf meinen Fernseher? Als Bianca bei mir klingelte, bastelte mein Unterbewusstsein daraus dann den wirren Traum mit der an einem Mammutbaum im Wernhaldenpark endenden Verfolgungsjagd?

Das erscheint mir möglich, aber unwahrscheinlich. Soll ich Bianca fragen, was sie davon hält? Nein, besser ich behalte das vorläufig für mich. Wo ist sie überhaupt? Ich drehe mich um und begebe mich auf die Suche nach meiner Kollegin. Noch ehe ich sie erreiche, dringt mir der scharfe Geruch ihres Erbrochenen in die Nase. Das erleichtert dem Spürhund sicher nicht seinen Job.

»Geht’s wieder?«

»Tut mir leid!«

»Ist jedem von uns schon mal passiert.«

»Waren es wirklich Wölfe?«

Sie hofft auf ein Nein, ich sehe es ihrem Blick an.

»Sieht ganz so aus.«

Enttäuscht senkt sie den Kopf.

»Warum sind wir dann …«

Hinter ihr erklingt lautes Gejohle, unterbrochen von gebrüllten Kommandos. Bianca fährt herum. Gemeinsam starren wir in Richtung des Lärms. Eine Horde Schaulustiger hat die Absperrung durchbrochen oder vielleicht auch einfach nur umgangen. Lachend und johlend rennen sie auf uns zu. Einige filmen mit ihren Handys in unsere Richtung, andere klammern sich noch immer an ihren Transparenten und Schildern fest. Eine kleine Gruppe Beamter in Kampfmontur versucht, ihnen den Weg abzuschneiden. Es sind viel zu wenige und sie sind zu weit weg.

»Alle Mann hierher!«, brülle ich. »Die versauen uns total den Tatort, wir müssen sie unbedingt aufhalten!«

Den Kollegen ist ihr Unwillen anzusehen. Warum sollen sie hier ihren Kopf hinhalten? Ein junger Mann in teurer Outdoor-Kluft, im Gesicht einen rotblonden Fuselbart, weicht einem halbherzig nach ihm greifenden Beamten Haken schlagend aus. Mit dem Handy filmt er mich. Seine Augen leuchten, ein breites Lächeln klebt in seinem Gesicht. Ein Totenkopf samt gekreuzten Knochen auf seiner schwarzen Mütze soll vermutlich seine Verwegenheit ausdrücken.

»Hey!«, ruft er überrascht aus, als ich bei ihm einhake und wir gemeinsam eine Pirouette drehen. Es gelingt mir, ihn einigermaßen sanft zu Boden zu bringen, während sein Handy in weitem Bogen davonsegelt. Ich drücke ihm mein Knie ins Kreuz, halte mit der Linken seinen auf den Rücken gedrehten Arm, während ich mit der Rechten nach meinen Handschellen krame.

Aus den Augenwinkeln nehme ich einen drohend über mir auftauchenden Schatten wahr. Ich drehe den Kopf und sehe zu ihm empor. Ein Schal vermummt sein Gesicht, mit beiden Armen holt er weit mit einem langen Stock aus, an dessen Ende ein handgemaltes Schild »Wölfe sind die besseren Menschen!« befestigt ist. Will der mich umbringen?

Ich will aufspringen, verheddere mich aber mit dem linken Fuß in meinem Gefangenen und komme nicht hoch. Das Wolfs-Schild hat seinen Zenit erreicht, hält kurz inne, ehe es mit Wucht in meine Richtung herabsaust. Instinktiv reiße ich beide Arme nach oben, um den Schlag abzuwehren, als mein Angreifer nach links wegkippt, durch einen gezielten Tritt von hinten in die Kniekehle seines Standbeines zu Fall gebracht. Das Schild ändert seine Richtung, surrt eine gute Handbreit an meinem Kopf vorbei. An seiner statt starrt Bianca auf mich herab. Ihr Blick flattert leicht und ihre Pupillen sind vom Adrenalin geweitet.

»Danke!«

»Der wollte dir den Schädel einschlagen!«

Der von mir zu Fall gebrachte Totenkopf-Mann rappelt sich auf und stolpert in Richtung der anstürmenden Demonstranten. Ich versuche nicht, ihn davon abzuhalten. Auch der Irre mit dem Wolfsschild will sich davonmachen, was ich durch einen Hechtsprung verhindere. Seine Fresse gräbt sich in den Boden, was mich durchaus mit einer gewissen Genugtuung erfüllt, bin ich doch nur ein schwacher Mann, dem das Gefühl der Rache nicht gänzlich fremd ist. Bianca und drei Kollegen schirmen mich voller Ingrimm so gut es geht vor den Anstürmenden ab, während meine Handschellen einrasten. Jeder von uns hat es schon mehr als einmal erlebt, dass wir in den Augen mancher Weltverbesserer keine Menschen sind. Ich werde ihn wegen versuchter schwerer Körperverletzung anzeigen. Die Kollegen werden durch ihre Aussagen meine Anzeige untermauern. Dennoch besteht nur eine winzige Chance auf eine Verurteilung.

Der improvisierte Sichtschutz kippt um. Der fürchterlich zugerichtete Körper des Toten liegt offen da. Einige Passanten stoßen schrille Schreie aus. Eine junge Frau lässt ihr Handy fallen und schlägt beide Hände vors Gesicht. Dutzende anderer Handys verbreiten den grausigen Anblick live in die Weiten des Internets.

Eines der Videos erreicht Paula im Zug von Stuttgart nach Schwäbisch Gmünd.

»Echt krass, sieh dir das an!«

Sie hält Lena ihr Smartphone vor die Nase. Verwackelte Aufnahmen eines winterlichen Waldes voller Demonstranten und Polizisten huschen über den kleinen Bildschirm. Der Besitzer des Handys rennt auf einen aus Absperrgittern und Planen errichteten Sichtschutz zu, der teilweise umgestürzt ist. Ein großer, roter Fleck erscheint im weißen Schnee. Der Kameramann bleibt stehen und zoomt einen schaurig zugerichteten Körper heran.

»Ist das ein …«

Lena reißt ihre Hände Richtung Mund und rennt zum Klo. Belustigt verfolgt Paula den Spurt ihrer Freundin. Manchmal ist diese eine richtige Zimperliesel.

»Ist bestimmt nur ein Fake von den Bullen!«, schreibt sie als Kommentar unter das Filmchen, ehe sie ihrer Freundin folgt.

Die Toilette der Regionalbahn stinkt gewaltig. Lena kauert auf dem feuchten Boden. Angewidert verzieht Paula das Gesicht, kniet ihre Freundin doch in der Pisse von Männern, die ihr Geschäft stehend erledigten.

»Geht’s wieder?«

»Waren das wirklich Wölfe, die einen Menschen so schrecklich zurichteten?«

»Quatsch! Die Bullen haben das Ganze nur inszeniert, um alte Schauermärchen neu zu erzählen.«

»Glaubst du wirklich …«

»Der Zug fährt in den Bahnhof ein. Beeil dich, wir müssen hier raus, um in den Bus nach Heubach umzusteigen. Hier!«

Sie hält ihrer Freundin eine Handvoll Papiertücher hin. Lena wischt sich damit den Mund ab, spült alles die Toilette hinunter und will sich die Hände waschen. Dazu kommt sie jedoch nicht mehr, Paula zieht sie fort.

»Wir müssen jetzt raus, sonst landen wir in Aalen. Und da will nun wirklich keiner hin.«

Schwach protestierend lässt Lena sich von Paula wegzerren. Einmal mehr beneidet sie diese um ihre taffe Entschlossenheit. Paula kennt keine Zweifel, weiß immer genau was falsch und was richtig ist. Sie selbst lässt sich leider viel zu leicht verunsichern, fällt es ihr doch schwer zu glauben, dass die Polizei tatsächlich Videos von Toten fälscht.

Sie sind spät dran. Menschen drängen vom Bahnsteig in den Zug.

»Lasst uns gefälligst aussteigen!«, schmettert Paula ihnen entgegen.

In Erwartung dessen, was gleich passieren wird, verkrampft sich Lenas Magen. Paula geht keiner Auseinandersetzung aus dem Weg, auch keiner körperlichen. Omas und Männchen lassen sich meist von Paulas Tätowierungen, Piercings und ihrer schwarzen Lederjacke genügend einschüchtern, dass es nicht eskaliert. Die soeben in den Zug drängenden Kerle sind von anderem Kaliber. Alle tragen Funktionskleidung bekannter Marken und einen selbstgefälligen Blick zur Schau. Lena kennt solche Männer, die denken die Welt habe sich nach ihnen zu richten und befürchtet das Schlimmste.

»Hey!«, ruft Paula den in den Zug drängenden laut entgegen. »Was tragt ihr da mit euch herum?«

Beim aggressiven Ton ihrer Freundin duckt Lena sich. Der Angesprochene, ein Bär von einem Mann, entblößt jedoch lachend seine Zähne und dreht den beiden jungen Frauen sein Schild zu.

»Wölfe sind nur im Märchen böse!«, steht dort in blutroter Farbe.

»Wart ihr auf der Demo?«

»Klar.«

»Da wollen wir hin. Ist die etwa schon vorbei?«

»Die Bullen haben oben auf dem Rosenstein alles abgeriegelt. Wir fahren jetzt nach Ellwangen. Dort soll es später eine Pressekonferenz geben.«

»Nice. Da kommen wir mit.«