Alex Rider 4: Eagle Strike - Anthony Horowitz - E-Book

Alex Rider 4: Eagle Strike E-Book

Anthony Horowitz

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Beschreibung

Der Bestseller ALEX RIDER – die Vorlage zur actiongeladenen TV-Serie! Bei einer Explosion wird der Vater von Alex' Freundin schwer verletzt. Die Polizei geht von einem Terroranschlag aus. Doch der MI6 interessiert sich seltsamerweise überhaupt nicht für den Fall. Also macht sich Alex allein auf die Suche nach dem Attentäter. Dabei stößt er auf ein Geheimnis, das mit seiner eigenen Vergangenheit zusammenhängt … Band 4 der actionreichen Agenten-Reihe von Bestseller-Autor Anthony Horowitz Alex Riders Vergangenheit: eine einzige Lüge. Seine Zukunft: liegt in den Händen des MI6. Denn als jüngster Agent aller Zeiten ist er Englands stärkste Geheimwaffe! Erlebe alle Abenteuer von "Alex Rider": Band 1: Stormbreaker Band 2: Gemini-Project Band 3: Skeleton Key Band 4: Eagle Strike Band 5: Scorpia Band 6: Ark Angel Band 7: Snakehead Band 8: Crocodile Tears Band 9: Scorpia Rising Band 10: Steel Claw Vorgeschichte: Russian Roulette

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2018Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2018 Ravensburger Verlag GmbHDie englische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel Eagle Strikeby Walker Books Ltd., 87 Vauxhall Walk, London SE11 5HJ.Published by arrangement with Anthony HorowitzText © 2002 Stormbreaker Productions Ltd.Die deutsche Erstausgabe erschien unter dem Titel Die Insel des Schreckens2004 im Ravensburger Verlag GmbHCover © Digital Art by Larry RostantVerwendet mit freundlicher Genehmigung von Penguin Books USA.Aus dem Englischen von Karlheinz DürrAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-38466-2www.ravensburger.de

Amazonasdschungel, vor 15 Jahren.

Für den Marsch hatten sie fünf Tage gebraucht, hatten sich durch das dicht wuchernde, alles erstickende Unterholz gehauen, sich buchstäblich durch die schwere Luft kämpfen müssen, die schwül, feucht und still im Wald hing. Turmhohe Bäume ragten um sie herum in die Höhe; ein fremdartiges grünes, fast heiliges Licht schimmerte durch den gewaltigen Blätterbaldachin. Der Regenwald schien fast ein eigenes Bewusstsein zu besitzen; er ließ seine Stimme erklingen, wenn ein Papagei plötzlich kreischte oder sich hoch oben ein Affe von Ast zu Ast schwang. Der Wald wusste, dass sie hier waren.

Doch bisher hatten sie Glück gehabt. Natürlich waren sie angegriffen worden, von Moskitos und Stechameisen. Aber Schlangen und Skorpione hatten sie bisher verschont, und die Flüsse, die sie durchquert hatten, waren frei von Piranhas gewesen. So hatten sie ungehindert weitermarschieren können.

Sie führten wenig Gepäck mit sich, eigentlich nur eine Grundausrüstung: eine Karte, einen Kompass, Wasserflaschen, Jodtabletten, Moskitonetze und Macheten. Der schwerste Gegenstand war die 88er Winchester-Rifle mit Sucherfernrohr, mit der sie ihn töten wollten, den Mann, der hier an diesem fast unerreichbaren Ort lebte, hundertfünfzig Kilometer südlich von Iquitos in Peru.

Jeder der beiden Männer kannte den Namen seines Partners, benutzte ihn aber nie. Das gehörte zu ihrem Training. Der Ältere nannte sich Hunter. Er war Engländer, beherrschte aber sieben weitere Sprachen so fließend, dass er sich in vielen Ländern, in denen er zu tun hatte, als Einheimischer ausgeben konnte. Er war um die dreißig, sah gut aus und hatte den Kurzhaarschnitt und die wachsamen Augen eines Berufssoldaten. Der andere Mann war schlank und blond und schien seine Energie und Nervosität kaum unterdrücken zu können. Er nannte sich Cossack und war erst neunzehn. Es war sein erster Mordauftrag.

Beide Männer trugen kakifarbene Kleidung – die ideale Tarnfarbe im Dschungel. Ihre Gesichter waren grün bemalt, mit braunen Streifen auf den Wangen. Sie hatten gerade ihren Einsatzort erreicht, als die Sonne aufging. Jetzt standen sie völlig still im Wald. Sie achteten nicht auf die Insekten, die ihren Schweiß rochen und um ihre Gesichter summten.

Vor ihnen lag eine Lichtung, offenbar von Menschenhand in den Wald geschlagen und durch einen etwa zehn Meter hohen Zaun vom Dschungel getrennt. Mitten auf der Lichtung stand ein elegantes Haus im Kolonialstil mit Veranda und Fensterläden aus Holz, weißen Vorhängen und langsam rotierenden Ventilatoren. Zwei Nebengebäude aus Backsteinen standen ungefähr zwanzig Meter hinter dem Haupthaus. Die Unterkünfte der Leibwache. Mindestens zehn Wachposten patrouillierten den Zaun entlang oder überwachten das Gelände von rostigen Türmen aus. Vielleicht befanden sich noch mehr von ihnen in den Gebäuden. Aber die Wächter waren faul und unaufmerksam. Sie schlurften gedankenverloren umher und vernachlässigten ihre Pflichten. Warum auch nicht? Schließlich befanden sie sich mitten im Dschungel. Sie glaubten sich in Sicherheit.

Auf einem quadratischen Betonplatz stand ein viersitziger Hubschrauber. Der Hauseigentümer musste nur etwa zwanzig Schritte zurücklegen, um von der Haustür zum Helikopter zu gelangen. Das war der einzige Moment, in dem er zu sehen sein würde. Und genau in diesem Augenblick würde ihn ein tödlicher Schuss treffen.

Die beiden Männer kannten den Namen des Mannes, den zu töten sie gekommen waren, aber sie sprachen auch ihn nie laut aus. Cossack hatte ihn einmal erwähnt, aber Hunter hatte ihn sofort zurechtgewiesen.

»Nenne nie ein Ziel bei seinem Namen. Durch den Namen wird es zur Person. Der Name ist wie eine Tür zu seinem Leben. Wenn dann der Augenblick gekommen ist, fällt dir plötzlich sein Name wieder ein. Sein Name macht dir bewusst, dass du einen Menschen auslöschst, und lässt dich zögern.«

Das war nur eine der vielen Lektionen gewesen, die Cossack von Hunter gelernt hatte. Deshalb nannten sie ihr Ziel nur den »Kommandanten«. Er war Offizier – oder jedenfalls war er Offizier gewesen – und bevorzugte immer noch eine uniformähnliche Kleidung. Und mit den vielen Leibwächtern kommandierte er tatsächlich eine kleine Armee. Der Titel passte also zu ihm.

Der Kommandant war kein guter Mensch. Er war Drogenhändler, exportierte Kokain im großen Stil. Außerdem kontrollierte er eine der bösartigsten Banden in Peru. Seine Leute folterten und töteten bedenkenlos jeden, der sich dem Kommandanten in den Weg stellte. Doch das alles interessierte Hunter und Cossack wenig. Sie erhielten 20000 Dollar dafür, dass sie den Kommandanten umlegten – für sie hätte sich auch nichts geändert, wenn der Kommandant Arzt oder Priester gewesen wäre.

Hunter blickte auf die Uhr. Es war zwei Minuten vor acht Uhr morgens, und er war informiert worden, dass der Kommandant heute um acht Uhr nach Lima fliegen wolle. Er wusste, dass der Kommandant ein sehr pünktlicher Mann war. Hunter lud die Winchester mit einer einzigen Patrone und stellte das Zielfernrohr ein. Mehr als ein Schuss würde nicht nötig sein.

Mittlerweile hatte Cossack den Feldstecher hervorgeholt und suchte die eingezäunte Lichtung ab. Er war angespannt. Schweißtropfen rannen hinter seinen Ohren über den Nacken und sein Mund war völlig ausgetrocknet. Etwas berührte ihn plötzlich leicht am Rücken. Ob Hunter ihn mahnen wollte, ruhig zu bleiben? Aber Hunter stand ein paar Schritte entfernt und war mit dem Gewehr beschäftigt.

Und doch bewegte sich etwas.

Cossack wusste erst mit Sicherheit, dass da etwas war, als es über seine Schulter und den Hemdkragen auf seinen Nacken kroch – aber da war es bereits zu spät. Äußerst langsam drehte er den Kopf zur Seite. Und dann sah er sie, im äußersten Winkel seines Blickfelds: eine Spinne. Sie hing seitlich an seinem Nacken, knapp unterhalb des Kiefers. Er schluckte. Dem Gewicht nach hätte er sie für eine Tarantel gehalten – aber es war schlimmer, viel schlimmer. Die Spinne war tiefschwarz, mit einem kleinen Kopf und einem geradezu obszön aufgeschwollenen Körper – wie eine überreife Frucht, die jeden Moment platzen konnte. Hätte Cossack das Insekt umdrehen können, hätte er auf der Unterseite des Hinterleibs eine rote Zeichnung gefunden, die wie eine Sanduhr aussah.

Eine Schwarze Witwe. Latrodectus mactans. Eine der tödlichsten Spinnen der Welt.

Die Spinne bewegte sich, ihre Vorderbeine tasteten sich voran, sodass eines fast Cossacks Mundwinkel berührte. Die übrigen Beine hafteten noch an seinem Nacken und der große Hinterleib hing genau unterhalb seines Kiefers. Cossack wagte nicht zu schlucken. Selbst die kleinste Bewegung konnte die Spinne erregen, und eine Schwarze Witwe brauchte sowieso keine besondere Ermunterung zum Angriff. Cossack war überzeugt, dass es sich um ein Weibchen handelte, und die waren tausendmal schlimmer als die männliche Variante. Wenn sie zubiss, würden ihm ihre hohlen Zähne ein Nervengift einspritzen, das sein gesamtes Nervensystem lähmen würde. Zunächst würde er nicht viel spüren; auf seiner Haut würden höchstens zwei winzige rote Punkte zu sehen sein. Aber ungefähr eine Stunde später würden die ersten Schmerzen auftreten. Schlimme Schmerzen. Seine Augen würden zuschwellen. Er würde in Atemnot geraten und heftige Krämpfe bekommen. Und mit ziemlicher Sicherheit sterben.

Cossack spielte kurz mit dem Gedanken, ganz langsam die Hand zu heben und dann das entsetzliche Ding blitzschnell vom Hals zu fegen. Vielleicht hätte er es tatsächlich gewagt, wenn sich die Spinne an irgendeiner anderen Körperstelle befunden hätte. Aber sie schien sich an seinem Hals ausgesprochen wohl zu fühlen, vielleicht betrachtete sie genüsslich die wild pochende Halsschlagader, die sie dort zweifellos entdeckt hatte. Cossack wollte Hunter zu Hilfe rufen, aber das Risiko war zu groß, denn dabei würden sich seine Nackenmuskeln bewegen.

Er wagte kaum noch zu atmen. Hunter ließ sich mit dem Einstellen des Gewehrs sehr viel Zeit und hatte noch nicht einmal bemerkt, was mit Cossack los war. Was tun?

Schließlich pfiff er. Jede Zelle seines Körpers war auf die grauenhafte Kreatur fixiert, die an seinem Hals hing. Wieder spürte er, dass sie ein Bein bewegte, es berührte jetzt seine Lippen. Wollte die Spinne auf sein Gesicht klettern?

Hunter blickte auf und sah sofort, dass etwas nicht stimmte. Cossack stand mit verdrehtem Kopf unnatürlich still und selbst unter der Tarnfarbe wirkte sein Gesicht gespenstisch weiß. Hunter trat einen Schritt zur Seite, sodass sich Cossack nun genau zwischen ihm und der eingezäunten Lichtung befand. Er hatte das Gewehr gesenkt und die Mündung zeigte auf den Boden.

Dann sah er die Spinne.

Im selben Augenblick ging die Tür des Hauses auf und der Kommandant trat heraus, ein kurz gewachsener, dicker Mann, der eine dunkle Uniformjacke trug, die am Kragen offen stand. Er war unrasiert, paffte nervös eine Zigarette und trug einen Aktenkoffer.

Zwanzig Schritte bis zum Hubschrauber. Der Kommandant ging bereits darauf zu, während er mit den beiden Leibwächtern sprach, die ihn begleiteten. Cossacks Augen zuckten in Hunters Richtung. Er wusste, dass Hunter nur in dieser kurzen Zeitspanne Gelegenheit hatte, den Auftrag auszuführen. Außerdem wusste er, dass die Organisation, von der sie bezahlt wurden, einen Fehlschlag niemals hinnehmen würde.

Wieder bewegte sich die Spinne, und Cossack, der seine Augen nach unten verdreht hatte, konnte jetzt sogar ihren Kopf sehen: eine Ansammlung winziger glänzender Augen, die zu ihm aufblickten, hässlicher als alles andere auf der Welt. Seine Haut juckte. An der Stelle, an der die Spinne saß, schien sich die ganze Gesichtshälfte förmlich vom Schädel lösen zu wollen. Dann bewegte sich die Schwarze Witwe wieder ein wenig nach unten und verharrte schließlich an der Seite seines Halses. Cossack war vollkommen klar, dass ihm Hunter nicht helfen konnte. Er musste schießen. Jetzt!

Der Kommandant befand sich nur noch etwa zehn Schritte vom Helikopter entfernt. Die Rotoren drehten sich bereits. Cossack wollte schreien: Schieß! Der Knall würde natürlich die Spinne erschrecken; sie würde beißen. Aber das war nicht wichtig. Wichtig war nur das Gelingen ihrer Mission.

Hunter hatte zwei Möglichkeiten: Er konnte die Spinne mit der Spitze des Gewehrlaufs wegfegen. Vielleicht würde es ihm tatsächlich gelingen, die Spinne loszuwerden, bevor sie Cossack beißen konnte. Aber dann wäre der Kommandant bereits im Hubschrauber hinter schusssicherem Glas verschwunden. Oder er konnte den Kommandanten erschießen. Aber sobald er den Schuss abgegeben hatte, würde er fliehen und sich sofort im Dschungel verstecken müssen. Er hätte keine Zeit mehr, Cossack zu helfen, würde nichts mehr für ihn tun können.

Kaum zwei Sekunden vergingen. Hunter traf eine Entscheidung. Er veränderte leicht seine Position, riss das Gewehr hoch, zielte und feuerte.

Die weiß glühende Kugel blitzte vorbei und zog eine schnurgerade Linie über die Haut an Cossacks Hals. Die Schwarze Witwe wurde von der Gewalt des Schusses zerfetzt. Die Kugel flog weiter – durch den Zaun und über die Lichtung – und grub sich, mit winzigen Fragmenten der Schwarzen Witwe an ihrer Spitze, in die Brust des Kommandanten. Der Mann war gerade im Begriff gewesen, in den Helikopter zu steigen. Überrascht hielt er inne, griff sich mit der Hand ans Herz und brach zusammen. Die Leibwächter wirbelten herum, schrien wild durcheinander und starrten in den Dschungel. Vergeblich versuchten sie auszumachen, wo sich der Feind befand.

Doch Hunter und Cossack waren bereits verschwunden. Der Dschungel hatte sie innerhalb von Sekunden verschluckt. Es dauerte mehr als eine Stunde, bis sie stehen blieben, um Luft zu holen.

Cossack blutete. Über seinen Hals zog sich eine wie mit dem Lineal gezogene Linie, von der das Blut auf seinen Hemdkragen tropfte. Aber die Schwarze Witwe hatte ihn nicht gebissen. Er streckte die Hand aus und nahm die Wasserflasche, die Hunter ihm hinhielt. Gierig trank er.

»Du hast mir das Leben gerettet«, sagte er.

Hunter nickte nachdenklich. »Ein Leben gerettet und eines ausgelöscht – mit nur einem einzigen Schuss. Keine schlechte Leistung.«

Die Narbe würde Cossack für die restlichen Jahre seines Lebens am Hals tragen müssen. Aber sehr viele Jahre würden es ohnehin nicht sein. Das Leben eines Berufskillers ist oft recht kurz.

Cossack und Hunter redeten nicht mehr weiter über die Sache. Sie hatten ihren Auftrag erfüllt, nichts anderes zählte. Cossack gab Hunter die Wasserflasche zurück. Es war noch heißer geworden. Der Dschungel beobachtete still, was geschah. Die beiden Männer machten sich wieder auf den Weg, schnitten und hackten sich durch die Morgenhitze des neuen Tages.

Alex Rider lag auf dem Rücken und ließ sich von der Mittagssonne trocknen.

Er hatte im Meer gebadet, das Salzwasser rann durch sein Haar und verdunstete auf seiner Brust. Die Shorts klebten nass an seinem Körper. In diesem Moment war er so glücklich, wie er nur sein konnte: Von der ersten Minute an, in der das Flugzeug in Montpellier gelandet und er in den hell glänzenden Mittelmeertag hinausgetreten war, hatten sich die Ferien als absolut perfekt erwiesen. Alex mochte Südfrankreich sehr – die lebhaften Farben, die Düfte, die langsame Lebensweise. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber allmählich wurde er hungrig, also musste es wohl bald Mittagessen geben.

Für einen kurzen Moment war dröhnende Musik zu hören, weil ein Mädchen mit einem Radiogerät vorbeiging. Alex hob den Kopf, um ihr nachzusehen – und erstarrte. Im selben Augenblick verlöschte die Sonne, das Meer gefror zu Eis und der gesamten Welt stockte der Atem.

Alex’ Blick war dem Mädchen gefolgt und dann an ihr vorbei zu der Kaimauer gewandert, die Strand und Hafen voneinander trennte. Dort glitt gerade eine elegante Jacht heran und begann mit dem Anlegemanöver. Sie war riesig, fast so groß wie die Ausflugsschiffe, mit denen die Touristen an der Küste entlangschipperten. Auf diese Jacht allerdings würde kein Tourist jemals einen Fuß setzen. Geräuschlos glitt sie durch das Wasser und wirkte mit ihren dunkel getönten Fenstern streng und abweisend. Ihr weißer Bug ragte hoch empor wie die Kreidefelsen von Südengland. Und an der äußersten Bugspitze stand ein Mann, der unbeweglich und mit ausdruckslosem Gesicht geradeaus starrte. Ein Gesicht, das Alex sofort wiedererkannte.

Yassen Gregorovich. Kein Zweifel.

Alex hatte sich aufgerichtet, saß völlig still am Strand, auf einen Arm gestützt, die Hand halb im Sand begraben. Ein etwa 25-jähriger Mann war aus der Kabine gekommen und nun damit beschäftigt, die Jacht am Steg zu vertäuen. Er war klein und kräftig, mit überlangen, fast affenähnlichen Armen, und trug ein Netzhemd, das die Tätowierungen sehen ließ, die seine Arme und Schultern vollständig bedeckten. Ein Matrose? Yassen machte keinerlei Anstalten, dem Mann bei der Arbeit zu helfen. Ein dritter Mann lief eilig über die Hafenmole auf die Jacht zu. Er war fett und kahl und trug einen schäbigen weißen Anzug. Seine Glatze hatte zu viel Sonne abbekommen und glänzte nun in hässlichem Krebsrot.

Yassen bemerkte den Mann und ging ihm entgegen. Seine Bewegungen waren fließend und geschmeidig. Er trug Bluejeans und ein weißes Hemd mit offenem Kragen. Andere Männer hätten auf dem schmalen, heftig schwankenden Landungssteg vielleicht das Gleichgewicht verloren, aber Yassen betrat ihn mit sicherem Schritt. Er strahlte etwas Unmenschliches aus, und es war offensichtlich, dass dieser Mann mit dem sehr kurz geschnittenen Haar, den harten stahlblauen Augen und dem blassen, ausdruckslosen Gesicht kein Urlauber war. Aber nur Alex kannte die Wahrheit über ihn. Yassen Gregorovich war ein Berufskiller. Er war der Mann, der Alex’ Onkel ermordet und damit Alex’ gesamtes Leben verändert hatte. Er wurde überall auf der Welt steckbrieflich gesucht.

Was hatte dieser Mann hier am Mittelmeer zu suchen? In diesem kleinen Ferienort, hinter dem sich die Sumpfgebiete und Lagunen der Camargue erstreckten? Schließlich hatte Saint-Pierre absolut nichts zu bieten, abgesehen von seinen Stränden, den Campingplätzen, zu vielen Restaurants und einer überdimensionalen Kirche, die eher wie eine Festung aussah.

»Alex? Wo starrst du jetzt wieder hin?«, murmelte Sabina, die neben ihm lag. Alex zwang sich, seinen Blick von der Jacht zu lösen.

»Ich …« Er stockte, wusste nicht, was er sagen sollte.

»Würdest du vielleicht meinen Rücken noch mal eincremen? Ich verglühe förmlich.«

Das war typisch Sabina. Sie war schlank und dunkelhaarig und wirkte manchmal sehr viel älter als fünfzehn. Aber sie gehörte zu den Mädchen, die wahrscheinlich schon mit elf ihre Teddybären gegen Teddyboys austauschten. Sabina benutzte Lichtschutzfaktor 25 und schien jede Viertelstunde noch mehr Sonnencreme zu benötigen.

Alex warf einen Blick auf ihren Rücken, der bereits eine perfekte Bronzetönung hatte. Sie trug einen Bikini aus so winzigen Stoffteilen, dass nicht mal mehr ein Muster darauf gepasst hatte. Ihre Augen wurden von einer dunklen Dior-Sonnenbrille verdeckt, eine Imitation, die sie wahrscheinlich für ein Zehntel des Originalpreises erstanden hatte. Sie war in Tolkiens Herr der Ringe vertieft, wedelte aber gleichzeitig mit der Sonnencremeflasche.

Wieder warf Alex einen Blick zur Jacht hinüber. Yassen schüttelte gerade dem Glatzkopf die Hand. Der Matrose stand wartend in einigem Abstand daneben. Selbst aus dieser Entfernung konnte Alex sehen, dass Yassen alles unter Kontrolle hatte: Wenn er sprach, hörten die beiden anderen aufmerksam zu. Alex hatte einmal beobachtet, wie Yassen einen Mann erschoss, nur weil diesem eine Kiste aus der Hand gerutscht war. Er strahlte eine Kälte aus, gegen die selbst die warme Mittelmeersonne nichts auszurichten schien. Seltsamerweise gab es sehr wenige Menschen auf der Welt, die in der Lage gewesen wären, Yassen zu identifizieren. Alex war einer von ihnen. Hatte also Yassens Auftauchen hier etwas mit ihm zu tun?

»Alex …?«, fragte Sabina.

Die drei Männer entfernten sich von der Jacht und gingen in Richtung Ortsmitte. Alex sprang plötzlich auf, griff nach seinem T-Shirt und schlüpfte in seine Schuhe.

»Bin gleich wieder da!«, sagte er.

»Wohin gehst du denn?«

»Ich hol mir was zu trinken.«

»Ich hab doch Wasser mitgebracht!«

»Nein danke, ich brauche eine Cola.«

Doch während er hastig sein T-Shirt über den Kopf zog, wurde ihm klar, dass das keine sehr gute Idee war. Vielleicht wollte Yassen Gregorovich in der Camargue nur Urlaub machen. Oder vielleicht plante er ein Attentat auf den Dorfbürgermeister. Was auch immer, es hatte sicherlich nichts mit Alex zu tun. Außerdem wäre es ausgesprochen idiotisch, sich freiwillig noch einmal mit Yassen anzulegen. Alex erinnerte sich noch lebhaft daran, was er bei ihrem letzten Zusammentreffen geschworen hatte, damals, auf dem Dach eines Hochhauses im Zentrum von London.

Sie haben Ian Rider getötet. Eines Tages werde ich Sie töten.

Damals hatte er jedes Wort genau so gemeint – aber das war eben damals gewesen. Jetzt, in diesem Moment, wollte er absolut gar nichts mit Yassen oder mit dessen mörderischer Welt zu tun haben.

Und doch …

Yassen war hier. Und Alex musste unbedingt herausfinden, warum.

Inzwischen gingen die drei Männer die Hauptstraße entlang, die parallel zum Ufer verlief. Alex rannte quer über den Strand, wobei er an der Stierkampfarena aus weißem Beton vorbeikam, die ihm gleich am ersten Tag völlig absurd vorgekommen war – bis ihm eingefallen war, dass der Ort nur 150 Kilometer von der spanischen Grenze entfernt lag. Für heute Abend war ein Stierkampf angesagt und die Leute standen bereits jetzt vor den winzigen Kartenschaltern Schlange, um Eintrittskarten zu kaufen. Sabina und Alex hatten beschlossen, nicht hinzugehen. »Hoffentlich gewinnt der Stier«, hatte Sabina nur gemeint.

Yassen und seine Begleiter bogen nach links ab und verschwanden in Richtung Ortsmitte. Alex lief schneller, denn er wusste, wie leicht er die Männer aus den Augen verlieren konnte, wenn sie in das Gewirr der Gassen und Straßen um die Kirche herum eintauchten. Bei der Verfolgung musste er nicht besonders vorsichtig sein: Yassen schien sich hier völlig sicher zu fühlen und außerdem hätte er in diesem überfüllten Touristenort einen Verfolger wohl gar nicht bemerken können. Aber bei Yassen wusste man nie. Alex’ Herzschlag beschleunigte sich bei jedem Schritt. Sein Gaumen war völlig ausgetrocknet.

Doch dann war Yassen plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Alex blickte sich hektisch um. Auf allen Seiten drängelten sich die Leute, strömten aus den Läden und in die Restaurants, deren Tische und Stühle im Freien aufgestellt waren und in denen bereits das Mittagessen serviert wurde. Der Duft von Paella hing in der Luft. Alex verfluchte sich selbst, weil er zu weit zurückgeblieben war, es nicht gewagt hatte, sich näher an die drei Männer heranzuschleichen. Sie konnten in irgendeinem Gebäude verschwunden sein. War es nicht vielleicht sogar möglich, dass er sich das alles nur eingebildet hatte? Der Gedanke gefiel ihm, zerplatzte aber sofort wie eine Seifenblase, als er die Männer wieder erspähte. Sie saßen auf der Terrasse eines der eleganteren Restaurants am Platz und der Glatzköpfige winkte gerade den Kellner herbei.

Alex stellte sich vor einen Laden, in dem Postkarten verkauft wurden, und benutzte die Kartenständer als Sichtschutz zum Restaurant. Daneben befand sich ein Café, in dem unter großen bunten Sonnenschirmen Snacks und Drinks angeboten wurden. Er schob sich in das Café. Yassen und die anderen Männer saßen jetzt kaum noch zehn Meter von ihm entfernt und Alex konnte Einzelheiten erkennen. Der Matrose stopfte sich gierig Brotstücke in den Mund, als habe er seit einer Woche nichts mehr gegessen. Der Kahle redete leise und eindringlich auf Yassen ein, wobei er zur Betonung mit geballter Faust herumfuchtelte. Yassen hörte geduldig zu. Der Lärm auf dem Platz war so stark, dass Alex kein Wort verstehen konnte. Vorsichtig blickte er um einen der Sonnenschirme herum. Dabei rempelte er einen der Kellner an, der daraufhin eine Flut von französischen Flüchen ausstieß. Yassen blickte herüber und Alex duckte sich schnell, um nicht entdeckt zu werden.

Die Terrasse des Restaurants, auf der die Männer saßen, wurde durch eine Reihe hoher Pflanzen in Holztöpfen vom Café getrennt. Alex schlüpfte zwischen zwei Töpfen hindurch und schlich von dort schnell in den dunkleren Innenraum des Restaurants. Hier war er weniger den Blicken ausgesetzt und fühlte sich sicherer. Die Küche war direkt hinter ihm; auf einer Seite war eine Bar und vor ihm standen ungefähr ein Dutzend Tische, an denen jedoch niemand saß. Alle Gäste hatten es vorgezogen, draußen auf der Terrasse zu essen, und die Kellner eilten mit beladenen Tabletts vorbei.

Alex spähte durch die offene Tür – und hielt den Atem an: Yassen war aufgestanden und kam direkt auf ihn zu! Hatte er Alex bemerkt? Doch dann sah er, dass Yassen etwas in der Hand hielt. Ein Handy. Wahrscheinlich hatte er einen Anruf erhalten und kam nun in den leeren Innenraum des Restaurants, um ungestört telefonieren zu können. Noch ein paar Schritte bis zur Tür. Alex blickte sich schnell um und bemerkte hinter sich eine kleine Nische, die durch einen Perlenvorhang vom restlichen Raum abgetrennt war. Schnell huschte er durch den Vorhang und fand sich in einer kleinen Abstellkammer wieder, in die er mit knapper Not noch hineinpasste. Er zwängte sich zwischen Besen, Eimer, Schachteln und Kisten mit leeren Weinflaschen. Der Perlenvorhang bewegte sich noch kurz, dann hing er wieder still herab.

Und Yassen war plötzlich sehr nahe.

»Ich bin vor zwanzig Minuten angekommen«, sagte er gerade. Er sprach Englisch und sein russischer Akzent war kaum hörbar. »Franco wartete bereits auf mich. Die Adresse stimmt. Es ist alles arrangiert.«

Stille. Alex versuchte, den Atem anzuhalten. Er befand sich nur Zentimeter von Yassen entfernt, nur durch einen dünnen Vorhang aus bunten Perlenschnüren von ihm getrennt. Yassen war aus der gleißenden Mittagssonne gekommen und Alex hatte es nur der Dunkelheit im Innenraum des Restaurants zu verdanken, dass Yassen ihn nicht sehen konnte.

»Wir machen es heute Nachmittag. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Es ist besser, wenn wir nicht mehr telefonieren. Ich werde Ihnen genau berichten, wenn ich wieder in England bin.«

Yassen Gregorovich beendete das Gespräch und erstarrte dann plötzlich. Alex konnte förmlich sehen, wie ein innerer Instinkt den Killer warnte, dass er belauscht worden war. Das Handy lag noch in seiner Hand, aber es hätte genauso gut ein Messer sein können, bereit zum tödlichen Wurf. Yassens Kopf bewegte sich nicht, aber seine Augen huschten hin und her und suchten nach dem Feind. Alex blieb hinter dem Vorhang und wagte nicht, sich zu bewegen oder auch nur zu atmen. Was sollte er jetzt tun? Er unterdrückte den Impuls, einfach loszulaufen und sich ins Freie zu retten. Nein – aussichtslos! Nach nicht mal zwei Schritten würde er tot sein. Yassen würde ihn umbringen, ohne zu prüfen, wen er da vor sich hatte und warum er belauscht worden war. Ganz langsam blickte sich Alex nach einer Waffe um, nach irgendetwas, womit er sich verteidigen konnte.

Plötzlich flog die Küchentür auf und ein Kellner kam mit einem voll beladenen Tablett heraus, eilte schwungvoll um Yassen herum und rief gleichzeitig etwas über die Schulter zurück in die Küche. Yassens Erstarrung löste sich. Er ließ das Handy in seine Hosentasche gleiten und ging wieder zu den beiden Männern nach draußen.

Alex stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

Was genau hatte er erfahren?

Yassen Gregorovich war hier, um jemanden umzubringen; das schien Alex absolut sicher. Die Adresse stimmt. Es ist alles arrangiert. Aber wenigstens hatte Alex seinen eigenen Namen nicht gehört. Also hatte er recht gehabt: Das Opfer war wahrscheinlich irgendein Franzose, der hier in Saint-Pierre wohnte. Die Sache sollte am Nachmittag über die Bühne gehen. Ein Schuss, vielleicht ein Messer, das kurz im Sonnenlicht aufblitzte. Ein winziger Augenblick nackter Gewalt. Und irgendwo auf der Welt würde sich der Auftraggeber zurücklehnen, zufrieden, wieder einen Feind weniger zu haben.

Die Frage war nur, ob Alex etwas unternehmen sollte.

Er schob den Perlenvorhang beiseite und verließ das Restaurant durch den Hintereingang. Erleichtert stellte er fest, dass die Straße vom Platz wegführte. Erst jetzt brachte er seine Angst so weit unter Kontrolle, dass er versuchen konnte, seine Gedanken zu ordnen. Natürlich konnte er zur Polizei gehen, konnte ihr erzählen, dass er ein Spion ist, der schon dreimal für den Britischen Militärgeheimdienst MI6 gearbeitet hat. Ja, er könnte sagen, ich habe Yassen ganz sicher wiedererkannt und ich weiß, wer und was der Russe ist, und überhaupt findet heute Nachmittag ein Mord statt, aber er kann noch verhindert werden.

Und was würde ihm das einbringen? Brüllendes Gelächter. Sein Französisch würden die Polizisten zwar gut verstehen, ihm aber kein Wort abkaufen. Schließlich war er nichts weiter als ein 14-jähriger Schüler aus England, ein braun gebrannter Junge mit Sand im Haar. Sie würden ihn bedauernd ansehen und dann zur Tür hinausschieben.

Okay, zweite Möglichkeit: Er konnte Sabina und ihre Eltern einweihen. Aber auch das wollte Alex nicht. Schließlich hatten sie ihn hierher eingeladen. Warum sollte er ihnen mit dieser Mordgeschichte die Ferien verderben? Außerdem würden sie ihm wahrscheinlich genauso wenig glauben wie die Polizei. Alex hatte schon einmal versucht, Sabina die Wahrheit zu sagen, als er mit ihrer Familie ein paar Tage in Cornwall verbracht hatte. Sie hatte geglaubt, er mache Witze.

Er blickte sich um: Touristenläden, Eisdielen, unzählige glückliche Menschen, die sich durch die Gassen schoben. Wie auf einer Ansichtskarte. Die wirkliche Welt. Warum zum Teufel sollte er sich schon wieder mit Spionen und Profikillern einlassen? Er verbrachte hier seine Ferien! Alles andere ging ihn nichts an! Gar nichts! Sollte Yassen doch abknallen, wen er wollte. Alex würde ihn sowieso nicht aufhalten können, selbst wenn er es versuchte. Nein – es war weit besser, zu vergessen, dass er den Russen überhaupt kannte.

Alex holte tief Luft und ging die Straße entlang zum Strand zurück, zu Sabina und ihren Eltern. Unterwegs überlegte er, welche Ausrede er ihnen auftischen konnte: Er brauchte einen plausiblen Grund dafür, dass er so plötzlich verschwunden war.

An diesem Nachmittag ließen sich Sabina und Alex von einem Bauern aus dem Dorf nach Aigues-Mortes mitnehmen, einer Festungsstadt am Rande der Salzsümpfe. Sabina wollte sich endlich einmal von ihren Eltern abseilen, wollte sich einfach nur in ein französisches Café setzen und dem Gedrängel der Einheimischen und Touristen auf den Straßen zusehen. Sie hatte ein Punktesystem entwickelt, mit dem sie gut aussehende französische Jungs bewertete – Punktabzug gab es für dünne Beine, schiefe Zähne und miserable Klamotten. Bisher hatte keiner mehr als sieben von insgesamt zwanzig möglichen Punkten geschafft. Normalerweise hätte es Alex genossen, einfach neben ihr zu sitzen und ihr lautes, frisches Lachen zu hören.

Normalerweise. Aber nicht an diesem Nachmittag.

Nichts stimmte nun mehr. Die gewaltigen Mauern und Türme um ihn herum kamen ihm meilenweit entfernt vor und die Touristenmengen schienen sich wie in Zeitlupe zu bewegen. Nur zu gern hätte Alex diesen Nachmittag genossen. Er sehnte sich danach, einmal normale Ferien zu erleben. Aber seit er Yassen gesehen hatte, war nichts mehr wie vorher.

Alex hatte Sabina bei einem Tennisturnier in Wimbledon kennengelernt, wo er Balljunge und sie Ballmädchen gewesen waren. Sie hatten sofort Freundschaft geschlossen. Sabinas Mutter Liz war Modedesignerin, ihr Vater Edward Journalist. Geschwister hatte Sabina nicht. Hier in Südfrankreich hatte Alex den Vater noch nicht sehr oft zu Gesicht bekommen. Er war erst später mit dem Zug aus Paris angereist und hatte seither an irgendeinem Zeitungsartikel gearbeitet.

Sabinas Familie hatte ein Haus am Ortsrand von Saint-Pierre gemietet, direkt am Ufer der Petit Rhône. Es war ein sehr einfaches, für diese Gegend typisches Haus mit leuchtend weißen Mauern und blauen Fensterläden. Das Dach war mit Lehmziegeln gedeckt, die im Laufe der Jahre von der Sonne dunkel gebrannt worden waren. Das Haus hatte drei Schlafzimmer und im Erdgeschoss eine luftige, altmodisch eingerichtete Küche. Von hier führte eine Tür in den verwilderten Garten und zum Swimmingpool. Direkt daneben lag ein Tennisplatz, durch dessen Asphaltbelag Unkraut spross. Alex hatte das Haus sofort gemocht. Von seinem Schlafzimmerfenster aus hatte er einen wunderbaren Blick über den Fluss. Abends saßen er und Sabina oft stundenlang auf einem alten Weidensofa, unterhielten sich oder schauten gedankenverloren auf den Fluss hinaus.

Die erste Ferienwoche war wie im Flug vergangen. Sie schwammen im Pool oder im Meer, das kaum eine Meile entfernt war. Sie wanderten, kletterten, fuhren mit Kanus auf dem Fluss oder ritten über die Felder (allerdings nur ein einziges Mal, denn Reiten gehörte nicht zu Alex’ Lieblingssportarten). Alex mochte Sabinas Eltern sehr. Sie gehörten zu den Menschen, die noch nicht vergessen hatten, dass sie selbst auch einmal Teenager gewesen waren; sie ließen ihn und Sabina selbst entscheiden, wie sie ihre Ferien verbringen wollten. Die letzten sieben Tage waren einfach wunderbar gewesen.

Bis Yassen aufgetaucht war.

Die Adresse stimmt. Es ist alles arrangiert. Wir machen es heute Nachmittag …

Was hatte der Russe nur in Saint-Pierre vor? Welches böse Schicksal hatte ihn ausgerechnet hierhergebracht und dafür gesorgt, dass schon wieder ein dunkler Schatten auf Alex’ Leben fiel? Trotz der Nachmittagshitze überlief den Jungen ein Schauder.

»Alex?«

Er merkte plötzlich, dass Sabina mit ihm sprach, und drehte sich zu ihr. Sie starrte ihn mit besorgter Miene über den Tisch hinweg an. »Du bist meilenweit weg! Woran denkst du denn jetzt wieder?«, fragte sie.

»An nichts Besonderes.«

»Den ganzen Nachmittag warst du irgendwie anders. Ist heute Morgen etwas passiert? Als du plötzlich vom Strand verschwunden bist?«

»Das hab ich dir doch schon gesagt. Ich wollte etwas trinken.« Er hasste es, sie anlügen zu müssen, aber er konnte ihr unmöglich die Wahrheit sagen.

»Ich hab gerade gesagt, dass wir bald aufbrechen sollten. Ich habe meinen Eltern versprochen, dass wir spätestens um fünf Uhr zu Hause sind. Oh mein Gott! Schau dir nur den Typ dort drüben mal an!« Sie zeigte auf einen Jungen, der gerade an ihnen vorbeiging. »Vier Punkte, Maximum. Gibt’s denn in ganz Frankreich keine gut aussehenden Jungs mehr?« Sie warf Alex einen kurzen Blick zu. »Von dir abgesehen, natürlich.«

»Ach ja? Wie viele Punkte schaffe ich denn?«, grinste Alex.

»Na ja …« Sabina überlegte eine Weile. »Ungefähr zwölfeinhalb«, sagte sie dann. »Aber mach dir nichts draus, Alex. In zehn Jahren bist du perfekt.«

Schreckliche Ereignisse kündigen sich manchmal schon vorher durch kleine Warnzeichen an.

Ein solches Warnzeichen war der Polizeiwagen, der in einem Eiltempo die breite, leere Straße nach Saint-Pierre entlangraste. Alex und Sabina saßen auf den Beifahrersitzen desselben Lastwagens, der sie in die Stadt gebracht hatte. Sie schauten gerade auf eine Herde Kühe hinaus, die auf den Weiden neben der Straße grasten, als ein blau-weißer Streifenwagen mit rotierendem Blaulicht den Lastwagen überholte und dann weiterraste. Alex konnte Yassen nicht aus seinen Gedanken vertreiben, und als er jetzt das Polizeiauto sah, spürte er plötzlich, wie sich sein Magen verkrampfte. Er versuchte, sich zu beruhigen. Das war sicherlich nur ein ganz normaler Streifenwagen. Wahrscheinlich hatte das alles nichts zu bedeuten.

Doch dann tauchte auf einmal ein Hubschrauber auf. Er schien ganz in der Nähe abzuheben und schwang sich über ihnen in den hellen Himmel.

»Da muss etwas passiert sein«, sagte Sabina. »Der Hubschrauber kommt direkt aus dem Dorf.«

Aber kam er wirklich aus dem Dorf? Alex war sich nicht sicher. Er schaute ihm nach, als er über sie hinwegflog und dann in Richtung Aigues-Mortes verschwand. Alex atmete immer schneller und spürte, wie sich in ihm eine grauenhafte Furcht zusammenballte.

Und dann bogen sie um die Kurve und Alex wusste, dass seine größten Ängste wahr geworden waren – aber auf eine Art und Weise, die er sich nicht einmal in seinen schlimmsten Träumen hätte vorstellen können.

Trümmer, zerborstene Mauern, verbogene Stahlträger. Dicker schwarzer Rauch stieg in sich kräuselnden Schwaden in den Himmel hinauf. Ihr Ferienhaus war ein einziger Trümmerhaufen. Nur eine Wand war unversehrt geblieben, schien vortäuschen zu wollen, dass sich der Schaden in Grenzen hielt. Aber der Rest des Hauses war verschwunden. Einfach weg. Alex erkannte sein Messingbett, das halb in der Luft hing. Ein paar blau gestrichene Fensterläden lagen etwa 50 Meter entfernt im Gras. Das Wasser im Swimmingpool war braun und schlammig. Die Explosion musste gewaltig gewesen sein.

Um die Ruine herum war eine Flotte von Einsatzwagen und Kleinbussen geparkt. Polizeifahrzeuge, Krankenwagen, Feuerwehren, Anti-Terror-Truppen. Alex kam diese Szene völlig unwirklich vor: Die Fahrzeuge sahen wie bunte Spielzeugautos aus, wirkten irgendwie fremdartig auf ihn.

»Mum! Dad!« Sabina schrie. Sie sprang vom Lastwagen, noch bevor er angehalten hatte, rannte über die kiesbedeckte Auffahrt und zwängte sich zwischen den Männern der Rettungsdienste mit ihren verschiedenen Uniformen durch. Auch Alex stieg hastig aus. Der Schock lastete so schwer auf ihm, dass er den Boden kaum unter den Füßen spürte – es war, als müsse er im Erdboden versinken. Ihm war schwindlig; alles drehte sich vor seinen Augen und er glaubte, ohnmächtig zu werden.

Niemand sprach ihn an, als er auf das Haus zuging. Als ob er gar nicht existierte. Dann tauchte Sabinas Mutter plötzlich von irgendwoher auf, das Gesicht von Asche und Tränen überzogen, und er dachte, wenn sie diese Explosion überlebt hatte, würde vielleicht auch Edward Pleasure überlebt haben. Doch als er sah, dass Sabina heftig zu zittern begonnen hatte und ihrer Mutter weinend in die Arme fiel, wusste er, dass alles schlimmer war. Viel schlimmer.

Er kam näher. Liz versuchte, ihrer Tochter zu erklären, was geschehen war.

»Wir wissen nicht genau, wie es passiert ist. Dad ist mit dem Hubschrauber nach Montpellier gebracht worden. Er lebt, Sabina, aber er ist sehr schwer verletzt. Wir gehen jetzt zu ihm. Du weißt, dass dein Vater eine Kämpfernatur ist. Aber die Ärzte sind nicht sicher, ob er durchkommt. Wir wissen es einfach nicht …«

Brandgeruch hüllte Alex ein. Der Rauch verdunkelte die Sonne. Seine Augen begannen zu tränen und er rang nach Luft.

Das alles war seine Schuld.

Er wusste nicht, warum es passiert war, aber er wusste mit absoluter Sicherheit, wer dafür verantwortlich war.

Yassen Gregorovich.

Geht mich nichts an, hatte Alex gedacht. Das hier war die Quittung.

Der Polizist, der sich um Alex kümmern sollte, war jung und unerfahren und suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. Das lag nicht nur daran, dass er Schwierigkeiten mit dem Englischen hatte, sondern vor allem daran, dass ein derartig heftiger Anschlag an diesem so abgelegenen, ruhigen Zipfel im tiefsten Süden Frankreichs eher eine Seltenheit war. Im schlimmsten Fall hatte er sich mit betrunkenen Autofahrern oder kleinen Handtaschendiebstählen zu befassen. Jetzt allerdings hatte er es mit einer völlig ungewohnten Situation zu tun.

»Eine furchtbare Sache«, sagte er. »Kennst du Monsieur Pleasure schon lange?«

»Nein, nicht sehr lange«, antwortete Alex.

»Er wird die bestmögliche Behandlung bekommen«, fuhr der Polizist fort und lächelte ermutigend. »Madame Pleasure und ihre Tochter fahren jetzt ins Krankenhaus. Sie haben uns gebeten, uns um dich zu kümmern.«

Alex saß auf einem Gartenstuhl im Schatten eines Baumes. Es war kurz nach fünf und noch immer sehr heiß. Das Flussufer war nur wenige Meter entfernt und Alex hätte viel dafür gegeben, jetzt ins Wasser springen und einfach weit wegschwimmen zu dürfen: immer nur weiterschwimmen und diese furchtbare Geschichte hinter sich lassen.

Vor ungefähr zehn Minuten waren Sabina und ihre Mutter zum Krankenhaus abgefahren und Alex war mit dem jungen Polizisten allein zurückgeblieben. Man hatte ihm den Stuhl in den Schatten gestellt und ihm eine Flasche Wasser gereicht, aber es war klar, dass niemand so recht wusste, was man mit ihm anfangen sollte. Schließlich gehörte er nicht zur Familie. Er hatte eigentlich gar kein Recht, hier zu sein.

Inzwischen waren noch weitere Beamte aufgetaucht – höhere Polizeibeamte und Feuerwehrkommandanten. Langsam bahnten sie sich ihren Weg durch die Trümmerhaufen, drehten hier und dort Holzstücke oder ein zerbrochenes Möbelstück um, als hofften sie, darunter die ganze Wahrheit über das zu finden, was geschehen war.

»Wir haben das britische Konsulat verständigt«, sagte der junge Polizist gerade. »Sie schicken jemanden, der dich abholt und nach Hause zurückbringt. Er muss allerdings aus Lyon anreisen, und das ist ziemlich weit weg. Deshalb musst du heute noch in Saint-Pierre übernachten.«

»Ich weiß, wer es getan hat«, sagte Alex.

»Comment?«

»Ich weiß, wer dafür verantwortlich ist«, wiederholte Alex und blickte zu der Hausruine hinüber. »Fahren Sie zum Hafen, dort finden Sie eine Jacht am Kai. Ich weiß nicht, wie sie heißt, aber Sie können sie eigentlich nicht verfehlen. Eine riesige weiße Jacht. Auf der Jacht ist ein Mann, sein Name ist Yassen Gregorovich. Sie müssen ihn verhaften, bevor er verschwinden kann.«

Der Polizist starrte Alex verblüfft an. Alex fragte sich, ob er überhaupt etwas verstanden hatte.

»Verzeihung … Was hast du da gerade gesagt? Dieser Mann, Yassen …«

»Yassen Gregorovich.«

»Kennst du ihn?«

»Ja.«

»Wer ist das?«

»Ein Killer. Er wird dafür bezahlt, dass er Leute umbringt. Ich habe ihn heute Morgen gesehen.«

»Bitte!« Der Polizist hielt eine Hand hoch. Er wollte offenbar nichts mehr davon hören. »Warte hier.«

Alex sah ihm nach, während er auf die geparkten Streifenwagen zuging, wahrscheinlich suchte er einen seiner Vorgesetzten. Alex trank einen Schluck Wasser, dann stand er auf. Er hatte keine Lust, untätig auf einem Gartenstuhl herumzusitzen. Er ging zum Haus hinüber. Eine leichte Abendbrise hatte eingesetzt, aber der Gestank von verbranntem Holz hing schwer in der Luft. Ein kleiner Zettel, halb verbrannt und verkohlt, flatterte über den Kiesbelag der Auffahrt. Instinktiv bückte sich Alex und hob ihn auf.

Der Zettel war auf einer Seite beschrieben, Maschinenschrift:

Mehr war nicht mehr zu lesen. Die Ränder waren zu stark verkohlt.

Alex war sofort klar, was er hier in der Hand hielt. Es musste sich um eine Seite des Artikels handeln, an dem Edward Pleasure gearbeitet hatte, seit er hier im Ferienhaus angekommen war. Etwas, das mit dem Megastar Damian Cray zu tun hatte …

»Excusez-moi, jeune homme …«

Alex blickte auf. Der junge Polizist war mit einem älteren Beamten zurückgekommen – kleiner Schnurrbart, herabhängende Mundwinkel. Alex merkte sofort, mit was für einem Typ er es hier zu tun hatte. Schleimig und eingebildet. Die Uniform übertrieben korrekt. Und mit ungläubiger, ablehnender Miene.

»Du möchtest eine Aussage machen?«, fragte er. Er sprach besser Englisch als sein jüngerer Kollege.

Alex wiederholte, was er schon dem Jüngeren erzählt hatte.

»Woher kennst du diesen Mann? Den auf der Jacht?«

»Er hat meinen Onkel ermordet.«

»Und wer war dein Onkel?«

»Er war ein Spion. Arbeitete für MI6.« Alex holte tief Luft. »Ich glaube, dass ich vielleicht das Ziel für den Bombenanschlag war. Ich glaube, dass er versucht hat, mich umzubringen …«

Die beiden Polizisten unterhielten sich kurz auf Französisch, dann wandten sie sich wieder Alex zu. Alex wusste, was nun kommen würde. Der Ältere hatte seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle. Mit einer Mischung aus Mitgefühl und Besorgnis blickte er jetzt auf Alex herab. Dabei wirkte er ausgesprochen arrogant: Ich habe recht. Du weißtgarnichts.Undnichtswird mich vom Gegenteil überzeugen können. Wie ein schlechter Lehrer in einer schlechten Schule, der nichts anderes tut, als richtige Antworten abzuhaken.

»Du hast etwas Furchtbares erleben müssen«, verkündete der Polizist. »Die Explosion … wir wissen bereits, dass es ein Leck in der Gasleitung war.«

»Nein …«, begann Alex.

Der Polizist hob die Hand. »Es gibt keinen Grund, warum ein Berufskiller eine Familie in ihren Ferien umbringen sollte. Aber ich sehe, dass du völlig verstört bist. Wahrscheinlich stehst du unter einem schweren Schock und weißt nicht, was du sagst.«

»Bitte, hören Sie …«

»Wir haben jemanden vom britischen Konsulat angefordert und er wird bald hier sein. Bis dahin wird es besser sein, wenn du dich nicht in die Ermittlungen einmischst.«

Alex ließ den Kopf hängen. »Darf ich ein wenig spazieren gehen?«, fragte er mit leiser, halb erstickter Stimme.

»Wohin?«

»Nur ein paar Minuten. Ich möchte allein sein.«

»Natürlich. Aber geh nicht zu weit weg. Soll ich dir jemanden zur Begleitung mitgeben?«

»Nein danke, ich komme schon allein zurecht.«

Er drehte sich um und ging davon. Dem prüfenden Blick des Polizisten war er ausgewichen; zweifellos dachte der, dass sich Alex schämte. Aber das war okay. Alex wollte nicht, dass der Mann merkte, wie wütend er war. In ihm brodelte es, eine dunkle Wut strömte durch seinen Körper wie ein Lavastrom am Ätna. Sie hatten ihm kein Wort geglaubt! Sie hatten ihn wie ein kleines, dummes Kind behandelt!

Bei jedem Schritt schossen ihm neue Bilder durch den Kopf. Sabinas vor Entsetzen aufgerissene Augen, als sie die rauchende Ruine ihres Ferienhauses erblickte. Edward Pleasure, der zum Krankenhaus geflogen wurde. Die Jacht, die in den Sonnenuntergang segelte, mit Yassen Gregorovich an Deck: Wieder ein Auftrag erfolgreich abgehakt. Und alles war Alex’ Schuld! Das war das Schlimmste an der Sache, das Unverzeihliche. Aber Alex hatte nicht vor, die Angelegenheit einfach auf sich beruhen zu lassen. Er ließ seiner Wut freien Lauf; sie trieb ihn voran. Aber jetzt war es höchste Zeit, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.

Als er die Hauptstraße erreichte, schaute er noch einmal zurück. Die Polizisten schienen ihn bereits vergessen zu haben. Er warf einen letzten Blick auf die ausgebrannte Ruine, die noch vor ungefähr zwei Stunden sein Ferienhaus gewesen war.

Dann wandte er sich ab und begann zu laufen.

Saint-Pierre war etwas mehr als einen Kilometer entfernt. Als er das Dorf erreichte, war es früher Abend und die Straßen und Gassen waren überfüllt. Der Ort war viel belebter als sonst, es herrschte Volksfeststimmung. Im ersten Augenblick war Alex verwundert, doch dann fiel es ihm wieder ein: der Stierkampf. Er fand heute Abend statt und die Leute waren aus allen Richtungen angereist, um dabei zu sein.