Alexa hat gesagt - Lutz Spilker - E-Book

Alexa hat gesagt E-Book

Lutz Spilker

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Beschreibung

Von Knall auf Fall wird Karl zum Witwer, doch er kommt mit dem Umstand – allein zu sein – überhaupt nicht zurecht. Immerhin war er mit seiner Gundi 38 Jahre verheiratet und das lässt sich nicht so einfach abschalten. Um ihm das Alleinsein zu erleichtern, schenkt ihm sein bester Freund und Nachbar Kalle einen interaktiven Sprachassistenten. Karl ist begeistert. Er lernt die betuchte und extravagante Kosi kennen und begleitet sie auf eine Flusskreuzfahrt, die ihren Beginn in St. Petersburg nimmt und auch dort wieder endet. Karl verliebt sich in Kosi und wird ohne sein Wissen als Transportmittel für einen Diamantenschmuggel missbraucht.

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ALEXA HAT GESAGT

Nobody is perfect

Ein Roman

von

Lutz Spilker

ALEXA HAT GESAGT – NOBODY IS PERFECT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Softcover ISBN: 978-3-384-02359-9

Ebook ISBN: 978-3-384-02360-5

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Die im Buch verwendeten Grafiken entsprechen den Nutzungsbestimmungen der Creative-Commons-Lizenzen (CC).

Sämtliche Orte, Namen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind daher rein zufällig, jedoch keinesfalls beabsichtigt.

Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck oder Reproduktion (auch auszugsweise) in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder anderes Verfahren) sowie die Einspeicherung, Verarbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung mit Hilfe elektronischer Systeme jeglicher Art, gesamt oder auszugsweise, sind ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Autors oder des Verlages untersagt.

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Leichenschmaus

Karl allein zu Haus

Leben in die Bude

Plan B

Denk auch an dich!

Plan A

Rendezvous mit einer Fremden

Ich Tarzan, du Jane

Zur selben Zeit an einem anderen Ort

Ruhe sanft

Sag mal Guten Tag

Nicht ohne K&K

Veränderung mit schwerem Kopf

Wenige Tage später

Ledig, keine Kinder

Mannschaft vollzählig angetreten

Zur selben Zeit an einem anderen Ort

Herrentorte zu Fuß

Schrille Lady, graue Maus

Wahrheit und Pflicht

Zur selben Zeit an einem anderen Ort

Wie sag ich's meiner Frau

Tutti Frutti

Kunst oder nicht Kunst

Kreuzfahrt und Kreuzfahrt sind zweierlei

Am nächsten Tag

Kofferpacken

Karl im Wunderland

Leben und leben lassen

Aus alt mach neu

Reisefieber

Tomatensaft und Auslaufmodell

Luft hat keine Balken

Eine andere Welt

Zur selben Zeit an einem anderen Ort

Zurück zum Geschehen

Gut geplant hat nie gereut

Den Zaren auf der Spur

Ohne Scheu, alles neu

Eine Seefahrt die ist lustig

Einige Jahre zuvor

Zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort

Leinen los

Auf hoher See

Zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort

Lena wartet

Den Fluss hinauf

Der lange Spaziergang

Und dann war es so weit

Den Fluss hinunter

Nichts geht über das eigene Bett

Wenn die Pflicht ruft

Frauengespräche

Wie sie leibt und lebt

Daddy des Jahres

Wenig später

Zum Termin

Steter Tropfen …

Über den Autor

Alexa hat gesagt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Leichenschmaus

Über den Autor

Alexa hat gesagt

Cover

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»Wenn Menschen Computerviren schaffen, wird irgendwann auch jemand Künstliche Intelligenz schaffen, die sich selbst vermehren kann.«

Stephen William Hawking

(* 8. Januar 1942 in Oxford, England - 14. März 2018 in Cambridge, England) war ein britischer theoretischer Physiker und Astrophysiker.

Leichenschmaus

Hätte ein Unbeteiligter durch einen Türspalt gelugt, wäre er möglicherweise erschrocken gewesen, weil niemand auf dem Tisch getanzt hat. Wahrscheinlich war es der Anstand, der es den Gästen verbot, denn schließlich befanden sie sich auf einer Beerdigungsfeier.

Leichenschmaus.

Das klingt kannibalisch oder heißt es kannibalistisch. Das klingt wiederum karnevalistisch. Sie sehen aber auch eigenartig aus, mit ihren seltsamen Mützen, an denen kleine Glocken baumeln. Es ist wirklich interessant, was sich Menschen alles aufsetzen oder über den Kopf ziehen. Den König ziert die Krone und den Henker die Kapuze. Die Karnevalskappen sehen wie ineinander geschachtelte Schiffe aus.

Lustig.

Genauso lustig wird’s hier bald auch sein, wenn die Gesellschaft so weiter säuft. Keine Spur von Traurigkeit und Respekt gegenüber der Verstorbenen. Ach Gundi, warum musstest du bloß gehen.

Ganz allein an einem Tisch saß Karl … der Hinterbliebene und jetzige Witwer, der in seiner Verzweiflung vor sich hin Sinnende.

»Nun sitze ich hier ganz allein und weiß weder ein noch aus. Am liebsten würde ich dir folgen, aber ich habe nicht den Mut dazu. Was bin ich doch nur für ein armseliger Jammerlappen! Schau dir die Leute an, die haben selbst bei einer Beerdigungsfeier ihren Spaß. Ja, es könnten mehr sein, aber so bleiben die Kosten wenigstens überschaubar.«

Das Leben ist teuer und das Sterben auch.

Karl saß noch eine Zeit lang nachdenklich da und stützte sein Kinn in die linke Hand. Gundi hätte ihn schon wieder gemaßregelt. Entweder hätte sie ihm einen grimmigen Blick zugeworfen, ihn unter dem Tisch getreten oder in die Rippen geboxt. Je nachdem, wo sie gesessen hätte … weil er seinen Ellenbogen nicht auf den Tisch stellen sollte – das sieht nicht gut aus, sagte sie dann immer.

Gundi hieß eigentlich Gundula und war mit Karl 38 Jahre verheiratet. Zwei Jahre davor kannten sie sich bereits, also waren sie 40 Jahre und ein paar Zerdrückte zusammen. Und nun war sie gestorben. Unterleibskrebs sagten die Ärzte. Ein gemeiner und hinterhältiger Knecht, dieser Krebs. Jahrelang würde er schon gewuchert haben und der Patient könnte nichts davon spüren, sagten sie. Und exakt so war es auch. Gundi war immer gut gelaunt, wie man so sagt und war für jeden Blödsinn zu haben. Sie war ein lebensfroher und erschreckend gut gelaunter Mensch. Und dann ging alles ganz schnell. Eines Tages brach sie zusammen, krümmte sich vor Schmerzen und kam dann sofort ins Krankenhaus. Und da stellte man fest, dass nichts mehr zu machen sei. Man gab ihr nur noch Morphium, um die Schmerzen zu lindern und dann wachte sie eines Morgens nicht mehr auf.

Sie war doch noch nie ernsthaft krank und dann gleich so was. Karl schüttelte den Kopf und weinte schon wieder. Er hielt die Hand vor seine Augen, weil er sich schämte. Ein Mann heult nicht in Gesellschaft oder in der Öffentlichkeit. So wurde er erzogen. Aber es musste raus.

Alle waren eigenartigerweise fröhlich, lachten und scherzten. Bloß er nicht. Er saß wie ein Trauerkloß da und grämte sich. Eigentlich könnte dieser Leichenschmaus noch jahrelang so weitergehen, dachte er, denn er fürchtete sich vor dem Moment, wenn er zu Hause allein sein müsste. Die Wohnung erschien ihm plötzlich riesig groß, dabei brauchten sie bloß diese Zimmer. Sie hatten keine Kinder und keine Haustiere. Gundi war allergisch gegen Tierhaare.

Sein bester Freund hatte mal einen Schäferhund namens Heiko. Es war ein regelrechtes Drama, als das Tier damals eingeschläfert werden musste. Er wurde von einem Auto angefahren. Danach hat man sie tagelang nicht gesehen und gehört … Herrchen und Frauchen.

Die wohnen gleich gegenüber auf derselben Etage. Deren Wohnung ist ebenso groß wie seine und verfügt auch über denselben Grundriss – bloß spiegelverkehrt. Karl und Gundi wohnten schon ewig dort im ersten Stock und die Nachbarn – also Herrchen und Frauchen – wurden im Laufe der Jahre zu ihren engsten Freunden.

Jeder achtete auf den anderen und jeder half dem anderen aus, wenn es die Situation erforderte.

Kalle ist mit Evelyn auch schon über 30 Jahre verheiratet. Ihr Sohn, der mittlerweile selbst verheiratet ist und eine große Tochter hat, wohnt schon lange nicht mehr dort. Ab und zu kommen sie zu Besuch und an den Fest- und Geburtstagen sowieso. Dann steht das Auto mit dem fremden Kennzeichen auf dem Parkplatz und man weiß Bescheid.

Immer, wenn er es verdammt ernst mit ihr meint, nennt er sie nicht mehr Evchen, sondern Evelyn. Dann zieht er das ›y‹ als ›ie‹ in eine nicht enden wollende Länge, bekommt einen knallroten Kopf, sein Hals schwillt an und er beginnt fürchterlich zu husten, weil ihm die Puste ausgeht.

Kalle ist ein Jahr jünger als Karl.

Sie verfolgen so ziemlich die gleichen Interessen und beweisen in vielen Dingen denselben Geschmack. Das beginnt bei einer stinknormalen Currywurst und endet bei schnellen Autos. Auch über derbe Witze können beiden herzhaft lachen. Je vulgärer so ein Scherz daher kommt, desto besser lässt sich noch Tage danach darüber spotten. Die beiden Ladys kicherten dann immer und taten so fürchterlich vornehm, schauten sich fragend an und vermittelten das Gefühl, den Schenkelklopfer nicht verstanden zu haben. Vielleicht schütteten sie sich aber bloß innerlich vor Lachen aus.

Frauen verfügen vielleicht über ein völlig anderes Humorverständnis als Männer … und das sogar nüchtern.

All diese Momente sollten in Karls Leben nicht mehr existieren? Augenblicklich war ihm ohnehin nicht zum Lachen zumute, so wie er da saß … wie ein Häufchen Elend. Alles um ihn herum schien eine andere Welt zu sein, dabei standen sie alle vor noch nicht einmal zwei Stunden an Gundis Grab und schluchzten um die Wette die Taschentücher voll.

Haben sie etwa geheuchelt?

War das alles bloß ein Schauspiel? Eine Posse? Wollten sie ihm damit bloß einen Gefallen tun und sich situationsbedingt verhalten? Zeigen sie jetzt erst ihr wahres Gesicht? Sollte er mitmachen? Aufstehen und sich etwa an der Polonaise beteiligen? Wäre das in Gundis Sinn oder müsste er wieder mit einem Tritt unterm Tisch rechnen? Karl war sich völlig unsicher und blieb hocken. Mit seinen weichen Knien hätte er noch nicht einmal den Ententanz ableisten können.

Hatte er sich jemals einen Leichenschmaus so vorgestellt? Wahrscheinlich nicht und als Betroffener sowieso nicht. Als normaler Teilnehmer hingegen schon. Aber beweisen ließe es sich nicht … Karl war noch nie auf einer solchen Zusammenkunft. Bisher gab es keinen Anlass. Sein Freundes- und Bekanntenkreis ist überschaubar und die Jungs und Mädels erfreuten sich bester Gesundheit … behaupten sie jedenfalls.

Aber jetzt weiß er, wie schnell so was gehen kann. Krankenhaus, Beerdigung und zack, sitzt man inmitten einer Horde tanzwütiger Trunkenbolde, denen das Hemd schon teilweise aus der Hose hängt. Vielleicht ist es aber auch Mode und man trägt es jetzt so. Karl war noch nie ein Modeexperte. Gundi legte ihm seine Sachen immer zum Anziehen parat. Er selbst hätte sich wie ein Clown gekleidet. Ihm würde nur noch eine leuchtend orange Perücke und eine rote Knollennase fehlen, dann wäre das Outfit komplett gewesen. In diesen Dingen konnte er sich auf Gundi verlassen. Sie wollte immer einen Mann an ihrer Seite, mit dem man sich auch blicken lassen konnte. Evchen fuhr mit Kalle auf derselben Spur.

Offenbar ist es Tradition, dass Frauen ihre Männer herrichten, allein um die Familie vor einer Schande zu bewahren. Frauen verfügen offenbar von Haus aus über einen gewissen Riecher in Sachen Fashion und Geschmack. Wahrscheinlich ist es dieser nie versiegende Mutterinstinkt.

Wenn Karl und Kalle ohne ihre Ladys losstiefelten, waren sie als K&K bekannt. Das klang schon fast wie ein Firmenname.

Kalle hatte es in seiner beruflichen Laufbahn bis zum Inspektor bei der Stadt geschafft. Er hatte irgendwas mit der Evakuierung der Bevölkerung in Notfällen zu tun.

Ein lauer Job.

Notfälle wurden zwar unentwegt geprobt, aber sie passierten nur selten und dann entstand jedes Mal das Gefühl, dass überhaupt nichts geprobt worden war. Mal fiel der Strom aus und mal lief kein Wasser mehr. Das passiert alle Jubeljahre einmal, nennt sich dann Notstand und ruft die Fachleute auf den Plan. Die greifen ins Regal, bringen einen Notfallplan zum Vorschein und schwups, ist der Fall erledigt … jedenfalls auf dem Papier.

Karl arbeitete bis zu seinem Ruhestand als Disponent in einem Zementwerk und schuftete sich auch nicht den Buckel krumm. Wenn die LKWs den in Säcke verpackten und sauber auf Paletten gestapelten Zement ordnungsgemäß bei den Kunden abgeliefert hatten und wieder unbeschadet zurückfahren konnten, war seine Welt in Ordnung.

Karl allein zu Haus

Irgendwann löste sich die Gesellschaft auf. Bevor sich die mittlerweile stark angeheiterten Gäste, die sich eigentlich zum Totenmahl und zum Gedenken an Gundi eingefunden hatten, gänzlich in Partylaune begaben, torkelten sie strammen Schrittes in Richtung ihrer Heimathäfen. Hätten sie jetzt noch Stimmungslieder gesungen, würde es niemanden mehr gewundert haben.

Karl saß immer noch da.

Das gesamte Geschehen zog an ihm vorbei wie ein schlechter Traum. Irgendeine innere Stimme sagte ihm aber, dass es Realität ist, was er gerade erlebt. Gundi war gestorben und er … ja, was geschah mit ihm. Mit den Jahren hatte er sich derart an sie gewöhnt, dass er nun dastand, wie der berühmte Koffer, den jemand vergessen hatte.

Gundi war immer da … genau wie sein Schatten. Wahrscheinlich hat er sie sehr geliebt und tat es immer noch. Liebe ist keine Vorrichtung, die man nach Verlangen ein- oder ausschalten kann. Wenn der geliebte und langjährige Partner geht, entsteht eine Wunde, die nur sehr langsam verheilt und selbst darauf besitzt niemand eine Garantie. Karl hatte im Augenblick das Gefühl, dass seine Wunde niemals mehr verheilen wird.

Die Meisten hatten sich mit Handschlag oder einem jovialen ›man sieht sich altes Haus‹ verabschiedet, ihm für alles gedankt und mit dem bewährten Schulterklopfer und einem motivierten ›Kopf hoch‹ die Gaststätte verlassen. Die Bedienungen räumten schon die Reste des Büfetts ab und machten die Tische sauber, doch er saß immer noch da und starrte in das Weinglas, das vor ihm stand. Er hatte nicht einen Schluck daraus getrunken. Ihm war nicht danach. Er fürchtete sich vor den vier Wänden, die auf ihn warteten. Irgendwann musste er den Heimweg antreten. Er war zu Fuß dort, denn er hatte es nicht weit.

Karl ging langsam nach Hause.

Die Umstände waren für ihn völlig neu. Niemand wartete auf ihn, niemand trieb oder hetzte ihn und alles schien ohne sie so leer zu sein. Kein Wort, kein Blick, kein Geruch von Parfum oder anderen Eindrücken, die ihre Gegenwart dokumentieren würden. Und dann stand er da, vor dem Haus, in dem er wohnte. Er schaute an der Fassade hinauf, blickte ebenso erwartungsvoll, wie auch argwöhnisch zu der Etage, auf der sich die ehemals gemeinsame Wohnung befindet und entdeckte kein Licht. Eigenartig …

Doch dann fiel es ihm wieder ein! Schlagartig! Wer sollte da oben sein und das Licht eingeschaltet haben? Es ist keiner da. Gundi war gestorben und er selbst stand vor dem Haus. Wen hatte er erwartet? Dass Gundi wieder da wäre? Sie ist nicht davongelaufen, sondern gestorben … aber das wollte nicht so schnell in Karls Kopf, was eigentlich passiert war.

Er ging zur Haustüre, schloss auf und bewegte sich zur Treppe. Stufe für Stufe zog er sich am Geländer hoch. Noch nie fiel ihm dieser Gang so schwer. Er fühlte sich, als wäre er mit Mühlsteinen beladen und wöge etliche Zentner.

Und dann stand er endlich da.

Vor der Wohnungstüre. Das Nest ehemaliger Zweisamkeit und sein jetziges Zuhause, in das sich sein Verstand immer noch weigerte, hineinzugehen. Jeder Gegenstand würde ihn an sie erinnern und jede Art von Duft ebenso. Wahrscheinlich würde sie es aber so wollen. Er sollte das Gefühl behalten, das sie ihm immer wieder gegeben hatte; daheim zu sein. Er gehorchte ihr, obgleich er selbst der Befehlshaber war.

In der Nachbarwohnung war es still. Wahrscheinlich lag Kalle schon ermattet auf dem Bett und ließ sich von Evchen zudecken. Er war selbstverständlich auch auf der Trauerfeier und wenn er zu schwer beladen in den Hafen einlief, wie er es nannte, deckte ihn Evchen immer zu.

Plötzlich machte es ›klack‹ und das Licht des Treppenhauses erlosch. Karl knipste es wieder an. Er atmete tief durch, fingerte den entsprechenden Schlüssel hervor und betrat die Wohnung. Er behielt recht. Ihr Duft lag noch immer in der Luft. Er sog sie in sich hinein, als wäre es eine Droge.

Dann ging er ins Schlafzimmer, zog sich aus, legte seine Sachen ordentlich über den Stuhl und wollte gerade in seinen Schlafanzug schlüpfen … doch dann sprang ihn die Idee, sich einmal nackt im Spiegel zu betrachten an, wie ein wilder Tiger.

Wäre er jemals Bodybuilder gewesen, würde man seine Verrenkungen vor dem Spiegel als Posing bezeichnen. Eigentlich wollte er sich nur kritisch betrachten und sich mit fiktiven Konkurrenten vergleichen, ohne unentwegt den Bauch einziehen zu müssen. Er war kein Twen mehr und machte sich dahin gehend nie etwas vor. Seine Haut besaß schon lange nicht mehr die Elastizität eines Teenagers und den muskelbepackten Macho würde ihm auch keiner abkaufen. Er war nicht der Schönste, nicht der Wohlhabendste und auch nicht der Schlauste, aber Gundi gab ihm all die Jahre das Gefühl, er wäre es.

Welche Chancen hätte er eigentlich noch bei der Weiblichkeit? Die letzten Jahre tat er nichts mehr für seinen Körper und Gundi bestaunte ihn vielleicht lediglich der Höflichkeit oder der Liebe wegen. Im Spiegel sah Karl einen älteren Mann, dessen beste Jahre sichtlich vorüber waren. Gundi fand ihn aber immer noch attraktiv. Vielleicht nicht ganz so wie früher.

Liebe macht blind, sagt man und wahrscheinlich ist genau das gemeint, wenn sich in der Region der Taille Speckrollen bilden und die Haut unterm Kinn beim Sprechen zu flattern beginnt, der Partner jedoch drüber hinwegschaut.

Karl griff nach seinem Schlafanzug, zog ihn an, legte sich ins Bett, löschte das Licht und wünschte Gundi, wie er es immer tat eine ›Gute Nacht‹. Sie antwortete ihm dann immer mit ›Gute Nacht Karlchen‹. Jetzt sagte er es eigentlich zu niemandem, denn er konnte es immer noch nicht begreifen, sie nicht mehr an seiner Seite zu wissen.

Leben in die Bude

Es läutete an der Türe. Karl lag zwar noch im Bett, aber er war schon wach. Die vergangenen Stunden gingen ihm immer wieder im Kopf umher. Ohne seine Gundi zu erwachen, war für ihn fremd. Schlaftrunken schwang er seine Beine aus dem Bett, zog seinen Bademantel über und ging zur Wohnungstüre.

Nach dem letzten Einbruch in der Nachbarschaft hatten sich Gundi und er angewöhnt erst nachzuschauen, wer vor der Türe stand. Also schaute Karl aus reiner Vorsicht durch den Türspion, sah seinen Kumpel Kalle und öffnete ihm. Eigentlich drückte er bloß die Klinke runter, damit sich die Türe öffnen ließ, denn im selben Augenblick verschwand er im Bad und rief Kalle von dort aus zu, dass er gleich da wäre und er währenddessen in der Küche Platz nehmen kann.

»Ich bin gleich da!«, tönte es aus dem Badezimmer. »Du kannst aber schon mal Kaffee kochen … nimm einen Löffel mehr, du wirst es sicher brauchen!«, hörte er wieder aus dem Bad.

Kalle spürte diese eigenartige Bewegungslosigkeit, die sich immer dann zeigte, wenn Gundi nicht da war. Mal war sie im Supermarkt einkaufen, machte mit ihren Freundinnen einen Schaufensterbummel oder saß mit ihnen in einem kleinen Café, wo sie nach Herzenslust plaudern konnte. All das wird nie mehr das Fall sein, denn nun war sie für immer und alle Zeiten aus dem Leben geschieden. Aber diese Starre, die jedes Mal entstand, wenn sie nicht da war, die konnte auch Kalle deutlich spüren.

Karl war noch immer im Badezimmer. Offenbar bewegte er sich langsamer als sonst. Wozu sollte er sich auch beeilen? Schließlich war außer ihm niemand anwesend, der den Raum beansprucht. Sein Unterbewusstsein hatte diesen Zustand bereits realisiert, nun fehlte noch der Rest. Eigentlich sah Karl noch recht passabel aus. Musternd beäugte er sich wieder im Spiegel.

Ihm fiel auf, dass er es nie tat, als Gundi noch lebte. Erkannte sein Unterbewusstsein schon wieder eine neue Situation und ließ den Rest von Karl darüber im Unklaren?

Sonst war der allmorgendliche Gang ins Bad mehr eine ›Husch-Husch-Aktion‹ und rekrutierte aus der Annahme, dass dort noch jemand hinein will. Jetzt konnte er sich Zeit lassen und das tat er auch. Den Tag mit Hetze zu beginnen, soll nicht gut für den Kreislauf sein, hatte er mal gehört.

Wahrscheinlich las es Gundi vor, als sie noch lebte. Da saß sie oftmals stundenlang vor dem PC-Bildschirm und schmökerte nach irgendwelchen Kochrezepten, Gesundheitsberichten und anderen aktuellen Reportagen, um sich auf dem Laufenden zu halten. Ja, sie war stets informiert und mit den angesagtesten Trends auf du und du. Ob Outfit oder Frisur, ob Haushalt oder Umwelt … Gundi wusste Bescheid. Sie war ein Tausendsassa.

Und diese Lebhaftigkeit war schlagartig weg. Das war es, was Kalle merkte.

»Es ist so still …!«, rief er aus der Küche in Richtung Badezimmer.

»Ich kann dich nicht verstehen«, ertönte es aus dem gekachelten Raum. »Ich bin noch im Bad – aber ich bin gleich da!«

»Kein Radio, kein Fernsehen … wie auf einem Friedhof …«, sagte Kalle zu sich und hielt sich im selben Moment die Hand vor den Mund, weil er sein – hie und da vorlautes – Mundwerk mal wieder nicht halten konnte. Manchmal verwischten sich seine Wahrnehmungen und die Grenzen zwischen Flapsigkeit und Geschmacklosigkeit gehen dann ineinander über. Innerlich hoffte er, dass Karl seine Worte nicht mitbekommen hat, doch sicher konnte er sich dessen nicht sein. Danach fragen konnte er ihn aber auch nicht … Kalle saß nicht zum ersten Mal in einer Zwickmühle.

»Was sagtest du? Es wäre hier so still, weil kein Radio läuft? Wozu soll ein Radio dudeln, wenn ich noch im Badezimmer bin? Ich höre hier sowieso nicht alles!«, klang es lautstark aus Karls Richtung. Kalle fiel ein Stein vom Herzen. Er war spürbar erleichtert.

Der Kaffee war mittlerweile fertig. Die Küche war ihm ohnehin nicht fremd. Er saß schon manches Mal dort und wusste, was sich hinter jeder Türe befand. Er schenkte sich eine Tasse ein, lehnte sich in den Türrahmen und lauschte unfreiwillig dem Treiben im Raum schräg gegenüber.

Direkt hinter der Wohnungstüre begann der Flur und von dort trennten sich die Räume. Gleich rechts lag die Küche und dahinter fand man das Schlafzimmer. Dem gegenüber befindet sich das Bad und daneben ging es ins Wohnzimmer. Kein Raum ist über einen anderen erreichbar; der Flur war der Dreh- und Angelpunkt. Kalles Wohnung gestaltete sich – wie erwähnt – ebenso, bloß spiegelverkehrt.

Sobald Karl das Badezimmer verlassen würde, müsste er, um das Schlafzimmer zu erreichen, über den Flur gehen. Es sei denn, dass er es vorziehen würde, weiterhin im Bademantel zu erscheinen. Oder er hätte seine Sachen zum Anziehen bereits mit ins Bad genommen oder, oder, oder.

Eigentlich ist Karl ein ordentlicher Kerl. Kein Spießer, aber auch kein Schlendrian. Kein Erbsenzähler, aber auch keine Trantüte. Er gehört zu den Leuten, die im Bus aufstehen und einem anderen seinen Sitzplatz anbieten, wenn es die Situation erfordert … ein Typ eben, auf dem man sich verlassen kann. Und wenn er sagt, dass er irgendwann wieder aus dem Bad kommt, dann wird es auch so sein.

Wenn sich Kalle nun den zweiten Kaffee holen würde und der dann anfängt zu wirken, wird’s furchtbar eng, wenn der Knabe nicht bald aus dem Bad kommt.

Das sich im untersten Bereich der Badezimmertüre befindende Lüftungsgitter lässt auch erkennen, ob das Licht im Raum ein- oder ausgeschaltet ist.

In der Sekunde ging es aus und die Türe öffnete sich. Karl schlappte in Richtung Schlafzimmer. Seinen Bademantel trug er über dem Arm. Er sah Kalle kurz an und bemerkte, dass er sich bloß was anderes anziehen will und dann sofort da sein. Karl vermittelte noch immer diesen Eindruck der Verzweiflung und der Ausweglosigkeit.

Gerade holte Kalle Luft, weil er etwas in Richtung Schlafzimmer brüllen wollte, da kam Karl auch schon um die Ecke. Fast hätte sich Kalle an seiner eigenen Atmung verschluckt.

Natürlich sprühte Karl nicht gerade vor Lebensfreude, wie sollte er auch. Schließlich war Gundis Tod noch nicht mal eine Woche her und er und sie waren – bis auf wenige Ausnahmen – jeden Tag zusammen … fast 40 Jahre lang. Das kann man nicht so einfach wegstecken, wie eine Magenverstimmung.

Karl nahm sich auch einen Kaffee, setzte sich und schaute ebenso miesepetrig in den Kaffee, wie er es am Vortag schon mit dem Wein tat.

»Sie fehlt dir …«, gab Kalle zu verstehen und rieb seinem Kumpel freundschaftlich über die Schulter. Karl nickte bloß. Heftig nickte er, als wollte er die Frage unaufhörlich bejahen.

»Hast du schon mal an ein Haustier gedacht … ein Hund, 'ne Katze oder 'n Wellensittich, dann kommt auch wieder Leben in die Bude …?«, schlug Kalle vor. Plötzlich hob Karl seinen Kopf, schaute Kalle mit eisernem Blick an und tobte los, dass man Gundi doch nicht mit einem verlausten Köter, einer Miezekatze oder einem gefiederten Flötenspieler vergleichen könnte. Sie war schließlich seine Frau und nicht sein Zeitvertreib. Mit ihr wäre er letztlich durch dick und dünn gegangen, habe mit ihr die mageren und die fetten Jahre kennengelernt und stand in jeder Lage zu ihr …

»Das hattest du wohl alles vergessen!«, schmetterte er Kalle gegen den Kopf. Kalle wusste im ersten Augenblick nicht, was er machen sollte. Offenbar hatte er eine falsche Taste gedrückt, die Karl nicht ansatzweise auf andere Gedanken brachte. Vielleicht wäre es besser, ihn erst einmal allein zu lassen, damit er mit der Situation selbst fertig werden und sich den neuen Umständen annähern kann.

Klar.

Wenn Gundi die Stabilität seines Lebens war, schlingert er jetzt wie ein kraftloser Brummkreisel umher und muss erst wieder zu neuer Festigkeit finden. Das kostet eine Menge Kraft. Kalle will ihm dabei nur helfen, die geänderten Gegebenheiten besser in den Griff zu bekommen. Doch augenblicklich reagiert Karl überaus gereizt und macht einen teilweise aggressiven, wie auch apathischen Eindruck. Das ist für Kalle zwar schwer hinzunehmen, aber nachvollziehbar Er hatte Gundi auch als liebenswerten Menschen kennengelernt.

Kalle trank seinen Tasse leer, legte seine Hand erneut auf Karls Schulter und drehte sich zum Gehen der Türe entgegen.

»Du weißt, wo du mich findest?!«, sagt er in Karls Richtung und machte diese Geste mit dem abgespreizten kleinen Finger und dem Daumen in Höhe des Ohrs und ging. Karl hörte nur noch die Wohnungstüre schließen und starrte weiter in seinen Kaffee.

Finanziell musste er sich keine Gedanken machen. Dahingehend war alles bestens geregelt. In diesen Dingen stellten Gundi und er bereits früh genug die richtigen Weichen. Sie hatten keine Verpflichtungen und führten so gesehen ein beneidenswertes Leben … und dann passierte das, womit überhaupt niemand gerechnet hat.

Kalle und er stritten sich schon öfter. Es gehörte irgendwie dazu. Manchmal zankten sie wegen einer Nichtigkeit, wie die kleinen Kinder. Keiner der beiden gab dem anderen nach. Da fielen laute Worte und Türen wurden geschmissen, doch über das diplomatische Eingreifen ihrer Frauen, fanden sie wieder zueinander und lagen sich dann in den Armen, als wäre nie etwas geschehen. Dann gingen sie in ihre Stammkneipe, begossen die Angelegenheit zünftig und die Welt war wieder in Ordnung. Kamen sie danach wieder in Eintracht und mit einer Fahne nach Hause, wussten Evchen und Gundi, dass dem Regen Sonnenschein folgte.

Plan B

Kalle wechselte über den Hausflur der ersten Etage in seine Wohnung, ging schnurstracks ins Wohnzimmer und ließ sich dort in die Couch sinken, als wäre er total erschöpft von einem Marathonlauf heimgekehrt. Evchen beendete ihr Telefonat, das sie gerade mit einer Freundin führte und legte ihr Handy zur Seite.

»Und, wie wars? Was spricht er? Wie geht’s ihm so?«, wollte sie dann wissen.

»Wir werden ihm eine neue ›Gundi‹ suchen müssen, da geht kein Weg dran vorbei.«, sagte Kalle. »Er wirkt so, so … ich weiß gar nicht wie, aber irgendwie so, so kenne ich ihn gar nicht. Ich empfand es, als wäre er gar nicht da, als liefe er neben der Spur und wäre völlig abwesend …«

»In einer anderen Welt …«, steuerte sie bei. »Und wir sollen jetzt die Kuppler spielen, wenn ich richtig verstanden habe.« Kalle nickte dazu. »Aber so«, fuhr sie fort, »wie ich dich verstanden habe, will er im Moment niemanden sehen … augenblicklich hat er mit sich selbst genug zu tun … wenn man sich in seine Lage versetzt, entwickelt man absolutes Verständnis … ihn jetzt mit wem auch immer verkuppeln zu wollen, halte ich für äußerst schwierig … ich würde sogar davon abraten!«

Kalle rieb sich mit der Hand durchs Gesicht, presste die Lippen zusammen und nickte erneut. »Ich möchte nicht in seiner Haut stecken, das ist eine gewaltige Hürde, über die er jetzt springen muss, mein lieber Scholli!«, staunte er. »Hoffentlich tut er sich nichts an …!«

»Dazu ist er nicht fähig, er ist nicht der Typ dafür!«

»So gut kennst du ihn?«

»Was soll denn das heißen? Eine Frau sieht die Dinge mit anderen Augen, schau in den Spiegel, dann weißt du wovon ich rede!«, konterte Evchen.

Sie ist eine resolutere Frau, als Gundi eine war. Nicht so schwärmerisch, nicht so träumerisch, mehr so in Richtung Realität. Evchen kannte Gundi gut … sehr gut sogar. Sie waren wie Schwestern, sprachen und lästerten über jeden Blödsinn und trieben allerlei Unfug zusammen. Manchmal hatte man nicht das Gefühl, es mit reiferen Damen zu tun zu haben, sondern mit jungen Mädchen, die noch allerlei Flausen im Kopf hatten.

Bevor sie Kalle kennenlernte, studierte Evchen Kunstgeschichte und Psychologie. Ursprünglich wollte sie in die kreative Pädagogik einsteigen. Doch dann wurde sie mit Jens schwanger und kehrte ihrem Studium den Rücken. Mutter sein und Studium? Da blieb eins von beiden auf der Strecke und das Kind sollte es nicht sein. Jens blieb das einzige Kind, obwohl sie sich immer noch eine Tochter gewünscht hatte, doch in dieser Hinsicht blieb es auch bloß beim Wunsch. Jens ist selbst schon lange verheiratet und hat die Tochter, die sich seine Eltern immer wünschten, dabei wollte er einen Sohn.

Kalle hatte seinen Job bei der Stadt und die bot ihm später einen leitenten Posten mit eigener Abteilung an. Besser konnte seine Karriere nicht laufen.

Für alles Mögliche erhielt er einen Nachlass oder sogar eine kostenlose Teilnahme – oftmals musste er dazu bloß seinen Dienstausweis zücken.

»Weißt du, an was ich dachte?«, meinte Kalle und schaute seine Frau an, als ob er die Lottozahlen voraussagen könnte, »an ein zufälliges Treffen von Karl und einer Frau in einem Café … was hältst du davon?«

»Im ersten Moment hört es sich gut an, doch wenn man Karl kennt, weiß man, dass ihn keine zehn Gäule in ein Café schaffen würden … und wen um Himmels willen sollte er da zufällig treffen?«, fragte Evchen und kritzelte beim Wort ›zufällig‹ ein paar Gänsefüßchen in die Luft.

»Ich dachte da an einen der vergangenen Betriebsausflüge … die Moni sieht recht nett aus und knöpfte ihre Bluse nie bis obenhin zu …«

»Und du als Frauenkenner hast darin sofort eine versteckte Botschaft entdeckt … na klar, was sonst … Kalle, der große Checker … ich lach mich schlapp …«, spottete Evchen brüllend drauf los. »Junge, Junge«, legte sie wieder los, »was du hier bietest, ist ja noch 'ne ganze Nummer schärfer als das, was in den Frauenmagazinen beim Friseur geboten wird! Ich bin schon heilfroh, dass du ihr keine Wasch- und Bügeltipps für die Bluse gegeben hast!«, grölte sie wieder und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ihn. Kalle hatte das Gefühl, dass sich seine Frau mehr über sich selbst amüsierte, als über den beschrieben Umstand. Er selbst saß fast schon teilnahmslos da, verschränkte seine Arme vor der Brust, schnaufte genervt und streckte seine Beine demonstrativ lang aus.

Wahrscheinlich brachte genau das seine Frau auf die Palme … dieser männlich vorgetäuschte Bodenfrost. Und anstatt ihm eine Szene zu machen, lachte sie sich scheckig. Für Kalle sah es so aus, als machte sie sich über ihn lustig.

»Jetzt fällt mir ihr Name wieder ein«, warf Kalle in den Raum, um einen neuen Spielball anzustoßen. »Monika heißt sie … Monika Wildner aus der Verkehrsplanung … jetzt erinnere ich mich wieder …«

»Natürlich erinnert sich der Herr Inspektor an die fesche Moni, die ihre Bluse nicht richtig zuknöpfen konnte. Wenn du dich jetzt auch noch an die Körbchengröße des Bluseninhalts erinnern kannst, fall ich von der Couch …«, prustete Evchen erneut. »Das alles klingt wie das Drehbuch einer verdammt billigen Seifenoper«, polterte sie plötzlich. Wer sagt denn, dass sie jetzt nicht verheiratet ist und endlich zu einem Kerl fand, der seine Prinzenrolle an ihren Mozartkugeln wetzt? Und dann bleibt immer noch das Problem, die beiden Hauptdarsteller dieser Komödie in ein Café zu bugsieren! Steht der liebe Karl eigentlich auf große Möpse?«

Kalle nickte kräftig und meinte selbstgefällig: »Jeder Mann steht auf große Hupen! Höchstwahrscheinlich ist es sogar genetisch bedingt!« Er musste so was sagen. Evchen machte zwar keinen Abschluss an der Uni, aber immerhin war sie da.

Einer akademisch angehauchten Person etwas wissenschaftliches zu präsentieren, hielt Kalle immer für sinnvoll, auch wenn es sich dabei um den größten Mumpitz handelte. Diese strategisch geschickte Vorgehensweise lernte er in seinen ersten Berufsjahren und erkannte deren Vorteile in Lichtgeschwindigkeit.

Große, weibliche Vorbauten, als Sinnbild der ersten Ernährung und Quell des Lebens, überzeugen mit einer anspruchsvollen Begründung als Fundament erheblich besser, als wenn sie ohne jeglichen Zusammenhang auf Hochglanzmagazinen von strapsverzierten Grazien präsentiert werden. Die Dinge fernab der sexuellen Wollust zu betrachten, bringt sie in die gewünschte neutrale Ecke … jedenfalls theoretisch.

»Die Kunst ist nach wie vor, Karl aus dem Haus zu bekommen. Ihn kann man nicht so mir-nichts-dir-nichts in ein Café schicken, wenn kein einleuchtender Grund vorhanden ist. Wie stellst du dir das vor?«

»Ich werde ihre Telefonnummer gleich morgen früh bei der Personalabteilung erfragen und sie anrufen …«

»Und was willst du sagen? Grüß dich Moni, ich bin's, der Kalle, weißt du noch damals auf dem Betriebsausflug und überhaupt warum ich anrufe, bist du verheiratet oder was …? Ich glaube, ich spinne … also ehrlich …« Evchen warf ihrem Mann einen fragwürdigen Blick zu und machte diese Scheibenwischer-Geste. »Kein Wunder, dass sich in Herrengürteln bereits Löcher befinden, sonst würdet ihr sie noch mit einer Krawatte verwechseln«, witzelte sie.

»Und wie würdest du vorgehen, wenn du schon so schlau bist?«, provozierte Kalle.

»Ich würde mich auch an die Personalabteilung wenden, um gewisse Details zu erfragen«, sagte Evchen in abgekühlter Sachlichkeit. »Aber ich würde es nicht am Telefon tun, sondern persönlich dort erscheinen. Bei solchen Angelegenheiten ist es immer besser, der anderen Person gegenüberstehen zu können. Das schafft Vertrauen, menschliche Wärme und solchen Sachen«, dozierte sie, »und als ehemaliger Inspektor der Stadt, strahlst du immer noch die erforderliche Autorität aus … für deinen Ansprechpartner im Personalbüro ist das so etwas, wie der Status eines Vorgesetzten.«

Denk auch an dich!

Nachdem Kalle gegangen war, trottete Karl ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch, schaltete gewohnheitsgemäß den Fernseher ein und schaute im Grunde genommen gar nicht hin. Wer da sprach oder welcher Film gezeigt wurde, war ihm schnurz-piep egal. Ihm ging es in erster Linie um eine sich bewegende Kulisse und ein Geräusch, das ihm das Gefühl vermittelte, nicht allein zu sein. Irgendwas bewegte sich und irgendjemand redet; das war letztlich von Bedeutung und wirkte gewissermaßen beruhigend auf ihn. Jedenfalls machte es die Situation für den Moment erträglich.

Und dann fielen ihm die Abende ein, an denen er mit Gundi da saß und sie sich zusammen einen Film anschauten. Doch jetzt blieb ihr Platz auf dem Sofa leer und selbst der Stuhl in ihrer PC-Ecke stand noch genauso da, wie sie ihn verließ.

Diese Szene, in der er sich gerade selbst befand, kannte er aus etlichen Filmen, in denen jemand starb und die Erinnerung an diese Person möglichst lange erhalten werden sollte. Da wurden die Zimmer so belassen, als hätte man die Zeit eingefroren und auch die Plüschtiere wurden nicht entfernt, dennoch die Person mittlerweile erwachsen wäre und überhaupt nicht mehr damit spielen würde.

»Aber du fehlst mir!«, hörte er sich sagen. »Du fehlst mir, wenn ich erwache, wenn ich zu Bett gehe und die Stunden dazwischen sowieso!« Er erschrak nicht. Er redete oft mit sich selbst, aber er schämte sich dessen nicht. Mit sich selbst zu reden empfand er als eine Art Befreiung. Neu war bloß, dass er es so laut tat, als führte er ein Gespräch mit einer anderen Person. Vielleicht richtete seine innere Stimme das Wort an einen Menschen, die jetzt nur noch in seinen Gedanken existiert? Appell? Verzweiflung? Vielleicht trat er mit Gundi auf diese Weise in Kontakt und sie antwortete ihm über seine innere Stimme? Er wusste es nicht.

Karl stand auf, ging entschlossen ins Schlafzimmer und betrachtete sich im großen Spiegel, der die komplette mittlere Türe des Kleiderschranks ausmacht. Der Schrank stand gleich links an der Wand, gegenüber dem Fenster. Dazwischen stand das Doppelbett. Karl sah die linke Seite des Bettes und musste direkt an die Kinderzimmer aus den Filmen denken, die ebenso unberührt blieben, wie diese Seite des Doppelbetts.

Im Spiegel konnte er keine Veränderungen erkennen. Dann trat er näher ran, begutachtete sein Gesicht, schnitt ein paar alberne Grimassen und stellte erneut keinerlei Verwandlung fest. Danach tastete und drückte er an den unterschiedlichsten Stellen wie ein Arzt an sich herum, spürte weder Schmerz noch Unwohlsein, klopfte sich selbst auf die Schulter und murmelte: »Alles bestens mein Junge, alles im Lot.« Schließlich schlappte er zurück ins Wohnzimmer, nahm eine bequeme Sitzposition ein und widmete sich wieder seinen Überlegungen.

Würde es Gundi wollen, dass ich länger um sie trauere, als der Rest der Welt, dachte er. Gundi war alles Mögliche, aber kein Kind von Traurigkeit. Sie machte jeden Unfug mit und war für jeden Spaß zu haben. Sie hatte noch zwei Schwestern aber keine Brüder. Die eine Schwester war drei Jahre älter als sie und die andere drei Jahre jünger. Sie selbst lag somit in der Mitte. Ihre Schwestern waren, ebenso wie ihre Eltern, schon recht früh verstorben. Zuerst dachte man, es würde sich um etwas Vererbbares handeln und sie würde früher oder später auch daran sterben, doch es bestätigte sich nicht. Sie ließ sich testen und kam glücklich mit dem Ergebnis nach Hause. Freudestrahlend fiel sie Karl um den Hals und beide dachten in diesem Moment, dass sie bestimmt noch Hundert Jahre zusammen sein werden.

Karl hatte noch eine jüngere Schwester und einen jüngeren Bruder. Die Schwester wanderte irgendwann nach Australien aus und zu seinem Bruder hatte er keinen Kontakt. Von seiner Schwester hört er nur ganz selten etwas. Zwei Kinder hätte sie mittlerweile. Das Leben da unten wäre jedenfalls nicht mit etwas anderem vergleichbar.

Ob sein Bruder noch leben würde oder nicht, wusste Karl gar nicht. Seine Eltern verlor er schon recht früh durch einen tragischen Unfall. Damals explodierte eine Leitung in deren Haus und ließ keinen Stein mehr auf dem anderen stehen. Karl dachte nicht gerne an diese Passagen seines Lebens. Durch Gundi lernte er im Hier und Jetzt zu sein und sich nicht ständig mit einstigen Unabänderlichkeit auseinanderzusetzen, auch wenn es sich dabei um die eigene Familie handeln würde. Was früher war, war einfach bloß früher.

Früher trugen Frauen nach dem Ableben ihres Mannes Schwarz, um ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen und als Witwe erkannt zu werden. Es wurde beinahe schon als Berufskleidung empfunden, denn manche Witwe verfolgte diese Mode bis zu ihrem eigenen Tod.

Männer in Schwarz sieht und sah man hingegen noch nie. Nicht im selben Zusammenhang.

Seltsam.

Kellner und Angestellte von Beerdigungsinstituten tragen zwar Schwarz, aber sie tun es weniger aus Gründen der Trauer, sondern von Berufs wegen. Bei Schornsteinfegern soll das Berühren der schwarzen Kluft sogar Glück bringen.

Gundi wollte ihren Mann auch immer glücklich wissen. Dass er sich nun grämt, ist wohl verständlich und dass er momentan niemanden um sich herum ertragen kann, ebenso. Doch es muss ein Ende haben. Die Welt bleibt nicht stehen, bloß weil ich nicht mehr da bin, hätte Gundi wahrscheinlich gesagt. Davon war Karl mehr als überzeugt.

Den Zustand, den Karl augenblicklich erreicht hatte, darf er keinesfalls beibehalten. Ohne Anstrengung könnte man ihn als Vogelscheuche beschäftigen. Er sollte wieder zu der Freude zurückfinden, die er vor ihrem Lebensende besaß. Genau das wäre auch ganz bestimmt ihr letzter Wunsch gewesen und darauf würde Karl auf jeden Fall eingehen.