Alexander - Der makedonische Prinz - Valerio M. Manfredi - E-Book
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Alexander - Der makedonische Prinz E-Book

Valerio M. Manfredi

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Beschreibung

Der erste Band der spannenden und weltweit begeistert aufgenommenen Roman-Biographie über Alexander den Großen von Valerio M. Manfredi! Er wurde nur dreiunddreißig Jahre alt, aber sein Ruhm ist unsterblich: Alexander der Große, König von Asien und Herrscher über die Welt. Valerio Massimo Manfredi folgt im ersten Roman seiner wunderbar süffig geschriebenen Biographie den Spuren jenes jungen Mannes, dessen Charisma und visionäre Kraft schon früh spürbar waren. Als knapp zwanzigjähriger makedonischer König beweist er Mut, politisches Geschick und Weitsicht. Freunde wie Feinde schauen ungläubig auf den jungen Herrscher. Sie ahnen nicht, dass dies erst der Anfang ist... »Manfredi gelingt es hervorragend, den modernen Lesern die geistige und materielle Kultur nahe zu bringen, vor deren Hintergrund sich das abenteuerliche Leben des Weltveränderers vollzog.« Geschichte mit Pfiff  

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Übersetzt aus dem Italienischen von Claudia Schmitt

 

ISBN: 978-3-492-98409-6

© dieser Ausgabe, Piper Verlag GmbH, 2018

Titel der italienischen Originalausgabe: »Aléxandros – Il Figlio Del Sogno«

© Arnoldo Mondadori Editore, S.p.A., Mailand 1998, © 2015, Mondadori Libri SpA, Milano

© der deutschsprachigen Ausgabe: Kabel Verlag GmbH, München 1999, Piper Verlag GmbH, München 2001

Covergestaltung: Favoritbüro, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Motto

Karte: Das antike Griechenland

Die Vorgeschichte

1 – Es war eine …

2 – Artemisia holte das …

3 – Ein Jahr später …

4 – Philipp war binnen …

5 – Alexander war sieben …

6 – Seit Philipp König …

7 – Sie stiegen wieder …

8 – Der Zeremonienmeister gab …

9 – Die Jagdpartie begann …

10 – Am Tag nach …

11 – »Darf ich jemanden …

12 – Alexander ging seine …

13 – »Ich habe ein …

14 – Das Leben in …

15 – Lysippos blieb den …

16 – Alexander löste sich …

17 – Es kam genau …

18 – Alexander lief in …

19 – »Hast du wirklich …

20 – Drei Tage nach …

21 – Alexander war noch …

22 – Seit sein Vater …

23 – »Ich verstehe meinen …

24 – Chares und seine …

25 – Zweitausend Athener fielen …

26 – Alexander besichtigte auch …

27 – Philipps Überraschung und …

28 – Keiner sollte je …

29 – Alexander rannte, von …

30 – Eine Woche später …

31 – Alexander sah bald …

32 – Drei Monate nach …

33 – Eumenes ging still …

34 – Attalös und Parmeniön …

35 – Der Reiter kam …

36 – Eumenes und Kallisthenes …

37 – Gegen Ende des …

38 – Der Flüchtende rannte …

39 – Hephaistion, Ptolemaios, Seleukos …

40 – Am darauffolgenden Morgen …

41 – Die »Alexander-Treppe« war …

42 – General Parmenion und …

43 – Die folgenden Tage …

44 – Alexander rutschte vom …

45 – Aristoteles verschloss seinen …

46 – Es war Abend …

47 – Alexander traf den …

48 – Als die ersten …

49 – Admiral Nearchos gab …

Karte: Das Weltreich Alexanders des Großen

Nachwort

 

Et siluit terra in conspectu eius.

Und die Erde verstummte bei seinem Anblick.

Makkabäer 1,3

 

Die Vorgeschichte

Die vier Magier bewegten sich ruhigen Schritts auf den Gipfel des Berges zu, den man den Berg des Lichts nannte. Jeder von ihnen kam aus einer anderen Himmelsrichtung, und alle hatten einen Quersack mit duftenden Hölzern für das Feueropfer auf dem Rücken.

Der Magier der Morgenröte war mit einem Umhang aus rosa und blau schattierter Seide bekleidet und hatte hirschlederne Sandalen an den Füßen. Den Magier der Abenddämmerung schmückte ein golddurchwirkter, karmesinroter Mantel; um seine Schultern lag eine lange Leinenstola, die in denselben Farben bestickt war.

Der Magier des Mittags trug eine purpurrote Tunika mit goldenem Ährenmuster und Pantoffeln aus Schlangenleder. Und der letzte von ihnen, der Magier der Nacht, war in ein schwarzes, aus dem Vlies ungeborener Lämmer gewobenes Tuch gehüllt, das mit winzigen, silbernen Sternen übersät war.

Gleichmäßig, wie zum Takt einer Musik, die nur sie allein hören konnten, schritten sie aus. Auf diese Weise näherten sie sich dem Tempel in völliger zeitlicher Übereinstimmung, obwohl jeder einen anderen Weg zu gehen hatte – der eine war steil und steinig, der andere verlief fast eben, und der letzte folgte einem ausgetrockneten Flußbett.

Schließlich standen sie in haarscharf demselben Augenblick unter den vier Eingangsbögen des steinernen Turms. Die weite Hochebene um sie herum lag im Perlenglanz des ersten Morgenlichts.

Die vier Magier sahen sich durch die Torbögen hindurch an, verneigten sich voreinander und schritten dann auf den Altar zu. Der Magier der Morgenröte eröffnete den Ritus, indem er ein Quadrat aus Sandelholzscheiten bildete. Auf dieses stellte der Magier des Mittags gebündelte Akazienzweige, und der Magier der Abenddämmerung schichtete Zedernäste darüber, die er im Wald des Berges Libanon gesammelt und sorgfältig von ihrer Rinde befreit hatte. Zum Schluß kam der Magier der Nacht an die Reihe; er legte lange gelagertes und säuberlich geputztes Eichenholz aus dem Kaukasus auf, Holz, das der Blitz gespalten und die Gebirgssonne getrocknet hatten. Dann holten alle vier die mitgebrachten heiligen Steine aus ihren Quersäcken, rieben sie aneinander und ließen blaue Funken in den kleinen Holzstoß springen, bis er brannte, schwach zuerst, dann immer stärker und zuletzt richtig fröhlich. Die zinnoberroten Flammen verwandelten sich in blaßblaue und weiße Zünglein, die an das »Feuer des Himmels« erinnerten, den erhabenen Odem Ahura Mazdas, des Gottes der Wahrheit und des Ruhmes, Herr über Zeit und Leben. Außer der Stimme des Feuers, das sein uraltes Gedicht murmelte, war in dem großen Turm jetzt nichts zu hören, nicht einmal der Atem der vier Männer, die reglos verharrten.

Völlig entrückt starrten sie auf den Steinaltar mit den kunstvoll aufgeschichteten Holzscheiten und beobachteten, wie das heilige Feuer Form annahm; sein absolut reines Licht, der herrliche Tanz seiner Flammen hob ihre Gebete für das Volk und den König zum Himmel hinauf – den Großkönig, den König der Könige, der weit weg von hier im prächtigen Thronsaal seines Schlosses im unvergänglichen Persepolis saß, von einem Wald aus rot-gold bemalten Säulen umgeben und bewacht von geflügelten Stieren und Löwen mit drohend erhobenen Tatzen.

An dem magischen, einsamen Ort war in dieser frühen Morgenstunde kein Lufthauch zu spüren, und so mußte es auch sein, damit das himmlische Feuer sich formen und bewegen konnte, wie es seiner Natur entsprach, jener göttlichen Natur, die es stetig emporstreben läßt, zum Empyreum, dem Feuerhimmel, dem es ursprünglich entstammt.

Doch urplötzlich blies eine heftige Böe in die Flammen und brachte sie jäh zum Erlöschen. Sogar die Glut verwandelte sich unter den verblüfften Augen der Magier binnen Sekunden in tote Kohle.

Kein weiteres Zeichen folgte, kein Laut außer dem schrillen Schrei des Falken, der in den blanken Himmel stieg, und es folgten auch keine Worte. Von bösen Vorahnungen ergriffen standen die vier Männer um den Altar und vergossen stille Tränen.

 

In einem fernen Land im Westen näherte sich zur selben Zeit eine junge Frau zitternd den Eichen eines alten Heiligtums, um für das Kind, das sich zum erstenmal in ihrem Schoß rührte, den Segen der Götter zu erflehen. Der Name der jungen Frau war Olympias. Den Namen des Kindes enthüllte der Sturm, als er die jahrtausendealten Baumkronen schüttelte und ihr totes Laub vom Boden aufwirbelte:

 

ALEXANDER.

1

Es war eine seltsame Eingebung gewesen, die Olympias zum Tempel von Dodona geführt hatte, ein Traumgesicht, das sie ereilte, während sie bei ihrem Mann, König Philipp von Makedonien, ruhte, der satt und betrunken neben ihr lag.

Sie hatte von einer Schlange geträumt. Das große Reptil war langsam den Korridor entlanggekrochen, dann lautlos in ihr Schlafzimmer geschlüpft. Sie sah es, aber sie war wie gelähmt, sie konnte weder schreien noch weglaufen. Es schlängelte sich über den Steinfußboden, und seine Schuppen glänzten wie Kupfer und Bronze im Mondlicht, das zum Fenster hereinschien.

Einen Moment lang hatte Olympias gehofft, Philipp würde aufwachen, sie in die Arme schließen und an seine starke, muskulöse Brust drücken, sie mit seinen großen Händen streicheln, den Händen eines Kriegers, dann war ihr Blick aber gleich wieder zu dem Drakon zurückgekehrt, diesem wundersamen Tier, das sich wie ein Geist bewegte, wie eines jener Zauberwesen, die die Götter nach Belieben aus den Tiefen der Erde auferstehen lassen können.

Seltsam, jetzt machte es ihr überhaupt keine Angst mehr, sie empfand auch keinen Ekel, im Gegenteil, die geschmeidigen Bewegungen und die sanfte Kraft, die das Tier ausstrahlte, faszinierten sie.

Die Schlange glitt unter ihre Bettdecke, Olympias spürte sie zwischen den Schenkeln und zwischen ihren Brüsten und sie spürte, daß sie von ihr genommen wurde, leicht und kalt, ohne daß es ihr weh tat, ohne die geringste Gewalt.

Sie träumte, daß sich der Samen der Schlange mit dem vermischte, den Philipp vor kurzem in sie gestoßen hatte, kraftvoll wie ein Stier und ungestüm wie ein Eber, bevor er von Wein und Schlaf übermannt worden war.

Am darauffolgenden Morgen hatte der König seine Rüstung angelegt, sich mit Wildschweinfleisch und Schafskäse gestärkt und war mit seinen Feldherren in den Krieg gezogen – in den Krieg gegen die Triballer, ein Volk, das noch barbarischer war als die Makedonier. Es kleidete sich mit Bärenfellen, trug Mützen aus Wolfspelz auf dem Kopf und lebte entlang des Ister, dem größten Fluß Europas.

Zum Abschied hatte Philipp nicht mehr zu ihr gesagt als: »Denk stets dran, den Göttern zu opfern, solange ich weg bin, und trag mir einen Sohn aus, einen Erben, der meiner würdig ist.«

Dann hatte er sich auf seinen Fuchs geschwungen und war mit seinen Feldherren in wildem Galopp davongestürmt. Der ganze Hof hatte unterm Hufgetrappel ihrer Schlachtrösser und dem Klirren ihren Waffen gedröhnt.

Olympias nahm nach dem Aufbruch ihres Mannes erst einmal ein heißes Bad, und während die Dienerinnen ihr mit Jasmin- und Rosenessenzen getränkten Schwämmen den Rücken abrieben, ließ sie ihre Amme Artemisia rufen, eine alte Frau aus guter Familie, mit riesigen Brüsten und schmalen Hüften. Olympias hatte sie aus Epeiros mitgebracht, als sie zur Heirat mit Philipp hierhergekommen war.

Sie erzählte der Amme ihren Traum und fragte: »Was mag das wohl bedeuten, gute Artemisia?«

Die Alte ließ sie aus der Wanne steigen und begann sie mit Tüchern aus ägyptischem Linnen abzutrocknen.

»Die Träume sind Botschaften der Götter, liebes Kind, aber nur wenige können sie deuten. Vielleicht solltest du das Orakel von Dodona daheim, in Epeiros, befragen. Seine Priester geben einander seit undenklichen Zeiten das Geheimnis weiter, wie man die Stimme des großen Zeus hören kann, des Vaters der Götter und Menschen. Er äußert sich im Raunen der Jahrtausende alten Eichen des Tempels, im Rauschen ihrer Blätter, wenn es Frühling oder Sommer ist, und im Rascheln des toten Laubs im Herbst und Winter.«

Und so war Olympias wenige Tage später zum Heiligtum von Dodona aufgebrochen – ein grandioser Tempel, der ein grünes, von waldigen Bergen gerahmtes Tal beherrschte und als der älteste der Welt galt. Die Sage berichtet, aus Zeus’ Händen seien – nachdem er seinen Vater Kronos entmachtet und aus dem Himmel vertrieben hatte – zwei Tauben aufgestiegen, und eine von ihnen habe sich auf einer Eiche von Dodona niedergelassen, die andere auf einer Palme der Oase Siwa in der libyschen Wüste. Seither konnte man an diesen beiden Orten die Stimme des Göttervaters vernehmen.

»Was hat mein Traum zu bedeuten?« fragte Olympias die Priester des Heiligtums.

Die ehrwürdigen Männer saßen inmitten einer saftig grünen, mit Margeriten und Ranunkeln gesprenkelten Wiese auf Steinbänken im Kreis und lauschten dem Wind, der in den Blättern der Eichen säuselte. Sie wirkten völlig entrückt.

Schließlich hob einer von ihnen zu sprechen an: »Dein Traum bedeutet, daß du einen Sohn gebären wirst, der zugleich Abkömmling des Zeus und eines sterblichen Menschen ist. Er bedeutet, daß sich in deinem Schoß das Blut eines Gottes mit dem Blut eines Menschen vermischt hat.«

»Dein Sohn wird von glühendem Tatendrang erfüllt sein, aber wie die Flamme mit dem stärksten Licht mitunter die Wände der Lampe verbrennt und ihr Öl im Nu verbraucht, so könnte seine Seele die Brust verbrennen, in der sie wohnt.«

»Erinnere dich an die Geschichte Achilles’, Königin, des berühmten Vorfahren deiner ruhmreichen Familie: Er hatte die Wahl zwischen einem kurzen, aber glorreichen und einem langen, aber düsteren Dasein, und er hat sich für ersteres entschieden. Für einen Augenblick strahlenden Lichts hat er sein Leben geopfert.«

»Ist dieses Schicksal von den Göttern vorgezeichnet?« fragte Olympias bange.

»Nein, es ist nur ein mögliches Schicksal«, erwiderte ein anderer Priester. »Unzählig sind die Wege, die ein Mensch einschlagen kann, aber manchen Menschen ist eine besondere Kraft in die Wiege gelegt, eine Kraft, die von den Göttern kommt und zu ihnen zurückstrebt. Bewahre dieses Geheimnis für dich bis zu dem Tag, an dem sich das Wesen deines Sohnes voll entfaltet hat. Dann aber sei zu allem bereit, auch dazu, ihn zu verlieren, denn du wirst doch nicht verhindern können, daß sein Schicksal sich erfüllt und sein Ruhm bis ans Ende der Welt vordringt.«

Der Priester hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als sich die laue Brise, die sie umwehte, unversehens in einen heftigen, heißen Südwind verwandelte. Innerhalb kürzester Zeit blies er so stark, daß sich die Bäume bogen und die Priester ihre Mäntel über den Kopf ziehen mußten.

Die wilden Böen trieben dichte, rötliche Staubwolken vor sich her, sie verdunkelten das ganze Tal, und auch Olympias wickelte sich fester in ihren Umhang und bedeckte ihr Haupt, dann harrte sie still aus. Wer sie so sah, reglos inmitten des Wirbelsturms, hätte sie für eine Götterstatue halten können, eine Götterstatue ohne Gesicht.

Der Wind legte sich so plötzlich, wie er aufgezogen war, und die Staubwolken lichteten sich, aber auf den Statuen, Stelen und Altären, die den heiligen Ort schmückten, blieb eine dünne Schicht feinen roten Sandes zurück.

Der Priester, der als letzter gesprochen hatte, nahm mit der Fingerkuppe ein wenig davon auf und strich es auf seine Lippen. »Diesen Staub hat uns der libysche Wind gebracht, der Atem des Zeus Ammon, der sein Orakel unter den Palmen von Siwa hat. Das ist ein Zeichen des Himmels, ein Wunder: Die beiden ältesten Orakel der Welt haben im selben Moment gesprochen, obwohl riesige Entfernungen sie voneinander trennen. Dein Sohn hat Stimmen gehört, die aus weiter Ferne kommen, und vielleicht hat er ihre Botschaft verstanden. Eines Tages wird er sie wieder hören, in einem großen Tempel, der von Wüstensand umgeben ist.«

Nachdem sie diese Worte vernommen hatte, kehrte die Königin nach Pella zurück, in die Hauptstadt Makedoniens, deren Straßen im Sommer staubbedeckt und im Winter matschig waren; dort erwartete sie mit Ehrfurcht und Spannung den Tag ihrer Niederkunft.

 

Die Wehen begannen an einem Frühlingsabend unmittelbar nach Sonnenuntergang. Die Mägde entzündeten die Öllampen, und Artemisia, ihre Amme, ließ die Hebamme und den Arzt Nicomachos rufen, der schon den alten König Amyntas behandelt und so manchen königlichen Sprößling ans Licht der Welt geholt hatte, ob ehelich oder Bastard.

Nicomachos stand bereit, denn er wußte, daß es an der Zeit war. Er band sich eine Schürze um, befahl, Wasser heiß zu machen und weitere Leuchter zu bringen, damit es an Licht nicht fehlte, doch die Königin ließ er zunächst von der Hebamme untersuchen. Er wußte, daß gebärende Frauen sich lieber von Frauen anfassen lassen; nur sie können den Schmerz und die Einsamkeit nachvollziehen, unter denen neues Leben entsteht.

König Philipp war in diesem Moment mit der Belagerung der Stadt Poteidaia beschäftigt und hätte um nichts in der Welt die Front verlassen.

Die Geburt wurde lange und schwierig, denn Olympias war zart gebaut und hatte ein sehr schmales Becken.

Die Hebamme trocknete ihr unermüdlich den Schweiß ab und sagte immer wieder: »Du mußt drücken, Kind! Komm, nimm deine ganze Kraft zusammen! Wenn du den kleinen Balg erst mal siehst, sind alle Qualen vergessen.«

Sie benetzte ihre Lippen mit frischem Quellwasser aus einer Silberkanne, das die Dienerinnen ständig erneuerten.

Als der Schmerz jedoch so stark wurde, daß Olympias fast das Bewußtsein verlor, griff Nicomachos ein. Er lenkte die Hände der Hebamme und befahl Artemisia, auf den Bauch der Königin zu drücken, denn sie hatte keine Kraft mehr und das Kind litt.

Das Ohr auf Olympias Unterleib gepreßt, hörte er den Herzschlag des Kleinen schwächer werden.

»Drück, so fest du kannst«, ordnete er der Hebamme an. »Das Kind muß sofort heraus!«

Da warf sich Artemisia mit ihrem ganzen Gewicht auf die Königin, die einmal laut aufschrie und gebar.

Nicomachos band mit einem Leinenfaden die Nabelschnur ab und durchtrennte sie sofort mit einer bronzenen Schere, worauf er die Wunde mit purem Wein desinfizierte.

In diesem Moment begann das Kind zu schreien. Nicomachos überreichte es den Frauen, damit sie es waschen konnten. Artemisia bekam es als erste zu sehen und war hingerissen.

»Ist er nicht entzückend?« fragte sie, während sie dem Kleinen mit einem ölgetränkten Wollebausch übers Gesicht fuhr. Die Hebamme wusch ihm das Köpfchen, und als sie es abtrocknete, kam sie aus dem Staunen nicht heraus: »Das sind ja Haare wie bei einem sechs Monate alten Kind! Und wie die schimmern! Ein richtiger kleiner Eros!«

Artemisia zog dem Kleinen eine winzige Leinentunika an, denn Nicomachos wollte nicht, daß man ihn so fest wickelte, wie es in den meisten Familien üblich war.

»Was meinst du, was für eine Augenfarbe hat er?« fragte sie die Hebamme.

Die Frau hielt eine Lampe über den Kleinen, dessen Augen nun regelrecht schillerten. »Ich weiß nicht, schwer zu sagen. Manchmal kommen sie mir blau vor, dann wieder dunkel, fast schwarz. Woran mag das wohl liegen? Wahrscheinlich daran, daß seine Eltern vom Wesen her so unterschiedlich sind …«

Nicomachos kümmerte sich unterdessen um die Königin, die wie viele Erstgebärende nach der Geburt stark blutete. In weiser Voraussicht hatte der Arzt auf dem Berge Bermion Schnee sammeln lassen. Damit machte er nun Kompressen, die er Olympias auf den Bauch legte, und obwohl die Königin vor Kälte und Erschöpfung zitterte, nahm er die eisigen Umschläge erst ab, als die Blutungen völlig zum Stillstand gekommen waren.

Als es soweit war, zog er seine Schürze aus, wusch sich die Hände und überließ Olympias der Pflege der Frauen. Sie wechselten ihre Leintücher, wischten ihr mit weichen, rosenwassergetränkten Schwämmen den Schweiß ab, zogen ihr ein frisches Nachthemd an und gaben ihr zu trinken.

Dann zeigte Nicomachos ihr den Kleinen: »Hier ist er, Königin: Philipps Sohn. Du hast einen prächtigen Jungen zur Welt gebracht.« Damit verließ er ihr Gemach.

Im Korridor wartete ein Reiter der königlichen Garde auf ihn.

»Los, schnell! Reite zum König und richte ihm aus, daß sein Kind geboren ist. Sag ihm, daß es ein hübscher Junge ist und daß er kräftig und gesund ist.«

Der Reiter warf sich den Mantel über die Schultern, hängte seinen Quersack um und stob wie der Blitz davon. »Sag ihm auch, daß die Königin wohlauf ist«, schrie Nicomachos ihm nach, als er fast schon am Ende des Korridors war, aber der Mann wandte nicht einmal den Kopf. Wenig später hörte man aus dem Hof das Wiehern eines Pferdes und dann Hufgetrappel, das sich in den Gassen der schlafenden Stadt verlor.

2

Artemisia holte das weinende Kind aus der Wiege und legte es neben die Königin aufs Bett, die es, auf die Ellbogen gestützt, ausführlich betrachtete.

Es war wirklich wunderhübsch mit seinen zarten, rosigen Bäckchen und dem vollen kleinen Mund. Das hellbraune Haar hatte einen goldenen Schimmer, und genau über der Stirn hatte der Kleine einen niedlichen Wirbel.

Seine Augen kamen ihr blau vor, aber das linke Auge war irgendwie überschattet. Unter bestimmten Lichtverhältnissen wirkte es dunkler als das andere.

Olympias nahm ihn auf, drückte ihn an sich und wiegte ihn sanft, bis er aufhörte zu weinen. Dann entblößte sie ihre Brust, um ihn zu stillen, doch Artemisia fuhr dazwischen: »Dafür ist die Amme da, mein Kind. Verdirb dir nicht deinen schönen Busen! Bald kommt der König zurück, und dann mußt du hübscher und begehrenswerter sein denn je.«

Sie wollte nach dem Kind greifen, aber die Königin wehrte ab, legte sich den Kleinen an die Brust und gab ihm so lange von ihrer Milch zu trinken, bis er friedlich einschlummerte.

Unterdessen ließ der Bote seinem Pferd die Zügel schießen. Er wollte so schnell wie möglich beim König sein. Gegen Mitternacht erreichte er den Fluß Axios, den er auf einer Schiffbrücke überquerte, und noch vor Tagesanbruch war er in Therme. Dort wechselte er nur sein Roß und ritt augenblicklich weiter, quer durch die Halbinsel Chalkidike.

Als er ans Meer kam, ging gerade die Sonne auf. Glutrot spiegelte sie sich auf der glatten Wasseroberfläche des weiten Golfs, der lichterloh zu brennen schien. Auf steilen Wegen erklomm er das Kalauros-Gebirge, unwegsam und karg war hier die Landschaft, und immer wieder klafften gefährliche Felsenschlünde, in deren Tiefen die Meeresgischt brodelte.

 

Der König belagerte die alte Stadt Poteidaia, die seit fast einem halben Jahrhundert von Athen kontrolliert wurde. Nicht daß Philipp sich unbedingt mit den Athenern anlegen wollte, aber seinem Dafürhalten nach lag die Stadt auf makedonischem Gebiet, und er hatte sich eisern vorgenommen, seine Machtansprüche vom thermäischen Meerbusen bis zum Bosporus geltend zu machen. In diesem Augenblick befand er sich, von seiner Garde umringt, bis an die Zähne bewaffnet und mit Schweiß, Staub und Blut bedeckt in einem Belagerungsturm und bereitete sich auf die entscheidende Attacke vor.

»Männer!« schrie er. »Wer Mut hat, kann es jetzt beweisen! Mein schönstes Pferd dem, der als erstes mit mir die Stadtmauer des Feindes stürmt! Aber wehe, ich sehe auch nur einen im entscheidenden Moment wanken. Ich werde ihn peitschen, bis ihm die Haut in Fetzen herabhängt! Eigenhändig! Das schwöre ich bei Zeus! Verstanden?«

»Verstanden, König!«

»Dann, los!« befahl Philipp und gab ein Zeichen, die Blockaden der Winden zu lösen. Wuchtig donnerte die Brücke des Turms gegen die Stadtmauer, die sofort nachgab, da von

Sturmböcken bereits einiges an Vorarbeit geleistet worden war. Sein Schwert schwingend und mit wildem Geschrei stürmte der König los. Seine Männer kamen ihm kaum nach, so schnell war er; da sie aber wußten, daß er seine Drohungen noch immer wahr gemacht hatte, stürzten sie ihm alle auf einmal mit klirrenden Schildern hinterher. Wie eine Flutwelle brachen sie über die Verteidiger von Poteidaia herein, die nach der langen Belagerung halb verhungert waren und außerdem total erschöpft von den monatelangen Kämpfen und Nachtwachen. Die Männer aus Philipps Garde fegten sie nur so zur Seite, und wen sie nicht überrannten, holten sie mit wenigen Schwerthieben von den Wehrgängen der Mauer herunter. Wenig später ergoß sich das übrige Heer in die Straßen der Stadt, wo man sich in Häusern und hinter Barrikaden verschanzt hatte. Es kam noch einmal zu erbitterten Kämpfen, aber mit Sonnenuntergang ergab sich Poteidaia und kapitulierte.

 

Der Bote hatte noch zweimal das Pferd gewechselt, und als er auf den Hügeln über Poteidaia ankam, war es fast Nacht. Rings um die Stadtmauer sah er Lagerfeuer brennen, und er konnte auch das Lärmen der makedonischen Soldaten hören, die ausgelassen den Sieg feierten.

Erfreut gab er seinem Roß die Sporen und hatte in Kürze das Lager erreicht, wo er verlangte, zum Zelt des Königs gebracht zu werden.

»Was willst du?« fragte ihn der wachhabende Offizier, der seinem Akzent nach aus dem Norden kam. »Der König ist beschäftigt. Poteidaia ist gefallen. Er verhandelt mit einer Abordnung der Stadt.«

»Makedonien hat einen Prinzen«, erwiderte der Bote.

Der Offizier reagierte sofort: »Komm mit!«

Philipp saß, von Feldherren umringt, in seinem Zelt; er trug noch immer seine Rüstung. Direkt hinter ihm war sein Statthalter Antipatros, und ringsherum saßen die Gesandten Poteidaias, die allerdings weniger verhandelten, als dem König zuzuhören und sich seine Bedingungen diktieren zu lassen.

Der Offizier wußte, daß Störungen nicht geduldet wurden, aber eine so wichtige Nachricht konnte er unmöglich zurückhalten, das wäre mit Sicherheit noch weniger geduldet worden. Er holte also tief Luft und verkündete dann in einem Atemzug:

»König, Nachrichten aus dem Palast: Du hast einen Sohn!«

Die Gesandten von Poteidaia, blaß und abgemagert wie sie waren, blickten sich ratlos an und erhoben sich von den Schemeln, die man ihnen angeboten hatte. Antipatros stand ebenfalls auf und kreuzte die Arme vor der Brust wie jemand, der auf Order wartet.

Philipp brach mitten im Satz ab: »Ich will von euch …« und fuhr mit völlig veränderter Stimme fort: »… einen Sohn!«

Die Gesandten von Poteidaia, die immer noch nichts begriffen, sahen sich verzweifelt an, aber Philipp hatte bereits seinen Stuhl nach hinten gestoßen, den Offizier brüsk zur Seite geschoben und sich förmlich auf den Boten gestürzt.

Sein Gesicht wirkte wie gemeißelt im Licht-Schatten-Spiel der Kerzen, die seinen Blick entflammten. »Sag mir, wie er ist«, befahl er dem Boten im selben Ton, in dem er seinen Kriegern befahl, für ihr Vaterland, das glorreiche Makedonien, zu sterben. Der Bote erschrak im ersten Moment, denn wie sollte er diesem Befehl nachkommen, wo er doch selbst kaum etwas wußte. Doch dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen, räusperte sich und verkündete mit Stentorstimme:

»Dein Sohn ist hübsch, gesund und kräftig, König!«

»Woher weißt du das? Hast du ihn gesehen?«

»Nein, Herr, wie könnte ich es wagen. Ich habe im Korridor gewartet, wie du mir befohlen hast. Irgendwann ist dann Nicomachos herausgekommen: ›Los, schnell‹, hat er gesagt, ›reit zum König und richt ihm aus, daß sein Kind geboren ist. Sag ihm, daß es ein hübscher Junge ist und daß er kräftig und gesund ist.‹ Genau das waren seine Worte.«

»Hat er dir auch gesagt, ob er mir ähnelt?«

Der Mann zögerte einen Moment.

»Nein«, erwiderte er dann, »aber ich bin sicher, er tut es.«

Philipp wandte sich Antipatros zu, der ihm entgegenkam, um ihn zu umarmen, und in diesem Moment fiel dem Boten ein, daß Nicomachos ihm ja noch etwas nachgerufen hatte, als er bereits die Treppen hinunterrannte.

»Der Arzt hat auch gesagt …«

Philipp drehte sich blitzartig nach ihm um: »Was?«

»Daß die Königin wohlauf ist«, erwiderte der Bote in einem Atemzug.

»Wann war die Geburt?«

»Vorgestern abend kurz nach Sonnenuntergang. Ich bin sofort losgeritten. Unterwegs habe ich weder gegessen noch gerastet, nur aus meiner Feldflasche getrunken. Und abgestiegen bin ich nur, wenn ich das Pferd gewechselt habe. Ich wollte dir so schnell wie möglich die frohe Nachricht überbringen.«

Philipp klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.

»Dieser Freund hat mir die schönste aller Nachrichten gebracht. Gebt ihm zu essen und zu trinken, soviel er will. Und gebt ihm ein gutes Bett, damit er sich ausruhen kann.«

Jetzt beglückwünschten auch die Gesandten von Poteidaia den König. Sie hofften, den günstigen Augenblick ausnützen und bei den Verhandlungen noch den einen oder anderen Vorteil für sich herausschlagen zu können, Philipp war ja nun glänzender Laune, aber ihre Hoffnungen wurden schnell enttäuscht. »Nicht jetzt«, sagte der Herrscher und verließ das

Zelt.

Er ließ die Befehlshaber sämtlicher Truppeneinheiten zusammenrufen, reichlich Wein herbeischaffen und stieß mit allen an. Dann befahl er ihnen, augenblicklich zum Appell zu blasen. »Ich will mein gesamtes Heer versammelt haben, Fußvolk und Reiterei! Alles in Reih und Glied!«

Wenig später schallten die Trompeten übers Lager, und die Soldaten, von denen viele schon betrunken waren oder sich mit Prostituierten in ihren Zelten vergnügten, rappelten sich auf, legten die Rüstungen an, schnappten sich ihre Lanzen und eilten so schnell es ging zum Exerzierplatz, denn wenn die Trompeten ertönten, war es, als rufe der König selbst sie zusammen.

Philipp stand bereits auf einem Podium, aufrecht inmitten seiner Feldherren, und als die Soldaten in Reih und Glied angetreten waren, schrie der älteste von ihnen, wie es Sitte war: »Warum hast du uns gerufen, König? Was willst du von deinen Soldaten?«

Philipp trat einen Schritt vor. Er hatte seine Paraderüstung aus Eisen und Gold sowie silberne Beinschienen angelegt; darüber trug er einen langen, schneeweißen Umhang.

Die Stille wurde nur vom Schnauben der Pferde unterbrochen und von den Lauten vereinzelter Nachttiere, die die Lagerfeuer anzogen. Die Generäle, die neben dem König standen, konnten sehen, daß er gerötete Wangen und glänzende Augen hatte.

»Makedonier!« schrie er. »Die Königin hat mir daheim, in Pella, einen Sohn geboren. Ich vertraue ihn eurem Schutz an und erkläre in eurer aller Anwesenheit, daß er mein rechtmäßiger Erbe ist. Sein Name ist: ALEXANDER!«

Die Offiziere befahlen den Soldaten, ihre Waffen zu präsentieren. Die Fußsoldaten reckten ihre Sarissen – riesige, zwölf Fuß lange Lanzen – in den Himmel, und die Kavallerie bot einen Wald aus Speeren dar, während die Schlachtrösser mit den Hufen scharrten und nervös an ihren Zügeln zerrten. Dann begannen alle, rhythmisch den Namen des Prinzen zu rufen: »Alexandre! Alexandre! Alexandre!«, wobei sie mit ihren Lanzen gegen die Schilder schlugen. So, wie der ohrenbetäubende Waffenlärm und ihr Geschrei emporstiegen zu den Göttern, deren Heimat die Konstellationen am Firmament waren, so sollte auch der Ruhm von Philipps Sohn dort hinaufsteigen.

Nachdem die Heeresversammlung wieder aufgelöst war, kehrte der König mit Antipatros und seinen Feldherren in das Zelt zurück, wo die Gesandtschaft Poteidaias geduldig und resigniert auf ihn wartete. »Ich bedaure nur eins«, gestand er. »Daß Parmenion heute nicht unter uns ist und sich mit mir freuen kann.«

Philipps Feldherr Parmenion war mit seiner Truppe momentan in den illyrischen Bergen stationiert, nicht weit vom Lychnitis-See, um auch in dieser Gegend die Grenzen Makedoniens abzusichern. Später wurde immer wieder behauptet, Philipp habe am selben Tag, an dem er von der Geburt seines Sohnes erfuhr, die Stadt Poteidaia erobert und Nachricht von zwei weiteren Siegen erhalten: von Parmenions Sieg über die Illyrier und vom Sieg seines Vierspänners beim Wagenrennen in Olympia. Dies brachte auch die Wahrsager dazu, dem gleichzeitig mit drei Siegen geborenen Knaben zu prophezeien, er werde unbesiegbar sein.

In Wirklichkeit unterwarf Parmenion die Illyrier erst zu Beginn des Sommers, und die Olympischen Spiele fanden sogar noch später statt. Trotzdem kann nicht bezweifelt werden, daß die Sterne im Geburtsjahr Alexanders denkbar günstig für ihn standen. Alles deutete darauf hin, daß seine Zukunft mehr der eines Gottes als der eines normal Sterblichen gleichen würde.

Die Gesandten von Poteidaia versuchten die Verhandlungen dort wieder aufzunehmen, wo man sie unterbrochen hatte, aber Philipp verwies sie an seinen Statthalter: »Sprecht mit General Antipatros. Er kann mich bestens vertreten.«

»Aber, Herr!« warf Antipatros ein. »Es ist absolut notwendig, daß du als König …«

Er war mit seinem Satz noch nicht zu Ende, da hatte Philipp sich bereits den Mantel über die Schultern geworfen und mit einem Pfiff sein Pferd gerufen. Antipatros rannte ihm nach:

»Herr, wir haben Poteidaia monatelang belagert und den Sieg bitter erkämpft. Da kannst du doch nicht ausgerechnet jetzt …«

»Sicher kann ich!« fiel der König ihm ins Wort, schwang sich auf sein Pferd und gab ihm die Sporen. Antipatros schüttelte den Kopf und wollte gerade ins Zelt zurückkehren, als Philipp ihn noch einmal anrief:

»Antipatros! Hier, nimm!« Mit diesen Worten zog er sich seinen Siegelring vom Finger und warf ihn dem Statthalter zu. »Das wirst du brauchen. Und handle mir einen guten Vertrag aus. Dieser Krieg hat uns verflucht viel gekostet.«

Antipatros fing den Ring mit dem königlichen Siegel auf und sah nachdenklich seinem Herrn nach, der quer durchs Lager davonstob und in Richtung Norden verschwand. Dann wandte er sich ruckartig nach den Männern der Leibgarde um und brüllte: »Was steht ihr da und glotzt? Wollt ihr ihn allein reiten lassen? Ihm nach, Idioten!«

Und während die Männer auf ihre Pferde sprangen und Philipp hinterherjagten, der bereits auf halber Höhe des Berges war, sah Antipatros noch einmal seinen flatternden, weißen Mantel im Mondlicht leuchten, dann hatte ihn die Nacht verschluckt.

Er ging ins Zelt zurück, ließ die Gesandten von Poteidaia, denen die Sache immer seltsamer vorkam, wieder Platz nehmen und fragte sie, indem auch er sich setzte: »Also, wo waren wir stehengeblieben?«

Philipp ritt die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag hindurch und stieg nur ab, um das Pferd zu wechseln oder zusammen mit seinem Tier aus Bächen und Quellen zu trinken.

Lange nach Einbruch der Dämmerung, als die letzten Sonnenstrahlen die schneebedeckten Spitzen des Bermion in der Ferne purpurrot färbten, bot sich ihm der erste Blick auf Pella. Riesige Pferdeherden galoppierten über die Ebene, wie Meereswogen überrollten sie das Land, und auf der stillen Wasseroberfläche des Borboros-Sees ließen sich Tausende von Vögeln zum Schlafen nieder.

Der Abendstern war bereits aufgegangen und strahlte, als wolle er sich mit dem Mond messen, der sich im ruhigen Meer spiegelte. Das war der Stern der Argeaden, des Königsgeschlechts, das seit Herakles über dieses Land herrschte, der unsterbliche Stern, der schönste am Himmel.

Philipp zügelte sein Pferd, um ihn zu betrachten und anzurufen.

»Steh meinem Sohn bei«, bat er aus tiefstem Herzen. »Laß ihn nach mir regieren, und nach ihm seine Kinder und die Kinder seiner Kinder.«

Dann ritt er zum Schloß hinauf, wo er unerwartet, erschöpft und schweißgebadet eintraf. Er wurde von der üblichen Geräuschkulisse empfangen: Im Hof klirrten Waffen, und in den Palastgängen rauschten die Gewänder geschäftig hin und her eilender Frauen.

Als er ins Schlafzimmer kam, saß die Königin auf einem Schemel. Sie trug ein fein plissiertes, ionisches Nachthemd, unter dem sich ihr nackter Körper abzeichnete. Das Zimmer roch nach Pieria-Rosen, und die Amme Artemisia hielt das Kind im Arm.

Zwei Diener schnallten ihm das Schwert ab und lösten die Schulterriemen seines Brustpanzers, damit er den Hautkontakt mit dem Kind spüren konnte. Philipp nahm es der Amme ab und schmiegte es an sich, zwischen Hals und Schlüsselbein. Er fühlte seine weichen Lippen auf der Narbe, die er auf der Schulter hatte, und genoß seine Wärme und den Duft seiner schneeweißen Haut.

Der König schloß die Augen und blieb lange reglos in dem stillen Zimmer stehen. In diesem Moment vergaß er alles: den Lärm des Schlachtfelds, das Geschrei der Soldaten, den donnernden Hufschlag der Pferde. Hingerissen lauschte er dem Atem seines Kindes.

3

Ein Jahr später gebar Olympias eine Tochter, der man den Namen Kleopatra gab. Sie ähnelte ihrer Mutter und war so niedlich, daß die Mägde sie den ganzen Tag umzogen, als wäre sie eine Puppe.

Alexander, der bereits vor drei Monaten das Laufen gelernt hatte, durfte sie erst mehrere Tage nach ihrer Geburt zum erstenmal sehen. Die Amme hatte ihm ein kleines Geschenk für Kleopatra mitgegeben, mit dem er sich vorsichtig der Wiege näherte. Mit weit aufgerissenen Augen und zur Seite geneigtem Kopf betrachtete er das Neugeborene. Eine Magd stellte sich vorsorglich neben ihn; sie fürchtete, er könne der Kleinen aus Eifersucht womöglich etwas antun. Statt dessen nahm er ihr Händchen und drückte es liebevoll, als ahne er, daß ganz besondere Bande ihn mit diesem kleinen Wesen verbanden, das lange Zeit sein einziger Spielgefährte sein sollte.

Kleopatra brabbelte etwas, und Artemisia sagte: »Siehst du? Sie freut sich, dich kennenzulernen. Warum gibst du ihr nicht dein Geschenk?«

Alexander zog einen Metallreifen mit Silberglöckchen hervor und schüttelte ihn vor dem Gesicht der Kleinen, die augenblicklich danach griff. Olympias beobachtete die beiden gerührt. »Wäre es nicht schön, die Zeit anhalten zu können?« dachte sie laut.

Philipp war vor und nach der Geburt seiner Kinder monatelang in blutige Kriege verstrickt. Aus dem Westen drohte nie Gefahr, dort lag das befreundete Epeiros, das von Olympias’ Onkel Arybbas regiert wurde, aber im Osten stellten die kriegerischen Stämme der Thraker eine schwere Bedrohung dar. Philipp gelang es, sie in mehreren Feldzügen zu unterwerfen und den makedonischen Machtbereich bis an den Ister auszuweiten. Und während Parmenion mit seinem Sieg über die Illyrier die nördlichen Grenzen des Reichs absicherte, eroberte Philipp fast sämtliche Städte, die die Griechen an seinen Küsten gegründet hatten, wie Amphipolis, Methone und Poteidaia. Neuerdings mischte er sich nun auch in die internen Auseinandersetzungen auf der hellenischen Halbinsel ein.

Parmenion gefiel diese Art von Politik überhaupt nicht, und als im Waffensaal des Palasts wieder einmal der Kriegsrat tagte, ergriff er das Wort:

»Herr, du hast ein mächtiges, kompaktes Reich geschaffen, das die Makedonier mit Stolz erfüllt. Warum willst du dich jetzt in die internen Kriege der Griechen einmischen?«

»Parmenion hat Recht«, schaltete Antipatros sich ein. »Die Griechen sind völlig untereinander zerstritten. Jeder kämpft gegen jeden. Die Verbündeten von gestern führen heute Krieg gegeneinander, und der Verlierer tut sich womöglich mit seinem Erbfeind zusammen, bloß um sich an den anderen zu rächen.«

»Ich weiß«, Philipp nickte. »Aber die Griechen haben viel, was uns fehlt: die Kunst, die Philosophie, die Poesie, das Theater, die Medizin, die Musik, die Architektur und vor allem die Politikwissenschaft, die Kunst des Regierens.«

»Was nützt dir die Wissenschaft?« warf Parmenion ein.

»Du bist ein König. Du brauchst nur zu befehlen, und alles gehorcht dir.«

»Solange ich kann …«, entgegnete Philipp. »Solange mir keiner ein Messer zwischen die Rippen rammt.«

Parmenion erwiderte nichts. Er wußte nur zu gut, daß noch kein Makedonenkönig in seinem Bett gestorben war. Irgendwann brach Antipatros das Schweigen, das wie ein Mühlstein auf der Versammlung lastete.

»Wenn du unbedingt die Hand in den Rachen des Löwen legen willst, so kann ich dich nicht davon abhalten. Um aber die geringste Hoffnung auf Erfolg zu haben, würde ich dir raten …«

»Was?«

»In Griechenland gibt es nur eine Macht, die stärker ist als die anderen, eine Stimme, die alle verstummen läßt …«

»Das Apollon-Heiligtum in Delphi«, sagte der König.

»Genau, oder besser seine Priester und der Tempelrat.«

»Ich weiß«, erwiderte Philipp. »Wer das Heiligtum kontrolliert, regiert die Griechen. Aber ich weiß auch, daß der Tempelrat momentan in Schwierigkeiten ist: Er hat zum Heiligen Krieg gegen die Phoker aufgerufen, weil sie Felder bestellten, die Apollon gehören. Die Phoker haben daraufhin bei Nacht und Nebel den gesamten Tempelschatz geraubt – immense Reichtümer. Und damit heuern sie nun Tausende von Söldnern an. Nur Makedonien könnte diesem Konflikt noch einmal eine Wende geben …«

»Du hast also beschlossen, in den Krieg einzutreten«, sagte Parmenion.

»Unter einer Bedingung: Wenn ich gewinne, will ich den Sitz und die Stimme der Phoker im Tempelrat und außerdem seinen Vorsitz!«

Antipatros und Parmenion begriffen, daß jede Widerrede zwecklos war: Der König hatte bereits einen ausgeklügelten Plan, und den würde er durchsetzen, koste es, was es wolle.

Es wurde ein langer, harter Krieg, in dem bald der eine, bald der andere einen Sieg oder Verlust davontrug. Alexander war drei Jahre alt, als Philipp seine erste, schwere Niederlage erlitt und zum Rückzug gezwungen war. Feinden, die behaupteten, sie hätten ihn in die Flucht geschlagen, antwortete er: »Ich bin nicht geflohen. Ich bin nur zurückgewichen, um neuen Anlauf zu nehmen. Das nächste Mal werde ich wie ein wild gewordener Bock zustoßen!«

So war Philipp. Ein Mann mit eisernem Willen, überschäumender Vitalität und scharfem Verstand. Nichts konnte ihn umwerfen. Aber Männer wie er werden immer einsamer, denn sie kümmern sich immer weniger um die Menschen, die ihnen am nächsten stehen.

Alexander war etwa sechs Jahre alt, als er anfing zu begreifen, was um ihn herum geschah und wer sein Vater und seine Mutter waren. Er konnte bereits flüssig sprechen und selbst schwierigen und sehr komplexen Gedankengängen folgen.

Wenn er herausbekam, daß sein Vater im Palast war, stahl er sich aus den Gemächern der Königin und schlich zum Versammlungssaal, wo Philipp mit seinen Generälen Rat hielt. Sie kamen ihm alt vor, denn das harte Kriegerleben hatte seine Spuren auf ihren Gesichtern hinterlassen, und doch waren sie kaum über Dreißig, außer Parmenion, der bereits auf die Fünfzig zuging und schon weiße Haare hatte. Wenn Alexander ihn sah, begann er einen Auszählreim herzusagen, den er von Artemisia gelernt hatte:

 

»Der alte Soldat zieht in den Krieg

fällt in den Dreck, und du bist weg!«

 

Und dann warf er sich unterm Gelächter aller Anwesenden auf den Boden.

Vor allem jedoch beobachtete er den Vater, sein Verhalten, seine Gesten, wie er die Augen umherschweifen ließ, wie er

Klang und Tonlage seiner Stimme veränderte und mit einem einzigen Blick die kräftigsten und mächtigsten Männer seines Reichs dominierte.

Während der Ratsversammlungen näherte er sich ihm heimlich, Schritt um Schritt, und wenn Philipp so richtig in Fahrt war und feurige Reden schwang, kletterte er ihm rasch auf die Knie, in der Annahme, der Vater merke es im Eifer des Gefechts nicht. Tatsächlich schien Philipp seinen Sohn erst in diesen Momenten wahrzunehmen. Er drückte ihn dann an sich und versuchte, sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen, aber er merkte natürlich, daß seine Feldherren abgelenkt waren, daß sie verstohlen den Jungen betrachteten, daß ihr Gesichtsausdruck weicher wurde und ein Lächeln auf ihre Lippen trat, egal, wie ernst das Thema war, das sie gerade behandelten.

Irgendwann verschwand der Junge dann wieder – so unauffällig, wie er gekommen war. Manchmal zog er sich in sein Zimmer zurück, in der Hoffnung, der Vater würde ihn dort besuchen kommen. Andere Male setzte er sich auf einen der vielen Balkone des Palasts und rührte sich lange nicht vom Fleck, den Blick starr auf den Horizont gerichtet, überwältigt von der Weite des Himmels und der Erde.

Wenn die Mutter ihn in solchen Momenten überraschte, fiel ihr auf, daß der Schatten über seinem linken Auge dunkler wurde, beinahe als senke sich eine geheimnisvolle Nacht über die Seele des kleinen Prinzen.

Waffen faszinierten ihn, und oft schon hatten ihn die Mägde im königlichen Waffensaal überrascht, wie er versuchte, eins von Philipps schweren Schwertern aus der Scheide zu ziehen.

Als Alexander eines Tages entzückt eine riesige Bronzerüstung betrachtete, die seinem Großvater Amyntas III. gehört hatte, spürte er plötzlich Blicke in seinem Rücken. Er drehte sich um und sah einen großen, hageren Mann mit Ziegenbärtchen und lebhaften schwarzen Augen vor sich stehen. Er sagte, er heiße Leonidas und sei sein Lehrer.

»Warum?« fragte der Junge.

Und auf diese erste Frage seines Schülers wußte der Lehrer keine Antwort.

Von jenem Tag an änderte sich Alexanders Leben gründlich. Seine Mutter und seine Schwester sah er immer seltener, den Lehrer dagegen um so öfter. Leonidas begann den Unterricht damit, daß er dem Jungen das Alphabet beibrachte. Schon am nächsten Tag überraschte er ihn dabei, wie er mit einem Stock seinen Namen in die Kaminasche schrieb.

Auch das Lesen und Rechnen lernte Alexander rasch und mühelos, wenn auch ohne sonderliches Interesse. Als Leonidas jedoch dazu überging, ihm Götter- und Heldensagen zu erzählen, Geschichten über die Entstehung der Welt und über die Kämpfe zwischen Riesen und Titanen, merkte er, daß Alexander ihm verzückt und mit leuchtenden Augen lauschte.

Der kleine Junge bewies von Anfang an einen starken Hang zum Mysteriösen und zur Religion. Eines Tages brachte Leonidas ihn zum Apollontempel in der Nähe von Therme und erlaubte ihm, der Statue des Gottes Weihrauch zu opfern. Alexander nahm beide Hände voll und warf gleich so viel von dem wertvollen Pulver in das glühende Räucherfaß, daß sich eine große Rauchwolke bildete.

»Was tust du da?« schimpfte der Lehrer. »Weihrauch kostet ein Vermögen! So verschwenderisch kannst du damit umgehen, wenn du die Länder erobert hast, aus denen er kommt.«

»Und wo liegen diese Länder?« fragte das Kind, dem es seltsam vorkam, mit Opfern sparsam umgehen zu müssen. »Mein Vater und der Gott Apollon sind dicke Freunde, nicht?«

»Gewissermaßen … Jedenfalls hat dein Vater den Heiligen Krieg gewonnen und ist zum Oberhaupt des Tempelrats von Delphi ernannt worden, wo auch das delphische Orakel ist.«

»Stimmt es, daß das Orakel allen sagt, was sie tun müssen?«

»Nicht ganz«, erwiderte Leonidas, indem er Alexander an der Hand nahm und wieder hinaus ins Freie führte. »Schau, das ist so: Wenn jemand etwas Wichtiges vorhat, fragt er vorher Apollon um Rat; er fragt: ›Soll ich das tun oder besser nicht? Und wenn ich es tue, was passiert dann?‹ So ungefähr. Und Apollon antwortet ihm durch eine Priesterin namens Pythia. Es ist, als spreche er aus ihrem Mund, verstehst du? Aber ihre Antworten sind immer rätselhaft und schwer zu deuten. Deshalb gibt es Priester, die sie den Leuten erklären.«

Alexander drehte sich um und starrte den Gott Apollon an, wie er da auf seinem Sockel stand, steif und reglos, die Lippen zu einem geheimnisvollen Lächeln verzogen, und er verstand, weshalb die Götter Menschen brauchen, um sprechen zu können.

Ein anderes Mal – die Königsfamilie war in die alte makedonische Hauptstadt Aigai gekommen, um an den Gräbern ihrer Vorfahren den Göttern zu opfern, – zeigte Leonidas ihm von einem Turm des Palastes aus den Olymp. Um seinen Gipfel ballten sich Gewitterwolken, aus denen grelle Blitze niederzuckten.

»Siehst du«, versuchte Leonidas ihm zu erklären, »die Götter sind nicht die Statuen, die wir in den Tempeln anbeten. Sie leben dort oben, in einem unsichtbaren Haus, und zwar bis in alle Ewigkeit, weil sie unsterblich sind. Dort sitzen sie auch beim Mahl zusammen, trinken Nektar und ernähren sich von Ambrosia. Und die Blitze schleudert Zeus höchstpersönlich auf die Erde hinunter. Er kann jeden damit treffen, egal, in welcher Ecke der Welt er sich befindet.«

Alexander starrte den mächtigen Berg mit offenem Mund an.

Am nächsten Tag gabelte ihn ein Wächter der königlichen Garde auf einem Weg außerhalb der Stadt auf, wie er schnurstracks auf den Olymp zumarschierte.

»Wo willst du denn hin, Alexander?« fragte er ihn von seinem Pferd herunter.

»Dort hinauf«, erwiderte der Junge und deutete auf den Berg.

Der Offizier hob ihn auf sein Pferd und brachte ihn zu Leonidas zurück, der schreckensbleich war und sich bereits die fürchterlichen Strafen ausgemalt hatte, die ihm gedroht hätten, wenn seinem Schüler etwas zugestoßen wäre.

Philipp ging es in jenem Jahr gesundheitlich ziemlich schlecht. Die strapaziösen Feldzüge und das unregelmäßige Leben, das er führte, wenn er nicht an der Front war, hatten ihre Spuren hinterlassen.

Alexander war froh darüber, denn so war sein Vater öfter daheim, und sie konnten viele Stunden zusammensein. Nicomachos, der königliche Leibarzt, kümmerte sich um den Kranken. Er hatte aus seiner Klinik in Stagyra zwei Assistenten mitgebracht, die ihm dabei halfen, in den Wiesen und Wäldern der umliegenden Berge jene Kräuter und Wurzeln zu sammeln, aus denen er seine Heilmittel herstellte.

Philipp wurde auf strenge Diät gesetzt und durfte so gut wie keinen Wein mehr trinken. Das verdarb ihm derart die Laune, daß sich außer Nicomachos keiner mehr in seine Nähe traute.

Einer der beiden Helfer des Arztes war ein etwa fünfzehnjähriger Junge, der ebenfalls Philipp hieß.

»Schaff mir den Kerl vom Hals«, befahl der König eines Tages. »Ich kann keinen zweiten Philipp um mich herum brauchen. Nein, warte, wir machen es so: Ich ernenne ihn zum Arzt meines Sohnes – unter deiner Aufsicht, versteht sich.«

Nicomachos, der die Grillen des Königs gewohnt war, nickte wortlos.

»Was macht dein Sohn Aristoteles?« fragte ihn der König ein andermal, während er mit angewiderter Miene eine Tasse Löwenzahntee schlürfte.

»Er lebt in Athen und besucht die Akademie Platons«, erwiderte der Arzt. »Angeblich ist er sogar sein bester Schüler.«

»So, so. Und mit welcher Art von Studien beschäftigt er sich?«

»Mein Sohn ist praktisch veranlagt, wie ich. Er beobachtet gern und interessiert sich mehr für die Naturphänomene als für die Welt der reinen Spekulation.«

»Und interessiert er sich auch für Politik?«

»Sicher, aber auch hier weniger für die Politikwissenschaften im eigentlichen Sinne als vielmehr für die unterschiedlichen Erscheinungsformen politischer Organisationen. Er sammelt Verfassungen und vergleicht sie miteinander.«

»Und wie denkt er über die Monarchie?«

»Ich glaube, er gibt keine Werturteile ab. Für ihn ist die Monarchie ganz einfach eine Regierungsform, die für gewisse Gemeinschaften typisch ist; andere Gemeinschaften haben andere Regierungsformen. Schau, Herr, ich glaube, mein Sohn möchte die Welt kennen, wie sie ist … keine Regeln darüber aufstellen, wie sie sein sollte.«

Philipp würgte unter dem wachsamen Auge seines Arztes den letzten Schluck Kräutertee hinunter, dann wischte er sich mit einem Zipfel seines Nachthemds den Mund ab und sagte: »Der Junge interessiert mich. Halt mich auf dem laufenden, Nicomachos.«

»Selbstverständlich. Mich interessiert er auch, schließlich ist er mein Sohn.«

Alexander besuchte Nicomachos in dieser Zeit sooft er konnte, denn er war ein freundlicher Mensch, der immer irgendeine Überraschung für ihn hatte, Leonidas dagegen war mürrisch und schrecklich streng.

Eines Tages betrat er das Zimmer des Arztes, während dieser seinem Vater gerade den Rücken abhörte und ihm danach am Handgelenk den Puls maß.

»Was machst du da?« wollte er wissen.

»Ich zähle die Herzschläge deines Vaters.«

»Wie kann ein Herz schlagen?«

»Dank der Lebensenergie.«

»Und wo kommt die her?«

Nicomachos sah dem Jungen in die Augen und erkannte darin unersättlichen Wissensdurst und große Gefühlsintensität. Unter Philipps verwunderten Augen tippte er dem Kleinen an die Stirn und sagte:

»Von da drin.«

4

Philipp war binnen kurzer Zeit völlig genesen und kehrte mit frischem Elan auf die politische Bühne zurück – sehr zur Enttäuschung einiger, die ihn bereits für so gut wie tot gehalten hatten.

Alexander tat es leid, daß sein Vater wieder so viel unterwegs war, aber er freundete sich jetzt immer häufiger mit Jungen seines Alters an – manche waren auch ein wenig älter als er –, bei denen es sich vorwiegend um Söhne makedonischer Adelsfamilien handelte. Daß diese bei Hofe verkehrten und sogar dort lebten, war ausdrücklicher Wunsch des Königs, denn er hoffte, damit die mächtigen Familien des Landes, die Stammes- und Sippenführer an sich binden und das Reich besser zusammenhalten zu können.

Einige der Jungen wurden wie Alexander von Leonidas unterrichtet, so Perdikkas, Lysimachos, Seleukos, Leonnatos und Philotas, ein Sohn des Feldherren Parmenion. Andere, etwas ältere wie Ptolemaios und Krateros waren schon »Pagen« und daher, was Erziehung und Ausbildung betraf, direkt dem König unterstellt.

Leonidas’ Liebling war aufgrund seiner exzellenten schulischen Leistungen Seleukos. Obwohl ziemlich klein und von zarter Statur, war der Junge ausgesprochen klug und reif für sein Alter. In Geschichte und Mathematik glänzte er besonders. Er löste die schwierigsten Rechenaufgaben in immer kürzerer Zeit und machte sich einen Spaß daraus, seine Freunde im Wettrechnen zu demütigen.

Seine tiefgründigen schwarzen Augen hatten einen sehr eindringlichen Blick, und die wilde Haarmähne unterstrich seine starke Persönlichkeit. Er war selbstbewußt und unabhängig, aber nicht rebellisch. Während des Unterrichts machte er gerne mit scharfsinnigen Bemerkungen auf sich aufmerksam, doch niemals versuchte er seinem Lehrer oder anderen Vorgesetzten nach dem Mund zu reden oder ihnen zu schmeicheln.

Lysimachos und Leonnatos waren die undiszipliniertesten unter den Jungen. Kein Wunder, denn sie kamen aus dem Landesinnern mit seinen riesigen Wäldern und Wiesen, wo sie die meiste Zeit zu Pferde im Freien verbracht hatten und in völliger Freiheit aufgewachsen waren. In einem Haus leben zu müssen, war für sie, wie in einem Gefängnis eingekerkert zu sein. Lysimachos, der etwas älter war, hatte sich schneller an das neue Leben gewöhnt, aber der siebenjährige Leonnatos mit seinen roten Haaren und den Sommersprossen gebärdete sich wie ein kleiner Wolf. Wenn Leonidas ihn bestrafen wollte, kratzte, biß und trat er ihn. Leonidas hatte natürlich versucht ihn zu zähmen, zuerst, indem er ihn bei Brot und Wasser einsperrte, während die anderen spielten, dann durch ausführlichen Gebrauch seiner Weidenrute. Aber Leonnatos wußte sich zu rächen: Jedesmal, wenn der Lehrer am Ende eines Korridors auftauchte, begann er lauthals ein Spottlied zu singen:

 

»Ek korí korí koróne!

Ek korí korí koróne!«

 

»Da kommt die krächz, krächz, Krähe!« Und wenn dann auch noch die anderen, einschließlich Alexander, in den Chor einstimmten, platzte der arme Leonidas fast vor Wut und rannte ihnen mit seiner Rute hinterher.

Kam es zu Raufereien, so wollte Leonidas nie klein beigeben, auch wenn die Kameraden, mit denen er sich balgte, älter und stärker waren als er. So war er immer mit Kratzern und blauen Flecken übersät und konnte sich bei offiziellen Anlässen und Hofzeremonien praktisch nicht blicken lassen – ganz im Gegensatz zu Perdikkas, dem gewissenhaftesten von allen; er fehlte nie, weder im Klassenzimmer noch bei den Leibesübungen oder beim Spielen. Perdikkas war nur ein Jahr älter als Alexander und neben Philotas sein engster Spielkamerad.

»Wenn ich mal groß bin, werde ich Feldherr wie dein Vater«, pflegte er zu Philotas zu sagen.

Was den vierzehnjährigen Ptolemaios betraf, so war er ein bißchen frühreif für sein Alter. Er bekam schon die ersten Pickel und hatte einen zarten Bartflaum auf der Oberlippe. Mit seiner wilden Löwenmähne und der ungewöhnlich großen Nase sah er etwas komisch aus, und seine Freunde hänselten ihn mit der Bemerkung, er habe sich wohl aus seiner Nase heraus entwickelt. Als Antwort auf diese Beleidigung hob Ptolemaios dann seine Tunika hoch und gab mit einem anderen Körperteil an, das seine Nase an Größe noch bei weitem übertraf.

Von diesen Ausrutschern abgesehen, war er jedoch ein anständiger Junge. Seine Leidenschaft war das Lesen und Schreiben. Eines Tages lud er Alexander in sein Zimmer ein und zeigte ihm seine Bücher, oder besser seine Papyrusrollen. Er hatte mindestens zwanzig davon.

»So viele!« rief der Prinz aus und wollte nach einer greifen.

»Halt!« sagte Ptolemaios. »Papyrus ist sehr empfindlich. Die Blätter sind dünn und brechen leicht; man muß wissen, wie man sie auf- und zurollt. Du kannst die Rollen nur in einem gut durchlüfteten, trockenen Raum aufbewahren, und du mußt überall Mausefallen aufstellen. Papyrus ist nämlich eine Leibspeise der Mäuse, und wenn sie an ihn rankommen, dann gute Nacht! So schnell, wie die dir zwei Bücher der »Ilias« oder eine Tragödie von Sophokles wegfressen, kannst du gar nicht gucken! Warte, ich roll dir mal eine auf«, fügte er dann hinzu und griff nach einer der Papyrusrollen; sie war mit einem roten Kärtchen versehen.

»So, siehst du? Das ist eine Komödie von Aristophanes, die »Lysistrate«, meine Lieblingskomödie. Sie erzählt von den Athenerinnen und Spartanerinnen, die es eines Tages satt hatten, daß ihre Männer ständig im Krieg waren. Wenn sie nämlich Lust hatten mit ihnen …« Ptolemaios unterbrach sich und sah den Jungen an, der ihm mit offenem Mund lauschte. »Ach, lassen wir das. Für diese Dinge bist du noch zu jung. Ich erzähl’s dir ein andermal, einverstanden?«

»Was ist eine Komödie?« fragte Alexander.

»Sag bloß, du warst noch nie im Theater!«

»Nein, wir Kinder dürfen da nicht hin. Aber ich weiß, daß es wie Geschichtenanhören ist, nur daß die Figuren echte Menschen sind; sie haben Masken vor dem Gesicht und geben sich als Herakles oder Theseus aus … manche sogar als Frauen.«

»Na ja, mehr oder weniger«, sagte Ptolemaios. »Erzähl mal: Was bringt Leonidas euch denn so bei?«

»Zusammenzählen, abziehen, die geometrischen Figuren, die Sternbilder am Himmel … ich kann schon zwanzig erkennen – den Großen und den Kleinen Bären zum Beispiel. Lesen und schreiben kann ich auch. Ich habe die Fabeln von Äsop gelesen!«

»Das ist Kinderkram«, meinte Ptolemaios abschätzig.

»Außerdem kenne ich alle meine Vorfahren mit Namen … von Mamas und von Papas Seite. Ich stamme nämlich von Herakles und von Achilles ab!«

»Aha, und wer waren Herakles und Achilles?«

»Herakles war der stärkste Mann und der größte Held der Welt; er hat die zwölf Arbeiten verrichtet. Soll ich sie dir aufzählen? Der Nemeische Löwe, die Kerynitische Hirschkuh … Hirschkuh …«, begann der Kleine.

»Schon gut; ich sehe, das kannst du. Wenn du willst, lese ich dir mal eine von den Geschichten vor, die ich hier in meinem Zimmer habe. Die sind noch viel schöner. So, und jetzt geh spielen. Weißt du, daß ein Junge angekommen ist, der genauso alt ist wie du?«

Alexanders Gesicht hellte sich auf:

»Wo ist der?«

»Ich hab ihn im Hof unten Ballspielen gesehen. Er ist ziemlich groß und kräftig.«

Alexander rannte, so schnell er konnte, die Treppen hinunter. Beim Hofportal angekommen, blieb er stehen und beobachtete den neuen Gast, getraute sich aber nicht, ihn anzusprechen. Plötzlich rollte ihm der Ball direkt vor die Füße. Der fremde Junge rannte ihm nach, und da standen sie sich auch schon gegenüber.

»Möchtest du mit mir Ball spielen? Zu zweit macht es mehr Spaß. Ich schieße, und du fängst!«

»Wie heißt du?«

»Hephaistion, und du?«

»Alexander.«

»Also komm, stell dich an die Mauer. Ich schieße als erster, und wenn du den Ball fängst, bekommst du einen Punkt, dann schießt du. Wenn du ihn nicht fängst, darf ich noch mal schießen. Verstanden?«

Alexander nickte, und sie legten los. Bald hallte der ganze Hof von ihrem Geschrei. Erst als sie schweißgebadet und total erschöpft waren, hörten sie auf.

»Wohnst du hier?« fragte Hephaistion, indem er sich auf den Boden setzte.

Alexander ließ sich neben ihm nieder.

»Klar. Der Palast gehört ja mir.«

»Du lügst. Ein kleiner Junge hat nicht so einen großen Palast.«

»Eigentlich gehört er meinem Vater, König Philipp.«

Hephaistion riß die Augen auf.

»Bei Zeus!« entfuhr es ihm.

»Wollen wir Freunde sein?« fragte Alexander.

»Gut, aber dazu müssen wir Pfänder austauschen. Ohne Pfand keine Freundschaft.«

»Was ist das, ein Pfand?«

»Ganz einfach: Ich schenke dir etwas von mir, und du schenkst mir etwas von dir.« Hephaistion wühlte in seinen Taschen und zog einen kleinen weißen Gegenstand heraus.

»Oh, ein Zahn!«

»Ja.« Hephaistion pfiff durch die Lücke, die sein Schneidezahn hinterlassen hatte. »Der ist mir vorgestern nacht rausgefallen, ich hätte ihn fast verschluckt. Da, er gehört dir.«

Alexander nahm den Zahn an sich, aber er war sehr verlegen, weil er kein Gegengeschenk hatte. Während sich Hephaistion mit ausgestreckter Hand vor ihn stellte, stülpte er seine Taschen um und suchte verzweifelt nach irgend etwas.

Schließlich seufzte er tief, schluckte einmal und begann an einem seiner eigenen Zähne zu ziehen; der Zahn wackelte schon seit einigen Tagen, saß aber noch ziemlich fest. Alexander rüttelte heftig daran, es tat höllisch weh, und seine Augen füllten sich mit Tränen, doch er hörte nicht auf, bis er den Zahn in der Hand hatte – und den Mund voller Blut, das er auf den Boden spuckte. Nachdem er das »Pfand« rasch am Brunnen abgespült hatte, überreichte er es Hephaistion.

»So, jetzt sind wir Freunde.«

»Bis in den Tod?« fragte Hephaistion, während er den Zahn einsteckte.

»Bis in den Tod«, bekräftigte Alexander.

Gegen Ende des Sommers kündigte Olympias ihm die Ankunft seines Onkels Alexander aus Epeiros an.

Er wußte, daß er einen Oheim hatte, der genauso hieß wie er und der jüngere Bruder seiner Mutter war; als kleines Kind hatte er ihn auch schon ein paarmal gesehen, aber er erinnerte sich nicht mehr an ihn.