Algorytmica - Marion Herzog - E-Book

Algorytmica E-Book

Marion Herzog

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Beschreibung

Wir schreiben das 24. Jahrhundert: Nach einer globalen Katastrophe haben sich die Überlebenden in riesige unterirdische Bunkeranlagen, sogenannte Archen, zurückgezogen. Dank hochmoderner Technologie und fähiger Programmierer sind die Arche-Bewohner vierundzwanzig Stunden am Tag in virtuelle Welten eingeloggt und können so vergessen, dass sie tief unter der Erdoberfläche in winzigen Zellen an lebenserhaltende Systeme angeschlossen sind. Dann kommt es eines Tages zu einem Black-out, die Systeme fallen aus und es wird klar, wie verletzlich die unterirdische Gesellschaft eigentlich ist. Die Informatikstudentin Kaja wittert eine Verschwörung, aber niemand nimmt sie ernst. Sie erhält jedoch Unterstützung von unerwarteter Seite: Liam Turner ist ein brillanter Kopf, der Verbindungen ins Darknet hat, und er glaubt Kaja. Und tatsächlich kommen die beiden einem gewaltigen Komplott auf die Spur ...

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Seitenzahl: 527

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DAS BUCH

Die Erde im Jahr 2381: Eine globale Katastrophe hat die Menschheit nahezu komplett ausgelöscht. Die letzten Überlebenden fristen seit drei Generationen in unterirdischen Bunkeranlagen, den sogenannten Archen, auf engstem Raum ihr Dasein. In winzigen Zellen werden die Körper in Tanks am Leben erhalten, während die Bewohner den Alltag in einer digitalen Welt, dem Holovit, verbringen.

Die Studentin Kaja Andersson gehört zur Elite der Arche Hope of Tomorrow. Als Tochter des obersten Ratsmitglieds und führenden Programmierers der staatlichen Hologramme genießt sie ein Leben voller Privilegien. Ihr Abschluss an der Universität der Hope scheint ebenso sicher wie ihre Zulassung zum staatlich reglementierten Familienprogramm. Doch dann kommt es in der Hope zu mehreren Blackouts, die die Archebewohner in tödliche Gefahr bringen, und Kaja beginnt, an dem perfekten System, in dem sie lebt, zu zweifeln. Als sie durch ihren Kommilitonen Liam Turner eine Gruppe Darksurfer kennenlernt, die vorhaben, an die Erdoberfläche zurückzukehren, muss sie sich entscheiden. Nicht nur zwischen ihren Eltern und Liam, in den sie sich verliebt hat, sondern auch zwischen einem Leben im unterirdischen goldenen Käfig und der Freiheit an der Oberfläche. Einer Freiheit, von der niemand weiß, ob sie nicht zur tödlichen Falle wird …

DIE AUTORIN

Marion Herzog studierte Literaturwissenschaften und Anglistik in München und verbrachte einige Zeit in London und Auckland. Sie betreute viele Jahre als Redakteurin erfolgreich Buchprojekte, bevor sie ihre eigene Liebe zum Schreiben entdeckte. Unter anderem Namen hat sie bereits mehrere Krimis veröffentlicht, nun wagt sie mit Algorytmica den Aufbruch in die ferne Zukunft. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in München.

MARION

HERZOG

ALGORYTMICA

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Originalausgabe 12/2021

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2021 Regina Denk

Copyright © 2021 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-26367-6V001

www.diezukunft.de

Prolog

Samuel Crowe beobachtete konzentriert die vier Monitore. Endlich war es so weit. Seine Drohne begann nach einem langen Heimweg mit dem Landeanflug, und obwohl ihm eine ermüdende Nachtschicht in den Knochen steckte, durfte er jetzt keinen Fehler machen. Immerhin war es seine einzige Aufgabe, das Flugzeug sicher nach Hause zu bringen.

Es war ungewöhnlich ruhig auf der Lotsenbrücke. Ein angekündigter Sturm war der Grund dafür. Die meisten seiner Kollegen hatten ihre Babys längst ins Dock geholt und waren in die Sicherheit der tieferen Ebenen verschwunden. Außer ihm selbst waren nur noch vier weitere Drohnenpiloten anwesend. Cathy, Miriam und Don verfolgten an ihren Pulten zwei Reihen vor ihm die Flugbahnen ihrer eigenen Schützlinge. Auch die drei anderen Drohnen waren nicht mehr weit entfernt. Sie würden es rechtzeitig in die Arche schaffen.

Auf dem Platz direkt neben Samuel war Riley vor seinem virtuellen Cockpit eingeschlafen. Wie sein bester Freund es schaffte, seelenruhig vor sich hinzuschnarchen, während sein Flugzeug meilenweit entfernt unterwegs war, konnte Samuel nicht verstehen. Aber es war typisch für ihn. Was Riley nicht ändern konnte, das interessierte ihn auch nicht. Wäre es Samuels Drohne gewesen, die direkt auf einen Jahrhundertsturm zusteuerte, er hätte keine ruhige Minute gehabt. Doch die Sorge um sein ferngesteuertes Auge war nicht der einzige Grund für seine Nervosität an diesem Abend.

Das Blinken auf seinem Monitor zeigte ihm an, dass DX.567.34, oder Dottie, wie er sie liebevoll nannte, den Signalradius der Arche erreicht hatte. Nur wenige Sekunden später flackerte die Übertragung ihrer Außenkamera über den Screen. Wackelnd, vom Wind hin- und hergezerrt, schoss Dottie auf der südlichen Einflugschneise auf das Schott zu. Angespannt nagte Sam an seiner Unterlippe. Der Sturm war näher als gedacht und stärker. Samuel hatte das Landemanöver schon viele Hundert Male durchgeführt, und doch war er immer wieder nervös, als wäre es sein erster Flug. Sein Blick hüpfte zwischen den Bildschirmen hin und her. Er kontrollierte abwechselnd die Daten der errechneten Flugbahn, das Cockpit seiner Drohne und die Bilder, die sie ihm aus der Luft zeigte. Viel war darauf nicht zu erkennen. Der dichte rote Feinstaub schränkte die Sicht bis auf wenige Meter ein. Zudem funktionierte Dotties Liveübertragung nur in unmittelbarer Nähe der Arche. Je weiter sich die Drohne entfernte, desto schwächer wurde ihr Funksignal. Schon nach wenigen Kilometern war sie nicht mehr zu steuern und konnte nur noch ihrer vorprogrammierten Flugbahn folgen.

Nur eine der vielen Herausforderungen, die da draußen auf die Flieger wartete. Es kam immer wieder vor, dass Lotsen ihre Drohnen an die Oberfläche verloren. Samuel war das noch nie passiert, und es würde ihm auch heute nicht passieren. Seine Finger hüpften zwischen den Screens hin und her und justierten auf der transparenten Oberfläche die Koordinaten immer wieder neu. In schnellem Zickzack raste Dottie tief am Boden über aschgrauen Stein und rote Staubhügel, bis wie aus dem Nichts die Tore der Südschleuse auftauchten. Im selben Moment, in dem die Bilder Samuels Monitor erreichten, öffnete er mit einer geübten Handbewegung die Tore und ließ sein Baby ins Innere der Arche einfliegen.

Sobald sich die meterdicken Tore hinter der Drohne geschlossen hatten, wurde das Übertragungsvideo deutlicher. Samuel sah, wie Dotties Scheinwerfer den grauen Stahl in weißes Licht tauchten. Erleichtert atmete er auf. Sie hatten es wieder einmal geschafft. Dottie war sicher im Hafen. Ein paar Minuten noch, dann würde der Aufzug den Hangar auf Level –1 erreichen, und sie war zu Hause.

Samuel legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben an die graue Betondecke. Wie viele Meter Stein trennten ihn von seiner Drohne? Und von den Schotts auf Level 0? Was hatte Dottie diesmal gesehen, welche Bilder würde sie mit ihm teilen?

»Riley, hey Riley, wach auf!« Er boxte seinen Freund in die Seite. »Dottie ist zurück. Es ist so weit.«

Der schlafende Pilot röchelte genervt durch die Nase und blinzelte müde mit einem Auge zu ihm hoch.

»Bist du dir sicher? Das ist das dritte Mal heute, dass du den Vogel gesehen hast.«

Samuel nickte überzeugt. »Sie ist es. Sieh selbst.« Er deutete auf seine Monitore.

Riley wischte sich mit dem Ärmel seiner Uniform ein dünnes Rinnsal Speichel vom Kinn und stemmte sich von seinem Stuhl hoch. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er die Daten und schließlich die Bilder aus dem Lastenaufzug.

»Hallo hallo, alte Freundin, da bist du ja wieder«, murmelte er. Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. »Na? Was hast du da draußen gesehen? Hast du uns etwas Interessantes mitgebracht?« Er wandte sich an Samuel und sagte: »Dann wollen wir mal nach oben. Lange genug hat es gedauert. Hoffentlich hat sich die Warterei diesmal gelohnt. Langsam frage ich mich, warum wir das hier eigentlich machen. Ob wir überhaupt je etwas finden.«

»Pst«, zischte Samuel und warf einen hektischen Blick über die Schulter in Richtung der anderen Piloten.

»Ach, komm schon«, beruhigte ihn Riley und verdrehte die Augen. »Als ob es hier jemanden interessiert, was wir treiben.« Aus der Innentasche seiner Jacke zog er einen kleinen Flachmann. Er nahm einen kräftigen Schluck und zog scharf die Luft ein. »Puh, das Zeug wird auch nicht besser. Aber bei den Preisen, die Miller verlangt …« Er bot Samuel einen Schluck an, aber der schüttelte nur den Kopf.

»Lieber nicht. Ich bin nervös genug.«

»Eben darum.« Riley steckte den Flachmann wieder weg.

»Komm, wir wollen dein Baby nicht warten lassen. Vielleicht hat sie uns ja tatsächlich etwas Neues mitgebracht.«

Zielstrebig überquerten sie die Brücke in Richtung der beiden Aufzüge.

»Habt ihr einen Heimkehrer?«, fragte Miriam Bold und hob den Blick für einen Moment von ihren eigenen Daten.

»Jepp, er hier«, erklärte Riley und klopfte Samuel auf die Schulter. »Mein Miststück treibt sich noch da draußen rum. Ich denke nicht, dass sie es nach Hause schafft, bevor es richtig ungemütlich wird. Wie sieht es bei euch aus?«

»Cathy könnte Glück haben. Ihr Vogel ist nur noch ein paar Stunden entfernt. Don rechnet nicht mehr mit einer Rückkehr. Sein letztes Signal ist fast acht Stunden alt. Die ursprüngliche Route führt mitten in den Sturm, und er kann nicht umlenken. Bei mir sieht es nicht viel besser aus. Ich bin zwar nur noch vier Stunden von der Arche entfernt, aber ich hab kaum noch Energie. Ich kann versuchen durchzufliegen«, sie zuckte mit den Achseln, »aber ihr wisst ja selbst, wie die Chancen stehen. Ich werde den Sturm abwarten. Vielleicht kann ich landen und in ein paar Tagen eine Bergungsmaschine schicken. Warst du weit weg, Samuel?«

Samuel warf Riley einen Blick zu, als wünschte er, sein Freund würde für ihn antworten. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, die übliche Tour.« Nervös rieb er seine Handflächen aneinander.

»Na dann, herzlichen Glückwunsch zur Heimkehr. Hab ein gutes Charching. Wir werden wohl mindestens eine Woche nicht starten. Ich kann eine Pause gut gebrauchen. Vielleicht sehen wir uns ja die Tage im Holovit?«

»Darauf kannst du wetten«, sagte Riley. »Guten Flug, Mir.«

Gemeinsam verschwanden Riley und Samuel im Fahrstuhl. Riley drückte den Knopf für die Ebene –1. Nachdem er seine ID in das Display getippt hatte, schlossen sich die Türen. Schulter an Schulter standen die beiden Männer nebeneinander, bis sich die Türen mit einem leichten Ruck wieder öffneten.

»Level –1. Drohnenhangar«, kündigte eine freundliche Frauenstimme an.

Samuel straffte die Schultern. Gemeinsam mit Riley verließ er den Aufzug, und im Gleichschritt durchquerten sie die weitläufige Halle.

Wie immer, wenn er so nahe an der Oberfläche war, fühlte Samuel sich unbehaglich. Ausgeliefert und schutzlos angesichts der tödlichen Welt, die direkt über seinem Kopf lauerte. Aber da war noch etwas anderes. Eine bizarre Neugier, eine Sehnsucht nach dieser unbekannten, unendlichen Weite. Die Hoffnung auf Freiheit, für die er immer wieder sein Leben aufs Spiel setzte.

»Langsam könnte man hier auch mal umparken«, knurrte Riley, während sie mit langen Schritten den stillgelegten Teil der Halle mit Personenflugzeugen durchquerten. »Die Dinger waren seit Jahren nicht mehr in der Luft. Die können auch woanders verrosten. Und ich würde mir ein paar Meter sparen.«

»Bewegung ist gesund für Körper und Geist«, entgegnete Samuel. Nachdenklich betrachtete er die in die Jahre gekommene Passagierflotte der Arche, knapp dreißig Falcon Jets, ein Dutzend kleinere Senkrechtstarter und fünf Boeing Modelle der A800er-Familie. Seit dem Amtsantritt von Präsidentin Smith war keines der Flugzeuge mehr gewartet worden. Zehn Jahre war das nun her. Würden die Maschinen überhaupt noch fliegen? War genügend Treibstoff vorhanden? Wie viele Menschen könnte man damit in die Freiheit tragen?

Tausend?

Etwas mehr? Etwas weniger?

Das waren nur etwa 0,5 Prozent der Menschen, die in dieser Arche lebten. »Träumst du?«, fragte Riley und holte ihn zurück in die Realität. Samuel schüttelte den Kopf, auch, um die sinnlosen Gedankenspiele zu beenden. Selbst wenn die Flugzeuge starteten, selbst wenn einem kleinen Teil der Bewohner eine Flucht gelang – wo sollten sie hin? In eine der anderen beiden Archen? Es war überall gleich. Nur dass die Präsidenten und die Mitglieder des Rats dort andere Namen trugen.

»Dann beeil dich. Sie kommt runter«, drängte Riley und ging schneller. Sie hatten die gegenüberliegende Wand des Hangars erreicht. In diesem Teil der Anlage parkten die deutlich kleineren, unbemannten Drohnen. Bis auf wenige Ausnahmen lagen alle DX Detectors an ihren Docks.

»Hey Dottie, willkommen zu Hause, meine Hübsche«, flüsterte Samuel, als sich die breiten Türen des Lastenaufzugs öffneten. Lautlos rollte das vier Meter lange Flugobjekt durch die Halle an seinen Platz. Ihre dünnen Flügel aus Leichtmetall hatte sie bereits im Landeschacht auf ein Drittel des Durchmessers eingeklappt. Elegant schob sich der schlanke Körper zwischen die beiden Drohnen rechts und links, bis sie eine Handbreit von den beiden Männern entfernt zum Stehen kam. Ihre Rotoren surrten leise.

Samuel lächelte. Liebevoll legte er seine flache Hand auf die Nase ihres breiten Kopfs. Auf der kalten weißen Oberfläche begannen bunte Lichter zu tanzen, Dottie hatte die Datenübertragung aktiviert. Die Scio-Linsen auf Samuels Augen zeigten ihm das Cockpit der Drohne und die wichtigsten technischen Daten.

»Der Treibstoff ist bis auf den letzten Tropfen aufgebraucht, sie hat es gerade noch geschafft«, informierte er Riley. »Die Route zeigt einen kleinen Umweg, wahrscheinlich musste sie wetterbedingt ausweichen. Sonst scheint alles in Ordnung zu sein. Sehen wir uns die Daten mal an.«

Riley nickte und folgte ihm an die Flanke des Schiffs. Samuel presste seine Finger eine Handbreit unter dem linken Flügel gegen das Metall. Der Kontakt aktivierte einen Mechanismus im Inneren der Drohne, und mit einem leisen Zischen öffnete sich eine Klappe. Wollte man den Motor als Herz seines Schiffs betrachten, dann war dies der direkte Zugriff auf Dotties Hirn. Vorsichtig hakte Samuel nacheinander die vier Festplatten aus der Verankerung des Rechners. Neben ihm öffnete Riley den mitgebrachten Koffer mit den leeren Tauschplatten. Ihre Arbeitsschritte waren routiniert und viel geübt. Alle eingehenden Drohnendaten mussten laut Regelwerk im Vier-Augen-Prinzip abgenommen werden. Die Kontrollpartner wechselten ständig und wurden per Zufallsprinzip zugeteilt. Es war nicht einfach gewesen, den Mechanismus zu umgehen, um Samuel und Riley für diesen Tag zusammenzubringen.

Samuel reichte Riley die erste Platte, nahm eine neue entgegen und schob sie zurück in die Halterung. Seine Hände zitterten nur ein klein wenig. Den Vorgang wiederholten die beiden Männer mit der zweiten und dritten Platte. Bevor er den vierten Datenträger aus dem Bauch des Flugzeugs holte, warf er seinem Partner einen fragenden Blick zu. Wollten sie es wirklich ein weiteres Mal durchziehen? Wieder alles riskieren, ohne zu wissen, wonach sie eigentlich Ausschau hielten? Riley nickte kaum merklich. Es musste also sein. Samuel atmete tief durch und schloss für einen Moment die Augen. Aus seiner Uniformtasche zog er einen kleinen runden Gegenstand, kaum größer als eine Münze und ebenso flach.

Als würde er lediglich sein Gewicht verlagern, machte er einen Schritt zur Seite hinter den Flügel der Drohne. Samuel wusste um den toten Winkel, er hatte ihn lange gesucht. Keine Kamera des Hangars konnte ihn hier komplett erfassen. Blitzschnell presste er den Störer in seiner Hand fest hinter sein linkes Ohr. Sofort spürte er einen unangenehmen Druck. Das LifeChip-Implantat in seinem Kopf war von dem Magneten erfasst worden und klebte nun von innen an seiner Haut. Solange der Chip mit dem Störer verbunden war, konnte er keine Daten aufzeichnen. Für einen kurzen Moment war Samuel frei.

Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich Riley am Kopf kratzte. Niemand würde vermuten, dass auch er einen Störer befestigt hatte. Ab jetzt zählte jede Sekunde. Eine größere Datenlücke auf ihren Chips würde auffallen; sie hatten für den letzten Austausch knapp eine Minute Zeit. Ruhig reichte Samuel Riley die entscheidende Hardware und beugte sich nach unten, um mit dem Rücken für einen Augenblick die Sicht auf den Koffer zu verdecken. In Windeseile tauschte Riley die Platte gegen eine Dublette aus, die er aus dem doppelten Boden des Koffers hervorholte. Das Original verschwand, die Kopie legte er zu den restlichen drei Festplatten, während Samuel den letzten leeren Träger in der Drohne fixierte. Mit einer unauffälligen Handbewegung fuhr er sich durch die Haare und entfernte den Störer. Die Kopfschmerzen verschwanden sofort. Die kleine Platte wanderte zurück in seine Tasche. Das ganze Manöver hatte keine zwanzig Sekunden gedauert. Eine kleine Schweißperle rollte über seine Stirn bis zur Nase. Er atmete tief ein und aus, um sein Stresslevel zu senken, denn der LifeChip zeichnete seinen Puls wieder auf. Riley verschloss den Koffer, während Samuel Dotties Wartungsprogramm aktivierte. Ein letztes Mal streichelte er über ihre glatte Oberfläche. Er genoss das Gefühl, etwas zu berühren, das tatsächlich in der Welt da draußen gewesen war. Vielleicht war es auch für ihn noch nicht zu spät. Vielleicht würde auch er eines Tages dieses unterirdische Gefängnis verlassen. Vielleicht hatte Dottie dieses Mal etwas gefunden, das Anlass zur Hoffnung gab. Einen Silberstreif am Horizont, eine Taube, die den Olivenzweig in die Arche brachte?

Logbuch der Arche Hope of Tomorrow.

Eintrag: 29.06.2381

Timothy Walker

Chronist

Zum Zeitpunkt 280324Bjun2381 erreicht das angekündigte Sturmtief in dieser Nacht die Hope of Tomorrow. Aus Sicherheitsgründen sind alle Zugänge und Schotts seit knapp vierundzwanzig Stunden geschlossen. Für die Dauer des Shutdowns ist die Kommunikation mit den Archen Rescue und Homeland unterbrochen. Dieser Eintrag bezieht sich ausschließlich auf die Beobachtungen der Arche Hope of Tomorrow.

Erste radioaktive Strahlung wurde von unseren Frühwarnsystemen an der Westküste festgestellt. Daraufhin wurde die gesamte Drohnenflotte nach Hause berufen. Nach aktuellem Stand verzeichnen wir den Verlust von drei Schiffen:

DX.583.12/kein Signal

DX.490.07/kein Signal

DX.566.24/Notlandung im Bereich 46°49’55.5«N 106°57’03.5«W (ehem. Montana)

Auf Anweisung der Regierung und des Rats der Zehn wurde für die gesamte Arche der Notstand ausgerufen, das gesetzliche Protokoll ist dementsprechend in Kraft getreten. Der Zustand der Hope ist stabil, das Holovit in allen Bereichen aktiv. Die Kernspeicher sind zu fünfundsiebzig Prozent gefüllt, die Sauerstoffzufuhr stabil. Frühere Aufzeichnungen der Archen dokumentieren deutlich längere Sturmperioden (siehe LOGBUCHEINTRAEGE 14.11.2193, 03.05.2212, 21.12.2223, 02.10.2364, 28.07.2367) mit einer Dauer von acht bis vierundzwanzig Tagen. Dabei wurde das kritische Level der lebenserhaltenden Systeme nie unterschritten. Eine Einschränkung der Holovit-Nutzung ist aktuell nicht geplant.

Die tägliche Upload-Rate der Bewohner liegt bei neunundneunzig Prozent. Die Auswertungen der LifeChips zeigen keine Auffälligkeiten, die Daten entsprechen der geltenden Norm für die Kategorie »Naturkatastrophen und terrestrische Störungen«. Es wurden keine Infektions- oder Todesfälle für diesen Tag gemeldet. Der Rat der Zehn tritt morgen mit dem Beraterstab der Präsidentin zusammen, um über das weitere Vorgehen zu sprechen.

1

Guten Morgen, Kaja, Zeit aufzustehen.«

Die Stimme in ihrem Kopf war beruhigend und weich, eine sanfte Liebkosung, die den Schlaf langsam verdrängte.

»Guten Morgen, ELSA«, gähnte Kaja und streckte sich unter den weichen Laken.

»Es ist der 30. Juni 2381. Dein Charching war erfolgreich, deine Vitalwerte liegen in den oberen fünfzehn Prozent deiner Altersklasse. Deine geschätzte Lebensdauer beträgt aktuell einhundertfünfundsiebzig Jahre. Der Rat der Hope wünscht dir einen guten Tag im Holovit. Für weitere Informationen und Nachrichten aus deiner Arche aktiviere bitte meine Funktion zu täglichen News.«

»Vielen Dank, ELSA, gerade kein Bedarf.«

Kaja öffnete die Augen. Auf ihren Scio-Linsen konnte sie ablesen, was der LifeChip ihr gerade mitgeteilt hatte. Die Vitalwerte und die Statistik der letzten Nacht waren normal, es gab keine besonderen Vorkommnisse. Exakt acht Stunden Schlaf, tief, traumlos, revitalisierend. Ihr Herzschlag war ebenso stabil wie ihr Blutdruck, ihr Sauerstoffgehalt und die Aktivität all ihrer Organe. Ein deutlicher Anstieg des Nährstoff-Levels bestätigte einen Nutri-Shot in den frühen Morgenstunden. Ihr Körper war mit allen notwendigen Vitaminen, Mineralien, Kohlenhydraten und sonstigen Bausteinen versorgt. Ihr Charching für diesen Tag war abgeschlossen. Erst in ungefähr achtundvierzig Stunden musste er wieder betankt und gewartet werden. Aber darüber brauchte sich Kaja keine Gedanken machen. Es gehörte zu ELSAs Aufgaben, ihr körperliches Wohlbefinden im Auge zu behalten. Der Chip in ihrem Kopf erfüllte diesen Job zuverlässig und fehlerfrei, darauf konnte sie sich verlassen.

Mit einem kurzen mentalen Befehl ließ Kaja die Daten vor ihren Augen verschwinden und genoss für einen Moment die perfekte Ruhe ihres Schlafzimmers. Sie sog die Luft tief in ihre Lunge ein. Selbst so früh am Morgen konnte man das Versprechen von Sonne und Wärme riechen, die trockene Würze von Zypressen und Olivenbäumen, dazu eine Prise sommerverwöhnter Blumen und Gräser und einen letzten Hauch der kühlen Nacht. Eine Schar Spatzen zwitscherte direkt vor ihrem Fenster. Die kleinen Vögel hatten die dicken Dachbalken der alten Villa zu ihrem Schlafplatz auserkoren. In größtmöglicher Distanz zu Kajas Kater Mikesch waren sie dort oben vor seinen waghalsigen Attacken sicher.

Genüsslich streckte Kaja die Arme über den Kopf und wackelte mit den Zehen. Die Fenster in ihrem Zimmer waren die Nacht über weit geöffnet gewesen. Trotzdem war die Kraft des toskanischen Sommers zu jeder Tageszeit zu spüren.

Verheißungsvoll strahlte die Sonne schon jetzt durch die bodenlangen weißen Vorhänge. In den kommenden Stunden würde sie ihre ganze Kraft entfalten. Kaja seufzte. Sie wünschte, sie könnte noch etwas länger dösen.

Es waren die letzten Sommertage, die zum Faulenzen einluden, aber sie musste ihre Zeit an der Universität verschwenden. Allein der Gedanke daran erstickte ihre gute Laune im Keim. Tag für Tag, Stunde um Stunde komplexe Zahlen und Ziffernreihen anstarren, in der Hoffnung, sie würden irgendwann Sinn ergeben. Coden. Wie sehr sie es hasste. Wie oft hatte sie sich in den letzten Monaten gewünscht, ihr Leben gegen ein anderes tauschen zu können?

»Unendlich oft, im Sinne der mathematischen Definition«, knurrte sie frustriert. Kaja war mit Abstand die schlechteste Studentin in ihrem Jahrgang. Vermutlich war sie die mieseste Algorithmikerin seit Gründung der Hope. Wie sehr sie sich auch bemühte, die Gesetze der Mathematik wollten einfach nicht in ihren Kopf. Es war Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet ihre Eltern die besten Programmierer der Welt waren. Murphys Law, eine Logik, mit der Kaja deutlich mehr anfangen konnte als mit den Regeln der Zahlen.

Dennoch schmerzte es sie, wenn sie darüber nachdachte, was für eine Enttäuschung sie für ihre Mutter und ihren Vater sein musste. Hätte sie das Talent ihrer besten Freundin Lora, würden die stolzen Blicke ihres Vaters ihr gelten. Dann würde selbstverständlich Kaja an seiner Seite in den Staatsdienst eintreten und zusammen mit ihren Eltern die Zukunft gestalten. Sie seufzte. Im Moment war nicht einmal sicher, ob sie die Examen überhaupt bestehen würde. Wenn sie durchfiel, konnte sie eine Karriere als Coderin oder Life-Designerin vergessen. Kaja Andersson, die Tochter der berühmten Andersson Creators, beendet ihr Studium ohne Diplom. Hitze, heißer als die italienische Sonne, stieg ihr ins Gesicht. Das durfte nicht passieren. Und wenn sie sich für den Rest des Sommers in der Bibliothek einschließen musste. Entschlossen schlug sie ihre Decke zurück und sprang aus dem Bett.

Die Steinfliesen unter ihren Füßen waren angenehm kühl. Kaja schloss die Fensterläden, um die Sonne aus ihrem Schlafzimmer zu verbannen und wenigstens einen Bruchteil dieser Frische für ihre Rückkehr am Abend zu konservieren. Vielleicht wäre später noch Zeit für einen Spaziergang im Weinberg mit ihrem Vater. Vielleicht hätten sie dann endlich Gelegenheit, ihren Streit aus dem Weg zu räumen.

Björn Andersson hatte in letzter Zeit noch mehr gearbeitet als sonst. Kaja hatte ihn in den vergangenen Wochen kaum zu Gesicht bekommen. Zwischen seinen endlosen Stunden in den Rechneranlagen von Andersson Creations und ihrem eigenen, mit Lernmodulen vollgestopften Tagen waren nur wenige gemeinsame Minuten übrig geblieben. Minuten, die sie viel zu oft mit sinnlosen Diskussionen verschwendet hatten. Kaja wusste, wie viel es ihrem Vater bedeuten würde, sie in seinem Team zu sehen. Der Druck seiner Erwartungen stieg mit jedem Tag, den die Prüfungen näher rückten. Mittlerweile war Kaja sich nicht einmal mehr sicher, ob sie überhaupt bei Andersson Creations arbeiten wollte. Sie liebte das Holovit, keine Frage, und sie bewunderte ihre Eltern für ihre Arbeit. Aber noch mehr sehnte sie sich danach, die schrecklichen Zahlen ein für alle Mal hinter sich zu lassen. Sie wollte die Logik der Hologramme nicht verstehen oder entschlüsseln. Sie wollte sich im Zauber dieser Illusion verlieren und glauben, was sie sehen, schmecken und riechen konnte. Sie hatte richtige Angst davor, den Schleier der Dekodierung zu lüften und der Realität ins Auge zu blicken. Das war die Wahrheit, die Kaja ihrem Vater nicht begreiflich machen konnte.

Wie immer, wenn sie an die Zukunft dachte, sehnte sie sich nach den Tagen ihrer Kindheit. Sie vermisste die Unbeschwertheit dieser Jahre, ihre Mutter, ihren Vater, Lora und deren Eltern, Jean-Luc und Marie. Doch die Zeit, in denen die Anderssons und die Bonnets unzertrennlich gewesen waren, war lange vorbei. Ihre gemeinsame Zukunftsvision war nur ein Traum gewesen. So trügerisch und unbeständig wie die Hologramme, die Kajas Eltern jeden Tag erschufen. Nur die Freundschaft der beiden Töchter, die wie Schwestern aufgewachsen waren, hatte bis heute gehalten.

»Kaja«, rief ihre Mutter aus dem Erdgeschoss. »Bist du wach? Dein Vater und ich müssen gleich los. Sehen wir uns noch?«

Kaja knirschte mit den Zähnen. Eigentlich hatte sie keine Lust, sich ihre Laune noch weiter verderben zu lassen, aber schlechtes Gewissen und Pflichtbewusstsein siegten wie so oft. Sie marschierte an ihren Kleiderschrank und griff nach Jeans und T-Shirt.

»Ich komme! Zwei Minuten …«

Hoffentlich würden sie diesen Morgen friedlich beginnen. Kaja nahm sich vor, keines der gefährlichen Themen anzuschneiden. Die Prüfungen, die Reproduktion, ihre Zukunftspläne, die geschwänzten Sitzungen ihres Life Coachings … vielleicht sollten sie einfach über das Wetter sprechen?

Der Sturm. Kaja hatte verdrängt, was da draußen gerade los war. Ein Ratschlag ihres Life Coaches, den sie tatsächlich beherzigte. Seit sie die täglichen ELSA-News zur Hope deaktiviert hatte, fiel es ihr deutlich leichter, ihre Panikattacken zu kontrollieren. Ihre Angstzustände waren ein weiteres Thema, das sie besser von der Frühstücksagenda strich, wenn sie keine erneute Diskussion über ihre Nutri-Shots führen wollte.

»Das lässt sich doch alles mit ein paar Medikamenten regeln«, konnte sie die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf hören. »Das ist völlig normal. Dein Vater und ich sind seit Jahren perfekt eingestellt.«

Kaja seufzte frustriert. Selbstverständlich sehnte sie sich nach der entspannten Gelassenheit, mit der nicht nur ihre Eltern, sondern die meisten Bürger der Hope den Alltag meisterten, aber sie wehrte sich gegen die chemische Unterstützung, die dafür nötig war. Vielleicht ging sie deshalb andauernd in ihrem eigenen Gedankenlabyrinth verloren. Vielleicht fiel es ihr deshalb so schwer, sich auf die kalte Logik der Zahlen zu konzentrieren. Sie war eine emotionale Katastrophe.

»Kaja? Hast du uns vergessen?«

Mist. Hektisch kämmte sie mit den Fingern durch das lange, strohblonde Haar, schlüpfte barfuß in ein Paar Sneakers und eilte die Treppe nach unten. Auch im Erdgeschoss des Hauses hielt die letzte Kühle der Nacht der Hitze noch tapfer stand. Lange würde dieser angenehme Zustand allerdings nicht mehr andauern. Durch die weit geöffneten Türen strömte bereits der warme Wind und zupfte an den bodenlangen Leinenvorhängen. Draußen lag ein atemberaubendes Panorama.

Kaja liebte die Villa. Die schönsten Tage ihres Lebens hatte sie hier verbracht und die Geschichte ihrer Entstehung über die Jahre hinweg so oft gehört, dass es ihr mittlerweile vorkam, als wäre sie selbst dabei gewesen. Mühelos konnte sie sich das wunderschöne Gesicht ihrer Mutter vorstellen, das beim Entwurf der ersten Skizzen vor Begeisterung strahlte. Ihren Vater, der über die vielen winzigen Details, die sich die beiden erträumt hatten, lachte. Beide erfüllt von einer echten Vorfreude auf das Leben, das sie sich hier erschaffen wollten, auf das Leben, das sie bereits geschaffen hatten und das im Labor kontinuierlich Zellen multiplizierte, während sie ihr Zuhause programmierten.

Auf einer kleinen Anhöhe, die Türme von San Gimignano am Horizont, lag die Villa ihrer Familie. Versteckt zwischen Weinbergen und Olivenhainen. Aus der Ferne kaum einzusehen, aber mit Blick über die malerische Landschaft der Toskana. Die 2000er-Jahre schrieb Andersson Creations als Designalter aus. Die Autos in der Garage, die Elektrogeräte, die Stoffe der Möbel, jedes winzige Detail bis hin zur Getränkeauswahl in der Hausbar war an das vergangene Jahrtausend angepasst. Selbst die Radios im Haus spielten die Hymnen dieser lang vergangenen Zeit.

Das Zentrum des Hauses war die große offene Küche im Erdgeschoss. Hier frönte Agnes Andersson ihrer zweiten Leidenschaft. Kochen war für Kajas Mutter nach Coden der liebste Zeitvertreib. Die kulinarischen Codes in ihrem Homeholo ließen keine Wünsche offen.

»Besser als jedes Original«, scherzte Björn Andersson, wann immer er eine Mahlzeit seiner Frau verspeiste. Auch an diesem Morgen stand Agnes am Herd und hantierte mit Pfannen und Töpfen, als Kaja die Küche betrat. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee, Speck und Rührei lag in der Luft. Sofort aktivierte sich Kajas Appetit-Sensorik, und sie verspürte ein leichtes Hungergefühl.

»Kaja, wir müssen leider gleich los. Heute ist ein wichtiger Tag für die Firma«, sagte Agnes und stellte die letzte Pfanne zur Seite. »Es gibt frisch gepressten Orangensaft, und wenn du möchtest, es ist noch etwas Ei übrig.«

Die blauen Augen ihrer Mutter strahlten vor Energie. Agnes Andersson war eine Ausnahmeschönheit, ihr Avatar die Perfektion ihres genetischen Codes. Die minimalen Anpassungen, die ihre Eltern an ihren digitalen Körpern vorgenommen hatten, waren kaum sichtbar und doch wirkungsvoll. Agnes Andersson würde in diesem Jahr ihren neunundfünfzigsten Geburtstag feiern, sah jedoch aus wie vierzig. Gleiches galt für Kajas Vater. Seine digitale Erscheinung war deutlich jünger als einundsechzig Jahre. Selbstverständlich hatte eine Programmierung dieser Qualität ihren Preis, und der lag weit über den üblichen Upgrade-Paketen für Holovit-Avatare.

»Danke, ich habe gerade keinen Appetit«, wehrte Kaja das Frühstücksangebot ab, griff aber nach einem Glas Saft. Dem wunderbaren Geschmack kalter Orange hatte sie noch nie widerstehen können. Die perfekte Harmonie aus Süße und Säure. Kaum zu glauben, dass es tatsächlich einmal so eine Frucht gegeben hatte. Das kühle Glas in der Hand, schwang Kaja sich auf den Küchenhocker neben ihrem Vater.

»Du wärst überrascht, wie lange deine Mutter gebraucht hat, um diesen Code zu erstellen. Es hat ewig gedauert, bis er ihren Ansprüchen genügt hatte. Dabei ist die Basis sehr simpel. Damit könntest du doch mal experimentieren. Vielleicht zusammen mit Lora?«

Der Saft wurde mit einem Mal bitter in Kajas Mund. Ihre Finger krampften sich um das kalte Glas. Musste ihr Vater selbst die kleinsten Freuden kaputt machen? Schweigend ermahnte sie sich, friedlich zu bleiben. Statt zu antworten, ließ sie den Blick hinaus in den Garten schweifen. Der Anblick der bunten Blumen und der mit Früchten beladenen Obstbäume beruhigte sie. Auf der Terrasse sonnte sich Mikesch. Hin und wieder zuckte seine Schwanzspitze nach oben. Der Rest seines Körpers lag lang gestreckt auf den warmen Steinen. Am liebsten hätte Kaja den ganzen Tag hier verbracht und einfach nur neben ihrer Katze in der Sonne gedöst.

Abgesehen von den staatlichen Hologrammen, die ebenfalls von Andersson Creations programmiert wurden, gab es nur wenige Holos, die sich mit ihrem Zuhause messen konnten. Kaum jemand konnte sich ein so ausgefeiltes Design leisten. Täuschend echt simulierte das Hologramm nicht nur den Tagesverlauf, sondern auch die Jahreszeiten und Wetterveränderungen. Ein durchschnittliches Homeholo unterschied in der Regel nur zwischen Tag und Nacht. Je nachdem, was die Bewohner sich leisten konnten oder investieren wollten, waren die Intervalle mehr oder weniger natürlich. Extrem hochpreisig waren Features wie etwa Temperaturkurven, Jahreszeiten, Wind, Regen und selbstverständlich jede Form von Vegetation oder intelligente Lebensformen, zum Beispiel Haustiere. Kajas Zuhause war purer Luxus, den sie sehr zu schätzen wusste.

Sie streckte die Hand nach ihrem Saft aus. Im selben Moment, als ihre Finger das Glas berührten, veränderte sich plötzlich das Licht im Raum. Ein unnatürlich kaltes Flackern störte das perfekte Zusammenspiel von hell und dunkel, dann war die Villa verschwunden.

Wo sich eben noch Mikesch gesonnt hatte, ragte jetzt, keine Armlänge von Kaja entfernt, eine graue Betonwand empor. Die Olivenhaine und Weinberge, ihre Küche, der Stuhl, auf dem Kaja gesessen hatte, alles war weg. Durch den gläsernen Deckel ihres Aerobiose-Tanks starrte sie auf den meterdicken Beton.

BlackOut. Die Erklärung schoss wie eine Revolverkugel durch ihren Kopf. Die Energiezufuhr des Holovits war unterbrochen worden, und sie war aus ihrem digitalen Zuhause ausgeloggt.

»Nein, nein, nein! Ich will zurück«, flüsterte Kaja, während die Panik mit eisiger Hand nach ihr griff. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, ihre Handflächen schwitzten. Die Vitalwerte, die auf dem Glas vor ihren Augen schimmerten, wechselten von einem sanften Grün zu beunruhigendem Rot.

»Bitte, bitte. Ich will zurück.« Ihr leises Flehen war zwecklos. Die Villa blieb verschwunden.

Einatmen. Ausatmen. Kaja senkte den Kopf und konzentrierte sich auf ihre Zehen, tief unten am Boden des Tanks. So, wie sie es mit ihrem LifeCoach geübt hatte. Einatmen. Ausatmen. Ruhig bleiben. Gleich würde es vorbei sein. Hoffentlich. Nach ein paar tiefen Atemzügen hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Sie hob den Kopf und spähte zu den beiden Tanks in der winzigen Zelle.

Im kalten Licht der Neonröhre sah sie zum ersten Mal seit vielen Monaten die Echtkörper ihrer Eltern. Agnes und Björn waren ebenfalls ausgeloggt und hatten die Augen geöffnet. Wie Kaja selbst waren sie in ihren Tanks an Armen, Brust und Schultern in der Vertikalen fixiert. An dem dünnen Mesh ihres Anzugs waren unzählige kleine Elektroden befestigt, die Tag und Nacht ihre Muskulatur stimulierten. Einige breitere Venen führten aus den Tanks in die Decke des Raums. Die Lebensadern für den Austausch von Körperflüssigkeiten. Soweit Kaja die Situation beurteilen konnte, funktionierten die Notgeneratoren einwandfrei. Ihre Eltern wirkten vollkommen entspannt, als hätten sie mit dem BlackOut gerechnet. Über Björns Gesicht huschte sogar ein Lächeln, und er nickte Kaja aufmunternd zu.

Auch ohne Worte wusste sie, was er ihr sagen wollte.

»Mach dir keine Sorgen. In diesem Moment sind die besten Experten damit beschäftigt, das System wieder zum Laufen zu bringen. Dir wird nichts geschehen, in deinem Tank bist du in Sicherheit.«

Ja, das wollte er ihr sagen. Aber was bedeutete »in Sicherheit«? Was, wenn das System nicht mehr aktiv würde? Dann säßen sie fest. Hunderte Meter unter der Erde, in Tanks, die sie quälend lange am Leben halten würden. So lange, bis Sauerstoff, Nahrung und Wasser zur Neige gingen. So lange, bis sie den Verstand verloren. Der Gedanke ließ Kaja scharf die Luft einziehen. Ihr Vater, dem die Panik in ihrem Gesicht nicht entgangen war, presste die Finger gegen das Glas seines Tanks, als wolle er ihr die Hand reichen. So nah, so unerreichbar. Kaja schloss die Augen.

In diesem Moment roch sie ihr Zuhause, noch bevor sie es sah.

»LogIn erfolgreich«, informierte ELSA sie. »Homeholo 34.XF.90643. Kaja, du bist wieder online. Für aktuelle Informationen zum BlackOut aktiviere bitte den Newsfeed zum Tagesgeschehen.«

Die Welt um sie herum war wieder perfekt, doch Kaja verspürte keine Erleichterung. Die wenigen Sekunden hatten gereicht, um ihr die Hölle ihrer Realität in Erinnerung zu rufen. Drei Menschen, drei Körper, gefangen in einer winzig kleinen Zelle tief unter der Erdoberfläche und so weit von italienischen Hügeln entfernt, wie es nur möglich war. Niemals hatten die Anderssons echtes Sonnenlicht gesehen. Nie die Luft der Erdoberfläche eingeatmet. Keiner von ihnen hatte jemals Tau von einem Blatt geschüttelt oder eine Weintraube von einer Rebe gezupft. Regen, Wind, Hitze und Kälte, das alles kannten Kaja und ihre Eltern nur aus den Hologrammen, in die sie sich täglich einloggten. Wie realitätsnah die Programmierungen des Holovit wirklich waren, konnte seit Generationen niemand mehr überprüfen. Sie alle lebten nur noch in den Erinnerungen an eine verlorene Welt. Und in der Fantasie der Coder. Der grausame Stahlsarg lauerte nur einen BlackOut entfernt. Lebendig begraben unter Tonnen von Gestein, zusammen mit Hunderttausenden von Menschen. Selbst im warmen Wind der Toskana begann Kaja am ganzen Körper zu zittern. Das Saftglas, das wie durch Zauberei in ihre Hand zurückgekehrt war, fiel zu Boden und zerbrach klirrend auf dem harten Stein.

»Kaja!« Die Stimme ihres Vaters war laut und hart. Mikesch, der um ihre zitternden Beine strich, maunzte anklagend, als wollte er gegen den polternden Ton protestieren.

»Kaja«, ertönte nun auch ELSAs Warnung in ihrem Kopf. »Dein Stresslevel liegt bei hundertvierzig Prozent. Soeben wurde eine Dosis Beta-Blocker transferiert.«

Sie blieb stumm. Noch spürte sie die Wirkung der Medikamente nicht, und die Platzangst schnürte ihre Kehle zu.

Während sie auf die chemische Beruhigung wartete, versuchte sie, ihren Atem zu kontrollieren. Sie öffnete die Augen, konzentrierte sich auf die bunten Farben draußen vor den Fenstern, das Rascheln der Gräser, das samtige Fell der Katze an ihrem nackten Bein. Das hier war ihre Welt. Kaja konnte sie riechen, spüren und schmecken. Hier war sie zu Hause, die zehn Quadratmeter Bunker waren lediglich ein Kokon für ihren Körper. An diesen Gedanken klammerte sie sich wie eine Ertrinkende.

In den letzten zwanzig Jahren hatte es nur eine Handvoll BlackOuts gegeben. An die beiden längsten von jeweils knapp zwei Stunden konnte Kaja sich gar nicht erinnern. Damals war sie noch ein kleines Kind gewesen. Beim dritten BlackOut, mit einer Offline-Time von etwa dreißig Minuten, war sie zehn gewesen und hatte gerade so begriffen, dass es neben ihrer täglichen Realität eine weitere, zweite Wirklichkeit gab. Eine furchterregende Wahrheit. Ein tödliches Monster, das im Dunkeln wartete, bis das Licht ausging. Niemals würde Kaja vergessen, wie die Angst zum ersten Mal von ihr Besitz ergriffen hatte.

Wie heute war Kaja damals in ihrem Aerobiose-Tank aufgewacht. Zelle 34.XF.90643 der Hope of Tomorrow. Ein schöner Name für den letzten Rückzugsort, den die Menschen sich geschaffen hatten. Nur war von Hoffnung nichts mehr zu spüren gewesen, als Kajas Eltern ihr den Unterschied zwischen den beiden Welten erklärt hatten. Die Hope of Tomorrow war eine unterirdische Bunkerstadt. Mit etwas mehr als zweihunderttausend Bewohnern war sie die größte der drei Archen, die zur Heimat für die letzten Menschen auf der Erde geworden waren. Der zweite amerikanische Rettungsbunker, Homeland, beherbergte nur knapp hunderttausend Menschen. Die europäische Rescue nicht wesentlich mehr. Zehn Milliarden Menschen hatten den Planeten im Sommer des Jahrs 2160 bewohnt. Im Winter des gleichen Jahrs, nach dem Kollaps, war es nicht einmal mehr eine halbe Million.

Die Zahl las sich erschreckend klein. Angesichts der Tatsache, dass die Erdoberfläche seit der Katastrophe nicht mehr bewohnbar war und die letzten Überlebenden unter Tag gefangen waren, war sie beängstigend groß. Winzig kleiner Lebensraum und ein hochkomplexes Versorgungssystem waren notwendig, um überhaupt in dieser Tiefe existieren zu können. Doch was es tatsächlich bedeutete, zu Hunderttausenden auf engstem Raum zusammengepfercht zu sein, ohne die Unterwelt je verlassen zu können, das bekamen die meisten Arche-Bewohner so gut wie nie zu spüren.

Das Holovit war der eigentliche Lebensraum der Menschen. Dank Codern wie den Anderssons gab es eine neue Realität, die den Untertage Gefangenen die Freiheit zurückgegeben hatte. Alles, was es brauchte, war genügend Energie aus dem Erdkern und den gefilterten Sauerstoff von oben. Wurde die Energiezufuhr allerdings unterbrochen, kam es zu BlackOuts, die Fenster zu dem dunklen Schrecken aufstießen, der hinter dem Holovit wartete: Hausarrest im tiefsten Erdloch des Planeten.

Keinem Arche-Bewohner, nicht einmal Präsidentin Anna Smith selbst, stand mehr Echt-Raum zur Verfügung als drei Quadratmeter. Drei Quadratmeter, die bis auf wenige Ausnahmen niemand verlassen konnte. Die Hope of Tomorrow war kein Gefängnis im eigentlichen Sinne, denn die Türen der Zellen waren nicht verschlossen. Doch wohin hätten die Bewohner gehen sollen? Die Erdoberfläche war für immer verloren. So sehr die Regierung sich auch bemühte, niemand wusste wirklich, wie es dort oben aussah.

Unter der Erde konnte man selbst hinter den sicheren Mauern der Archen nur dank der Aerobiose-Tanks existieren. Tausende identischer Zellen. Vier Wände, kalter Stahl, grauer Beton und die Tanks. Tief im Kern der Bunkerstadt schlug ein technisches Herz, das dieses komplexe System am Leben hielt. Wie genau das funktionierte, davon hatte Kaja noch weniger Ahnung als vom Coden. Die wenigsten Arche-Bewohner interessierten sich für das Wie. Nur eine Frage war wichtig: Würden die Batterien ihre Welt im Livemodus halten können? Wie viele Generationen würden so leben können, bis endgültig das Licht ausging?

Kajas Eltern gehörten zu den einflussreichsten Personen der Hope. Ihr Vater war Mitglied im Rat der Zehn, und Andersson Creations war als Hersteller exklusiver Hologramme nicht nur die erste Adresse für Luxuswelten, sie war auch für alle staatlichen Hologramme verantwortlich. Sollte ihre Existenz je in Gefahr sein, so würden ihre Eltern mit als Erste davon erfahren, da war Kaja sicher. Aber konnten sie auch etwas dagegen unternehmen? Gab es einen Plan B, falls die Hologramme keine Option mehr waren?

Kaja blickte in das ruhige Gesicht ihres Vaters und fragte sich, was wohl in seinem Kopf vorging.

»Du musst keine Angst haben, Kaja.« Ihre Mutter bückte sich und sammelte die Scherben auf. Sie wirkte ebenso gelassen wie ihr Mann. »Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung. Du weißt doch, dass das Holovit ab und an Schwankungen zeigt.«

Zärtlich strich sie ihrer Tochter eine blonde Strähne aus der Stirn.

»Du musst diese grundlosen Panikattacken besser in den Griff bekommen. Die Prüfungen und die Reproduktion, darauf musst du dich jetzt konzentrieren«, sagte Björn.

Kaja nickte. Die Reproduktionsselektion. Neben ihrem Examen ein weiterer Punkt, den sie am liebsten aus ihren Gedanken gestrichen hätte. Aber ihre Eltern hatten recht, es gab in Kajas Leben genug Themen, denen sie ihre Aufmerksamkeit dringender widmen sollte als dem Weltuntergang. Ohne Examen würde sie nicht zur Reproduktionsselektion zugelassen werden. Egal, wie sehr sie sich gegen die Vorstellung sträubte, mit einem völlig fremden Mann ein Kind zu zeugen – den Gedanken, keine Familie zu haben, konnte sie noch weniger ertragen. Lora würde bestimmt ausgewählt werden. Ihre Freundin würde zusammen mit einem wunderbaren Partner ein perfektes Kind bekommen und Andersson Creations übernehmen, während Kaja mutterseelenallein in ihrem Tank auf das Ende wartete.

»Es geht mir gut«, versicherte sie ihren Eltern mit gezwungenem Optimismus. Sie schwang sich von ihrem Barhocker und fügte hinzu: »Tut mir leid, wenn ich in letzter Zeit so angespannt war. Der Druck ist gar nicht so leicht zu ertragen.«

»Du weißt, dass wir dir jede Unterstützung zukommen lassen können. Ein Wort genügt«, versicherte ihr Björn nicht zum ersten Mal.

Kaja wusste, dass er damit mehr meinte als nur zusätzliche Coachings und Lernmaterialien. Ein Grund, warum sie nicht näher auf das Angebot eingehen wollte. Das Examen musste auch ohne die Hilfe ihrer Eltern zu bewältigen sein. Ein gekaufter Abschluss war nicht die Lösung. Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Danke, Dad. Aber ich schaffe das auch allein.«

»Wie du meinst, Kaja. Wir vertrauen auf dich.«

Sie schluckte, die Worte ihres Vaters verursachten einen Kloß in ihrem Hals. Nicht wissend, woher die plötzliche Traurigkeit kam oder was sie ihm antworten sollte, griff sie nach ihrer Tasche. Ganz so, als wäre der Tag ohne Zwischenfälle gestartet, bat sie ELSA, den LogIn an die Universität der Hope of Tomorrow zu aktivieren. Im Türrahmen des Hauseinganges schimmerte das Portal in weißem Licht. Das Bild ihres Körpers noch immer vor Augen, eingeschlossen in einem gläsernen Sarg tief unter der Erde, trat Kaja auf die andere Seite.

Verfassung der Archen Hope ofTomorrow, Rescue und Homeland

Artikel 4 Bevölkerungsdichte und Reproduktion

Abschnitt 1

Die Entscheidung über die Höhe der jährlichen Reproduktionszahl und die Auswahl der Kandidaten und Kandidatinnen für eine generative Vermehrung obliegt dem Rat der Zehn. Ein verbindlicher Kriterienkatalog für die Aufnahme in das Auswahlverfahren wurde von der Regierung verabschiedet.

Abschnitt 2

Folgende Kriterien sind vollständig und ohne Ausnahme zu erfüllen, um für die Reproduktionsselektion infrage zu kommen:

Der Antragsteller oder die Antragstellerin darf zum Zeitpunkt der Anmeldung nicht jünger als zwanzig und nicht älter als fünfundzwanzig Lebensjahre sein.

Der Antragsteller oder die Antragstellerin muss frei von genetischen Defekten, Erb- oder Infektionskrankheiten sein. Ein Medical Record mit einem Score von unter fünf ist für einen Antrag erforderlich.

Der Antragsteller oder die Antragstellerin muss einen Abschluss an einer Universität der drei Archen erlangt haben.

Der Antragsteller oder die Antragstellerin darf nicht gegen die geltenden Gesetze der Archen verstoßen oder verstoßen haben. Dies gilt auch für Verwandte ersten und zweiten Grades.

Der Antragsteller oder die Antragstellerin muss den Antrag persönlich und aus freiem Willen einreichen. Mit Einreichung verpflichtet sich der Antragsteller oder die Antragstellerin, die Entscheidung der Regierung zu akzeptieren und die ihm/ihr zugeteilten Rollen anzunehmen. Jede vergebene ID darf nur einmal pro Auswahlverfahren teilnehmen. Unabhängig vom Ergebnis der Wahl kann der Antragsteller oder die Antragstellerin bis zum vollendeten fünfundzwanzigsten Lebensjahr an jeder Selektion teilnehmen.

Abschnitt 3

Jedwede Reproduktion, genetische oder geschlechtliche Fortpflanzung, die nicht im Rahmen der Reproduktionsselektion der Archen geschieht, ist ein Verstoß gegen das geltende Gesetz und als solcher zu bestrafen.

Logbuch der Hope of Tomorrow

Eintrag 30.06.2381

Andrea Miles

Chronistin

Die Wetterlage ist unverändert. Die Energiezufuhr ist laut System stabil, dennoch kam es zu einem kurzen BlackOut, Zeitpunkt 290515Bjun2381. Alle lebenserhaltenden Systeme wurden während dieser Zeit zuverlässig aus den Speichern gespeist. Sechsundzwanzig Sekunden inaktives Holovit sind protokolliert. Eine offizielle Stellungnahme vonseiten der Regierung ist für diesen Morgen geplant.

Das unverzüglich aktivierte ID Screening zeigt keine auffälligen Bewegungen. Die LifeChip-Daten liegen im Rahmen der erwartbaren Ausschläge.

Die Upload-Rate, zum Zeitpunkt des BlackOuts bei null Prozent, liegt mittlerweile wieder stabil bei sechsundneunzig Prozent. Keine dokumentierten Infektionen. Vierundzwanzig Todesfälle, davon achtzehn mit Verdacht auf Suizid, Untersuchungen sind angelaufen. Ergebnisse gehen zur Dokumentation in die Archive.

ELSA-Newsfeed der Hope of Tomorrow

Präsidentin Anna zum BlackOut, das müssen Sie wissen!

Wir wollen jeden Tag einen BlackOut!

Das ist man versucht zu sagen, wenn man den atemberaubenden Aufzug unserer Präsidentin im offiziellen Statement zum gestrigen Stromausfall gesehen hat. Dieser Anblick war die paar Sekunden Logout allemal wert, findet unsere Redaktion. Must Have-Alarm für die elegante Kreation ihres Lieblingsdesigners Pierre van Delmen, der ihr nun schon zum wiederholten Mal einen unvergesslichen Auftritt programmiert hat. Ein dunkelblauer Overall, elegant und verboten sexy. Man kann davon ausgehen, dass die limitierten Codes bald ausverkauft sind. Also: zuschlagen, bevor es zu spät ist.

Kaum überraschend konnte die LogIn-Quote zum Statement ein Rekordhoch verzeichnen. Wer das Event tatsächlich verpasst hat, kann die Aufzeichnung bei uns in der Datenbank abrufen oder die wichtigsten Infos hier in der Zusammenfassung erfahren:

• Aufgrund eines terrestrischen Sturmgebiets über der Hope of Tomorrow kam es in der vergangenen Nacht zu einem kaum erwähnenswerten BlackOut.

• Für eine halbe Minute wurde die gesamte Bevölkerung aus dem Holovit ausgeloggt.

• Die Regierung hatte die Situation zu jeder Zeit im Griff und ermöglichte die Reaktivierung aller Systeme in kürzester Zeit.

• Aktuell gibt es keinerlei Anzeichen für einen weiteren BlackOut.

Selbstverständlich ist ELSA weiter die erste Adresse für alle News zum Verlauf des Sturms und die Situation der Arche. Aktivieren Sie Ihre Feeds, um auf dem neuesten Stand zu bleiben.

2

Die Bibliothek der Coder war an diesem Vormittag wie ausgestorben. Außer Kaja waren nur eine Handvoll Studenten anwesend. An seinem Stammplatz in der ersten Reihe saß Erik Cumberfield, vertieft in die Datenfelder auf seiner Monitorkuppel. Spiegelverkehrt von außen betrachtet, ergab der Wald aus Zahlen überhaupt keinen Sinn. Aber Kaja machte sich nichts vor – was auch immer der Streber konstruierte, sie würde es auch richtig herum gelesen nicht verstehen.

Auf der Suche nach einem Platz nickte sie im Vorbeigehen Gloria Swinford zu, die mit einem strahlenden Lächeln antwortete. Auch sie hatte die gläserne Halbkugel über ihrem Kopf bereits geschlossen. Die geöffneten Dateien kannte Kaja. Eine Basisprogrammierung für Reise-Hologramme. Das Modul stand auch auf ihrem Stundenplan für diesen Tag. Offensichtlich hatte die Arbeit Gloria Lust gemacht, selbst eine Reise zu buchen. Ein zweiter Screen zeigte die Startseite einer Reiseagentur, die Kajas Familie häufig selbst nutzte.

»Praxistest«, war Glorias Erklärung dumpf durch den Schirm zu hören, als sie Kajas Blick bemerkte.

Kaja grinste. Glorias sonnigem Gemüt konnte selbst der tiefste Bunker nichts anhaben. Sie würde selbst dann noch Beachholos buchen, wenn der Rest der Erde längst in sich zusammengefallen war. Sie interessierte sich weder für den BlackOut noch für den radioaktiven Sturm, ganz im Gegensatz zu ihren übrigen Kommilitonen. Die meisten Mitstudenten waren in diesem Moment in das Hologramm des Rats eingeloggt, um Anna Smiths Statement zu verfolgen. Kaja hatte keine Lust auf die Analyse der Präsidentin und des Rats, sie wollte den Schreck so schnell wie möglich vergessen.

Ihr Blick wanderte durch die lange Halle über die verwaisten Cockpits. Im hintersten Winkel der Bibliothek war das fluoreszierende Leuchten einer weiteren aktiven Kuppel zu sehen. Es schwänzte also noch jemand die Liveübertragung. Neugierig machte Kaja ein paar Schritte durch die Gänge und kehrte auf dem Absatz um, als sie hinter der Glasscheibe Liam Turner erkannte.

Natürlich, wer sonst. Turner war immer hier zu finden. Entweder in der Bibliothek oder eine Etage tiefer im Untergeschoss des Gebäudes, wo die Coder in den Blue-Rooms ungestört ihre Kreationen testen konnten. Hoffentlich hatte er sie nicht bemerkt. An diesem Morgen fühlte sie sich noch weniger gegen seine eisigen Blicke gewappnet als sonst.

Obwohl Lora behauptete, Turner würde alle seine Kommilitonen gleichermaßen hassen, war Kaja überzeugt, ihr gebührte der Platz auf dem Gipfel seiner Abneigung. Und das konnte sie sogar verstehen. Im Gegensatz zu Kaja hatte sich Turner seinen Platz an der Universität hart erkämpfen müssen. Als Kind hatte er beide Eltern verloren. Niemand wusste genau, woran sie gestorben waren. Todesfälle waren in der Hope so selten, dass sich die wildesten Gerüchte um seine Familie rankten, und um die Gründe, warum er bei Fremden aufgewachsen war. Doch keiner hatte es bisher gewagt, den Außenseiter danach zu fragen. Zwar verbrachte er Tag und Nacht an der Universität, aber für seine Mitstudenten interessierte er sich nicht. In Kaja sah er vermutlich nicht mehr als ein reiches verzogenes Gör, das seinen Platz in den Hallen der Mathematiker nicht verdient hatte.

»Und recht hat er«, murmelte sie und suchte sich eine Kapsel, möglichst weit von Liam Turner entfernt. Sie nahm in der Mitte der kleinen Insel Platz, schloss den transparenten Monitor über ihrem Kopf und wies ELSA an, die Inhalte des letzten Vortrags von Professor Fletcher zu laden.

»Dein Kunde möchte mit seiner Frau und seinem Sohn ein Reise-Hologramm in Auftrag geben. Sein Budget liegt bei 8.000 Dollar. Was bietest du ihm an? Programmiere drei alternative Codes, die den Vorgaben entsprechen«, wiederholte die Professorin die Aufgabe.

Theoretisch wusste Kaja, was von ihr verlangt wurde. Sie sollte den Kunden glücklich machen. Ihm ein kleines Stück Traumwelt basteln, damit er die Schrecken seiner Existenz ein paar Tage länger vergessen konnte. Ganz einfach. In der Praxis konnte sie allerdings den Gedanken, dass das alles nur eine Illusion war, nie ganz abschütteln.

»Das hier ist kein echter Sandstrand. Du kannst die Wellen nicht spüren. Das Weinglas in deiner Hand gibt es nicht«, wollte sie am liebsten lauthals losbrüllen. Stattdessen zwang sie sich, die geforderten Optionen in Code zu schreiben.

»Ich beginne mit dem Sourcecode des Holovits«, dokumentierte sie ihren Lösungsweg für Professor Fletcher. Ihre Finger huschten über die geöffneten Datenbanken und kopierten Bausteine der Helix, die das Grundgerüst aller ineinander verschachtelten Welten bildete. Nur mit korrekt integriertem Basiscode konnte ein Hologramm überhaupt live gehen.

»Weiter. Ich brauche ein LogIn-Portal und einen Code.«

Über ein Registrierungsprogramm ließ sie einen einzigartigen LogIn generieren, der ihren Kunden später als Schlüssel dienen würde; gleichzeitig erstellte sie einen Architektencode, der ihr die Möglichkeit gab, Anpassungen vorzunehmen und das Hologramm nach Gebrauch wieder zu deaktivieren. In der Welt ihrer Kunden war sie nun Gott.

»Liebe Familie X, wo soll ich euch hinschicken?«

Das vorgegebene Budget war viel zu gering für eine individuelle Programmierung, also scannte Kaja einen Katalog an vorgefertigten Modulen, die sie nur leicht modifizieren musste.

»Was soll es sein?«, überlegte sie und kaute nachdenklich auf ihrer Lippe. »Italienische Riviera? Disney World? Camping? Was würde euch Spaß machen?«

Wenige Minuten später hatte sie drei Reisen zusammengestellt. Einen Campingausflug in den Grand Canyon, inklusive privatem Tourguide. Auch wenn die Tour als festes Modul einer vorgeschriebenen Route folgte, gab es immerhin keine anderen Teilnehmer. Ein Badeurlaub in Cancún – hier war die Besonderheit die Kinderbetreuung, falls sich die Eltern etwas Romantik wünschten. Oder ein Städtetrip nach Paris, allerdings war dies ein Open-Source-Holo, das jedermann offenstand. Die vielen Features wären sonst unbezahlbar. Dennoch hatte sie ein romantisches Gourmet-Dinner eingebaut und alle vier Gänge mit einem Geschmacks-Upgrade versehen. Kaja war zufrieden und loggte ihr Ergebnis.

»Tut mir leid, Kaja«, ertönte kurz darauf Fletchers Stimme. »In deinem Vorschlag fehlt die Eigenleistung. Ich kann diese Aufgabe nicht bewerten.«

»Mist«, fluchte Kaja leise. Sie hatte gehofft, mit der Zusammenstellung verschiedener Quellen durchzukommen. Ihr Problem beim Coden war nicht die mangelnde Fantasie, neue Welten zu erschaffen. Ganz im Gegenteil, ihre Ideen waren mehr als kreativ. Was sie nicht konnte, war die bunten Bilder aus ihren Gedanken in Zahlenkolonnen zu transferieren. Schon beim Versuch, sich vorzustellen, wie viele Nullen und Einsen es brauchte, um eine Blume zu programmieren, schmerzte ihr Hirn. Wie ihre Eltern ganze Welten programmieren konnten, war ihr ein Rätsel. Wie es Lora gelang, mit künstlicher Intelligenz zu experimentieren, war ein Wunder. Frustriert stützte Kaja den Kopf in die Hände und schloss die Augen. Wie sollte sie je dieses verdammte Examen schaffen?

ELSAs Stimme holte sie aus ihrer Grübelei. »Nachricht von Lora Bonnet. Lesemodus aktivieren?«

»Lesemodus aktivieren.«

Im selben Moment blinkte die Nachricht ihrer Freundin vor Kajas Augen auf dem Glas.

»Hey. Wo warst du??? Schneckenhaussyndrom? Annas Outfit war umwerfend.«

»Nachricht von Tanja Spencer. Nachricht von Jade Morel. Gruppenmodus oder Singlemodus aktivieren?«, fragte ELSA erneut.

»Gruppenmodus«, antwortete Kaja, und die drei Chats verschmolzen zu einem Feed.

»Habt ihr dieses Outfit gesehen?«, schrieb Tanja.

»Meine ELSA kann es nirgends mehr auftreiben, alle Codes sind vergriffen. Frühestens in zwei Monaten wieder zu haben«, sagte Jade.

»Bis dahin ist Anna zwanzigmal neu aufgetreten.«

Kaja blickte über die Schulter und konnte ihre Freundinnen über mehrere Reihen verteilt in Cockpits entdecken. Sie hatte nicht mitbekommen, wie voll die Bibliothek mittlerweile war. Die Stellungnahme war also vorbei.

»Habt ihr auch etwas über den BlackOut erfahren?«, schrieb Kaja in die Runde. »Oder war das nur eine Modenschau?«

»Ach, unsere Schnecke steckt den Kopf aus dem Häuschen.« Lora schickte ein Smiley. »Warum warst du nicht eingeloggt?«

»Du hast nichts verpasst«, meinte Tanja. »Das übliche Bladibla. Alles im Griff, kein Grund zur Sorge. Have a nice day.«

»Dein Vater hat gefehlt …«, berichtete Jade. »Was war los?«

»???«, schrieb Kaja. Offizielle Regierungserklärungen wurden in der Regel von allen zehn Ratsmitgliedern begleitet. Ihr Vater nahm seine Pflicht sehr ernst, es musste einen guten Grund dafür geben, dass er nicht dabei gewesen war. Doch sie kannte ihn nicht.

»Sehen wir uns gleich in der FAQ-Stunde zur Selektion?«, wechselte Lora zu Kajas Erleichterung das Thema.

»Klar!«

»Sicher«, antworteten Tanja und Jade prompt.

»Kaja?«

Kaja fluchte. Den Termin hatte sie völlig vergessen. Das war der Nachteil, wenn man ELSAs Features stumm stellte. Eigentlich hatte sie zu viel Stoff durchzuarbeiten und gerade keinen Nerv, sich mit der staatlichen Familienplanung zu beschäftigen. Allerdings unterlag der Selektionsprozess der Aufsicht des Rats. Wenn sie fehlte, würde ihr Vater davon erfahren. Und diese Diskussion würde garantiert länger dauern, als sich eine Stunde allgemeine Information anzuhören.

»Ja, ich bin dabei«, schrieb sie in den Chat.

»Und dann Sonne tanken auf dem Campus?«, fragte Jade.

»Super Idee, ich hab jetzt schon die Nase voll von diesem finsteren Loch. Wer hat sich das eigentlich ausgedacht, uns hier einzusperren?«, meinte Tanja.

»Kajas Eltern«, entgegnete Jade, schickte aber sofort ein Smiley und zwei Herzen hinterher.

»Sorry, ich lass es gleich heute Abend für euch umprogrammieren. Wünsche?«, scherzte Kaja.

»Kaja, im Chatverlauf erkenne ich ein Interesse am Informationstermin des Rats zur Reproduktionsselektion teilzunehmen, ist das korrekt?«, unterbrach ELSA die Unterhaltung.

»Korrekt«, bestätigte Kaja zähneknirschend.

»Eine gute Entscheidung. Der LogIn zu diesem Termin ist aktiv. Soll ich dich einloggen?«

»Ja, bitte.«

Im selben Augenblick verschwand die Bibliothek vor Kajas Augen, und sie fand sich im großen Auditorium der Universität wieder. Der Hörsaal fasste mehr als fünfhundert sichtbare Plätze, halbmondförmig über zehn Stufen auf ein Rednerpult gerichtet. An diesem Termin würden garantiert alle Abschlussjahrgänge der vier Gilden teilnehmen. Kaja konnte nur einen Bruchteil der knapp fünftausend Coder, Techniker, Mediziner und zukünftigen Staatsbeamten tatsächlich sehen. Die vollständige Teilnehmerliste lag nur dem Host des Termins vor.

»Kaja! Hey, Kaja, hier drüben sind wir!« Lora winkte von einer der höher gelegenen Sitzreihen. Ein intelligenter Algorithmus hatte sich bei der Einteilung der Teilnehmer an Gildenzugehörigkeit und Kontakten orientiert. Neben Lora, Tanja und Jade erkannte Kaja viele bekannte Gesichter. Ihr Raum war hauptsächlich mit der eigenen Gilde gefüllt.

»Entschuldigung, darf ich kurz durch? Danke.«

Sie bahnte sich den Weg durch die dicht gedrängt sitzenden Studenten zu ihren Freundinnen. Obwohl noch niemand am Rednerpult stand, war die Spannung im Raum deutlich zu spüren. Das aufgeregte Gemurmel vieler junger Menschen erfüllte den Raum.

»Wow, ich hätte nicht gedacht, dass es so voll wird«, staunte Kaja und ließ sich auf einen Stuhl zwischen Lora und Jade fallen.

»Ich hab gehört, es wird dieses Jahr alles anders«, flüsterte Tanja.

»Das heißt es doch jedes Jahr«, warf Jade gelangweilt ein. »Und dann ist es doch immer dasselbe. Bis auf ein paar vorhersehbare Ausnahmen wird jeder, der seinen Abschluss schafft, auch ausgewählt. Du gibst deine Proben ab, und ein paar Monate später bekommst du dein Kind. Interessant ist doch nur, wer dir am Ende als Partner zugeteilt wird.«

»Also ich werde auf jeden Fall als Familie mit meinem Kindsvater leben.« Tanja klang fest entschlossen.

»Ja, warte mal ab. Wir sprechen uns wieder, wenn du Erik Cumberfield zugeteilt bekommen hast«, grinste Lora.

»Ehhhh! Wie kannst du so was sagen? Sei nicht so gemein!«

»Pst, es geht los«, ermahnte Jade die Freundinnen.

Gespannt blickten sie auf das Rednerpult, wo ein leichtes Flirren in der Luft einen LogIn ankündigte. Selbst Kaja hielt den Atem an und war mit einem Mal neugierig, wer zu ihnen sprechen würde.

Einen Augenblick später hatte sich ihre leichte Aufregung in echte Anspannung verwandelt. Nun kannte sie den Grund, warum Björn Andersson nicht am präsidialen Statement teilgenommen hatte. Weil er sich auf seinen eigenen Auftritt vor den Studenten der Hope vorbereiten musste.

»Guten Morgen, liebe Studierende, und willkommen zum heutigen Informationsgespräch. Ich freue mich sehr, Sie so zahlreich zu sehen, und bin mir sicher, Sie alle können es kaum erwarten, endlich Näheres über die diesjährige Reproduktionsselektion zu erfahren.«

Alle Augen im Saal waren auf ihn gerichtet, alle Ohren gespitzt.

»Vielleicht hat der eine oder andere von Ihnen schon die Gerüchte vernommen, in diesem Jahr würde sich der Prozess grundlegend ändern?«

Kaja bemerkte einige nickende Köpfe und hörte zustimmendes Gemurmel. Woher hatten ihre Kommilitonen diese Informationen? Warum wusste Kaja rein gar nichts über eine bevorstehende Neuerung, wenn es ihr eigener Vater war, der diese nun verkünden sollte?

Björn Andersson kommentierte die Antworten aus dem Publikum mit einem knappen Nicken. »Sie haben recht. Aber bevor ich auf die Neuerungen eingehe, möchte ich Ihnen die Hintergründe unserer Entscheidungen aufzeigen. Der Rat arbeitet transparent, und Sie alle sollen verstehen, warum wir bestimmte …«, er zögerte kurz, »… Anpassungen vornehmen mussten.«

»Kaja, warum hast du nicht gesagt, dass dein Vater sprechen wird?«, flüsterte Tanja ihr ins Ohr. »Weißt du, was jetzt kommt?«

Sie schüttelte den Kopf, ohne den Blick von ihrem Vater zu wenden.

Mit einer schnellen Handbewegung aktivierte Björn Andersson einen Screen zwischen sich und den Studenten. Darauf war die demografische Entwicklung der Hope abgebildet, daneben eine Grafik, die die Auslastung der Zellen zeigte.

»Was Sie hier sehen«, erklärte Kajas Vater, trat durch den Screen nach vorne und deutete auf die Bilder, »ist der Status quo unserer Arche. Stand heute schützt die Hope of Tomorrow etwa zweihunderttausend Menschen. Das ist viel. Mehr als unsere Schwesterarchen. Dank unserer exzellenten Versorgung liegt die Lebenserwartung im Schnitt bei einhundertsiebzig Jahren. Ungefähr zehntausend unserer Mitbürger gehören im Moment dieser Kategorie an.« Er deutete auf den obersten Balken der gezeigten Statistik. »Weitere zwanzigtausend sind zwischen hundertfünfzig und hundert Jahren alt.« Sein Finger wanderte weiter nach unten. »Mit je dreißigtausend und vierzigtausend Bürgern bilden die Neunzig- bis Siebzigjährigen im Moment den größten Anteil.«

Nach einer kurzen Atempause erklärte er weiter: »Zwanzigtausend Fünfzigjährige, weitere zwanzigtausend Vierzigjährige zeigen hier die Ergebnisse der ersten strengeren Selektionen.« Seine Hand verharrte an der Stelle auf dem Diagramm, ab der die Balken nach unten deutlich kleiner wurden. »Der Rat hat bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt erkannt, dass es existenzielle Konsequenzen haben wird, wenn wir nicht sorgfältig im Auge behalten, wie sich unsere Gesellschaft entwickelt. Der Platzmangel zwingt uns, jedes Jahr genau zu prüfen, welche Talente wir für die Zukunft reproduzieren müssen, um die Arche weiter aktiv zu halten. Glücklicherweise wurden die ersten Maßnahmen früh umgesetzt. Ihre Eltern können sicher davon berichten. Leider waren die Ergebnisse der Geburtenkontrolle nicht ausreichend.«

Seine Finger waren an den untersten Balken angelangt. »Sie können die Rechnung selbst anstellen. Mit zehntausend Dreißigjährigen und trotz nur noch fünftausend Zwanzigjährigen, einer ebenso geringen Anzahl von Zehnjährigen und nochmals der gleichen Menge an Kleinkindern, haben wir in Summe die Kapazitäten der Hope längst ausgeschöpft.«

Björn Andersson schritt von dem Demografie-Pilz weg hin zur zweiten Grafik. Die Etagen der Hope waren bis auf wenige Ausnahmen durch alle Zellen hinweg rot eingefärbt.

»Sechsundzwanzig unterirdische Ebenen«, erklärte er mit schwerer Stimme. »Davon sind zwanzig allein der Behausung zugeteilt. Zweitausend Zellen auf jeder Etage. Ausgestattet mit Aerobiose-Tanks, angeschlossen an die Grundversorgung und das Holovit. Was für eine enorme Leistung das ist, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Aber …«, er machte eine bedeutungsschwangere Pause, »… wir sind voll.«

Für wenige Sekunden herrschte Totenstille, dann rissen Hunderte Studenten gleichzeitig die Hände nach oben oder riefen in den Saal.

»Was soll das heißen?«

»Werden wir keine Kinder bekommen?«

»Ist die Selektion ausgesetzt?«

»Wird die Menschheit aussterben?«

Kajas Vater ließ den Sturm der Fragen ein paar Momente ungebremst laufen, dann hob er eine Hand. Sofort verstummten die Zwischenrufe, und die meisten Arme wurden gesenkt. »Selbstverständlich werden wir nicht aussterben.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, ganz so, als wäre die Frage zu albern, um sie ernst zu nehmen. Kaja kannte diesen Gesichtsausdruck. Die bevorzugte Methode ihres Vaters, unangenehme Themen im Keim zu ersticken.