Alice im Hungerland - Marya Hornbacher - E-Book

Alice im Hungerland E-Book

Marya Hornbacher

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Beschreibung

Marya Hornbacher ist durch die Hölle gegangen: Mit neun Jahren wird sie bulimisch, später magersüchtig - bis sie mit 23 Jahren nur noch 26 Kilo wiegt. Die Ärzte geben ihr noch eine Woche, aber Marya überlebt dank ihrer Willenskraft. Ohne auf gängige Erklärungsmuster zu vertrauen, schildert sie rückhaltlos offen eine schreckliche Odyssee, die doch noch ein gutes Ende nimmt.

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Das Buch

Mit fünf Jahren kommt Marya vom Ballettunterricht nach Hause, rollt sich auf ihrem Bett zusammen und beginnt zu weinen, weil sie sich zu dick fühlt. Kurz nach ihrem neunten Geburtstag zwingt sie sich, das erste Mal zu erbrechen, mit fünfzehn beschließt sie, soweit wie möglich aufs Essen zu verzichten. Es folgen fünf Krankenhausaufenthalte und immer wieder Rückfälle. Marya verliert ihre Familie, ihre Freunde, ihren Job und nicht zuletzt auch das Gespür dafür, was eigentlich normal ist. Erst als sie mit 19 Jahren nur noch 25 Kilo wiegt und an der Schwelle zum Tod steht, überwindet sie ihre Sucht und entscheidet sich für das Leben.

Die Autorin

Marya Hornbacher lebt und arbeitet als Schriftstellerin und freie Redakteurin in Minnesota. Für ihre Autobiographie Alice im Hungerland erhielt sie den White Award for Best Feature Story und eine Nominierung für den Pulitzer Preis.

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-taschenbuch.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage März 20103. Auflage 2011© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2010© 1999 für die deutsche Übersetzung Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main© 1998 by HarperCollins Publishers, LLCTitel der amerikanischen Originalausgabe: Wasted(HarperCollins Publishers, LLC)Umschlaggestaltung: HildenDesign, München(unter Verwendung einer Vorlage von Christof Berndt & Simone Fischer, Berlin)Titelabbildung: Mauritius

eBook-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in Germany

eBook ISBN 978-3-8437-0861-6

Für Brian

Inhalt

EinleitungAnmerkungen aus der Unterwelt

Kapitel 1Kindheit 1974 bis 1982

Kalifornien

Kapitel 2BulimieMinnesota, 1982 bis 1989

Kapitel 3Die Rolle der SchauspielerinMichigan, 1989 bis 1990

Zwischenspiel – 22. September 1996

Kapitel 4Methodist Hospital, Klappe, die ersteSommer 1990

Kapitel 5Persephone selbst ist nur eine StimmeKalifornien, 1990 bis 1991

Zwischenspiel – 5. November 1996

Kapitel 6GefängnisMinneapolis, 1991

Kapitel 7Warten auf GodotMinneapolis, 1991 bis 1992

Zwischenspiel – Gegenwart

Kapitel 8»Sterben ist eine Kunst wie alles«Washington, D. C., 1992 bis 1993

NachwortDas Wrack

Heute

Danksagung

Bibliographie

Anmerkungen

Einleitung

Anmerkungen aus der Unterwelt

Wir waren an einem Wendepunkt angelangt: Wir aßen zusammen zu Mittag. Wir spielten Normalität. Nach Jahren in der Unterwelt waren wir an die Oberfläche getrieben und sahen uns jetzt verstohlen um, wagten kaum zu atmen. Jane, bleich, mit großen, scheuen Augen, war gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden. Sie ließ das Haar über das Gesicht fallen, als wolle sie verhindern, daß man sie dabei ertappte, wie sie sündigte, wie sie aß, wie sie ihre Schwäche zur Schau stellte, wie sie zugab, einen Körper zu besitzen, der immer wieder seine unverschämten Forderungen geltend machte. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und dachte darüber nach, wie gut es war, gesund und lebendig zu sein, als sie den Kopf hob und flüsterte: »Mein Herz fühlt sich so komisch an.«

Ich richtete mich auf und fragte: »Was meinst du damit? Hast du Herzbeschwerden?« Sie nickte und sagte: »Es schlägt ganz unregelmäßig, und manchmal setzt es sogar ganz aus.«

Ich fühlte ihren Puls, dann griff ich mit einer Hand nach den Autoschlüsseln, mit der anderen packte ich ihren Arm und zerrte sie zur Tür hinaus ins Auto. Mir schwirrte der Kopf vor Erinnerungen und Statistiken, während wir auf dem schnellsten Weg in die Notaufnahme des Krankenhauses fuhren: Die ersten Monate der »Genesung« sind die gefährlichsten. Zum ersten Mal nach jahrelanger Auszehrung wird dem Körper wieder regelmäßig Nahrung zugeführt, und die physische Reaktion fällt entsprechend heftig aus: Oft kommt es zu Herzversagen, besonders dann, wenn man gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen wurde und die Wahrscheinlichkeit, daß das anorektische Verhalten erneut ausbricht, sehr hoch ist. Janes Augen sind geschlossen, sie atmet nur noch stoßweise. Jane ist erst einundzwanzig; ich darf nicht zulassen, daß sie stirbt. Ich weiß genau, was sie jetzt fühlt: die Beklemmung in der Brust, die Panik, der Gedanke Was-habe-ich-nur-getan und die Versicherung Aber-ichhabe-es-doch-nicht-ernst-gemeint. Eßstörungen bleiben oft lange unbemerkt. Heimlich und leise höhlen sie den Körper von innen her aus, und dann schlagen sie zu: Das Geheimnis kommt ans Licht. Man stirbt.

In der Notaufnahme überprüfte der Arzt erneut ihren Puls und ignorierte mich – zunächst nur geistesabwesend, dann verärgert – als ich ihn bat, doch bitte ein EKG vorzunehmen, ihren Blutdruck im Sitzen und im Stehen zu messen, ihre Elektrolyte zu überprüfen. Nachdem er Jane hier und dort abgetastet und befühlt hatte, drehte er sich schließlich zu mir um und sagte: »Entschuldigen Sie, Miss, aber der Arzt hier bin ich.« Ich sagte: »Ja, aber-.« Er machte nur eine Handbewegung, als wollte er mich verscheuchen wie eine lästige Fliege, und fragte Jane, wie sie sich fühlte. Sie sah mich an. Eine Magersüchtige zu fragen, wie sie sich fühlt, ist ein vergebliches Unterfangen. Ich sagte: »Hören Sie, sie leidet an einer Eßstörung. Führen Sie doch bitte einfach nur die Untersuchungen durch.« Der Arzt rief ungeduldig: »Was meinen Sie mit Eßstörung?«

Ich war am Boden zerstört. Ich sah nur noch eins: den Monitor, auf dem ich ihren schwachen und unregelmäßigen Puls beobachten konnte. Und dieser Mann stand einfach nur da, sah auf mich herab, sagte mir, daß er der Arzt hier sei und daß ich, eine junge Frau, die vierzehn Jahre lang durch die Hölle der Eßstörungen gegangen war, doch bitte den Mund halten sollte.

Ich hielt ihn nicht. Ich begann zu schreien.

Im folgenden Jahr gewannen wir beide an Stärke, Gewicht und Stimme. Jane begann, aufrechter auf ihrem Stuhl zu sitzen und – zunächst leise, dann immer lauter – diejenigen Worte zu sagen, die Millionen von Menschen nicht aussprechen können: Ich habe Hunger.

Ich erkrankte an Bulimie im Alter von neun, an Anorexie im Alter von fünfzehn Jahren. Ich konnte mich zwischen beiden Suchtformen nicht entscheiden und schwankte hin und her, bis ich zwanzig war. Jetzt bin ich dreiundzwanzig und ein recht interessantes Geschöpf mit einer nicht spezifizierten Eßstörung.a In den vergangenen dreizehn Jahren bewegte sich mein Gewicht zwischen 68 und 26 Kilo. Ich nahm rasant zu und wieder ab. Ich wurde »gesund«, dann »krank«, wieder »gesund«, schließlich noch »kränker« usw. – bis heute. Mittlerweile hält man meinen Zustand für »einigermaßen stabil«, wenn ich auch als verhaltensgestört und »extrem rückfallgefährdet« gelte. Ich war sechsmal im Krankenhaus, einmal in der Psychiatrie, habe unzählige Therapiestunden hinter mich gebracht; ich wurde so oft untersucht und beobachtet, klassifiziert, verhört, angespornt, gefüttert und gewogen, daß ich mir zuweilen vorkam wie eine Ratte in einem medizinischen Versuchslabor.

Die Geschichte meines Lebens – zumindest eine Version davon – lagert in riesigen Papierstapeln und Mikrofichekatalogen in diversen Krankenhausarchiven der Stadt, bewacht von mißtrauisch dreinblickenden Frauen, die mich fragten, warum ich sie einsehen wollte, was ich mit den Informationen in den Akten, auf denen mein Name und mein Geburtsdatum standen, anfangen würde. Ich Unterzeichnete Formulare, die bestätigten, daß ich ich selbst war und deshalb das Recht hatte, die Dokumentation meines Lebens einzusehen, und weitere Formulare, die bestätigten, daß ich keine Anwältin war und nicht beabsichtigte, das Krankenhaus Soundso verantwortlich zu machen für (Patientenname) (lebendig oder tot). Ich zeigte ihnen meinen Ausweis. Ich widersprach höflich, als man mich in einigen Krankenhäusern darüber informierte, daß es mich nicht gäbe, weil keine Akten vorlagen über – wie war doch gleich der Name? – nein nein, hier ist keine Akte über eine Person dieses Namens. Unvollständig, nicht funktionstüchtig, nicht existent, wie ich war, befeuchtete ich meinen Finger und blätterte mein Leben durch, etwa zweitausend Seiten unleserlicher Notizen.

Ich lernte unter anderem, daß ich »chronisch« krank bin, ein »hoffnungsloser Fall«. Ich saß auf meinem Klappstuhl und betrachtete das Bild, das diese Aufzeichnungen von mir entwarfen: das Bild einer Invalidin, eines Mädchens mit Wahnvorstellungen, das sein zukünftiges Leben, wenn überhaupt, dann in Krankenhaushemdchen und Krankenhausbetten verbringen würde.

Dieses Bild ist allerdings etwas ungenau. Ich bin weder geistesgestört noch invalide. Im Gegensatz zu jenen Akten, die mein baldiges Ableben prognostizierten, bin ich nicht gestorben. Heute pflege ich Muffins nicht mehr zu sezieren und bis in ihre Atome zu zerlegen, um dann an den Krümeln herumzuknabbern wie ein psychotisches Karnickel. Am Ende einer Mahlzeit springe ich nicht mehr wie von der Tarantel gestochen auf und hechte ins Badezimmer. Ich wohne in einem ganz normalen Haus, nicht im Krankenhaus. Ich lebe von einem Tag zum nächsten und denke nicht länger darüber nach, daß ich eines Morgens aufwachen und feststellen könnte, daß sich mein Hintern über Nacht auf magische Weise vergrößert hat. Das war keineswegs immer so. Es gab Zeiten, in denen ich morgens nicht aufstehen konnte, weil die Muskeln meines ausgezehrten und geschwächten Körpers sich weigerten, mir zu gehorchen. Es gab Zeiten, in denen mir die Lügen leicht über die Lippen kamen, weil es viel wichtiger war, mich selbst zu zerstören als zuzugeben, daß ich ein Problem hatte, geschweige denn, mir von jemandem helfen zu lassen. Jene Aktenstapel, die ich jetzt in diversen medizinischen Archiven der Stadt von Tisch zu Tisch trug, wogen häufig mehr als seinerzeit die Patientin, die sie beschrieben.

Heute ist das anders. Ich habe eine Eßstörung – keine Frage. Die Störung und ich befinden sich im Kriegszustand. Aber das ist mir erheblich lieber als jene Zeiten, in denen wir Bett, Tisch, Gehirn und Körper miteinander teilten, und mein Selbstwertgefühl vollkommen von der Fähigkeit zu hungern abhängig war. Eine seltsame Gleichung, und ein viel zu verbreiteter Irrglaube: Daß der eigene Wert in dem Maße steigt, in dem man körperlich verschwindet.

Ich habe an dieser Stelle keineswegs die Absicht, mich vor Ihnen zu entblößen und Ihnen zu berichten, wie schrecklich mein Leben, wie gemein mein Vater und meine Mutter waren, und daß irgendein Kind mich in der dritten Klasse »fette Kuh« genannt hat, denn nichts davon ist wahr. Ich werde mich auch nicht lang und breit darüber auslassen, daß es bei Eßstörungen darum geht, »Kontrolle« auszuüben, denn das wissen wir alle zur Genüge. »Kontrolle« ist ein Reizwort, das dazu dient, die Wahrheit zu vereinfachen, Menschen in Schubladen zu stecken und sie in mentale Quarantäne zu schicken und dann mit dem Finger auf sie zu zeigen: Da. So sieht jemand aus, der eine Eßstörung hat. Bei dieser Krankheit geht es um … ja, es geht um Kontrolle, aber genauso um die Biographie des einzelnen, um Philosophie, um die Gesellschaft, um das Gefühl der Entfremdung von sich selbst und der Umwelt, um Familienprobleme, um autoerotische Erlebnisse, um Mythen, Spiegel, Liebe, Tod, Sadismus, Masochismus, um Illustrierte und Religion, darum, wie das blinde Individuum durch eine Welt stolpert, die ihm immer fremder wird. Die Frage ist nicht, ob Eßstörungen tatsächlich »neurotisch« sind und auf eine Geistesstörung hindeuten – selbst mir würde es schwerfallen, rational zu begründen, warum man sich zu Tode hungert oder warum man sich der Völlerei hingibt, nur um sofort alles wieder zu erbrechen. Die Frage ist vielmehr, warum es eine solche psychosomatische Krankheit überhaupt gibt, was sie auslöst, und warum so viele junge Frauen davon betroffen sind. Warum fällt es uns so leicht, uns für diesen Weg zu entscheiden? Warum tritt die Erkrankung in unserem Jahrhundert häufiger auf denn je? Ist es die Schadstoffkonzentration in der Luft? Ist es eine Laune der Natur, die bewirkt, daß Frauen sich plötzlich und zahlreich mit beispielloser Gewalt der Vernichtung ihres eigenen Körpers widmen, ganz ohne erkennbaren Grund? Der Mensch lebt nicht außerhalb der Gesellschaft. Es gibt auf jeden Fall Gründe für eine solche Entwicklung, die sich kaum allein mit dem Hinweis auf individuelle psychische Störungen erklären läßt.

Dieses Buch ist weder ein Sensationsbericht über den Kampf mit einer geheimnisvollen Krankheit noch das Zeugnis einer wunderbaren Heilung. Aufgezeichnet wird die Geschichte einer Frau, die die dunkle Seite der Wirklichkeit bereist hat und den Entschluß faßte, zurückzukehren. Und zwar zu ihren Bedingungen.

Dabei grenzten meine Bedingungen beinahe schon an Ketzerei. Ich mußte sagen: Ich werde essen, was ich will, und aussehen, wie es mir paßt. Ich werde so laut lachen, wie es mir gefällt, werde die falsche Gabel benutzen und mein Messer ablecken. Die Lektionen, die ich lernen mußte und die zu viele Frauen niemals werden lernen können, waren merkwürdig und wunderbar zugleich: Ich mußte den Klang meiner Schritte lieben lernen, die Bedeutung von Gewicht und Präsenz, mußte lernen, Raum einzunehmen, den rebellischen Hunger meines Körpers ebenso zu spüren wie seine Reaktion auf Berührung. Ich mußte lernen, mich selbst zu verstehen, und zwar nicht nur intellektuell, sondern buchstäblich mit Leib und Seele. Ich mußte lernen, die Mißklänge unserer Kultur, die mich den lieben langen Tag berieseln, zu ignorieren. Zuviel, zuviel, zuviel. Wie Abra Fortune Chernik, eine Autorin, die selbst unter einer Eßstörung litt, schreibt: »Zuzunehmen und meinen Kopf aus der Toilette zu ziehen war der politischste Akt, den ich jemals vollzogen habe.«1

Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich davon überzeugt bin, daß einige Leute sich darin wiedererkennen werden – ob sie nun unter einer Eßstörung leiden oder nicht – und weil ich, was vielleicht naiv ist, glaube, daß sie nach der Lektüre möglicherweise bereit sein werden, ihr Verhalten zu ändern und sich die Hilfe zu suchen, die sie brauchen. Daß sie endlich beginnen werden, ihren Körper zu akzeptieren und einzusehen, daß sie weder zu dick noch zu dünn sind. Ich habe es geschrieben, weil ich die gängigen Ansichten über Eßstörungen nicht teile und weil ich meinen eigenen Beitrag leisten wollte, was immer er wert sein mag. Ich habe es geschrieben, weil Eßstörungen häufig als Ausdruck von Eitelkeit, von Unreife, als Neurose abgetan werden. Diese Faktoren spielen mit Sicherheit eine Rolle. Aber viel eher noch handelt es sich um eine Sucht. Um eine Reaktion, wenn auch eine ziemlich verquere, auf unsere Kultur, unsere Familie, unsere Persönlichkeit. Ich habe es geschrieben, weil ich gegen zwei Mythen über Eßstörungen, mit denen ich trotz ihrer Widersprüchlichkeit häufig konfrontiert worden bin, angehen will: Zum einen sind viele Menschen der Ansicht, daß Eßstörungen ein unbedeutendes Problem darstellen, das sich durch ein paar Therapiestunden, Medikamente und ein paar Streicheleinheiten beheben läßt. Nur eine »Phase« eben, die »Mädchen einfach durchmachen« – ich kenne sogar eine junge Frau, deren Psychiater ihr erzählte, daß Bulimie einfach nur »Teil ihrer normalen Entwicklung sei«. Dann gibt es aber auch wiederum die weit verbreitete Ansicht, daß nur Geistesgestörte und Neurotiker unter Eßstörungen litten, also nur »solche Leute«, deren Gehirn unheilbar krank ist und die ohnehin als »hoffnungslose Fälle« gelten.

Eine Eßstörung ist aber in der Regel keine Phase, und auch nicht notwendigerweise ein Hinweis auf eine Geisteskrankheit. Sie macht einen verrückt, das stimmt, und zwar nicht nur die Angehörigen und die Umgebung der eßgestörten Person, sondern auch die Betroffene selbst. Die Erkrankung wird von einer Reihe grundlegender und tödlicher Widersprüche gespeist: Da ist der Wunsch nach Macht, der einen ohnmächtig werden läßt. Die Geste der Stärke, die schwach macht. Der Wunsch zu beweisen, daß man nichts braucht, daß menschlicher Hunger einem fremd ist, ein Wunsch, der sich gegen sich selbst richtet und sich in eben jenen Hunger verwandelt. Der Versuch, die eigene Identität zu finden, der letztlich jegliches Bewußtsein für das eigene Selbst vernichtet (abgesehen natürlich von der bemitleidenswerten Identität eines »Kranken«). Ein groteskes Hohnlied auf das gesellschaftlich geprägte Schönheitsideal, das niemanden mehr verspottet als die eßgestörte Person selbst. Ein Protest gegen das Stereotyp der schwachen, bedürftigen Frau, der sie letztlich zur schwächsten, bedürftigsten und neurotischsten aller Frauen macht. Sie glaubt, daß dieses Verhaltensmuster ihr Sicherheit bietet, daß es sie am Leben erhält und ihr Kontrolle über das eigene Sein verleiht – doch natürlich findet sie irgendwann heraus, daß es genau das Gegenteil tut. Diese Widersprüche führen allmählich zu einer Art Persönlichkeitsspaltung. Körper und Geist entfernen sich immer weiter voneinander, und in der daraus entstehenden Kluft kann eine Eßstörung sich zu voller Blüte entfalten – in der Stille und dem Schweigen, das die Verwirrung umgibt, wächst und gedeiht das Geschwür.

In vielerlei Hinsicht ist eine Eßstörung die logische Weiterentwicklung der in unserer Gesellschaft vertretenen Werte und Ideale. Zugegeben: Die Persönlichkeit der betroffenen jungen Frau spielt für die Entwicklung der Krankheit eine große Rolle – häufig sind wir sehr extreme Charaktere, sehr konkurrenzbewußt, unglaublich selbstkritisch, getrieben, perfektionistisch, zu Exzessen und Übertreibungen neigend. Ein weiterer, ebenso zentraler Faktor ist die Familie: Sie bildet den idealen Nährboden, auf dem die Eßstörung gedeihen kann wie eine Treibhauspflanze. Trotzdem glaube ich, daß unsere Gesellschaft ebensoviel, wenn nicht gar mehr Schuld trifft. Anders ist die große Verbreitung von Eßstörungen wohl kaum zu erklären. Auch mir standen schließlich andere Methoden zur Selbstzerstörung zur Verfügung, unzählige Ventile, die ich mir für meinen Perfektionismus, meinen Ehrgeiz, meine übertriebene Intensität hätte suchen können. Es hätte unzählige andere Möglichkeiten gegeben, mich mit der von mir als höchst problematisch empfundenen Gesellschaft auseinanderzusetzen. Doch ich wählte die Eßstörung. Deshalb glaube ich, daß ich mir andere Mittel gesucht hätte, um von der Gesellschaft anerkannt zu werden, wenn ich in einer anderen Kultur aufgewachsen wäre, die »Schlankheit« nicht zu einem hohen Gut erklärt. Vielleicht hätte ich mir Wege gesucht, die meinem Körper keinen ernsthaften Schaden zugefügt und meine Identität nicht dermaßen radikal verzerrt hätten.

Ich habe nur sehr wenige Antworten, weil ich mich zuallererst darauf konzentriere, Fragen zu stellen. Ich habe nicht viel mehr zu bieten als meine Perspektive, meine Erfahrungen mit der Eßstörung. Und die sind nicht ungewöhnlich. Ich war kranker als manche, aber wiederum nicht so krank wie andere. Meine Eßstörung hatte keine exogenen Ursachen und führte auch nicht zu einer Veränderung meiner Grundüberzeugungen, wie etwa bei einer religiösen Konversion oder ähnlichem. Ich bin keine Kuriosität, mein Leben ist noch nicht einmal besonders ungewöhnlich verlaufen. Und das ist gerade das Beängstigende: daß mein Leben so normal war. Denn dann kann das, was mir zugestoßen ist, auch so vielen anderen passieren. Ich möchte meine Reise durch die Hölle eines Spiegelkabinetts niemandem wünschen. Und ich wünsche auch niemandem die schrecklichen Nachwirkungen – das Resultat, das wir während unserer Krankheit nicht voraussehen können: unseren geschädigten Körper, die beständige Versuchung, das Bewußtsein, daß wir gescheitert sind, daß wir nicht wir selbst geworden sind, die Angst, die wir hatten und haben, und die Erkenntnis, daß wir ganz von vom anfangen müssen, egal wie groß unsere Angst ist. Ich glaube, den meisten Menschen, die an einer Eßstörung leiden, ist zunächst nicht klar, daß man diese Erkrankung nicht einfach »überwindet«. Die Mehrheit der eßgestörten Menschen hat für den Rest ihres Lebens damit zu kämpfen. Man kann sein Verhalten ändern, seine Ansichten über sich selbst und den eigenen Körper, man kann diese spezielle Art und Weise, auf die Welt zu reagieren, aufgeben. Man kann lernen, so wie ich, daß man lieber ein Mensch als die dünne Hülle eines Menschen sein möchte. Vielleicht wird man sogar gesund. Aber man vergißt es nie.

Ich würde alles tun, um andere davon abzuhalten, den gleichen Weg zu gehen, den ich gegangen bin. Und dieses Buch zu schreiben ist für mich die einzige Möglichkeit, mein Ziel zu erreichen.

In gewisser Weise entspreche ich dem Stereotyp der weiblichen, jungen, weißen Frau aus der Mittelschicht. Dennoch ist mein Fall vielleicht exemplarisch, keinesfalls jedoch zu verallgemeinern. Im Gegenteil: Ich habe dieses Buch geschrieben, um dem Trend, von der individuellen Geschichte auf das Ganze zu schließen, der in der Fachliteratur zum Thema gestörtes Eßverhalten vorherrscht, entgegenzuwirken und ihm zu widersprechen. Ich bin weder Ärztin noch Forscherin, noch Expertin, noch Gelehrte. Ich bin Schriftstellerin. Ich habe keinen College- und keinen Universitätsabschluß. Aber ich lese viel, ich frage nach, ich gehe den Dingen auf den Grund. Ich spreche mit den Menschen. Ich schaue mich um. Ich denke nach. Vielleicht reicht das als Qualifikation nicht aus. Aber eines qualifiziert mich mit Sicherheit: Ich lebe es.

Wenn ich dich langweile, so kann ich es nicht ändern. Wenn ich mich unbeholfen ausdrücke, dann deutet das vielleicht darauf hin, wie kompliziert und schwierig das Thema ist, und wie ernsthaft ich versuche, es so gut es geht zu begreifen; ganz sicher ist es ein Zeichen meiner Jugend, aufgrund derer ich die sogenannte Kunst, das Handwerk, nicht beherrsche; vielleicht ist es ja auch Zeichen meines Mangels an Talent …

Ein Stück Körper, das mit den Wurzeln herausgerissen wurde, würde den Punkt vielleicht eher treffen.

James Agee

Kapitel 1

Kindheit

1974 bis 1982

»NUN, ES HAT KEINEN ZWECK, WENN DU VERSUCHST, IHN AUFZUWECKEN«, SAGTE TWEEDLEDUM, »WO DU DOCH NUR EINE GESTALT AUS SEINEM TRAUM BIST. DU WEISST GENAU, DASS DU NICHT WIRKLICH BIST.«

»ABER ICH BIN WIRKLICH«, RIEF ALICE UND FING AN ZU WEINEN.

»DU MACHST DICH UM KEINEN DEUT WIRKLICHER, WENN DU WEINST«, BEMERKTE TWEEDLEDEE.»ES GIBT NICHTS, WORUM DU WEINEN MÜSSTEST.«

»WENN ICH NICHT WIRKLICH WÄRE«, SAGTE ALICE– UND LACHTE BEINAHE UNTER IHREN TRÄNEN, DAS ALLES WAR SO LÄCHERLICH– »DANN KÖNNTE ICH DOCH AUCH NICHT WEINEN.«

»ICH HOFFE, DU DENKST NICHT ALLEN ERNSTES, DASS DEINE TRÄNEN WIRKLICH SIND?« UNTERBRACH SIE TWEEDLEDEE MIT VERÄCHTLICHER STIMME.

LEWIS CARROLL, »ALICE IM WUNDERLAND«

So einfach war das: Vor einer Minute war ich noch eine ganz normale Neunjährige in Shorts und T-Shirt, mit langen, braunen Zöpfen, die in der gelb gestrichenen Küche saß, sich eine Wiederholung von Bugs Bunny ansah, eine Tüte Chips in sich hineinstopfte und dabei den Hund mit dem Fuß kraulte. In der nächsten Minute ging ich, gefangen in einem unwirklichen Nebel, den ich später mit dem Gefühl vergleiche, das das Rauschen der Geschwindigkeit in mir auslöst, zur Küchentür hinaus, die Treppe hinunter, ins Badezimmer. Ich schloß die Tür, hob den Toilettensitz, hielt meine Zöpfe mit der einen Hand zurück, steckte mir die anderen zwei Finger tief in den Hals und übergab mich, bis ich Blut spuckte.

Ich betätigte die Toilettenspülung, wusch mir Hände und Gesicht, kämmte mir das Haar, ging die Treppe durch das sonnige, leere Haus wieder hinauf, setzte mich vor den Fernseher, nahm meine Chipstüte wieder zur Hand und kraulte weiter den Hund mit dem Fuß.

Wie hat Ihre Eßstörung begonnen? fragen mich die Therapeuten Jahre später, während sie mich dabei beobachten, wie ich an den Nägeln knibbele und mich in einen der unzähligen Ledersessel kauere. Ich zucke die Achseln. Verdammt, wenn ich das nur wüßte, sage ich.

Ich wollte einfach nur sehen, was geschehen würde. Neugier, die mir zum Verhängnis wurde.

Erst am nächsten Tag in der Schule wurde mir bewußt, was ich getan hatte. Ich saß im Speisesaal meiner Grundschule in Minnesota zwischen meinen präpubertären, schlaksigen Freundinnen, kauerte über meinen schmerzenden Brustwarzen und starrte auf meinen Teller. Ich hatte es einmal getan und würde damit weitermachen müssen. Panik. Mein Kopf pochte, mein Herz flatterte, und mein Adrenalinspiegel schoß in die Höhe. Die Wände schienen auf mich niederzustürzen, der Boden öffnete sich unter meinen kleinen Turnschuhen. Ich stieß den Teller beiseite. Keinen Hunger, sagte ich. Ich sagte nicht: Lieber verhungere ich, als noch einmal Blut zu spucken.

Und so ging ich durch den Spiegel, betrat die Unterwelt, wo oben und unten sich verkehren und Nahrung gleich Gier ist, wo sich konvexe Spiegel an den Wänden wölben, wo Tod Ehre bedeutet und das Fleisch Schwäche. Der Weg dorthin ist leicht– der Weg zurück um so schwerer.

Ich blicke auf mein Leben, wie man im Kino einen schlechten Actionfilm verfolgt: Ich hocke auf der Kante des Sitzes und schreie: »Nein, nein, nicht die Tür öffnen! Dahinter wartet der böse Mann, und er wird dich packen und dir die Hand über den Mund legen und dich fesseln. Und dann wirst du den Zug verpassen, und alles wird ein schlimmes Ende nehmen!« Nur daß es in dieser Geschichte keinen bösen Mann gibt. Der Mensch, der mir hinter der Tür auflauerte, mich packte und fesselte, war unglücklicherweise ich selbst. Mein Alter ego, ein böses, mageres Hühnchen, das mir zuzischte: Nicht essen. Ich lasse es nicht zu, daß du etwas ißt. Ich lasse dich frei, sobald du dünn bist, das schwöre ich. Wenn du erst einmal dünn bist, ist alles gut.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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