ALICE IM TOTENLAND (Band 1-3) Bundle - Mainak Dhar - E-Book

ALICE IM TOTENLAND (Band 1-3) Bundle E-Book

Mainak Dhar

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Beschreibung

ALICE IM TOTENLAND - alle 3 Romane jetzt in einem Bundle zum kleinen Preis! Band 1: Alice im Totenland Band 2: Hinter dem Spiegel Band 3: Wie alles begann Unsere Zivilisation endete vor mehr als fünfzehn Jahren. Zurück blieb eine karge, öde Welt, die man fortan das Totenland nannte, und eine neue Bedrohung: Horden unzähliger Untoter – die Biter. Die fünfzehnjährige Alice ist in dieser Welt aufgewachsen. Die Biter sind als Gefahr allgegenwärtig, und deshalb besteht ihre Ausbildung auch zu großen Teilen aus dem Umgang mit Schusswaffen und Messern. Eines Tages beobachtet Alice, wie einer der Biter in einem Loch in der Erde verschwindet. Alice folgt ihm, denn schon lange hält sich das Gerücht, dass die Biter über geheime unterirdische Höhlengänge verfügen. So stößt sie auf ein Geheimnis, das sie in ein actionreiches Abenteuer katapultiert und ihr Leben und das der anderen Überlebenden des Totenlandes für immer verändert. Gibt es eine weltweite Verschwörung, die das Ende der Menschheit zur Folge hatte? Was ist der Ursprung der untoten Biter? Und was hat es mit der mysteriösen Königin und ihrer rätselhaften Prophezeiung aus einem der letzten Bücher im Totenland auf sich – einem Buch namens "Alice im Wunderland"?

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Seitenzahl: 787

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Impressum

 
Originaltitel: ALICE IN DEADLAND
Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
        
Cover: Michael Schubert
Übersetzung: Peter Mehler
        
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.
        
ISBN E-Book: 978-3-95835-965-9
                
Der LUZIFER Verlag verzichtet auf hartes DRM. Wir arbeiten mit einer modernen Wasserzeichen-Markierung in unseren digitalen Produkten, welche dir keine technischen Hürden aufbürdet und ein bestmögliches Leseerlebnis erlaubt. Das illegale Kopieren dieses E-Books ist nicht erlaubt. Zuwiderhandlungen werden mithilfe der digitalen Signatur strafrechtlich verfolgt.

Alice im Totenland 

Mainak Dhar

übersetzt von Peter Mehler

Widmung

 

Wie immer für Puja & Aadi.

 

Inhalt

Alice im Totenland
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
EPILOG
Über den Autor

EINS

Alice war es langsam leid, neben ihrer Schwester auf der Anhöhe zu sitzen, ohne ein paar Biter abknallen zu können. Hin und wieder spähte sie durch das Zielfernrohr ihres Scharfschützengewehrs, aber da war nichts zu sehen. Welchen Sinn macht ein Hinterhalt, wenn keine Biter in die Falle tappen, denen man in den Kopf schießen kann?, fragte sie sich.

Alice war fünfzehn Jahre alt und war nur drei Monate vor den Geschehnissen geboren, die man Den Ausbruch nannte. Hin und wieder sprachen ihre ältere Schwester und ihre Eltern davon, wie die Welt davor gewesen war. Sie erzählten von Kinos, Fernsehen, Fahrten ins Grüne und der Schule.

Alice konnte sich unter all dem nichts vorstellen. Das einzige Leben, dass sie kannte, bestand darin, sich vor den Bitern zu verstecken. Die einzige sinnvolle Bildung, die sie erfahren hatte, bestand aus drei simplen Regeln:

Erstens: Wenn du von einem Biter gebissen wirst, wirst du zu einem von ihnen.

Zweitens: Wenn ein Biter jemanden beißt, den du kanntest, dann spielt es keine Rolle, ob das vielleicht einmal dein bester Freund war – er ist von da an ein Biter und würde dir, ohne zu zögern, die Kehle herausreißen.

Und drittens: Wenn du nur einen Schuss abgeben kannst, dann ziele auf den Kopf. Nur den Kopf. Nichts anderes kann einen Biter nennenswert aufhalten.

Und da war sie nun, lag mit ihrem Gewehr an der Schulter auf dem kleinen Hügelchen und wartete darauf, Nachzügler auszuknipsen, die den Kampfverbänden durch die Lappen gegangen waren. In ihren ersten Lebensjahren hatte sie sich hauptsächlich nur versteckt und versucht zu überleben. Doch dann hatten die Menschen sich neu formiert und angefangen zurückzuschlagen, und seither wütete ein endloser Krieg zwischen den Lebenden und den lebenden Toten. Alice' Eltern waren ein Teil der Hauptkampftruppe, die gerade eine Gruppe Biter ausradierte, die man in der Nähe ihrer Siedlung ausgemacht hatte. Gelegentlich hörte sie Schüsse, aber bislang war hier noch kein Biter vorbeigekommen. Ihre Schwester lag ruhig neben ihr, gehorsam und mürrisch, wie immer. Alice hielt es aber nicht mehr aus, nur herumzuliegen und sich zu langweilen, während woanders die Post abging, also kroch sie an den Rand des kleinen Hügels, sah durch ihr Zielfernrohr und versuchte, einen Blick auf die Kämpfe zu erhaschen.

Und das war der Moment, als sie ihn sah. Der Biter trug rosafarbene Plüschhasenohren. Aber das allein kam Alice gar nicht so seltsam vor. Wenn jemand gebissen wurde und sich damit den Untoten anschloss, behielt er einfach am Leib, was er in dem Moment gerade getragen hatte. Der erste Untote, den sie selbst erschossen hatte, war in einen zerlumpten Weihnachtsmann-Mantel gehüllt gewesen. Aber im Gegensatz zu den Kindern, die vor dem Ausbruch lebten, mussten sie ihre Eltern nicht sanft darauf vorbereiten, dass es den Weihnachtsmann in Wirklichkeit gar nicht gab. Was an diesem Biter so außergewöhnlich war, war die Tatsache, dass er nicht einfach nur geistlos herumirrte, sondern scheinbar nach etwas suchte. Die Biter sollten nichts anderes sein als hirnlose Kreaturen, deren einziger Antrieb in einem unstillbaren Appetit auf Menschen bestand. Alice konzentrierte sich und richtete das Fadenkreuz ihres Zielfernrohrs auf den Kopf des Bitern. Er war gute zweihundert Meter weit entfernt und bewegte sich schnell. Kein leichter Schuss.

Dann verschwand der Biter mit den Hasenohren im Boden.

Alice traute ihren Augen nicht und war zuerst verwirrt, doch dann rannte sie ohne nachzudenken zu der Stelle, wo der wandelnde Tote vom Erdboden verschluckt worden war. Ihr Herz pochte wild, als sie näher herankam. Seit Monaten gab es Gerüchte, dass die Biter große, unterirdische Basen errichtet hatten, in denen sie sich versteckten und aus denen sie hervorkrochen, um Chaos und Verwüstung anzurichten. Es gab Geschichten, dass ganze Armeen von Bitern vernichtet wurden, die einfach aus dem Nichts aufgetaucht und ebenso schnell wieder verschwunden waren. Doch bis jetzt hatte noch niemand eine solche Basis gefunden und man hielt diese Geschichten weitestgehend für wenig mehr als blumig ausgeschmückte Märchen. Sollte Alice gerade eine solche Basis entdeckt haben?

Ihre Aufregung ließ sie alle Vorsicht vergessen, und sie rannte allein weiter, obwohl sie ihre Schwester alarmieren oder Verstärkung hätte rufen sollen. Sie hätte überhaupt einige Dinge beachten sollen. Aber in diesem Moment schwirrten ihr nur zwei Dinge durch den Kopf – wo der Biter im Boden verschwunden war und was passieren würde, wenn sie wirklich gerade eine unterirdische Biter-Anlage aufgespürt hatte. Sie war eine exzellente Schützin, viel besser als die meisten Erwachsenen in ihrer Siedlung, und sie war schnell. Sie war eine geborene Kämpferin, darin waren sich alle Lehrer seit ihrem ersten Trainingstag einig. Sie konnte einen großen Mann auf die Matte legen, noch bevor dieser überhaupt zwinkern konnte, und hatte ihren Mut bereits in unzähligen Gefechten gegen die Biter unter Beweis gestellt. Trotzdem durfte sie noch keine Angriffe weiter draußen von der Siedlung entfernt anführen. Das wurmte sie schon die ganze Zeit über, aber da ihr Vater einer der Anführer des Dorfes war, gab es nichts, was sie dagegen tun konnte. Er behauptete, dass ihre ausgezeichneten Fähigkeiten als Schützin und Späherin viel besser in der näheren Umgebung ihres Dorfes aufgehoben wären, zur Verteidigung, und dass er darüber noch einmal nachdenken würde, wenn sie älter wäre. Aber sie wusste, dass da aus ihm nur der ängstliche Vater sprach und weniger der Anführer ihrer Siedlung.

Diese Entdeckung aber konnte alles ändern.

Plötzlich spürte sie, wie der Boden unter ihr nachgab, und sie fiel. Das Gewehr umklammert, rutschte sie einen weichen, abschüssig gewundenen Gang hinab. Es schien keine Möglichkeit zu geben, sich mit den Händen oder den Füßen festzuhalten und den Sturz abzubremsen oder gar wieder hinauf zu klettern. Sie sah nach oben zu dem Loch, durch das Tageslicht fiel, aber durch die vielen Kurven und Windungen des Tunnels immer schwächer wurde. Schreiend stürzte Alice immer tiefer in die absolute Finsternis.

 

Alice brauchte ein paar Minuten, um sich zurechtzufinden. Die Dunkelheit hatte sie verwirrt, und von den vielen Kurven war ihr schwindelig. Ein dickes Polster aus Ästen und Laub hatte ihrem Fall ein Ende bereitet. Sie hatte gehört, wie einige hinter vorgehaltener Hand die Vermutung geäußert hatten, die Biter wären gar nicht die seelenlosen Hüllen, für welche die Erwachsenen sie hielten, aber die meisten Leute taten diese Ideen als alberne Geschichten ab. Sie fragte sich allerdings, ob nicht womöglich doch etwas Wahres dran war. Nachdem sich ihre Augen etwas an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erblickte sie zu ihrer Rechten einen schwachen Lichtschein und kroch darauf zu, tiefer in den Tunnel hinein. Sie konnte vielleicht noch nicht viel erkennen, aber der Geruch war unverkennbar. Dieser faulige Gestank, der nur einen Ursprung haben konnte – die verrottenden Körper der lebenden Toten. Und obwohl sie bei vielen Gefechten mit den Bitern dabei gewesen und den Gestank gewohnt war, wurde ihr übel. Dann näherte sie sich der Lichtquelle und sah, dass sich der Tunnel zu einem kleinen Raum öffnete, der von Fackeln an den Wänden beleuchtet wurde.

Sie hörte Stimmen, und als sie um eine Ecke spähte, sah sie, dass der Biter mit den Hasenohren, dem sie in das Loch gefolgt war, in eine angeregte Diskussion mit zwei anderen Untoten vertieft war. Eine von ihnen war zumindest in ihrem früheren Leben eine gut aussehende junge Frau gewesen. Jetzt war ihre Haut gelb und verfault, und hing in losen Fetzen von ihrem Gesicht. Ihre Kleidung war zerfleddert und blutverschmiert.

Der dritte Biter war ein plumper, kleiner Mann, dem ein Großteil seiner linken Körperhälfte fehlte. Wahrscheinlich war sie von einer Mine oder einer Granate abgerissen worden. So weit ihre Erinnerung zurückreichte, hatte Alice bereits mit Waffen zu tun. Und obwohl in diesen Zeiten jeder Mensch in der Lage sein musste, sich zu verteidigen, hatte Alice, sehr zum Leidwesen ihrer Mutter, ein besonderes Talent für den Kampf gezeigt. Wenn es nach ihrer Mutter gegangen wäre, hätte sie Alice lieber wie die anderen jungen Leute als Wachposten in der Nähe der Siedlung gesehen. Aber Alice wollte schon immer ganz vorn dabei sein und den Nervenkitzel spüren, der damit einherging. So wie es aussah, bekam sie nun ihren Nervenkitzel, und würde sich zudem eine ganze Menge Ärger einhandeln. Sie war gefangen in einer unterirdischen Biter-Basis, ohne einen Ausweg.

Die Biter unterhielten sich in einer Mischung aus Knurren und Stöhnen, schienen sich so aber verständigen zu können. Jetzt, wo sie einen genaueren Blick auf den Biter mit den Hasenohren werfen konnte, stellte Alice fest, dass er kaum älter war als sie. Möglicherweise war er auf dem Weg zu einer Kostümparty gebissen worden. Er drehte sich zu ihr um, und Alice erblickte eine Art Lächeln, von dem aber nicht viel mehr als ein wildes Grinsen mit blutigen Zähnen übrig geblieben war.

Als Hasenohr sie direkt ansah, blieb ihr fast das Herz stehen. Für einen kurzen Moment hoffte sie, dass er sie nicht gesehen hatte, aber er bleckte die Zähne und stieß ein kreischendes Heulen aus, das ihr durch Mark und Bein ging. Nun drehten sich alle drei Biter zu ihr um, und Alice setzte sich in Bewegung.

Ihre Fertigkeiten im Lesen waren eher dürftig, trotz der vielen Versuche ihrer Mutter, ihr die alten Sprachen beizubringen. Aber sie sah nach dem Ausbruch auch keinen großen Nutzen darin. Es gab keine Bücher mehr, die man hätte lesen können. Und selbst wenn, wäre dafür gar keine Zeit. Aber in einer Sache war Alice in ihrer Schule unübertroffen, und das beherrschte sie sogar im Schlaf: Sie konnte in weniger als drei Sekunden ihre Pistole mit dem Daumen entsichern und mit beiden Händen auf ein Ziel ausrichten. Der erste Schuss traf den fetten Biter direkt zwischen die Augen, und er brach plumpsend zusammen.

Die anderen beiden hielten in dem für sie typischen langsamen, schlurfenden Gang auf sie zu, und Alice feuerte wieder und wieder. Das Echo der Schüsse hallte durch die unterirdische Höhle. Den weiblichen Biter traf sie wenigstens zwei Mal in die Brust, und schickte sie dann mit einem Kopfschuss zu Boden. Hasenohr war nur noch wenige Schritte entfernt, als die Waffe in ihrer Hand nutzlos klickte. Keuchend verfluchte sie sich für ihre miserable Trefferquote. Es war viel leichter, im Training auf Übungsziele zu schießen oder aus hunderten Meter Entfernung einzelne Gegner anzuvisieren als den blutrünstigen Bitern so nah direkt gegenüber zu stehen, wenn einem das Herz so schnell in der Brust hämmerte, dass man die Hände kaum ruhig halten geschweige denn zielen konnte.

Hinter sich hörte Alice Schritte und Stöhnen und stellte in einem Anflug von Panik fest, dass sie nun zwischen Hasenohr und anderen, die hinter ihr den Gang entlang kamen, gefangen war.

Verzweifelt sah sie sich um und entdeckte in der Wand zu ihrer Rechten eine kleine Öffnung. Sie lief auf Hasenohr zu und tauchte im letzten Moment unter seinen ausgestreckten, blutverkrusteten Fingern hindurch. Alice war kaum größer als anderthalb Meter und außerdem recht hager, aber Klassenbeste im unbewaffneten Nahkampf. Sie trat dem Biter mit einer geschickten fließenden Bewegung die Beine weg und stand wieder aufrecht, noch bevor dieser auf dem Boden aufschlug. Sie stürmte auf das Loch in der Wand zu und blickte zurück. Vier weitere Biter folgten ihr.

Alice nestelte an ihrem Gürtel herum und löste die einzelne Blitzgranate, die dort baumelte. Sie zog im Laufen den Sicherungsstift, ließ die Granate hinter sich fallen und stürzte dann so schnell sie konnte in das dunkle Loch. Ein paar Sekunden später hörte sie den dumpfen Schlag der explodierenden Granate und hoffte, dass der grelle Lichtblitz ihre Verfolger für ein paar Sekunden verwirren und sie etwas Zeit gewinnen würde. Doch mit der Hoffnung kam ihr ein ernüchternder Gedanke: Zeit wofür? Sie saß in einem Nest voller Biter fest und verrannte sich immer tiefer in dessen Untiefen. Sie war gefangen.

 

Alice rannte, bis sie keine Luft mehr bekam. Dann sank sie auf die Knie und fühlte sich so müde und verängstigt wie noch nie zuvor. Die Dunkelheit und die schmalen Gänge taten ihr Übriges. Sie fühlte sich orientierungslos und eingeengt. Aber zumindest waren die Schritte hinter ihr verstummt, was sie aber nicht besonders überraschte. Eine Blitzgranate hielt die Biter nicht auf, aber sie wusste, dass die Biter das grelle Licht hassten und es sie zumindest ein wenig aufhalten würde. Außerdem war sie eine durchtrainierte junge Frau, die es locker mit den besten erwachsenen Läufern ihres Dorfes aufnehmen konnte. Die Biter, die sie verfolgten, waren zwar gefürchtet wegen ihrer ungehinderten Aggressivität, waren aber im Vergleich zu den geübten lebenden Läufern aufgrund ihres unkoordinierten, schlurfenden Ganges weitaus langsamer, weshalb sie ihnen stets mühelos davonlaufen konnte. Das Problem war eben nur, dass sie in deren Stützpunkt gefangen war und ihre Verfolger einfach nur darauf warten brauchten, dass ihre Kraftreserven zu Ende gingen.

Als sie hinter sich entfernte Schritte zu hören glaubte, gab ihr die Angst neuen Antrieb und sie rannte weiter, die Hände in die Seiten gepresst, die wegen der Anstrengung schmerzten. Sie rannte gegen eine Wand, fiel hart auf den Rücken und musste feststellen, dass der Tunnel vor ihr eine Abzweigung genommen hatte. Sie schaute den Gang entlang und sah eine Tür, die von dem von der anderen Seite durchdringenden Lichtschein umrahmt wurde. Sie rannte darauf zu, und als sie näherkam, erkannte sie zu ihrem Erstaunen ein bekanntes Symbol, dass auf der Tür prangte. Es war ein Siegel, das einen Adler zeigte, der von Buchstaben eingefasst wurde, die bei dem spärlichen Licht kaum zu entziffern waren. Sie begann die Buchstaben zu lesen, doch nach dem U, dem N und dem I erkannte sie, dass sie nicht weiterlesen musste, um zu verstehen, was da stand. Sie hatte ähnliche Siegel auf alten Dokumenten gesehen, die ihr Vater in einer staubigen Kiste unter Verschluss hielt. Einmal hatte er davon erzählt, dass er vor dem Ausbruch in der Botschaft der Vereinigten Staaten in New Delhi gearbeitet hatte. Sie hatte wenig von dem verstanden, was er ihr zu erklären versucht hatte, aber die anderen Kinder in ihrer Siedlung hatten ihr erzählt, dass ihr Vater ein wichtiger Regierungsbeamter in der Alten Welt gewesen war. Sie erzählten ihr, dass sie und ihre Familie aus einem anderen Land namens Amerika stammten, und sie deshalb mit ihren blonden Haaren und ihrer hellen Haut so anders aussah als ihre braunhäutigen Freunde. Aber das spielte für sie keine Rolle, und auch für alle anderen nicht. Die alten Regierungen und Länder existierten längst nicht mehr. In der Gegenwart hatten alle Menschen, gleich welcher Herkunft, nur noch ein gemeinsames Ziel: im Angesicht der Scharen von Bitern zu überleben. Sie hatte Geschichten gehört, dass die früheren Nationen Kriege wegen der Götter, an die sie glaubten, geführt hatten, oder wegen der Gier nach Öl. Alice erinnerte sich, dass sie in der provisorischen Schule laut losgelacht hatte, als ihr Klassenlehrer ihnen aus jenen Tagen berichtete. Sie glaubte fest, dass ihr Lehrer das nur erfunden hatte. Wie nannten die Alten das noch gleich? Jene, die diese Bücher noch gelesen hatten, bevor die Untoten sich erhoben und die Welt zu brennen anfing.

Genau, Märchen.

Alice hörte Schritte hinter sich, und das brachte sie in die Realität zurück. Sie kämpfte mit der Tür und versuchte verzweifelt, sie aufzubekommen. Sie fand einen Griff, zog mit aller Kraft daran, und schließlich bewegte sie sich. Die gusseiserne Tür war so schwer, dass sie all ihre Kraft aufwenden musste, um sie einen Spalt weit zu öffnen, durch den sie hindurchschlüpfen konnte. Alice spähte durch die offene Tür zurück und hörte das Stöhnen, bevor sie Schatten im Tunnel auftauchen sah. Sie zog die Tür zu und hoffte, dass die Biter so dumm waren, wie man behauptete. Sie dachte an den alten Witz, wie viele Zombies man brauchte, um eine Tür zu öffnen …

Alice schaute sich um. Der Raum, in dem sie sich befand, wurde von einer kleinen Kerosinlampe an der Decke erhellt und war gesäumt von Regalen, die randvoll mit Papier und Dokumenten vollgestopft waren. In einer Ecke stand ein kleiner Schreibtisch, und als sie näher herantrat, erkannte sie einige Zeitungen darauf. Sie hatte noch nie zuvor eine Zeitung gesehen und war fasziniert von den Worten und den Bildern. Sie brauchte die Worte nicht zu entziffern, um zu verstehen, worum es in den Berichten ging. Das waren Reliquien aus den letzten Tagen des Ausbruchs und dessen Folgen. Es gab körnige Fotos von den ersten Untoten, und sie konnte sich vorstellen, dass sie für diejenigen, die so etwas noch nie zuvor gesehen hatten, sicher ein ganz besonderer Anblick waren. Dann gab es Fotos von verbrannten Städten – die Überbleibsel des Großen Feuers, das die Regierungen in unzähligen Städten entfesselt hatten, als alles verloren schien. Das war die karge, trostlose Welt, die Alice als ihr Zuhause kannte – das Ödland außerhalb Neu-Delhis, wo Millionen Menschen durch die Biter und Abermillionen durch die Regierungen starben, welche die Seuche mit Nuklearwaffen einzudämmen versuchten. Die Menschen hatte die Erde lieber zerstört, anstatt sie herzugeben. Aber ganz war es ihnen nicht gelungen, und so war in den Feuern der Apokalypse ein neuer Überlebenskampf entbrannt zwischen den Menschen und den Untoten des Ödlandes, dass man mittlerweile einfach nur noch das Totenland nannte.

Alice war so fasziniert von all dem, dass sie völlig vergessen hatte, wo sie sich befand, und sie schrie vor Schreck auf, als sie feststellen musste, dass da noch eine andere Tür war, halb von einem Stuhl verdeckt und einen Spaltbreit offen. Sie konnte schlurfende Schritte dahinter hören und wusste, dass ihr Fluchtweg in Wahrheit nichts anderes als eine Todesfalle war.

Sie zog die Pistole aus ihrem Gürtel, und während sie diese entsichern wollte, stellte sie erschrocken fest, dass sie in all dem Chaos vergessen hatte, nachzuladen. Die Schatten drangen bereits zur Tür herein, und Alice wusste, dass ihr dafür keine Zeit mehr blieb. Sie nahm das Scharfschützengewehr von ihrer Schulter. Die Waffe war für lange Distanzen gemacht und würde ihr in der kleinen Kammer nichts nützen, aber sie ließ sich vielleicht noch auf andere Art einsetzen.

Schon von Kindestagen an wollte sich Alice immer ins Getümmel stürzen. Ihre Eltern wurden nicht müde, auf sie einzureden, dass sie sich zurücknehmen müsse, anstatt bei jedem Kampf dabei zu sein. Aber als sie einmal während eines Nachtangriffs zwei Biter erschoss, hatte sich ihr Vater später tüchtig betrunken, um den Sieg zu feiern, und ihr gesagt, dass er ihr Temperament liebe und sie niemals, egal wie aussichtslos es sein möge, ihrer Angst nachgeben dürfe. Im Angesicht der Untoten Angst zu zeigen bedeutete den sicheren Tod, oder – schlimmer noch – einer von ihnen zu werden.

Alice erinnerte sich an die Worte ihres Vaters, und ihre Angst schmolz dahin. Sie wusste, dass die Biter darauf aus waren, jeden Menschen, den sie fanden, zu beißen und zu einem von ihnen zu machen, aber auch, dass es vorkam, dass sich Menschen so sehr wehrten, dass die Zombies wütend wurden und ihre Gegner zerfleischten, anstatt sie zu Untoten zu machen.

Lieber tot als untot.

Das war das Motto der Schule, in der man sie Überlebens- und Kampftechniken gelehrt hatte. Die Kinder früher hatten mit Spielsachen gespielt oder Fernsehen geschaut, Alice hingegen hatte mit Waffen und Sprengstoff gespielt und gelernt, auf welche Weise man die Untoten am Effektivsten ausschalten konnte.

Sie schwang das Gewehr jetzt vor sich her wie einen Knüppel und malte scharfe Kreise in die Luft. Drei Biter betraten den Raum, und als der erste nach ihr griff, zog sie ihm das Gewehr über den Kopf, warf sich gegen ihn und ließ ihn über seine eigenen Beine stolpern. Als Nächstes war eine untersetzte Frau an der Reihe. Sie trug ein verwittertes Wickelgewand und einen wenig dazu passenden riesigen Diamantohrring im linken Ohr. Ihr rechtes Ohr fehlte. Alice vollführte einen Roundhouse-Kick und ließ Miss Ohrring zurücktaumeln. Dann drehte sie das Scharfschützengewehr in ihrer Hand herum und feuerte einen einzelnen Schuss ab, der ihren Kopf zerplatzen ließ. Der dritte Biter, ein großer Mann ohne Unterkiefer, hatte es beinahe bis zu ihr geschafft, doch sie erwischte ihn im Gesicht mit einem harten Stoß des Gewehrkolbens. Biter mochten keinen Schmerz spüren, aber es brachte ihn genug aus dem Gleichgewicht, dass Alice ein paar Schritte zurückspringen und ihn mit einem weiteren Schuss in die Brust treffen konnte. Nur ein Kopfschuss konnte einem Biter den Garaus machen, aber ein Scharfschützengewehr mit der Durchschlagskraft wie das ihre richtete beeindruckenden Schaden an, egal wo die Kugel einschlug. Der Biter taumelte zurück, in seiner Brust klaffte ein riesiges Loch. Alice wusste, dass sie ihn gleich wieder am Hals haben würde und versuchte, die Waffe nachzuladen.

In diesem Moment jedoch spürte sie, wie etwas feuchtkaltes ihren rechten Arm packte. Der Griff war so stark, dass sie aufschrie und das Gewehr fallen ließ. Hasenohr war zurück und wollte ihr in den Arm beißen. Alice trat gegen sein Schienbein, aber er ließ sich nicht beirren und kam näher, bereit, seine Zähne in ihr Fleisch zu graben und sie zu einer von ihnen zu machen.

Alice tat etwas, dass er am wenigsten vermutete. Sie verpasste ihm einen harten Kopfstoß, und als er zurückstolperte und dabei seinen Griff lockerte, sprang sie über den Tisch und stand nun mit dem Rücken zur Wand. Jetzt sah sie sich nicht weniger als sechs Bitern gegenüber. Alice versuchte, die aufkeimende Panik herunterzuschlucken, und zog aus einer Scheide das gebogene Jagdmesser, dass sie immer bei sich trug. Hasenohr kreischte, ein höllisches Crescendo, in das alle anderen Biter mit einstimmten. Alice hatte von diesem Ritual schon gehört. Es bedeutete, dass die Biter ihr Opfer nun auseinanderreißen würden, anstatt es zu einem von ihnen umzuwandeln. Alice machte sich bereit, das Messer in der rechten Hand mit der Klinge nach hinten, die Beine leicht gespreizt, so wie sie es in den zahllosen Übungsstunden für den unbewaffneten Kampf gelernt hatte. Ihr Lehrer war in den Armeen der Alten Welt so etwas wie ein Elitesoldat gewesen, und seinen Aussagen zufolge war sie seine gelehrigste Schülerin. Alice verlangsamte ihre Atmung und konzentrierte sich auf die Biter vor ihr; versuchte, die Angst abzublocken und sich zu beruhigen. Sie packte den Griff ihres Messers fester. Lieber tot als untot.

 

ZWEI

Hasenohr stürmte auf sie zu, aber es erwartete ihn ein derber Tritt, der ihn aus dem Konzept brachte, und dann trieb Alice ihm das Messer in die Brust. Er blickte kurz auf und knurrte durch seine blutigen Zähne hindurch. Alice trat wieder nach ihm. Hasenohr fiel auf die Knie. Sie wusste, dass sie den Kampf verlieren würde. Sie war hoffnungslos unterlegen, und selbst wenn sie es schaffen würde, wie durch Zauberhand einem der Biter ihr Messer ins Gehirn zu stoßen, waren noch genügend übrig, die sich über sie hermachen würden. Aber wenn schon, sie würde zumindest nicht kampflos aufgeben. Ein Biter, dem das halbe Gesicht und einige Finger fehlten, griff nach ihr. Alice nahm all ihre Kraft zusammen und trieb ihr Messer in seinen Schädel. Der Biter brach zusammen und stand nicht mehr auf.

Nun blieb ihr keine Waffe mehr zur Verteidigung.

Zwei weitere Biter griffen an. Alice stieß den Tisch vor sich um, und die beiden fielen der Länge nach hin. Aber sie wusste, dass sie damit nur das Unvermeidliche hinauszögerte. Hasenohr schlug nach ihr, landete einen schmerzhaften seitlichen Treffer gegen ihren Kopf. Sie stürzte und schlug gegen die Wand, versuchte sich aber sofort wieder aufzurappeln. Kalte Hände griffen nach ihren Beinen und scharfe Fingernägel gruben sich in ihre Jeans. Sie griff das Bücherregal neben sich, das mit einem lauten Krachen umstürzte. Schriftstücke und Dokumente stoben in alle Richtungen. Die Biter zogen sie jetzt hinter sich her, kreischten vor Aufregung. Wie wilde Hunde, die ihr Opfer umzingelt hatten.

Hasenohr blickte zu ihr herab. Seine Augen waren gelblich und weit aufgerissen. An einigen Stellen löste sich seine Haut von den Knochen, und als er sich über sie beugte, war sein Gestank kaum zu ertragen.

Doch dann hielt er urplötzlich inne. Zwei der anderen Biter versuchten, zu ihr zu gelangen, aber er hielt sie mit einem herrischen Brüllen zurück. Alice zuckte zusammen, als er nach ihren Haaren griff, aber statt daran zu ziehen, schien er sie zu untersuchen und drehte sie in seinen Fingern hin und her. Alice war vor Angst wie paralysiert. Sie fragte sich, welche Art der Folter er im Sinn hatte und wünschte sich insgeheim, er möge mit dem Geplänkel aufhören und ihr wenigstens einen schnellen Tod bescheren. Bislang war sie nicht davon ausgegangen, dass die Biter über Gefühlsregungen verfügten, aber nun erblickte sie einen Ausdruck des Zweifels auf Hasenohrs Gesicht. Irgendetwas hielt seinen Blutdurst zurück. Und der Ursprung dessen schien irgendwo hinter Alice zu liegen, dort, wo bis vor Kurzem noch das Bücherregal gestanden hatte, denn immer wieder blickte er in diese Richtung.

Er streckte einen seiner aufgerissenen und schwieligen Finger aus. Alice zuckte zusammen, aber er deutete nur auf die Wand hinter ihr. Die anderen Biter hatten sich nun um ihn herum versammelt und starrten zu ihr herab. Einige drängelten und schoben sich noch immer an sie heran, aber er knurrte erneut und sie ließen von ihr ab. Hasenohr hatte offensichtlich das Sagen. Ob das gut oder schlecht war, würde Alice noch früh genug herausfinden. Er packte wieder ihre Haare, dieses Mal riss er sie dabei fast heraus, und Alice schrie. Das lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf sie, er brachte sein Gesicht nah an das ihre heran, und Alice hatte Mühe, sich bei seinem Gestank und dem Anblick seiner verrottenden Haut nicht zu übergeben. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt, als er zu ihrem Entsetzen ein Wort sagte:

»A … a … lissssssssssss.«

Zuerst dachte Alice, sie hätte sich nur verhört, aber als er es noch einmal wiederholte, zuckte sie erschrocken zurück. Nicht genug, dass diese Kreatur überhaupt sprach, nein, sie hatte ihren Namen genannt! Alice versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber ihre Reaktion war wohl eindeutig genug gewesen. Hasenohr machte einen Satz nach hinten, so als hätte man ihm einen Stromschlag verpasst, und alle anderen Biter traten einen Schritt zurück. Alice war allein, unbewaffnet, und ihnen ganz und gar ausgeliefert, aber irgendwie hatte sich das Blatt gewendet. Sie schienen Angst vor ihr zu haben. Nein, es war etwas anderes, so wie sie sich beinahe vor ihr verbeugten und versuchten, ihren Namen zu sprechen. Sie hatten Ehrfurcht vor ihr.

Alice rappelte sich auf und war unsicher, was hier vorging. Da deutete Hasenohr auf die Wand hinter ihr. Jetzt, wo sie einen ruhigen Blick auf die Biter werfen konnte, waren diese zwar immer noch abscheuliche, barbarische Kreaturen, aber sie schienen trotzdem in einem gewissen Maße zu rationalen Handlungen fähig. Wenn sie genau das tat, was sie von ihr wollten, gab es vielleicht eine Chance, an diesen Funken Menschlichkeit in ihnen zu appellieren und damit lebendig aus der Sache herauszukommen. Sie drehte sich zur Wand, und die Welt um sie herum schien stehenzubleiben. An der Wand hing eine Zeichnung. Aus verschmierten Strichen und krakelig ausgemalt, wie von einem Kleinkind gezeichnet, aber trotzdem unmissverständlich.

Es zeigte ein blondes Mädchen, dass in ein Loch sprang. Vor ihr befand sich ein Wesen, dass zwar eine seltsame Art von Jacke trug, aber eindeutig Hasenohren und Schnurhaare hatte. Über der Zeichnung prangte, kindlich hingekritzelt, das Wort 'Alice'.

Lesen mochte nicht gerade Alices Stärke sein, aber sie erkannte ihren Namen, wenn sie ihn geschrieben sah. Sie setzte sich auf den Boden und vergaß darüber, dass nur wenige Zentimeter von ihr entfernt immer noch die blutgierigen Biter lauerten.

Was ging hier vor sich?

Ein paar starke Hände packten sie an den Schultern und zogen sie auf die Füße. Die Biter schienen sichtlich aufgeregt, und Hasenohr schien ihnen grunzend und kreischend etwas zu erklären. Was immer es war, fand schnell die Zustimmung der anderen, und so schoben sie Alice aus dem Raum und in einen anderen Tunnel.

Sie war viel zu verstört, um Widerstand zu leisten, oder zu fragen, wohin man sie überhaupt brachte.

Und so wurde Alice noch tiefer in den Bau der Biter gebracht.

 

Sie liefen eine geraume Zeit schweigend durch die Dunkelheit, und Alice tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie bereits tot wäre, wenn die Biter das gewollt hätten. Doch sie wollten sie ganz offensichtlich lebend haben, aber wofür, blieb ihr ein Rätsel. Dann begann ein leichter Anstieg, und während die Biter den Weg zu kennen schienen und an die Dunkelheit gewöhnt waren, stolperte Alice mehr schlecht als recht dahin. Schließlich kamen sie um eine Biegung, und Hände hielten Alice zurück, so als sollte sie warten. Vor ihnen befand sich ein schmaler Lichtschein, der größer wurde, als eine Tür nach draußen aufgestoßen wurde. Beim Näherkommen sah Alice, dass es keine richtige Tür war, sondern Äste und Zweige, die nun, da sie den Tunnel verlassen hatten, wieder in Position gebracht wurden.

Nach der langen Zeit im Dunkeln schmerzte das grelle Sonnenlicht in ihren Augen. Blinzelnd sah Alice sich um und merkte, dass sie sich nun im einst so geschäftigten Zentrum von Neu-Delhi befanden. Außer Trümmern war von dem Glanz vergangener Tage nicht viel geblieben, aber Alice erkannte in den Ruinen die Überreste eines Gebäudes, dass früher einmal ein Denkmal namens India Gate gewesen war. Die Erwachsenen hatten davon erzählt, selbst betreten hatte sie dieses Gebiet aber nie, da die Stadt fest in Hand der Biter war und deshalb gemieden wurde. Und das aus gutem Grund. Überall liefen kleine und größere Gruppen von Bitern umher, und als die ersten sie erblickten, setzten sie sich sofort in Bewegung. Hasenohr stieß einen von ihnen beiseite und knurrte die anderen warnend an. Alice konnte nicht wirklich verstehen, was er sagte, aber mehrmals fiel ihr Name und zeigte Wirkung bei den Bitern. Sofort zogen sie sich zurück, so als hätten sie Angst vor ihr, und eskortierten sie zu ihrem unbekannten Ziel.

Alice versuchte unterbewusst, nur flach zu atmen. Das Große Feuer lag schon viele Jahre zurück, aber niemand konnte mit Bestimmtheit sagen, wie viel radioaktive Strahlung noch zurückgeblieben war. Als Alice zum ersten Mal die Geschichten über das Große Feuer und die furchtbaren Waffen jener Zeit hörte, hatte sie sich laut gefragt, wie viel von dem Wesen der Biter aus dem nuklearen Fallout resultierte und wie viel von dem herrührte, was der Auslöser für den Ausbruch gewesen war. Niemand schien darauf eine Antwort zu haben.

Die meisten der Atombomben hatte man in der Luft gezündet, um die Biter einzuäschern, den Boden aber so gut wie möglich frei von Strahlung zu halten, aber niemand konnte mit Sicherheit sagen, ob das funktioniert hatte.

Ihr Vater hielt damals allem Anschein nach eine Führungsposition in der Botschaft inne, doch alles ging so schnell, dass selbst er nicht sagen konnte, wie es sich in den letzten Tagen zugetragen hatte.

Sie hielten auf etwas zu, dass wie eine Öffnung im Boden aussah. Die Gerüchte über eine unterirdische Basis waren also noch untertrieben. Statt einer einzigen Anlage schienen die Biter über ein komplexes Netzwerk aus unterirdischen Tunneln und Stützpunkten zu verfügen. Alice versuchte, sich so viel wie möglich davon einzuprägen, um bei ihrer Rückkehr anderen mit dem Wissen helfen zu können. Der Gedanke daran, es wirklich wieder nach Hause zu schaffen, lenkte sie von der wachsenden Angst vor dem ab, was an ihrem Ziel auf sie warten würde.

Ein dumpfes, wummerndes Geräusch am Horizont ließ sie erstarren. Sie hatte ähnliche Geräusche schon gehört, und früher waren es immer höchst ungute Vorzeichen gewesen. Doch heute konnte es ihre Rettung bedeuten. Hasenohr schob sie hinter die Trümmer einer Ruine, und dort versteckten sie sich vor den drei schwarzen Helikoptern, die in Sicht kamen. Als sie näher heranflogen, sah Alice, dass sich die meisten der Biter ebenfalls in Deckung begeben hatten – die meisten, aber nicht alle. Zwei Biter irrten verzweifelt umher und suchten Schutz. An einem der Helikopter glitt eine Tür auf, und zwei Männer mit Scharfschützengewehren an die Schultern gepresst lehnten sich heraus. Zwei Schüsse ertönten. Beide Biter sackten mit zerplatzten Köpfen zu Boden.

Auf einmal sah Alice die rund um sie herum in Deckung kauernden Biter in einem völlig neuen Licht. Sie war mit der Vorstellung aufgewachsen, dass es tollwütige, bösartige Kreaturen waren, die vernichtet werden mussten, weil deren einziger Lebensinhalt darin zu bestehen schien, die Menschheit zu vernichten. Aber Hasenohr und die anderen wirkten überaus verängstigt. Ihre ehemals menschliche Intelligenz mochte ihnen abhandengekommen sein, aber in diesem Moment erinnerten sie eher an ein Rudel verschreckter Tiere als an bösartige, gnadenlose Tötungsmaschinen. Einige von ihnen zitterten sogar, als die Hubschrauber ihre Flughöhe verringerten.

Alice erkannte das Zeichen mit dem goldenen Dreizack und dem Blitz an den Seiten der Helikopter, und wusste, welche Gruppe es repräsentierte: ZEUS.

Manchmal hatte sie gehört, wie ihr Vater von privaten Militärfirmen erzählte und wie diese in dem Chaos vor dem Ausbruch an Macht und Einfluss gewannen. Vieles von dem, was sich die Erwachsenen erzählten, blieb für sie unverständlich, aber sie wusste, dass ZEUS die Mächtigste dieser neuen Armeen war und dass sie nach dem Zusammenbruch der Regierungen und dem Ausbruch noch an Macht dazu gewonnen hatte. Niemand wusste, wem sie unterstand, aber sie war die einzige sichtbar durchorganisierte und gut bewaffnete Armee da draußen. Alle paar Monate statteten sie den unabhängigen Siedlungen wie jener, in der Alice wohnte, einen Besuch ab, fragten nach Freiwilligen, die sich ihnen anschließen sollten, oder versuchten, die Siedler dazu zu zwingen, sich dem Zentralkomitee zu unterwerfen. Die Gründer dieses Zentralkomitees waren unbekannt, aber jene Leute kontrollierten ZEUS. Und jeder im Totenland wusste: Wer einmal deren Regeln akzeptierte, verlor damit seine Freiheit.

Alice hatte Glück, in einer Ortschaft aufzuwachsen, die ihr Vater und die verbliebenen Truppen der zum Schutz der amerikanischen Botschaft in Neu-Delhi abkommandierten US-Marines gegründet hatten. Während andere Ortschaften des Totenlandes in den ersten Jahren nach dem Ausbruch eine leichte Beute für Plünderer und Biter darstellten, hatte ihre Siedlung erfolgreich Angriff um Angriff zurückschlagen können und sich so einen gewissen Ruf erworben. Mit ihnen war nicht zu spaßen. Trotzdem fühlte sich Alice stets unwohl, wenn ZEUS-Soldaten in ihren Ort kamen. Sie war hauptsächlich mit Berufssoldaten aufgewachsen oder Menschen wie ihrem Vater, die für die Sicherheit ihrer Familien kämpften. Die Trupps von ZEUS hingegen waren Söldner, und zeigten wenig Mitgefühl für die Menschen im Totenland. Wenn man sich ihnen nicht anschloss, überließen sie einen dem eigenen Schicksal, selbst wenn man von Bitern überrannt wurde.

Von den Scharfschützen gedeckt seilten sich nun komplett in Schwarz gekleidete Männer ab und schwärmten aus. Alice wusste nur zu gut, welchen Ruf ZEUS hatte, aber im Moment blieben ihr nicht viele Möglichkeiten. Sie konnte sich entweder den Bitern als Gefangene einem ungewissen Schicksal ausliefern oder die Chance ergreifen, wieder nach Hause zu kommen, auch wenn das bedeutete, dass sie sich den Soldaten von ZEUS anvertrauen musste. Die Entscheidung lag auf der Hand.

Sie wartete, dass die Soldaten näherkamen, denn sie wusste, dass Hasenohr und seine Freunde sie sicher umbringen würden, wenn sie sich zu früh bemerkbar machte. Sie wartete auf den geeigneten Moment, doch dann bot sich ohne ihr eigenes Zutun eine Gelegenheit.

Ein weiblicher Biter in ihrer Nähe verlor die Nerven und rannte wild schreiend aus der Deckung. Zwei der ZEUS-Soldaten legten knieend ihre vollautomatischen Waffen auf sie an und schossen. Die Untote zuckte im Kreuzfeuer wie eine Marionette hin und her, bevor sie umkippte. Sie versuchte sich aufzurappeln, doch der Scharfschütze an Bord des Helikopters blies ihr mit einem Schuss den Kopf weg. Ein anderer Biter rannte auf die Tore zu, die in den Untergrund führten, und wurde von mehreren Schüssen durchsiebt. Den endgültigen Treffer übernahm wieder der Scharfschütze.

Alice sah das alles mit an und erkannte, dass es kein Kampf mehr war, sondern ein Massaker.

Hasenohr und die anderen hatten sich zusammengekauert, so als ob sie beraten würden, was nun zu tun sei. Da ergriff sie die Gelegenheit. Sie trat aus der Deckung, hoffte, dass die Soldaten sie nicht erschießen würden, und rief, so laut sie konnte: »Helft mir, ich bin ein Mensch!«

 

Alices Augen weiteten sich, denn anstatt ihr zu Hilfe zu eilen, ging einer der ZEUS-Soldaten in die Knie und zielte mit seinem Gewehr auf sie. Etwas zog sie zur Seite, und Kugeln pfiffen an der Stelle durch die Luft, wo sie noch wenige Sekunden vorher stand. Hasenohr sah sie mit einem durchdringenden Blick an, bevor er sie weiter in die Deckung zog. Die Soldaten schienen nun zu verstehen, was vor sich ging, und die Tatsache, dass ein junges Mädchen von einer Horde Biter gefangen gehalten wurde, ließ sie handeln. Weitere Soldaten seilten sich aus den Helikoptern ab und hielten auf die Mauer zu, hinter der sich Alice nun versteckte.

Hasenohr pfiff, ein ohrenbetäubendes Geräusch, bei dem sich Alice unwillkürlich die Ohren zuhielt. Als sie einen Blick aus ihrer Deckung riskierte, sah sie, was sein Signal bedeutete. Aus allen Richtungen strömten Biter aus den Ruinen heran und umzingelten die Soldaten. Die ZEUS-Trupps eröffneten das Feuer, und Alice sah mehrere Biter fallen, aber die restlichen kamen schnell näher. Ein paar von ihnen wurden von den Snipern in den Helikoptern mit präzisen Kopfschüssen ausgeschaltet.

Alice war beeindruckt. Sie hatte selbst an Dutzenden von Gefechten teilgenommen und mindestens genau so viele als Späher oder im Rahmen ihres Trainings beobachtet. Nie waren ihr Zweifel gekommen, die Biter als etwas anderes zu sehen, als jene grausamen und schrecklichen Gegner, für die sie jeder hielt. Und sie hatte keinen Moment gezögert, ihr gesamtes Magazin dem untoten Weihnachtsmann in den Kopf zu jagen, der ihr bei einer Patrouille über den Weg gelaufen war.

Doch als sie jetzt inmitten der Biter saß und einen Blick darauf erhaschte, wie der Kampf gegen die Menschen aus ihrer Sicht aussah, war die Sache eine andere. Natürlich blieben sie von Nahem betrachtet grauenerregend, mit ihrer Stärke, ihrer Unempfindlichkeit gegen Schmerzen und ihrer unbeirrbaren Gier nach Menschenfleisch. Aber in offenem Gelände wie hier, gegen trainierte Soldaten, waren sie nichts weiter als Kanonenfutter. Sie waren nicht imstande, irgendwelche Waffen zu benutzen, bewegten sich langsamer als Menschen, und ihre Intelligenz reichte nur für rudimentäre Taktiken.

Die etwa zwölf ZEUS-Soldaten bildeten nun, Rücken an Rücken, dicht aneinandergedrängt, eine geschlossene Frontlinie und bewegten sich kontinuierlich auf sie zu. Hin und wieder pickten sie sich einzelne Ziele heraus, überall lagen bereits unzählige Biter am Boden. Und doch drängten immer mehr heran. Alice sah, dass aus wenigstens zwei Löchern im Boden Biter strömten und versuchten, nahe genug an die Soldaten heranzukommen, um ihre Nägel und Zähne in sie vergraben zu können. Es war ein Massaker, und Alice fragte sich, was die Biter damit bezweckten, ihrer sicheren Vernichtung entgegenzueilen. Oder waren sie doch nur hirnlose Marionetten, einzig von ihrer Gier nach Blut angetrieben, ungeachtet der Folgen?

Jemand packte ihren Arm. Hasenohr zerrte sie mit sich. Sie versuchte, sich zu wehren, aber sein Griff war so stark, dass sie ihn nicht abschütteln konnte. Als sie nach ihm trat, stolperte er nach hinten und verpasste ihr eine lässige Ohrfeige. Der Schlag war so hart, dass sie zu Boden ging. Alles drehte sich um sie herum. Hasenohr hob sie auf und warf sie sich über die Schulter. Er stieß ein lautes Kreischen aus, und sofort schoben sich mehrere Biter zwischen sie und die herannahenden Soldaten.

Das Verhalten der Biter hatte Methode. Sie verschafften Hasenohr etwas Zeit, damit er sie wegbringen konnte. Sie verstand nicht, was sie von ihr wollten oder was diese Zeichnung zu bedeuten hatte, aber damit schwand ihre Hoffnung auf Rettung. Die ZEUS-Truppen kamen ins Stocken und traten angesichts der schieren Übermacht von Bitern den Rückzug an. Hasenohr schlüpfte zwischen einigen Ruinen hindurch, und das Letzte, was Alice sah, war, wie sich die Biter kratzend und beißend über den ersten Soldaten her machten.

Der Ort, an dem sie sich befanden, war dunkel, und Hasenohr rannte durch Gänge, die zu einem ehemaligen Amtsgebäude gehörten. Von den Korridoren gingen immer wieder Türen ab, hinter denen sich Biter versteckt hielten. Selbst wenn es die Soldaten bis hierher geschafft hätten, wären sie in der Enge und der Dunkelheit eine leichte Beute für die versteckten Biter geworden. Alice versuchte erneut, sich anhand dessen, was sie erlebt hatte, ein Bild von den Bitern zu machen. Okay, sie waren nicht so schlau wie Menschen, aber sie besaßen die Fähigkeit zur Planung und vorausschauendes Denken – was aber immer noch nicht erklärte, was zur Hölle sie von ihr wollten!

Hasenohr duckte sich unter einem eingestürzten Stützbalken hindurch und hielt schließlich an. Er ließ Alice achtlos auf den Boden plumpsen. Alice überzog ihn mit den wüstesten Beschimpfungen, die sie in der Gesellschaft von Soldaten über die Jahre aufgeschnappt hatte, aber er sah sie nur ausdruckslos aus seinen leeren, geblichenen Augen an. Er wies auf ein Loch in einer Wand und bedeutete ihr, dort hindurchzugehen. Als sie zögerte, schlug er nach ihr, und sie landete wieder auf dem Boden.

»Was ist verdammt noch mal los mit dir? Hör auf, mich zu schlagen, dann überlege ich es mir vielleicht!«

Doch wieder schienen ihre Worte an Hasenohr abzuprallen. Alice sah ein, dass sie kaum eine Wahl hatte und sich auch ihr keine Fluchtmöglichkeit bot, also stieg sie durch das Loch und begann mit dem Abstieg in den Untergrund. Noch vor wenigen Minuten, als sie seit ihrer unüberlegten Verfolgung von Hasenohr das erste Mal wieder Menschen zu Gesicht bekam, hatte sie sich ausgemalt, wie ihre Flucht aussehen könnte. Nun aber war sie wieder fest in den Händen der Biter und wurde tiefer in deren Festung verschleppt.

Sie liefen wenigstens eine Stunde durch totale Dunkelheit, bis Hasenohr in einem größeren Durchgang anhielt, der von einer einzelnen Fackel beleuchtet wurde. Alice hielt sich die Seite. Sie hatte kaum noch genug Kraft, aufrecht zu stehen, geschweige denn, ihm weiter zu folgen.

»Ich brauche Wasser, okay? Ich bin nicht wie ihr. Ich muss essen und trinken.«

Er sah sie mit ausdruckslosem Gesicht an, und sie deutete Trinkbewegungen mit ihrer Hand an, in der Hoffnung, dass er verstand, was sie von ihm wollte. Als er den rechten Arm bewegte, zuckte Alice zusammen. Sie rechnete damit, wieder geschlagen zu werden. Aber stattdessen hielt er ihr ihren Rucksack hin, den er ihr nach dem Kampf in der Botschaft abgenommen hatte. Sie öffnete ihn, nahm die Wasserflasche heraus und leerte sie bis auf den letzten Tropfen. Als sie die Flasche wieder zurücksteckte, tastete sie kurz in dem Rucksack herum. Sie hatte noch ein Erste-Hilfe-Set und eine Leuchtrakete dabei. Keine Waffen, aber die Leuchtrakete könnte sich nützlich erweisen.

Hasenohr knurrte, und sie gab ihm den Rucksack zurück. Sie war froh, dass er klug genug war, um zu verstehen, was sie wollte, aber auch dumm genug, nicht den Inhalt des Rucksacks zu überprüfen.

Sie folgte ihm tiefer in den Untergrund. Nach mehreren sich immer tiefer abwärts windenden Biegungen erreichten sie eine Tür. Hasenohr stieß diese auf, und Alice erkannte, dass sie eine Art Bunker betraten, der ursprünglich zum Schutz von Menschen gedacht war. Metallene Stockbetten säumten den Raum, in dem es vor Bitern nur so wimmelte. Einige von ihnen zischten sie an und kamen näher, aber Hasenohr stieß ein paar knurrende Warnungen aus, und die Meute zog sich zurück. Er griff ihr Handgelenk und zog sie dicht hinter sich her, wahrscheinlich um sie vor den anderen Bitern zu beschützen. Viele der Biter musterten sie feindselig oder spuckten nach ihr, und Alice zweifelte keine Sekunde daran, dass die Biter sie im Nu in Stücke zerfetzt hätten, wenn es ihren ungewöhnlichen Beschützer in Gestalt eines Bitern mit Hasenohren nicht gegeben hätte.

Vor einer offenen Tür hielten sie an, und Alice erstarrte, als sie aus dem Raum dahinter eine menschliche Stimme hörte. Eine weibliche Stimme, tief, ernsthaft und bedächtig, aber zweifellos menschlich. Das, oder Alice war kurz davor, ihrem ersten Biter zu begegnen, der sprechen konnte.

»Was hast du mir heute gebracht? Lass mal sehen.«

Stöhnen und Kreischen waren als Antwort zu hören, dann fuhr die Stimme fort: »Zwei ZEUS-Soldaten? Was soll ich denn mit denen anfangen? Den Papieren nach zu urteilen sind es junge Rekruten, also ohne jeden Nutzen für mich. Aber wie solltest du etwas davon verstehen, nicht wahr?«

Wieder ein Kreischen als Antwort. Alice lauschte der unwirklichen Unterhaltung und fragte sich, ob überhaupt eine der Parteien verstand, was die andere sagte.

»Nun ja, du hast sie hergebracht, und ich habe eine kleine Unterhaltung mit ihnen geführt. Unglücklicherweise hat man ihnen eine Gehirnwäsche verpasst. Sie wollen sich uns nicht anschließen, und nach allem, was sie hier gesehen haben, kann ich sie auch nicht mehr gehen lassen. Ich hatte gehofft, sie wären etwas aufgeschlossener. Aber wahrscheinlich ist es besser so – denn die beiden gehörten zu der Einheit, die vor zwei Wochen die Kleinen umgebracht hat.«

Anstelle des Kreischens ertönte nun ein markerschütterndes Brüllen, und schlagartig begriff Alice, dass der Biter tatsächlich verstand, was man ihm sagte. Bei den folgenden Worten der weiblichen Stimme weiteten sich Alices Augen vor Angst.

»Schafft sie weg, und aaaaab mit dem Kopf!«

Alice hörte, wie die beiden flehten und bettelten, als man sie davon zerrte, dann schob Hasenohr sie in den Raum. In Panik stieß sie ihn zurück. Was, wenn ihr das gleiche Schicksal wie den beiden ZEUS-Soldaten drohte?

»Lass mich los, verdammt noch mal. Lass meine Hand los!«

Da erscholl aus dem Raum beschwichtigend die weibliche Stimme.

»Ist schon gut, meine Liebe. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Komm herein.«

»Wer zur Hölle bist du?«

»Tss tss tss«, mokierte die Stimme missbilligend wie eine Lehrerin. »Junge Dame, von jemand aus den Siedlungen hätte ich ein etwas besseres Benehmen erwartet. Schließlich bist du keine dieser Wilden, die plündernd durch das Totenland streifen. Komm herein, und lass uns wie zivilisierte Leute miteinander reden. Aber um deine Frage zu beantworten: Die armen Geschöpfe hier unten halten mich für ihre Königin.«

Und so wurde Alice, vor Angst zitternd, in den Raum geführt, zu ihrer Audienz bei der Königin der Biter.

 

DREI

Als Alice den Raum betrat, fand sie sich in einer Art Büro wieder, mit einem großen Sofa an dem einen und einem Schreibtisch mit einem Stuhl mit langer Lehne am anderen Ende. Die Königin saß auf dem Stuhl, hatte aber den Kopf abgewandt, sodass Alice kaum mehr als ihre behandschuhten Hände auf der Stuhllehne sehen konnte. Hasenohr stand hinter ihr und stieß undeutliche drohende Geräusche hervor. Alice hatte keine Ahnung, wie die Biter sich verständigten, aber so wie sie die Laute deutete, ließ er sie wissen, dass sie keine Dummheiten versuchen sollte, so lange er hinter ihr stand. Kein Problem, denn Alice war so verängstigt, dass Heldentaten im Moment das Letzte waren, wonach ihr der Sinn stand.

»Bitte, nimm Platz, meine Liebe. Und keine Sorge wegen des Hasen. Er hat einen ausgeprägten Beschützerinstinkt, kann aber auch sehr sanftmütig sein.«

Alice konnte ein abfälliges Räuspern nicht unterdrücken. Der Gedanke, dass jemand einen Biter für sanftmütig halten konnte, schien ihr absurd. Die Königin schien es nicht zu bemerken oder nahm es ihr zumindest nicht übel, also setzte sich Alice auf das Sofa und wartete. Dann drehte sich der Stuhl langsam zu ihr um, und Alice wäre vor Neugier fast vom Rand der Couch gefallen. Schließlich konnte sie einen ersten Blick auf die Königin werfen, und war mehr als enttäuscht.

Die Königin der Biter sah aus wie die nette Bibliothekarin aus der Bücherei von nebenan, komplett mit grauen Haaren, die zu einem hübschen Knoten zusammengebunden waren, und einer Brille mit getönten Gläsern auf der Nasenspitze, die ein müdes, alterndes, aber freundliches Gesicht einrahmte. Natürlich hatte Alice nie wirklich eine Bibliothek von innen gesehen, aber ihr Gegenüber war alles andere als die furchterregende Regentin, die sie erwartet hatte. Als sich die Königin erhob, konnte Alice an ihrem makellosen Gesicht erkennen, dass sie kein Biter war, aber offensichtlich Inderin, denn sie trug ein Saree, das lose von ihrem schmalen Körper herabhing.

»Du bist die Königin?«

Die alte Dame kam lächelnd näher.

»Ich heiße Protima, aber so hat mich schon sehr lange niemand mehr genannt. Ich denke, in dieser Welt hält man mich für eine Königin, doch wovon, weiß ich selbst nicht so genau. Und nun lass dich ansehen, junge Dame. Wollen wir doch mal sehen, ob meine Untertanen zurecht so aus dem Häuschen waren.«

Die Königin nahm ihre Brille ab und trat näher heran. Alice fuhr unwillkürlich entsetzt zurück.

Das Gesicht der Königin mochte makellos ausgesehen haben, wie das eines gesunden Menschen. Ihre Augen aber waren rot, die Pupillen geweitet und leblos. Die Augen einer Untoten. Als sie lächelte, offenbarte sie verkrustetes Blut an den Lippen und in den Mundwinkeln. Alice schrie, aber die Königin presste ihr eine ihrer behandschuhten Hände auf den Mund.

»Schhhh. Du brauchst keine Angst zu haben, Schätzchen. Noch nicht.«

Dann packte sie sich eine von Alices Locken und zog fest genug daran, dass Alice das Gesicht verzog.

»Nun, die blonden Haare sind echt. Als diese Schwachköpfe etwas von einer blonden Alice plapperten, war ich mir sicher, dass sie etwas durcheinandergebracht hatten. Denn wer könnte auch annehmen, in den Ruinen von Delhi ein junges blondes Mädchen anzutreffen?«

Alice saß wie versteinert da. Die Art, wie die Königin sich ausdrückte, zusammen mit dem fleckenlosen Gesicht, ließ sie noch weitaus furchterregender erscheinen als die blutrünstigsten Biter, denen Alice je begegnet war. Schließlich nahm sie allen Mut zusammen und fragte: »Bist du eine …«

Sie hatte die Frage noch nicht zu Ende gestellt, da fiel ihr die Königin ins Wort.

»Eine Untote? Ein Biter? Welche hasserfüllte Beleidigung kommt als Nächstes? Das ist schon immer ein Problem der Menschheit gewesen: Allem, was man nicht versteht oder wovor man sich fürchtet, wird mit Hass begegnet. Denn es ist um so vieles leichter zu hassen und zu zerstören, als etwas verstehen zu wollen.«

Eigentlich hatte Alice nur »eine von denen« sagen wollen, aber sie hatte zu viel Angst, um die Tirade der Königin zu unterbrechen. Deshalb saß sie einfach nur schweigend da und wartete, was als Nächstes passieren würde. Die Königin setzte sich neben sie auf das Sofa und nahm ihre Brille ab. Durch die Handschuhe hindurch sah Alice nicht die Hände eines gesunden Menschen, sondern gelbliche, verwesende und blutverkrustete Hände, die überall mit offenen Wunden und Bissmalen übersät waren. Als ihr die Königin eine ihrer kalten, harten Hände auf das Handgelenk legte, zuckte sie, doch der eiserne Griff um ihr Handgelenk verhinderte, dass sie sich bewegte. Alice überlegte fieberhaft, ob sie um sich schlagen sollte, aber ein halblautes Knurren hinter ihr erinnerte sie daran, dass Hasenohr immer noch da war und sie im Auge hatte.

»Schätzchen, du wirst dich sicher fragen, was der ganze Aufriss zu bedeuten hat, oder?«

Alice bemerkte, dass sich die Gesichtsmuskeln der Königin bewegten. Ihre leblosen Augen zeigten keine Spur von Emotionen, aber sie schien trotzdem so aufgeregt zu sein wie ein kleines Mädchen vor einem Spielzeugladen.

»Die Prophezeiung. Sie erfüllt sich endlich. Und das bedeutet, dass sich unsere Zeit des Leidens ihrem Ende neigt.«

Alice hatte keine Ahnung, wovon die Königin redete, und wartete daher, dass sie weitersprach.

»Verstehst du es nicht? Du musst diejenige sein, von der mir das Buch berichtet hat.«

»Welches Buch?«

Die Königin stand auf, beinahe hüpfte sie voller Vorfreude davon. Alice begriff, dass die Königin, ob nun untot oder nicht, einen Sprung in der Schüssel haben musste. Die Königin ging zurück zu ihrem Schreibtisch und wühlte sekundenlang in den Schubladen herum, bis sie schließlich etwas daraus hervor holte, dass in ein grobes Tuch eingeschlagen war. Alice sah, dass Hasenohr sofort auf die Knie fiel, als sie das Päckchen in ihrer Hand hielt. Ihr schossen mehrere Gedanken gleichzeitig durch den Kopf. Seit wann waren geistlose Biter religiös? Wie zum Teufel konnte diese sogenannte Königin halb menschlich und halb Biter sein? Und wie um alles in der Welt war es möglich, dass ausgerechnet sie selbst etwas mit irgendeiner Prophezeiung der verrückten alten Königin zu tun hatte?

Die Königin stand nun vor Alice, das Päckchen vor sich in den Händen.

»Weißt du, was das ist?«

Natürlich hatte Alice keine Ahnung. Außerdem war sie zu jung, um zu wissen, was eine rhetorische Frage war, also schüttelte sie den Kopf. Ihre Reaktion war aber unnötig, denn die Königin befand sich bereits in einem tranceartigen Zustand und redete unaufhörlich weiter.

»Als die wahnsinnigen Menschen das Feuer herabregnen ließen, habe ich mich in der Kanalisation und den alten Luftschutzbunkern versteckt. Bin von einem Tunnel zum nächsten gegangen. Hast du eine Ahnung, wie lange ich da unten war?«

Eine weitere rhetorische Frage.

»Ich versuchte, mein Telefon so lange am Leben zu halten wie nur irgend möglich. Jeden Tag schaltete ich es nur für ein paar Sekunden an, um zu sehen, welcher Tag war und wie viel Uhr. Als es den Geist aufgab, waren es drei Monate. In der Zeit bin ich sieben Mal gebissen worden.«

Die Königin legte das Päckchen auf dem Sofa neben Alice ab und das Mädchen sah erneut das blutige, geschundene Fleisch ihrer Hände. Wieder wunderte sich Alice, wie sich die Königin ihre Menschlichkeit bewahren konnte, wenn sie doch so offensichtlich von Bitern gebissen worden war. Sie erschauderte bei der Vorstellung, wie furchtbar es gewesen sein musste, allein durch diese Tunnel zu irren, in völliger Dunkelheit, umgeben von wilden Bitern und ohne Essen und Trinken. Unter solchen Umständen hätte jeder den Verstand verloren.

Die Königin fuhr fort: »Wenn ich nur ein einfacher Mensch gewesen wäre, hätte ich aufgegeben und mich umgebracht, aber wie du sehen kannst, veränderte ich mich zu etwas Neuem. Ich hatte kaum etwas zu Essen, also suchte ich nach Kräutern und Blättern. Und eines Tages fand ich das da.« Sie deutete auf das Päckchen. »Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, was ich damit anfangen sollte, aber als ich zurück an die Oberfläche kam und sah, was aus der Welt geworden war, begriff ich, dass es womöglich das letzte verbliebene Buch im Totenland war.«

Die Königin machte eine Pause. Sie ging zurück zu ihrem Schreibtisch, holte ein paar grüne Blätter hervor und kaute auf ihnen herum. Alice hörte, wie Hasenohr in freudiger Erwartung grunzte, und die Königin warf ihm ein paar der Blätter zu, die er gierig verschlang. Alice erkannte die Blätter als Ganja, wie man Marihuana in Indien nannte, und erinnerte sich an die Warnungen der Älteren, nie davon zu essen. Wenn diese Frau, dieser Biter oder was immer die Königin auch sein mochte sich seit Monaten von Ganja-Blättern ernährte, dann erklärte das zumindest, woher die Halluzinationen kamen, denen sie sich offensichtlich hingab. Während Alice ihre Schlüsse zog, wickelte die Königin das Päckchen auseinander und hielt Alice dessen Inhalt entgegen.

»Das ist die Prophezeiung, die mir das letzte Buch des Totenlandes gezeigt hat. Die Vision, dass du eines Tages kommen und uns zum Sieg führen wirst.«

Alice sah, dass die Königin ein leicht verkohltes Buch in den Händen hielt. Der Einband zeigte ein blondes Mädchen, dass hinter einem Hasen in ein Loch sprang, und Alice erkannte, dass diese Abbildung die Zeichnung inspiriert haben musste, die sie gesehen hatte. Und es erklärte, warum alle so aufgeregt waren, sie gefunden zu haben. Sie konnte nicht sofort alle Worte auf dem Umschlag entziffern, aber sie erkannte ihren Namen. Die Königin wirkte ein wenig enttäuscht, dass Alice das Buch nicht bekannt vorkam, aber sie wusste auch nicht, dass Alice in ihrem Leben noch kein einziges Buch gelesen hatte, und daher die Geschichte nicht kennen konnte.

Alice im Wunderland.

 

Hunderte von Bitern hatten sich in der großen unterirdischen Halle versammelt und knieten vor ihrer Königin. Sie alle hatten ein unablässiges, anschwellendes Heulen und Kreischen angestimmt, bei dem sich Alice am Liebsten die Ohren zugehalten hätte. Aber Hasenohr hielt ihre Arme hinter ihrem Rücken fest.

Die Königin wandte sich an ihr Volk: »Seht sie euch an! Die Prophezeiung ist wahr! Sie wird uns zum Sieg führen uns für immer aus der Unterdrückung und den Grausamkeiten der bösen Menschen befreien. Sie wollten nicht mit uns zusammenleben, aber nun haben wir die Chance, ihnen begreiflich zu machen, dass sie uns akzeptieren müssen und wir Seite an Seite mit ihnen leben werden, oder wir einen letzten großen Krieg entfachen werden, um ihnen klarzumachen, dass wir künftig die vorherrschende Spezies auf diesem Planeten sein werden!«

Die Biter mochten außerstande sein, in einer menschlichen Sprache zu sprechen, aber sie schienen die Königin sehr gut zu verstehen, und es dauerte nicht lange, bis alle in einen Freudentaumel verfielen. Je mehr Alice sah, umso mehr erinnerten sie die Biter an wilde Tiere, und die Königin beendete ihre Rede, indem sie ihnen zurief, sich für ihre Mission um Mitternacht vorzubereiten.

Sie brachten Alice zurück in den kleinen Raum, der genau genommen ihre Gefängniszelle war. Die Königin erwartete, dass sie ihre Armeen zum Sieg führte, aber wie das genau funktionieren sollte, war ihr schleierhaft. Was konnte ein junges Mädchen schon groß bewirken? Außerdem hatte Alice keinerlei Interesse daran, irgendeine Rolle in den ausgedachten Prophezeiungen der wahnsinnigen Königin zu spielen. Sie konnte nur abwarten, auf eine Chance zur Flucht hoffen, und in der Zwischenzeit schien es die beste Strategie zu sein, mitzuspielen. Ihre Chance kam früher als gedacht, denn später am Abend rief die Königin sie zu sich.

»Alice, sie sehen mich als ihre Anführerin, aber ich war schon eine alte Frau, bevor ich mich verwandelte. Ich mag gewisse Talente haben, aber die Fähigkeit zu kämpfen und Schlachten zu führen, gehört nicht dazu. Du bist diejenige, die die Führung übernehmen und unseren Kampf fortsetzen muss.«

Alice hielt es nicht länger aus, und so platzte es aus ihr heraus. »Welcher Kampf? Warum lasst ihr die Menschen nicht einfach in Ruhe? Was haben wir dir getan, dass du uns diese Kreaturen auf den Hals hetzt?«

Die Königin setzte sich. Ihre Lippen umspielte ein Lächeln, doch ihre Augen waren so leblos wie immer. »Ich gebe dir nicht die Schuld dafür, zu glauben, was du für richtig hältst. Du bist damit groß geworden, nur die eine Seite der Geschichte kennenzulernen. Und wenn ich in meinem Leben etwas gelernt habe, dann wie effektiv und mächtig doch Propaganda sein kann.«

Sie sah die Skepsis in Alices Augen und fuhr fort. »Ich werde nicht den Versuch unternehmen, dich zu überzeugen, denn mein Wort hat bei dir kein Gewicht. Deshalb wirst du es mit eigenen Augen sehen.«

Sie nickte, und Hasenohr packte Alice am Arm und führte sie aus dem Raum. Durch ein paar verschlungene Gänge hindurch zog er sie mehr, als dass er sie führte, und dann war sie plötzlich wieder an der Oberfläche. Draußen wurde es bereits dunkel, und um sie herum war dichter Wald. Sie erspähte ein kaputtes Schild und erkannte die Symbole darauf. In ihrem Training hatte man sie mit den Landschaften in der näheren Umgebung bekannt gemacht. Sie befanden sich in der Nähe des Yamunas, eines Flusses, oder was früher einmal ein Fluss gewesen war. Nachdem die nuklearen Feuersbrünste und die anschließenden Kämpfe die Dämme zerstört hatten, war er nur noch ein ausgetrocknetes Rinnsal. Um sich herum nahm sie Bewegungen wahr und sah, dass sich wenigstens ein Dutzend weitere Biter zwischen den Bäumen versteckten.