All das Böse, das wir tun - Sandrone Dazieri - E-Book

All das Böse, das wir tun E-Book

Sandrone Dazieri

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Beschreibung

Ein Kampf zwischen Korruption und Gerechtigkeit Vor dreißig Jahren: Die Polizistin Itala Caruso hat den angeblichen „Perser“ verhaftet, mit der Anschuldigung er habe drei Mädchen ermordet. Der unschuldige Contini stirbt im Gefängnis, was ihr Gewissen mit einem brutalen Knall zum Leben erweckt. Heute: Die Schülerin Amala, Nichte der Anwältin Francesca Cavalcante, die den verdächtigen Contini damals erfolglos verteidigte, wird entführt – und Cavalcante glaubt, dass der wahre „Perser“ am Werk ist. Bald erhält sie unverhofft Hilfe von Gerry, der ebenfalls nach der verschwundenen Amala sucht – und zwar mit allen Mitteln. Sandrone Dazieri versteht es, Verbrechen, Opfer und Täter so genial zu verstricken, dass die Grenzen zwischen Gut und Böse immer weiter verschwimmen.

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Seitenzahl: 556

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Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem TitelIl male che gli uomini fanno bei HarperCollins, Italia.

© 2022 Sandrone Dazieri

Deutsche Erstausgabe

© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe

HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von Hauptmann & Kompanie, Zürich

Coverabbildung von Belmin Mesanovic, Ensuper / Shutterstock

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749905942

www.harpercollins.de

WIDMUNG

Für meine Schwester Stefania, die mich immer so akzeptiert hat, wie ich bin

ZITAT

Das Böse, das wir tun, überlebt sie, das Gute wird oft mit ihren Gebeinen begraben.

WILLIAM SHAKESPEARE, Julius Cäsar

HINTERHALT

HEUTE

1

Als ihr Fegefeuer begann, saß Amala in einem Bus, der sich von Cremona entfernte. Jenseits des Fensters wechselten sich Ansammlungen von ein- bis zweistöckigen Häusern mit Maisfeldern ab, die regelrecht wucherten, weil der September ungewöhnlich heiß gewesen war. Im Bus war es stickig, obwohl die meisten Schüler, die sich im Innern gedrängt hatten, an den letzten Haltestellen ausgestiegen waren.

Die Landstraße würde noch ein paar Ortschaften durchqueren, immer kleinere mit immer größeren Abständen dazwischen, bis sie schließlich nach weiteren Maisfeldern Città del Fiume erreichen würde. Dem Namen zum Trotz – Stadt am Fluss – war es ein mittelalterliches Dorf von dreihundert Seelen, mit roten Backsteingebäuden und Durchgangshöfen. Die Familie von Amala (deren Name auf dem zweiten A betont wurde) wohnte in einem noch abgelegeneren Haus, in einem Wäldchen einen Kilometer vom Zentrum entfernt. Amala hasste das Landleben. Das wurde nicht besser, wenn sie es ihren Freunden schilderte. Erzählte sie, dass sie eine tote Maus im Kleiderschrank gefunden oder ein Frosch den Abfluss im Bad verstopft hatte (und das nicht nur einmal), nannte man sie ein verwöhntes Blag.

Hatte man berühmte Eltern (selbst wenn sie so berühmt auch wieder nicht waren), dachten alle, man sei reich. Ihre Mutter hatte aber fünf Jahre lang kein Buch mehr veröffentlicht, und ihr Vater verlor ständig Aufträge, weil er lieber den Künstler als einen gewöhnlichen Architekten spielte. Für einen Fünfzigjährigen fand Amala das cringe.

Sie stieg an der letzten Haltestelle von Città aus und sprang über ein Schlagloch hinweg. Der Himmel veränderte ständig seine Farbe, war von hellen, trockenen Wolken durchzogen. Zum Glück, denn bei Regen wurde es im Haus kalt und ungemütlich. Als es in den Dreißigern gebaut worden war (von einem Mann, den ihr Vater stolz einen »architektonischen Ketzer« nannte), hatte man das Prinzip der Wärmeisolation noch nicht durchdrungen. Auch die Form war für Amalas Geschmack absurd. Kein Wunder, dass die Leute das Haus nicht Villa Cavalcante nannten, wie ihr Vater es getauft hatte, sondern schlicht »Bügeleisen«.

Aus ihren AirPods drangen die Måneskin, als Amala durch die Arkaden am Dorfplatz ging, dann über eine kleine Steinbrücke, hinter welcher sie die Schotterstraße zu ihrem Haus einschlug. Es gab auch eine Asphaltstraße, die auf einem Umweg zum Bügeleisen führte, aber bei schönem Wetter nahm Amala sie nie.

Der frische Wind trug den Geruch von Getreide und Kamille herbei, aber auch den dieser giftigen wilden Blaubeeren, die nach Schweißfüßen stanken. Mitten auf dem schmalen Abzweig zum Feldweg stand ein blitzblanker weißer Lieferwagen. An der Hecktür lehnte ein Mann und rauchte gelangweilt. Er war groß und breit, hatte die weißen Haare im Nacken zusammengebunden und trug eine Sonnenbrille und eine blaue OP-Maske, die er bei jedem Zug an der Zigarette etwas nach unten schob. Amala schätzte ihn auf über sechzig, obwohl das schwer zu sagen war.

Vorsichtig hielt sie sich an einem Laternenmast fest und vollführte eine halbe Pirouette, um auf die andere Seite zu gelangen. Während des Manövers schaute sie dem Mann kurz ins Gesicht und erschrak angesichts der Bleiche der wenigen unbedeckten Hautpartien.

Sie beschleunigte den Schritt, um ihn hinter sich zu lassen, und folgte dem Weg durch die frisch geschnittenen Luzernenfelder, auf denen abholbereit die letzten Heuballen lagen. Nachdem Amala zur Seite getreten war, um einer lärmenden mechanischen Egge Platz zu machen, warf sie einen Blick zur Kreuzung zurück. Der Lieferwagen war verschwunden, der Mann auch, was Amala mit einer irrationalen Erleichterung erfüllte. Sie stellte die Musik lauter und nahm die letzten hundert Meter zum Anwesen ihrer Familie in Angriff.

Es zeichnete sich hinter den Zypressen bereits ab. Etwa zehn Hektar groß war es und von Mauern und Zäunen umgeben, die sich hinter Ligusterhecken verbargen. Auf der Rückseite, die aufs Land hinausschaute, befand sich ein elektrisches Tor. Als Amala hier ankam, holte sie den Schlüsselbund aus dem Rucksack, aber als sie den Schlüssel ins Loch steckte, blockierte er nach einer halben Drehung und ließ sich weder weiter- noch zurückdrehen. Nach einigen vergeblichen Versuchen drückte sie auf den Klingelknopf an der Videogegensprechanlage. Das Licht der Kamera schaltete sich nicht ein.

Im August hatte es ein paar Stromausfälle gegeben, weil die Klimaanlage ständig lief, deshalb vermutete Amala jetzt den gleichen Grund dahinter. Sie schaltete ihre Musik aus, suchte die Nummer ihrer Mutter und hoffte, dass die trotz ihrer »kreativen Trance« ans Telefon gehen würde.

In diesem Moment fiel ein Schatten auf sie, und Amala begriff, dass sie nicht allein war.

2

Eine Stunde dauerte es, bis Sunday merkte, dass Amala sich zu viel Zeit für die Heimkehr ließ. Meist kam sie hungrig wie ein Wolf angerannt, aber manchmal quatschte sie noch mit irgendwelchen Freunden und vergaß darüber die Zeit. Sunday schickte ihr eine Nachricht und machte sich dann wieder an den Artikel, den sie gar nicht hätte annehmen sollen. Es handelte sich um eine Literaturrezension für den New Yorker. Der Roman hatte ihr nicht gefallen, aber sie wollte ihn nicht verreißen, nur weil sie einen anderen literarischen Geschmack hatte. In den Himmel loben wollte sie ihn allerdings auch nicht. Zu den Stammlesern der Zeitschrift gehörten, neben dem harten Kern der in die Jahre gekommenen Upperclass-New-Yorker, die einflussreichsten Kritiker und zahlreiche Kollegen. Einen solchen Stilverlust würden sie ihr nicht verzeihen, besonders nach den Jahren der Pandemie, die sie alle von den Vereinigten Staaten und den readings dort abgeschnitten hatten.

Als sie die Augen wieder vom Bildschirm löste, war eine weitere Dreiviertelstunde vergangen. Ihre Tochter hatte ihre Nachricht weder gesehen noch darauf reagiert. Sunday versuchte sie anzurufen, aber es erklang nur die synthetische Stimme, die ihr mitteilte, dass »der Teilnehmer nicht erreichbar« sei. Angst hatte sie nicht, jedenfalls nicht sofort, nur dieses komische Gefühl im Magen, das sie immer verspürte, wenn ihr bewusst wurde, dass das Blut von ihrem Blut nicht mehr ihr Anhängsel war, sondern ein denkendes Wesen, das in die Welt hinausging. Wie sie selbst übrigens auch. Sie war eine Yoruba und hatte Tancredi vor zwanzig Jahren in New York geheiratet, wohin ihre Familie verzogen war. Und obwohl schon so viel Zeit vergangen war, hatten sie nie eine echte Beziehung aufgebaut.

Dieselben Gassen, die sie selbst im Dunkeln vollkommen sorglos durchschritten hatte, wimmelten plötzlich von Gefahren und Bedrohungen, wenn sie sich ihre Tochter dort vorstellte. Als Amala mit zehn Monaten die ersten Schritte getan hatte, war Sunday siedend heiß aufgegangen, dass das ganze Haus eine einzige tödliche Falle darstellte. Die Kleine könnte die Treppe hinunterfallen und sich das Genick brechen, könnte in der Badewanne ertrinken oder einen Stromschlag bekommen. Als das Kind heranwuchs, stiegen die Gefahren proportional zu seiner Unabhängigkeit. Jeder Schritt, den es sich von ihr entfernte, vom wachsamen Blick der Tigermama, der Falkenmama, war ein Schritt auf mögliche Gefahren zu, die sich Sunday in den kleinsten Details auszumalen vermochte. Am liebsten hätte sie die Welt für ihre Tochter geebnet, hätte sie in eine rosa Flauschwelt verwandelt, duftend nach Zuckerwatte, unschuldig. Das war natürlich nicht möglich, und sie hatte gelernt, ihre Sorgen unter der Wasseroberfläche zu halten. Die kräuselte sich jetzt nur ein ganz klein wenig: Amala war sicher irgendwo geblieben und genoss die Zeit.

Sunday zog sich Schuhe an, trat in den Garten hinaus und ging zum rückwärtigen Tor. Von ihrer Tochter war weit und breit nichts zu sehen. Jetzt kräuselte sich die Wasseroberfläche schon stärker, und Sunday wurde fast übel. Immer wieder nach ihrer Tochter rufend, stieg sie in das zweisitzige Elektroauto, das sie für kurze Entfernungen benutzten, und fuhr zur Bushaltestelle. Just in diesem Moment kam ein Bus, und sie blieb stehen. Du wirst schon sehen, sie ist in diesem Bus, sagte sie sich. Du wirst schon sehen, sie steigt nur nicht sofort aus, weil …

Der Bus fuhr wieder los. Niemand war ausgestiegen.

Sunday spürte, dass ihre Hände schwitzten; jetzt hatte sie wirklich Bauchschmerzen. Im Schritttempo fuhr sie durchs Zentrum von Città del Fiume, kehrte dann um und nahm den Feldweg, wo das Auto bei jedem Schlagloch einen Satz tat. Es war nicht für solche Wege gemacht, aber das war ihr jetzt egal. Sie parkte am Zaun und stieg aus, um ihre Suche zu Fuß fortzusetzen. In diesem Moment sah sie Amalas Schlüssel vom Schloss herabbaumeln.

3

Ganz allmählich wurde Amala wach. Ihr Körper war wie Gummi, und hinter den Lidern sah sie Wolken von Licht. Sie spürte, dass sie auf einem harten Untergrund lag und sich irgendetwas in ihren Rücken bohrte. Als sie sich zu bewegen versuchte, verschwammen die Eindrücke wieder. Wellen von Farben überrollten sie und begruben sie unter sich. Sie musste daran denken, wie sie Ketamin ausprobiert und fast das Bewusstsein verloren hatte. Bevor ihre Füße schwer geworden waren, hatte sie etwas Ähnliches empfunden, nur tausendmal weniger intensiv. Und weniger angenehm. Jetzt fühlte sie sich entspannt. Friedlich.

Als der Farbenrausch wieder abschwoll, spürte Amala, dass der Boden unter ihr vibrierte und ruckelte. Darunter war ein dunkles Geräusch zu hören, das klang wie …

Ein Motor.

War sie im Bus eingeschlafen? Nein, sie war ausgestiegen und …

Erneut verlor sie das Bewusstsein, und als sie wieder erwachte, war das Motorengeräusch verschwunden. Stattdessen hatte sie das Geräusch von Plastik in den Ohren. Sie hörte es noch einmal: nasses, klebriges Plastik, das draußen zerrissen wurde. Nun begriff sie, dass sie im Innern eines Lieferwagens lag und in eine Decke gewickelt war, die als Schallschutz diente. Die Finsternis war undurchdringlich.

Allmählich schaffte sie es, ihre Gedanken zu sortieren, auch wenn die sehr, sehr träge waren. Angst hatte sie nicht, und aufstehen wollte sie auch nicht, da sie viel zu bequem lag. Noch nie hatte sie in einem derart weichen Bett gelegen.

Andererseits sollte ich nicht hier sein.

Als sie nach ihrem Handy tastete, bewegten sich ihre Arme fast von allein. Sie fand es nicht, auch nicht neben ihrem Körper. Das versetzte ihr einen Stich.

Der Mann hat es mir weggenommen.

Welcher Mann? Verschwommen sah sie ein bleiches Gesicht hinter einer dunklen Sonnenbrille und einer dieser blauen OP-Masken. Wo war sie ihm nur begegnet?

Er stand neben dem Lieferwagen, erinnerte sie sich. Aber sie war ihm noch einmal begegnet.

Sie hatte das Tor aufschließen wollen, und …

Er war näher gekommen. War zu ihr getreten …

So viel Mühe sie sich auch gab, mehr fiel ihr beim besten Willen nicht ein. Und jetzt befand sie sich in einem Lieferwagen.

Seinem Lieferwagen.

Dem weißen Lieferwagen.

Er hat mich entführt.

Jetzt, da sie ihren Gedankengang zu Ende gebracht hatte, konnte sie kaum glauben, dass sie nicht eher darauf gekommen war. Ein Adrenalinstoß ätzte ein Loch in diese Wolke der Schönheit. Es wurde schnell größer und ließ erkennen, was jenseits lauerte.

Entführt.

Ein Nebel aus Angst und Entsetzen raubte ihr den Atem und schärfte ihre Gedanken. Was auch immer dieser Mann ihr gegeben hatte, verlor allmählich seine Wirkung. Sie war gefangen und musste fliehen, bevor er zurückkehrte.

Dann durchfuhr sie der Gedanke, dass der Mann ihr im Schlaf etwas angetan haben könnte. Etwas Abstoßendes. Sie tastete nach dem Slip unter ihrer Jeans. Alles wirkte normal.

»Hab keine Angst«, hatte er gesagt, als er ihr vorangegangen war. »Und nicht schreien.«

Die letzten Reste der rosa Wolke lösten sich in Nichts auf, und ihr Herz begann wild zu pochen.

Mit den Fingern, die ihr jetzt wieder gehorchten, kramte sie in ihren Taschen. Das Handy hatte der Mann ihr abgenommen, aber den Fahrradschlüssel mit der Minitaschenlampe, die sie benutzte, wenn sie nachts die Kette aufschließen musste, hatte er ihr gelassen. Sie befreite ihre Hand aus der Decke und schaltete die Lampe an. Der schwache grünliche Lichtstrahl kam ihr nach den Minuten – oder Stunden? – der Dunkelheit fast grell vor.

Der Lieferwagen war leer. An den Wänden waren mit Klebeband Plastikplanen befestigt. Sie verlagerte das Gewicht und richtete den Strahl auf die Heckklappe. Auch die war mit Plastik ausgekleidet, sodass man nur den Griff sah. Von Amalas Füßen war er kaum einen Meter entfernt, aber die Suche nach dem Schlüsselbund hatte sie fast alle Energie gekostet.

Verzweifelt strampelte sie gegen die Decke an, begab sich auf alle viere und quälte sich in Richtung Heck. Schweißgebadet stemmte sie sich dagegen und bekam den Griff zu fassen, aber ihre Hand rutschte ab, und der Nagel ihres Zeigefingers stülpte sich um. Schmerz durchfuhr sie, aber Amala schrie nicht. Sie wartete, bis das Pochen im Finger abschwoll und der Schmerz fast erträglich war. Nun zog sie mit der anderen Hand am Griff. Er hob sich ein wenig, blockierte dann aber und rutschte ihr aus der Hand.

Auf der anderen Seite war jemand; er wollte die Klappe öffnen.

Panisch stieß sie sich mit den Hacken ab, ließ den Schlüsselbund samt Taschenlampe fallen und kauerte sich auf den Boden. Der Lieferwagen neigte sich in Richtung des Lichtspalts, der ins Innere fiel, während eine dunkle Gestalt einstieg. Als sich die Hecktüren wieder schlossen, war Amala wieder ein Schatten in diesem Schattenreich.

»Wer bist du?«, stammelte Amala. »Was willst du von mir?«

Der finstere Schatten wurde Fleisch und Atem. Er presste sie zu Boden. »Pscht«, machte er.

Niemand weiß, wie er angesichts einer Gefahr reagiert, wenn er sie nicht schon erlebt hat. Wie oft hatte Amala schon den Personen in den Fernsehserien, wenn sie im Moment der Gefahr erstarrten, zugerufen: »Renn weg, du dumme Kuh!« oder: »Tritt ihm in die Eier!« Ihr selbst war Gewalt vollkommen fremd. Sie hatte nie jemanden an den Haaren gezogen, geschweige denn einen dieser Selbstverteidigungskurse besucht, mit denen ihre Mutter ihr ständig in den Ohren lag. Deshalb handelte sie ganz intuitiv, als sie jetzt mit den Armen um sich schlug und ihre Finger zu Krallen zusammenkrümmte, und es war reinem Zufall zu verdanken, dass sie das Ohr des Mannes zu packen bekam. Der stieß einen Schrei aus, bevor er sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie warf. »Lass das«, wiederholte er mit einer Stimme, die für sein Gewicht erstaunlich hoch war. Die gewaltige Hand des Manns legte sich auf ihren Mund. Amala wollte ihn beißen, verspürte dann aber einen Stich im Nacken und verlor wieder das Bewusstsein.

4

Drei Stunden nach Amalas Verschwinden gaben Sunday und ihr Ehemann Tancredi, der eilends nach Hause zurückgekehrt war, bei den Carabinieri der Gegend eine Vermisstenanzeige auf. Amala war minderjährig, und die Angaben der Eltern schienen glaubwürdig, deshalb wurde die Anzeige schnell aufgenommen und mit großer Dringlichkeit an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet, die wiederum eine lange Liste von Behörden alarmierte, von den Carabinieri über das Jugendamt und die ehrenamtlichen Mitarbeiter des Roten Kreuzes bis hin zum Heer.

Zur Abendessenszeit durchkämmten bereits Hundertschaften die Gegend um Città del Fiume, während die Polizei Lehrer und Freunde des Mädchens vernahm. Die ganze Nacht über herrschte im Gemeindesaal ein Kommen und Gehen; Bekannte und Ordnungskräfte gaben sich die Klinke in die Hand. Unentwegt klingelten Handys, und ein Hubschrauber überflog im Tiefflug das Gelände. Vergeblich, von dem Mädchen keine Spur. Alle wichtigen Nachrichtenagenturen verbreiteten die Meldung, da Sunday und Tancredi in der halben Welt bekannt waren. Die beiden weigerten sich, Interviews zu geben, aber Sunday ließ sich darauf ein, für die Nachrichten am nächsten Tag einen Appell aufzunehmen. »Bitte! Wenn jemand etwas von meiner Tochter hört ...« eccetera.

Francesca Cavalcante traf um Mitternacht mit ihrem Tesla ein.

Sie war Tancredis Schwester und die Anwältin der Familie, eine elegante Frau um die sechzig mit Modigliani-Hals. In den vergangenen Stunden hatte sie mit ihren Bekannten in den verschiedenen Staatsanwaltschaften telefoniert und die Suche hartnäckig vorangetrieben. Wenn sie sich aufregte, kam ihr britischer Akzent wieder zum Vorschein, den sie sich angeeignet hatte, während sie bis zum Vorjahr in London gelebt und gearbeitet hatte.

Die Straße, die zur Villa führte, war von Autos, Dienstwagen und den Übertragungsfahrzeugen der Fernsehanstalten verstopft. Deshalb nahm Francesca den Umweg über die Hintertür, jener, durch die Amala ein paar Stunden zuvor das Grundstück hatte betreten wollen. Jetzt standen dort ein paar Männer in weißen Overalls und schossen Fotos. Die Szene schlug Francesca sofort auf den Magen, da sie die Sache nur allzu wahr werden ließ.

Der Gartenweg war mit einem rot-weißen Band abgesperrt, das sich bis zur Terrassentür zog, ins Haus hineinführte und schließlich in Amalas Zimmer endete. Francesca parkte an der Stelle, die ihr ein Carabiniere zuwies, trat durch die Küche ins Haus und begab sich ins Wohnzimmer, wo sie Stimmen hörte. Sie umarmte ihre Schwägerin, die unter Hochspannung stand, aber dank Lorazepam etwas sediert war. »Ist der Staatsanwalt schon eingetroffen?«

»Ja. Claudio ist es. Er wartet da drüben auf uns«, sagte Sunday.

Claudio Metalli, ein alter Freund der Familie und Studienkollege von Francesca, war das Beste, was ihnen passieren konnte. Groß, Halbglatze, Krawatte von Marinella, so saß er an dem Teakholztisch im Salon, der fast das gesamte Untergeschoss einnahm. Er stand auf, um sie zu umarmen. »Hallo, Francesca«, sagte er.

»Danke, dass du sofort gekommen bist.«

»Das ist das Mindeste.«

Francesca setzte sich neben ihre Schwägerin.

»Gut«, begann Metalli, »wenn wir uns nicht schon ein Leben lang kennen würden, würde ich mich bedeckt halten. Aber ich weiß, dass ihr nichts in der Gegend herumerzählt. Denn damit würdet ihr die Ermittlungen gefährden.«

»Komm schon, Claudio … Schwing keine großen Reden … bitte«, sagte Tancredi.

»Gut. Man hat Amalas Heimweg rekonstruiert. Der Verkäufer aus dem Kiosk hat sie um dreizehn Uhr fünfundvierzig aus dem Bus steigen sehen, daran hat er keinerlei Zweifel. Und er hat ausgesagt, dass sie in den Feldweg hinter der Brücke eingebogen ist, wo die Carabinieri im Moment nach Spuren suchen. Er sagte auch, dass zu dieser Zeit ein weißer Lieferwagen mit Hochdach dort stand, ein Fiat Ducato. Er parkte direkt auf dem Abzweig. Der Fahrer war ein großer Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Andere Zeugen haben bestätigt, dass sich der Lieferwagen wenige Minuten später entfernt hat.«

Schweigen trat ein, als die Anwesenden die Nachricht sacken ließen. »Ich wusste, dass irgendjemand sie mitgenommen hat, ich wusste es«, murmelte Tancredi.

»Immer mit der Ruhe«, beeilte sich der Staatsanwalt zu sagen. »Wir fahnden nach dem Mann und suchen den weißen Lieferwagen, aber nach den gegenwärtigen Erkenntnissen könnte es auch einfach ein Zufall gewesen sein.«

»Haben wir eine Personenbeschreibung?«, erkundigte sich Francesca.

»Leider nur eine sehr vage. Groß und kräftig. Weiße Haare, im Nacken zusammengebunden, wie ein alter Hippie. Die Tatsache, dass keiner der Zeugen ihn kannte, hat die Aufmerksamkeit der Squadra mobile auf ihn gelenkt. Hier kennt schließlich jeder jeden, wenigstens vom Sehen.«

»Vielleicht haben unsere Überwachungskameras ihn aufgenommen«, sagte Sunday.

»Das haben wir bereits überprüft. Die Kamera am Tor wurde manipuliert, und die anderen haben nichts aufgenommen.«

Francesca war klar, dass der Entführer nicht zufällig vorbeigekommen war. Er kannte die Zeiten und Wege ihrer Nichte.

»Ein Verrückter«, murmelte Sunday, den Tränen nahe. »Wer weiß, wo er sie hingebracht hat …«

»Über seine Motive wissen wir bislang nichts«, sagte Claudio. »Vielleicht will er euch erpressen, dann meldet er sich bald. Vielleicht ist er auch verwirrt und hält sie für seine Tochter.«

Metalli hatte die naheliegendste Hypothese unterschlagen, aber Sunday ließ sich nicht so billig trösten. »Oder es handelt sich um einen Triebtäter«, sagte sie. »Einen, der meine Tochter … missbrauchen will.« Sie brach in Tränen aus.

»Wir werden ihn finden, Sunday. Und wenn es wirklich dieser Mann ist, der deine Tochter entführt hat, finden wir ihn schnell.«

»Vielleicht nicht schnell genug«, sagte Sunday schluchzend.

5

Amala wusste nicht, wie lange sie sich schon im Halbschlaf hin und her gewälzt hatte, aber als sie die Augen aufschlug, merkte sie, dass sie in einem Bett lag, in einem komplett weiß gestrichenen Zimmer. Das Licht schmerzte ihr in den Augen. Ein glatzköpfiger Mann betrachtete sie über seine OP-Maske hinweg. »Wie geht es dir?«, fragte er. »Ist dir übel?«

Amala wollte sich bewegen, schaffte es aber nicht. Sie war zwischen den Laken gefangen. »Was …«, murmelte sie mit rauer Stimme. Ihre Kehle fühlte sich an wie Pappe. »Wo …« War sie in einem Krankenhaus? Was war mit ihr passiert?

Der Arzt stupste sie an. »Ich weiß, dass du dich komisch fühlst. Mach dir keine Sorgen, das ist normal, so kurz vor der Anästhesie.«

Anästhesie? »Bin ich verletzt?«

»Reine Routineoperation.«

»Operation?«

Der Arzt stand auf und zog einen Einkaufswagen herbei, an dem mit Klebeband eine Gasflasche befestigt war. Sein Kittel war ziemlich ramponiert und wurde von einem wirren Netz von Nähten zusammengehalten.

In was für einem Krankenhaus bin ich da nur gelandet?

Selbst das Zimmer war viel zu klein, kaum mehr als eine Abstellkammer. Und die Lampe, die über ihr brannte, war ein mit Klebeband befestigter Strahler. Amala versuchte noch einmal, sich zu bewegen, aber dieses Mal begriff sie, dass es nicht die Laken waren, die sie daran hinderten. Irgendetwas schnitt ihr in Knöchel und Handgelenke.

Der Arzt nahm eine Gummimaske, die mithilfe eines Wellrohrs mit der Gasflasche verbunden war. »Tief durchatmen, du wirst nichts spüren«, sagte er, sich wieder zu ihr drehend.

»Nein … Warten Sie.«

»Sei ein tapferes Mädchen.« Der Arzt lächelte unter seiner Maske.

Nun bemerkte Amala, dass die linke Schulter des Manns mit Blut befleckt war. Es tropfte von seinem Ohr herab, das mit einem großen quadratischen Pflaster bedeckt war. Er folgte ihrem Blick. »Du hast ganz schön scharfe Fingernägel, was? Mir scheint, wir müssen sie schneiden. Gott sei Dank hatte ich die Maske und die Perücke auf.«

Und nun kam alles zurück. Der Bus. Der Lieferwagen. Das bleiche Gesicht. Das Tor.

»Du bist es …«, sagte Amala. »Du bist es …«

Von Panik gepackt, versuchte sie sich zu befreien, aber der Mann hielt sie fest und drückte ihr die klebrige, stinkende Maske auf den Mund. Verzweifelt hielt sie den Atem an und zitterte vor Anstrengung, bis sie nicht mehr anders konnte, als das Gas einzuatmen.

Der Mann wartete, bis das Mädchen in Tiefschlaf gefallen war, dann löste er die Gurte, drehte es auf die Seite und schnitt am Rücken ihr T-Shirt auf, um die Schulterblätter freizulegen. Mit einem Stift malte er einen Kreis auf das linke, nahm den chirurgischen Bohrer und begann sein Werk.

6

Francesca begleitete Metalli zum Auto und nutzte die Gelegenheit, um ein privates Wort mit ihm zu wechseln. »Wenn ein Mädchen ihres Alters verschwindet, handelt es sich fast immer um ein Sexualdelikt«, sagte sie.

Er hakte sie unter. Obwohl Mitternacht schon hinter ihnen lag, war die Luft immer noch lau. »Es hat keinen Zweck, gleich ans Schlimmste zu denken. Und die Sexualdelikte, die du im Sinn hast, werden fast immer von Personen aus dem eigenen Umkreis begangen. Wir haben mit allen Lehrern und Freunden gesprochen. Falls jemand von ihnen involviert ist, werden wir es bald erfahren. Aber wo wir unter uns sind: Denkst du, dass Amala sich heimlich mit einem Erwachsenen getroffen hat?«

»Nie im Leben.«

»Wenn du so genau weißt, was in den Köpfen von Teenagern vorgeht, könntest du vielleicht mal mit meiner Tochter sprechen. Aus der werde ich nämlich nicht mehr schlau.«

»Ich weiß nicht, was in Amalas Kopf vorgeht, aber ich kenne sie. Wenn sie ein Problem mit einem Erwachsenen hätte, würde sie darüber reden.«

Claudio küsste sie auf die Wange. »Du wirst schon sehen, alles wird gut«, sagte er, als er ins Auto stieg. »Ruh dich ein wenig aus. Du hast es nötig.«

Francesca antwortete nicht. Als sie wieder hineinging, hatte sich Sunday auf dem Sofa im Salon ausgestreckt, einen Arm über die Augen gelegt. Tancredi saß im Sessel und starrte ins Leere. Francesca wollte einen Kräutertee zubereiten und schritt voller Unbehagen durch die Küche, die sie kaum kannte. Als sie mit dem Wasserkocher in den Salon trat, nutzte sie die Gelegenheit, ein wenig Müll einzusammeln. »Kommt das Dienstmädchen morgen?«

Sunday sprach mit geschlossenen Augen. »Ich habe ihr gesagt, dass sie zu Hause bleiben soll. Dem Gärtner auch.«

»Du denkst doch wohl nicht, dass sie etwas mit der Sache zu tun haben …«

»Nein. Sie sind schon zehn Jahre bei uns, und ich vertraue ihnen. Aber im Moment kann ich nicht noch mehr Fremde im Haus gebrauchen. Ich muss mich die ganze Zeit zwingen, freundlich zu sein, dabei würde ich am liebsten schreien.«

Sunday tat so, als würde sie einen Schluck von dem Kräutertee trinken, dann zog sie sich in ihr Zimmer zurück.

»Sie hat Schuldgefühle, weil sie Amala nicht an der Bushaltestelle abgeholt hat«, sagte Tancredi.

»Das glaube ich gern.«

»Sie hat an einem ihrer bescheuerten Artikel gearbeitet.«

»Es ist nicht ihre Schuld. Du darfst nicht böse auf sie sein.«

Tancredi seufzte. »Ich habe entsetzliche Angst, Fran. Unentwegt muss ich darüber nachdenken, was ihr dieser Typ in diesem Moment antun mag.«

»Wir denken, dass er sich mit Lösegeldforderungen meldet.«

Er schüttelte den Kopf. »Lass uns in mein Atelier gehen und etwas Stärkeres zu uns nehmen.«

Francesca folgte ihm ins Atelier, einen sechseckigen Raum mit hellen Holzwänden. Auf langen Tischen lagen Großformatdrucke eines Entwurfs für ein Tagesbett in Form eines Seesterns. Vor den großen Fenstern sah man die Taschenlampen der Suchmannschaften, die wie Glühwürmchen durch die Felder streiften. Tancredi nahm eine Flasche Gin aus dem Barschrank, schenkte sich großzügig ein und setzte sich auf den ergonomischen Stuhl.

»Gibt es etwas, was ich nicht weiß?«, fragte Francesca.

Er seufzte. »Ich glaube nicht, dass man uns erpressen will.«

»Warum nicht?«

»Weil ich kein Geld habe. Meine Kunden waren fast alle Russen, und seit dem Krieg in der Ukraine kann ich nicht mehr dort arbeiten. Einem dieser Oligarchen hat man sämtliche Konten eingefroren, bevor er mich bezahlen konnte. Kompletter Wahnsinn …«

»Entschuldige mal, Tan, du arbeitest doch schon ein ganzes Leben lang. Hast du denn nichts beiseitegelegt?«

»Dieses Haus ist ein schwarzes Loch, was Geld betrifft. Außerdem haben wir nicht besonders sparsam gelebt, als die Geschäfte noch liefen. Reisen, das ganze Gedöns, das Pferd. Erinnerst du dich? Vielleicht hat es wirklich jemand auf mich abgesehen, aber Geld ist sicher nicht das, was ihn interessiert. Oder er ist kein Profi und weiß nicht, mit wem er es zu tun hat. Vielleicht hegt er auch eher einen Groll auf dich.«

»Auf mich?«

»Du bist eine erfolgreiche Anwältin. Du hast keine Kinder und außer uns auch keine Verwandten. Vielleicht will sich jemand rächen, weil du im Auftrag irgendeines Emirs sein Unternehmen skaliert hast.«

»Ich arbeite für Geschäftsleute, nicht für die Mafia.«

»Ist das ein Unterschied?«

Francesca hatte keine Lust auf diese ewige Diskussion. Außerdem war sie todmüde. »Kann ich im Gästezimmer schlafen?«

»Klar. Ich für meinen Teil glaube nicht, dass ich schlafen kann.«

Sie konnte es auch nicht, sondern starrte mit aufgerissenen Augen an die Decke und wartete auf den Sonnenaufgang. Bei jedem Geräusch und jedem Lichtschein zuckte sie zusammen. Jeden Moment könnte ein Carabiniere kommen, die Mütze in der Hand, und ihnen mitteilen, dass man die Leiche ihrer Nichte in einem Graben gefunden habe. Oder in einem Kofferraum. Leider sind wir zu spät gekommen …

In der Morgendämmerung versuchte sie erst gar nicht mehr einzuschlafen. Sie duschte, verabschiedete sich von ihrem Bruder, den sie dort fand, wo sie ihn verlassen hatte, nur dass er nun deutlich betrunkener war, und fuhr nach Cremona in ihre Kanzlei.

Die lag in einem Altbau im historischen Zentrum, direkt hinter dem Baptisterium: fünfhundert restaurierte Quadratmeter aus dem 18. Jahrhundert, mit Fresken, Stuck, Reliefs, Bildern, Grotesken und ungefähr dreißig Kolleginnen und Kollegen. Der einzige Bereich, der nicht seit Ewigkeiten ihrer Familie gehörte, war das elegante kleine Restaurant in den ehemaligen Stallungen. Mittags füllte es sich mit Mandanten und Anwälten, die durch den begrünten Innenhof unter ihrem Fenster strömten. Ihr Büro befand sich im ehemaligen Herrenschlafzimmer mit dem gewaltigen Marmorkamin, den ihr Vater zu Weihnachten immer hatte anzünden lassen. Francesca hatte ihn zumauern lassen. Der Rest der Ausstattung hatte sich komplett verändert, und wo einst das Bild ihres Urgroßvaters in Jagdkluft geprangt hatte, hing nun ein de Chirico.

Im Büro drängten sich allmählich Anzüge in nüchternen Farben, und Beileidsfloskeln wurden ausgesprochen. Die Nachricht von Amalas Verschwinden hatte sich schnell verbreitet, und Francesca nahm die Solidaritätsbekundungen von Angestellten und Anwälten entgegen. Sie tat so, als wäre sie dankbar dafür, aber der Einzige, den sie sehen wollte, war Samuele, ein Referendar, den sie schon eine Weile im Blick hatte. »Ich habe gehört, dass …«

»Danke«, unterbrach sie ihn. »Wenigstens du könntest mir das ersparen.«

»Ah, klar, natürlich. Alle verlangen Sie am Telefon, vor allem Journalisten.«

»Du weißt, wo du sie hinschicken kannst?«

»Zweifellos, Avvocata. Aber wir müssen eine Pressemitteilung aufsetzen.« Samuele war dicklich, trug eine runde Brille und wirkte nachdenklich, was ihm gewiss half, nach anderthalb Jahren Referendariat noch bei Verstand zu sein.

Francesca schnaubte. »Mach du das. Ich überarbeite sie dann. Außerdem habe ich dir schon oft gesagt, dass ich dieses Avvocata widerlich finde. Das ist jetzt politically correct, ich weiß, aber ich bin vom alten Schlag.«

»Entschuldigung. Aber von den anderen werde ich erwürgt, wenn ich es nicht beachte, Avvocato. Ich geh dann mal die Pressemitteilung aufsetzen.«

»Warte. Ich brauche dich noch für etwas anderes, eine Archivrecherche.«

Samuele nahm die Brille ab und polierte sie mit einem amarantroten Tuch. Francesca war aufgefallen, dass er das immer tat, wenn er nervös war.

»Schießen Sie los.«

»Es ist höchst unwahrscheinlich, aber es könnte sein, dass Amala jemandem zum Opfer gefallen ist, der Groll auf unsere Familie hegt. Ich brauche eine Liste der Prozesse, an denen Papa beteiligt war und die etwas mit Entführung, Gewalt und Vergewaltigung zu tun haben. Mich interessieren nur die Fälle, in denen Mandanten oder Angeklagte noch leben und auf freiem Fuß sind.«

»Das steht aber nicht in den Akten.«

»Du hast doch den Kanzleikalender, zieh ihn zurate. Wenn du fertig bist, leg einen Ordner an und schick ihn an die Mailadresse von Dottor Metalli, dem Staatsanwalt. Die findest du auch im Kalender.«

»Ja, Avvocato.«

»Und lass mir einen Tee bringen. Aber keinen aus dem Beutel.«

Der Tee kam nach fünf Minuten, die ersten Ergebnisse nach einer Stunde. Der Ordner, der auch für Francesca freigegeben war, füllte sich allmählich mit Prozessen, von denen sie noch nie etwas gehört hatte, und Personen, die sie nicht kannte. Sie überflog sie und verscheuchte die aufgeregten Kollegen und Kolleginnen, die sie an vergessene Aufgaben erinnern wollten, aber ihr sprang nichts ins Auge, nichts, was wirklich verdächtig ausgesehen hätte. Streitigkeiten um Ländereien und haushohe Niederlagen im Gerichtssaal, klar, aber niemand, der in der Lage schien, ein Mädchen zu entführen. Traurig registrierte sie, dass ihr Vater in den beiden Jahren vor seinem Tod zunehmend Prozesse verloren hatte. Damals war es ihm bereits schlecht gegangen.

Als Samuele wiederkehrte, war sein Pullover mit Staub bedeckt. »Die Groupon sind leider nicht im digitalen Archiv.«

»Was sind denn die Groupon?«

»Die unentgeltlichen Verfahrenshilfen und Pflichtverteidigungen. Wir nennen sie hier so. Ich dachte, Sie wüssten das.«

Francesca hatte es nicht gewusst. Die Gepflogenheiten der Kanzlei waren ihr noch immer fremd. »Zu meiner Zeit hat Papa sie den Praktikanten überlassen, damit sie sich daran erproben konnten«, sagte sie. »Meine Prozesse kannst du dir sparen, nur Hühnerdiebe und so. Außer vielleicht …«

Wenn sie nicht gesessen hätte, wäre sie zu Boden gegangen. Tatsächlich war sie einer Ohnmacht nahe; kalter Schweiß rann ihr den Rücken hinab. Ohne Samuele noch eines Blickes zu würdigen, stand sie auf und stieg über die alte Treppe, die hinter dem Empfang begann, in den Keller hinab.

Der Perser. Wie hatte sie den vergessen können?

Den langen Steintunnel im Keller teilte man sich mit dem Restaurant, das hier Lebensmittel lagerte, während in der verbliebenen Hälfte kleine Zellen mit verriegelten Türen abgetrennt waren. Darin standen Kisten mit Dokumenten und alte Möbel. Die Akten mit den unentgeltlichen Verfahrenshilfen lagen im Flur verstreut, wo Samuele sie hatte liegen lassen. Schnell sammelte Francesca jene mit ihrem Namen zusammen und kehrte mit fünf Kilo verstaubtem, vergilbtem Papier, das teils noch mit Maschine beschrieben war, in ihr Büro zurück.

Der Referendar war noch da. »Alles in Ordnung, Avvocato?«

»Alles bestens. Geh wieder an die Arbeit und erledige bitte, worum ich dich gebeten hatte.« Im nächsten Moment hatte sie Samuele vergessen.

Der Perser.

Bilder der Vergangenheit blitzten in ihrem Kopf auf, und alte Gefühle waren plötzlich wieder lebendig. Den Fall hatte ihr Vater ihr hingeworfen wie einem Hund einen Gummiknochen. Francesca hatte ihn allerdings sehr ernst genommen. Der Perser hatte im Verlauf von drei Jahren drei Mädchen in Amalas Alter entführt und ihre Leichen in den Flüssen um Cremona herum entsorgt. Man hatte einen jungen Mann wegen der Morde angeklagt, Giuseppe Contini, und sie hatte ihn erfolglos verteidigt. Contini war zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Der Perser war ins Netz gegangen.

Der Tee war mittlerweile kalt geworden und schmeckte bitter, aber sie trank ihn trotzdem, während sie in den alten Dokumenten blätterte. Es gab keinerlei Verbindung, es konnte keine geben. Allerdings wusste Francesca etwas, was sie jahrelang gequält hatte und ihr fast den Beruf vergällt hätte. Was sie sogar ins Ausland getrieben hatte. Das Gefühl der Ohnmacht, das sie angesichts dieses zweifellos falschen Urteils befallen hatte, konnte sie einfach nicht abschütteln.

Contini war unschuldig. Der Perser war davongekommen.

BUCALÒN

ZWEIUNDDREISSIG JAHRE ZUVOR

Das letzte Opfer des Persers tauchte ein Jahr nach seinem Verschwinden aus den Wassern des Po in Cremona auf, neben dem letzten Brückenpfeiler zwischen der Lombardei und der Emilia Romagna. Die Elasthanleggings hatten das verseifte Fleisch der Beine teilweise konserviert, während der Rest der Leiche von den Fischen aufgefressen, den Felsen zerrieben und der Strömung verstreut worden war.

Der Gerichtsmedizin zufolge war die siebzehnjährige Cristina Mazzini sofort gestorben, nachdem sie vom Radar verschwunden war, vielleicht sogar noch am selben Tag. Zwei Monate später wurde sie zur Bestattung freigegeben. Damals hörte Sovrintendente Capo Itala Caruso zum ersten Mal von dem Mörder, der drei Mädchen erwürgt und in den Fluss geworfen hatte.

Eine Woche nach der Beerdigung erhielt sie einen Anruf des Staatsanwalts Francesco Nitti, der für den Fall zuständig war und als Erster über die Existenz eines Serienmörders spekuliert hatte. Nitti lud sie nach dem Mittagessen auf einen Kaffee bei sich zu Hause ein.

Itala war dreißig Jahre alt und gerade groß genug, um zur Polizei zugelassen zu sein. Ihr Körpergewicht wiederum bewegte sich gerade noch im Bereich des maximal Zulässigen – oder lag vielleicht sogar knapp darüber. Die Wangen ihres feisten Gesichts waren meist gerötet. Ihre Schmollmiene und der schwarze Pagenschnitt verliehen ihr die Aura dieser Hausfrauen aus der Brühwürfelwerbung, die mit geblümter Schürze und Kochlöffel in die Ewigkeit eingingen. Als sie auf den eleganten Palazzo in der Nähe des Teatro Ponchielli – »der kleinen Scala« – zuschritt, war ihre Miene weniger jovial und ähnelte eher der eines Bullterriers. Sie war stinksauer, weil sie ihre Pläne im letzten Moment umschmeißen und ihren Sohn beim Dienstmädchen lassen musste, statt mit ihm ins Padus-Kino zu gehen und den neuen Asterix-Film Operation Hinkelstein anzuschauen. Vor allem aber war sie besorgt. Nitti und sie waren sich erst ein paarmal über den Weg gelaufen, seit sie in Cremona war, und hinter der »informellen« Unterhaltung verbarg sich bestimmt ein Ärgernis, das sie im Moment noch nicht einzuschätzen wusste.

Nitti öffnete in einem rauchgrauen Rollkragenpulli. Er sah wesentlich älter aus als sechzig; sein Gesicht erinnerte an eine Trockenpflaume. »Meine Frau ist nicht da, so haben wir unsere Ruhe«, sagte er und bedeutete ihr, im Salon Platz zu nehmen. Das Fenster sah auf den beleuchteten Torrazzo hinaus, den Glockenturm der Kathedrale von Cremona. Itala beneidete Nitti ein wenig. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte er. »Einen Likör, ein Glas Wein?«

»Ich habe noch nicht gegessen, aber danke.«

»Soll ich nachschauen, ob meine Frau etwas im Kühlschrank hinterlassen hat? Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Sie mit leerem Magen kommen.«

»Machen Sie sich keine Umstände, Dottore, das ist schon in Ordnung. Darf ich rauchen?«

»Natürlich.« Er zeigte auf einen Standaschenbecher aus verchromtem Metall.

Itala zog diesen zu sich heran und steckte sich eine MS an, während der Staatsanwalt eine Montecristo anschnitt und sie mit einem langen Streichholz entzündete. »Ich habe viel Gutes über Sie gehört, Sovrintendente.«

»In welcher Hinsicht?«

»Dass Sie fähig sind und alles tun, um das zu verbergen.« Nitti stieß eine Rauchwolke aus. »Sind Sie sicher, dass Sie nichts wollen? Nicht einmal ein Acqua Brillante?«

»Ganz sicher.«

Nitti nahm eine Flasche Mandarinetto aus dem Barschrank und schenkte sich zwei Fingerbreit ein, dann setzte er sich aufrecht. »Ich erlaube es mir, sofort zum Punkt zu kommen. Was wissen Sie über den Bucalòn?«

Itala war erneut überrascht. Nicht nur, weil er sie nach dem wichtigsten hiesigen Fall der letzten Jahre fragte, sondern weil er den Begriff benutzte, mit dem die Cremoneser den Fisch bezeichneten, der dem Mörder seinen Namen gegeben hatte. »Das, was alle wissen. Ich habe mich nie näher damit befasst.«

»Lassen Sie mich Ihnen von seinen Opfern erzählen. Carla Bonomi war siebzehn, wohnte in Esine in der Provinz Brescia und arbeitete als Kellnerin in der Pizzeria ihrer Familie, dem L’Ancora. Sie war es, die jeden Morgen um neun öffnete. An einem Morgen vor drei Jahren waren allerdings, als die Familie eintraf, die Rollläden noch geschlossen. Das Fahrrad des Mädchens lehnte an der Hauswand. Ein Jahr lang haben sie nichts von ihr gehört, dann …«

»Dann hat man ihre Leiche gefunden«, sagte Itala und zündete sich noch eine MS an. Sie konnte nur hoffen, dass Nitti nicht allzu lange brauchte.

»In einem Sturzbach wenige Kilometer von ihrem Zuhause entfernt«, bestätigte Nitti. »Fast genau ein Jahr später ist Geneviève Reitano verschwunden. Dasselbe Alter. Sie wohnte auf der Isola Dovarese. Sie wissen, wo das ist?«

Itala nickte. Das war eine Siedlung am Ufer des Oglio.

»Geneviève studierte an der Santa Maria degli Angeli in Cremona und wollte Bürokauffrau werden. Sie stammte aus einer bitterarmen, aber hochanständigen Familie, und das erwies sich leider als Problem.« Nitti stand auf, um sich noch einen Mandarinetto einzuschenken. »Die Verwandten haben die Sache nämlich nicht angezeigt, weil sie dachten, das Mädchen sei abgehauen, um den elenden Verhältnissen zu entfliehen. Erst Monate später haben sie mit dem Priester darüber gesprochen, der sie überredet hat, zu den Carabinieri zu gehen. Ihre Wege zu rekonstruieren, war aber nunmehr ziemlich schwierig. Und als ihre traurigen Überreste in der Po-Schleuse gefunden wurden, dachte man an einen Unfall.«

»War es aber nicht.« Itala ertrug Nittis Pathos nicht und ging in einer Pause dazwischen. »Das dritte Mädchen wurde vor ein paar Monaten an einem Pfeiler der eisernen Brücke in Cremona gefunden. Cristina Mazzini, siebzehn Jahre alt auch sie. Ich war bei ihrer Beerdigung.«

»Niemand ist auf die Idee gekommen, dass es sich um Mord gehandelt haben könnte. Ich musste die ganze Autopsie noch einmal durchführen lassen«, sagte Nitti, verärgert über die Unterbrechung, »und die Wege des Opfers rekonstruieren. Dadurch habe ich eine Verbindung zwischen den Mädchen und einem Mann entdeckt, den ich verhaftet habe, wie Sie vielleicht wissen. Giuseppe Contini, einen vorbestraften Tankwart. Er hatte ein Verhältnis mit dem dritten Opfer, trotz des Altersunterschieds. Seine Tankstelle lag auf dem Schulweg des zweiten Opfers, und in der Pizzeria des ersten Opfers hat er gelegentlich gegessen. Wenn es kein viertes Opfer gab, dann nur, weil wir ihm rechtzeitig das Handwerk gelegt haben.«

»Hat man ihn nicht kürzlich entlassen?«, fragte Itala erstaunt.

»Dem Untersuchungsrichter zufolge gibt es nicht genug belastbares Material, um ihn vor Gericht zu bringen«, sagte Nitti mit einer Mischung aus Sarkasmus und Wut. »Das Indiziengebäude entbehrt, meinem geschätzten Kollegen zufolge, handfester Beweise und Augenzeugenberichte. Das Heer der Carabinieri hat mich bislang wunderbar unterstützt, aber jetzt ist ein toter Punkt erreicht. Ich kann den Männern das nicht mehr zumuten. Begreifen Sie jetzt, warum ich Sie hergebeten habe?«

»Ehrlich gesagt, nein.«

»Ich möchte, dass Sie sich der Sache annehmen.«

»Sie müssen mich verwechseln, Dottore.«

»Ich weiß genau, mit wem ich es zu tun habe«, sagte Nitti und zündete seine Zigarre wieder an. »Man nennt Sie die Königin, nicht wahr?«

»Das ist nur ein Spitzname.«

»Der sich Ihrer Fähigkeit verdankt, Dinge zu regeln. Auch solche, die … wie soll ich sagen? … am Rande der Legalität liegen, wenn nicht gar weit jenseits.«

»Ich weiß nicht, worauf Sie anspielen, Dottore. Und selbst wenn ich wollte, könnte ich Ihnen nicht helfen. Ich bin ja nicht bei der Justiz. Außerdem müssten Sie mit meinen Vorgesetzten sprechen.«

»Ich bitte Sie nur, Beweise gegen Contini zu finden. Sie sollen keine Ermittlungen anstellen. Die richtigen Mittel auszuwählen, überlasse ich Ihrer Intelligenz.«

»Meine Intelligenz sagt mir, dass ich aufstehen und gehen sollte. Und genau das werde ich jetzt tun.«

Nitti schnaubte. »Sovrintendente, bislang hat es mich einen Dreck geschert, was Sie während Ihres Dienstes oder außerhalb tun, aber ich könnte in Nullkommanichts eine Akte über Sie anlegen. Korruption, Erpressung, Unterschlagung, Veruntreuung … Ich stelle Ihr Leben auf den Kopf, bis ich etwas finde, und wir wissen doch beide, dass es etwas zu finden gibt.«

Italas Blick versteinerte. Ihr Gesicht hatte nichts mehr von der Hausfrau aus der Werbung. »Warum schalten Sie nicht die Squadra mobile ein? Oder die übergeordnete Instanz?«

»Weil das kein kluger Schachzug wäre.« Nun, da er seine Karten auf den Tisch gelegt hatte, war Nitti nicht mehr so angespannt und ließ sich in einen großen Ledersessel fallen. »Das käme einem Affront gegen das Heer gleich, und das will ich nicht gegen mich haben.«

»Da erpressen Sie mich lieber.«

»Ich erpresse Sie nicht. Sagen wir mal, ich benutze ein krummes Werkzeug, um etwas noch Krummeres geradezubiegen.«

»Reden Sie von Ihrer Karriere?«

Nitti warf ihr einen hasserfüllten Blick zu. »Meine Karriere läuft bestens. Ich lasse mich auf einen Kompromiss mit Ihnen ein, weil ich möchte, dass den drei Mädchen Gerechtigkeit widerfährt.«

»Ihre Karriere läuft keineswegs bestens, Dottore. Sie haben nur noch zwei Jahre bis zur Pensionierung und versauern in einer Provinzstadt, wo nie etwas passiert. Mal abgesehen vom Perser natürlich. Ihre Akte befindet sich bereits in den Händen des Generalstaatsanwalts, und die einzige Chance, nicht aufs Abstellgleis befördert zu werden, ist Contini.«

»Sie sehen nur das Schlechte, weil Sie selbst schlecht sind. Aber Ihre Weltsicht interessiert mich nicht. Ja oder nein?«

Itala schalt sich selbst, weil sie die Geduld verloren hatte. Hier ging es nicht um das Spielchen, wer lauter schrie.

Jetzt erhob sie sich wirklich. »Ich muss darüber nachdenken. Ich möchte nicht in einer Ermittlung landen, um einer anderen zu entgehen. In der Zwischenzeit lassen Sie mir alles zukommen, was Sie über Contini haben.«

»Gut. Aber denken Sie nicht zu lange nach. Sie sind nicht mehr in Biella, wo Sie schalten und walten konnten, wie Sie wollten.« Nitti setzte ein verschlagenes Lächeln auf. »Dies hier ist meine Stadt.«

Biella war Italas erste Stelle nach der Polizeiausbildung und lag in einem so kalten, abweisenden Norden, dass sie es sich in ihren wildesten Fantasien nicht schlimmer hätte ausmalen können. In dieser Stadt mit ihren kaum fünfzigtausend Einwohnern sprach man einen ihr unverständlichen Dialekt und hielt sie für »eine aus dem Süden«, die Polizistin geworden war, um Geld zu verdienen und die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Es war, als trennte sie eine Glasscheibe vom Rest der Welt, und mit den Kollegen kam sie auch nicht zurecht. Sie schloss keine Freundschaften, schaffte es nie, das Eis zu brechen, konnte über die Witze der anderen nicht lachen und den wichtigen Personen nicht den Arsch lecken.

Aber sie lernte eifrig und versuchte zu begreifen, wie die Dinge liefen. Und da ihre Zurückhaltung gemeinhin für Dummheit gehalten wurde, schreckten die Älteren nicht davor zurück, in ihrer Anwesenheit von Sachen zu reden, die sie niemals hätten sagen oder tun dürfen. Itala hatte schnell begriffen, dass sich die Hälfte ihrer Kollegen nicht an die Regeln hielt. Der eine war korrupt, der andere fickte die verhafteten Prostituierten, um ihnen eine Anzeige zu ersparen, wieder andere staubten die sichergestellten Drogen ab oder arbeiteten während der Dienstzeit als Rausschmeißer.

Und sie waren nicht einmal auf der Hut. Ein Kollege fuhr jedes Jahr ein anderes Auto, immer einen Sportwagen, und eine Kollegin ließ sich ganze Schinken und kistenweise Wein nach Hause liefern. Itala ahnte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis das alles aufflog; es war, als würde man eine Lawine in Zeitlupe abgehen sehen. Unmöglich, sie aufzuhalten. Eines Nachts hielten die Carabinieri einen Beamten an, der kurz vor der Pensionierung stand und ein Pfund Kokain im Kofferraum transportierte. Itala, die damals Schicht hatte, hörte die besorgten Unterhaltungen der Kollegen und dachte ernsthaft darüber nach, sich krankschreiben zu lassen.

Da brachte sie der Primo Dirigente unter einem Vorwand dazu, um zwei Uhr nachmittags mit seinem Wagen durch die öde, halb verlassene Stadt zu fahren. Am Bottalino-Brunnen an der Via degli Alpeggi hielt er an. Sie stiegen aus, um zu rauchen. Ihr Chef hieß Sergio Mazza, war klein, sicher fünfzehn Jahre älter als sie und hatte die wenigen Haare nach hinten gekämmt.

»Wie tief steckst du mit drin?«, fragte er sie. »Keine Ausflüchte, es bleibt unter uns.«

Eine solche Eröffnung hatte Itala nicht erwartet. Nicht nur, dass Mazza wusste, was da lief, er ging auch davon aus, dass sie es ebenfalls wusste. »Ich bin gerade erst gekommen, ich bin sauber«, sagte sie, nachdem sie sich gefangen hatte. »Denken Sie wirklich, dass die anderen mich da reingezogen haben?«

»Nein, deshalb sind wir ja hier. Weißt du, was jetzt passiert?«

»Es wird Ermittlungen geben …«

»Du bist sauber, ich bin sauber, aber es bleibt trotzdem etwas an uns hängen. Ich werde vielleicht in einem schäbigen Büro auf die Pensionierung warten, aber du wirst deine Uniform kaum behalten dürfen.«

»Mir war nicht klar, dass …«

»Was?«, fragte Mazza gereizt.

»Nichts. Es war ja klar, dass das passieren würde.«

»Irgendjemand wird vermutlich deinen Namen fallen lassen, und sei es nur, um einen Strafnachlass zu erwirken. So etwas soll es geben, und es ist ja nicht so, dass dich alle mögen. Allerdings …«

Itala klammerte sich an dieses »allerdings«. »Allerdings was?«

»Du kennst sie alle, oder irre ich mich? Du weißt, was sie angestellt haben.«

»Ja.«

Mazza nickte zufrieden. »Das hatte ich mir schon gedacht. Mund zu, Augen auf. Sehr löblich. Wir gehen jetzt zu mir nach Hause und stellen eine schöne Liste zusammen.«

»Von den Missetätern?«

»Nein. Von denen, die man opfern kann.«

»Entschuldigung?«

Mazza erklärte ihr die Regeln auf der Fahrt. »Die Ältesten sind unberührbar«, erläuterte er. »Die würden sich mit allen Mitteln querstellen. Und die Neuen wie du auch.«

»Warum?«

»Weil sie noch nicht wissen, wie man sich benimmt, auch wenn ich zugeben muss, dass du schnell gelernt hast. Man muss die herauspicken, die genug beiseitegeschafft haben, damit ihre Familien, bis sie einen neuen Job gefunden haben, überleben können. Und man muss sicherstellen, dass sie nicht verzweifeln. Wir machen es so: Ich werde sie öffentlich angreifen, und du wirst ihnen unter der Hand mitteilen, dass ich mein Bestes tue, ihnen vor, während und nach dem Prozess zu helfen.«

»Aber wie wollen Sie sie davon überzeugen?«

»Wir müssen sie nicht überzeugen. Du redest mit einigen der Alten, die wir aus der Sache heraushalten, und die übernehmen das dann. Die Leute sollen begreifen, dass es besser so ist, als wenn der verhaftete Kollege die Namen ausspuckt. Aber du darfst mich nie erwähnen. Sie werden denken, dass du mein Sprachrohr bist, aber du darfst es niemals zugeben, sonst werden sie versuchen, die Informationen zu ihrem Vorteil zu nutzen.«

Mazza hatte recht, mit allem. Als sich Itala mit den älteren Kollegen traf, erlebte sie ein paar schlimme Minuten, aber am Ende akzeptierten sie die Strategie erwartungsgemäß. Die Bauernopfer stellten sich, gestanden eine Liste kleinerer Vergehen und taten so, als würden sie bedingungslos mit der Polizei kooperieren. Der Einzige, der in den Knast musste, war der Kollege, den man mit dem Kokain geschnappt hatte. Aber er bekam nur ein paar Jahre, was ein Fünftel dessen war, was ein anderer unter diesen Umständen bekommen hätte. Die Bauernopfer verloren nur ihren Job.

Itala hingegen hatte eine neue Arbeit kennengelernt.

Mazza wurde Questore von Foggia, und als Itala ihn aus einer Telefonzelle gegenüber der Telefonzentrale anrief, meldete er sich auf einer Leitung, über die man ihn nicht rückverfolgen konnte. Sie hatten seit Weihnachten, als sie die üblichen guten Wünsche zum Fest ausgetauscht hatten, nichts mehr voneinander gehört. Itala berichtete, dass sie Staatsanwalt Nitti kennengelernt habe, nannte aber nicht den Grund, nicht am Telefon.

»Kenne ich nicht«, sagte Mazza. »Was ist er für ein Typ?«

»Ein Vollidiot. Er droht mir etwas anzuhängen, wenn ich ihn nicht in einer Sache unterstütze.«

»Und warum willst du ihn nicht unterstützen?«

»Weil das jenseits der Grenzen liegt, die mir gesetzt sind.«

»Wir dienen dem Gesetz«, sagte Mazza. »Ich werde mich erkundigen, ob ich dich da rausholen kann, aber am besten beißt du in den sauren Apfel. Was die Grenzen betrifft, bist du zu streng mit dir. Du kannst alles schaffen, was du dir vornimmst. Wie geht es Cesarino?«

Itala antwortete höflich, wartete, bis er auflegte, und wischte sich mit einem Taschentuch die Finger ab, weil jemand ein Kaugummi an den Hörer geklebt hatte. Von Mazza hatte sie offenbar nicht viel zu erwarten, aber sie freute sich trotzdem, seine Stimme gehört zu haben.

Als sie nach Hause kam, war es schon nach elf. Die Mieten in Cremona waren niedrig, und so hatte sie eine hübsche Dreizimmerwohnung nur wenige Schritte vom ehemaligen Kloster Corpus Domini gefunden. Das Kloster war verwahrlost und baufällig, aber immer noch eindrucksvoll. Außer den beiden Schlafzimmern hatte sie noch eine Miniküche, einen Balkon und ein Wohnzimmer. Sie hatte die Wohnung möbliert gemietet. Vor ihr hatte ein alter Mensch dort gewohnt, wie man leicht an den nussbraunen Möbeln erkennen konnte. Das Einzige, was sie entsorgt hatte, waren ein Kunstdruck eines biertrinkenden Alten und den Toilettensitz.

Anna, die Haushaltshilfe, saß am Esstisch und las einen Schundroman, das Radio leise auf den ersten Kanal eingestellt. Sie war klein, hatte blond gefärbte Haare und wohnte mit ihrem Mann und den Kindern in der Wohnung über ihr. Nun knickte sie ein Eselsohr in die Seite. »Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie so spät kommen?«

»Tut mir leid, aber bei meiner Arbeit weiß man das nie.« Itala hob den Deckel von der Pfanne, die auf dem Herd stand. Ossobuco mit Erbsen. Es war kalt, und das Fett war zu weißen Klumpen geronnen. Sie hörte ihren Magen knurren, pickte mit den Fingern ein paar Erbsen heraus und steckte sie in den Mund.

Anna riss die Pfanne beiseite. »Ich wärme es Ihnen auf! Es besteht kein Grund, sich wie ein Schwein aufzuführen.«

»Steck das Fleisch in ein paar Brötchen, dann kann ich bei der Arbeit essen.«

»Sie müssen noch immer arbeiten?«

»Ich könnte darauf verzichten.«

Anna machte sich ans Werk und reichte ihr dann die Brötchen in einer Papierserviette. »Den Knochen habe ich entfernt«, sagte sie mürrisch. »Sonst würden Sie den auch noch verschlingen.«

»Danke.«

Das Dienstmädchen nahm die Schürze ab und ging zur Tür. »Cesare schläft. Gehen Sie hin und geben Sie ihm einen Gutenachtkuss. Er hat den ganzen Tag auf Sie gewartet.«

»Es ist nicht nötig, dass du mich daran erinnerst.«

»Na ja«, sagte Anna nur und ging.

Itala nahm die Brötchen und eine halb volle Flasche Rotwein und ging damit in ihr Zimmer. Außer dem Ehebett, das nur auf einer Seite zerwühlt war, standen dort noch ein Liegesessel und der Panzerschrank für ihre Waffen. Itala legte die Pistole hinein und zog sich ihren Flanellschlafanzug an.

Ihr Sohn hatte das Zimmer gegenüber. In der Steckdose steckte ein kleines Licht, das die ganze Nacht über brannte. Er war sieben Jahre alt, aber so klein, dass er jünger wirkte. Die bleiche Haut glänzte in der Dunkelheit, die hellen Haare waren zerstrubbelt. Angesichts der engelgleichen Kreatur wurde Itala von einer Welle der Liebe ergriffen. Sie legte sich neben ihn und umarmte ihn, ohne ihn zu wecken. Dabei sog sie seinen Duft ein, den Duft der Unschuld, und suchte sein Gesicht nach den ersten Spuren der Veränderung ab, von der sie befürchtete, dass sie früher oder später einsetzen musste.

So ein Unsinn, du bist doch paranoid. Dein Sohn ist vollkommen normal. Und doch war dieser Gedanke ein ständiger Stachel unter ihrer Haut und schmerzte, wenn sie darüberstrich. Dir wird das nicht passieren, dachte sie und gab ihm noch einen sanften Kuss. Der Junge drehte sich mit einem leisen Schnarcher um, ohne aufzuwachen.

Itala kehrte in ihr Zimmer zurück, trank einen Schluck Rotwein aus der Flasche und blätterte in der Akte, die Nitti ihr gegeben hatte. Wie schon vermutet, hatte er die Fakten auf seine Ermittlungshypothese zugeschnitten.

Contini hatte an der Tankstelle in der Nähe der Schule des zweiten Opfers, der Santa Maria degli Angeli, gearbeitet, aber niemand hatte beobachtet, dass Geneviève mit ihrem Moped dort angehalten und getankt hatte. In der Pizzeria von Carla, dem ersten Opfer, hatte man Contini angeblich gesehen, aber die Identifikation war keineswegs zuverlässig. Anders verhielt es sich im Fall von Cristina, dem dritten Opfer, mit dem sich Itala eingehender beschäftigte. Sie war die Tochter zweier Angestellter. Freunde und Verwandte beschrieben sie einmütig als intelligent, fleißig und strenggläubig. Jeden Nachmittag ging sie nach dem Seminar, das sie in Cremona besuchte, in die Messe; außerdem gehörte sie einer ultrakatholischen Vereinigung an, in der die Mädchen gelobten, bis zur Ehe keusch zu bleiben.

Die Cousins allerdings, wie die Carabinieri scherzhaft genannt wurden, die sich durchaus auf ihre Arbeit verstanden, wenn sie denn wollten, hatten einen Freund oder Verlobten aufgetrieben, von dem die Familie nichts wusste. Es handelte sich um einen vierundzwanzigjährigen Tankwart namens Giuseppe Contini, den sie in einem Lokal kennengelernt hatte, das sie samstags und sonntagnachmittags besuchte.

Irgendjemand hatte die beiden an dem Tag, an dem Cristina verschwunden war, zusammen gesehen. Einer der Zeugen hatte ausgesagt, dass sie sich »zu streiten schienen«. Contini beharrte jedoch darauf, das Mädchen gar nicht zu kennen. Das war schon alles, was man gegen ihn in der Hand hatte, obwohl ihn die Carabinieri nach Strich und Faden durchleuchtet hatten. Nitti hatte sogar das Oberkommando angerufen, damit sie mehr Männer auf den Fall ansetzten, aber auch das hatte nicht gefruchtet. Ihr, Itala, kam es nun zu, Beweise zu finden, die ihm den Gnadenstoß verpassen würden.

Sie stopfte ein Stück fettiges Brötchen in den Mund, das auf dem Kopfkissen gelandet war. Wie immer, wenn sie etwas Unanständiges vorhatte, musste sie an Don Alfio denken, den Priester ihrer Kindheit, und seine Predigten über den allmächtigen Gott, der alles sah. Don Alfio hatte in seinen Predigten gebrüllt, dass man es noch auf dem Kirchhof hören konnte. Vor Anstrengung wurde er knallrot im Gesicht und hob die Stimme noch einmal, wenn er Worte wie »Unzucht« und »Ehebruch« ausstieß, wobei er die anwesenden Frauen fixierte, die in seinen Augen allesamt reuelose Sünderinnen waren. Itala hatte Angst vor ihm gehabt. Sie hatte Angst, dass er eines Nachts kommen würde, um sie in die Hölle zu schleppen und für Sünden zu bestrafen, von denen sie nicht einmal wusste, dass sie sie begangen hatte. Don Alfio war schon eine Weile tot, aber Itala hörte noch immer manchmal seine Stimme, die ihr Verhalten als verkommen oder unmoralisch verurteilte. Und in diesem Moment schien sie die Hand des alten Priesters an ihrem Knöchel zu spüren, gewillt, sie in den Abgrund zu ziehen.

Die Angst blieb bis zum nächsten Tag, als sie Cesare zur Schule brachte. Das Wetter war umgeschlagen. Statt Herbst schienen sie plötzlich tiefen Winter zu haben, mit schwerem, eiskaltem Regen. Als sie über die Po-Brücke fuhren, von Tropfen bombardiert, verlangsamte Itala das Tempo, um auf den Fluss zu schauen. Er hatte Hochwasser und bedeckte hektarweise Bäume und Wiesen. Cristinas Leiche war unter dem dritten Brückenpfeiler gefunden worden, neben dem der erste Pfeiler des neuen Eisenbahnviadukts aus dem Wasser ragte. Einen Monat lang war der Zugang gesperrt gewesen, dann hatte die Baufirma geklagt, um die Arbeiten wieder aufnehmen zu können. Wenn da unten etwas war, was Aufschluss geben könnte, war es nun unter Sand und Zement begraben.

Itala fuhr in Richtung Castelvetro, wo Cesare bei ihrer Schwiegermutter Mariella wohnte. Von Cremona war das nur wenig mehr als sechs Kilometer entfernt, so weit wie von der Regionalgrenze. Die Bäume und die niedrigen Häuser waren ähnlich, die Farben auch, und doch war alles anders. Man aß andere Dinge, man sprach mit einem schärferen Akzent, der ihr auf die Nerven ging, und war überhaupt extrovertierter. Itala mochte die Cremoneser Schroffheit lieber, diese stille Katerstimmung.

Cesare rührte sich erst, als sie fast schon an der Schule waren. »Mamma, bist du böse auf mich?«, fragte er ängstlich.

»Nein, natürlich nicht. Ich bin nie böse.«

»Außer auf Oma.«

Itala sagte nicht, was sie dachte. »Die Oma hat einen besonderen Charakter.«

»Sie sagt, sie ist immer nervös, seit Papa gestorben ist. Weil er doch ihr einziger Sohn war.«

Itala nutzte eine rote Ampel, um ihn anzuschauen, und schenkte ihm ein gezwungenes Lächeln. »Sie ist nicht die Einzige, der es nicht gut damit geht.«

»Du redest aber nie von ihm.«

»Das ist mir lieber so. Die Sache ist zu traurig.«

Cesare zuckte mit den Schultern. »Wieso kann ich nicht bei dir wohnen?«

Itala spürte, dass sich ihr Herz zusammenzog. »Du weißt doch, dass Mamma immer arbeiten muss. Oma kann wenigstens bei dir sein.«

»Und wenn du bei uns wohnen würdest?«

»Darüber haben wir doch schon geredet, erinnerst du dich?« Itala suchte krampfhaft nach einem anderen Thema. »Vorhin habe ich übrigens nur nachgedacht.«

»Worüber?«

»Über die Arbeit. Manche Dinge, die ich tun muss, gefallen mir überhaupt nicht. Da, wo ich geboren bin, sagt man ›immer den Specht im Kopf haben‹. Du weißt schon, dieser Vogel, der an Baumstämme klopft.«

»Hab schon verstanden«, sagte Cesare. »Den habe ich auch manchmal im Kopf.«

»Ist da etwas, was dich beunruhigt?«

Cesare schüttelte den Kopf. »Glaubst du, ich kann auch Polizist werden, wenn ich mal groß bin?«

Itala war überrascht. »Wolltest du nicht Arzt werden?«

»Polizeiarzt vielleicht?«

»Cecè, darf ich dir etwas sagen, ohne dass du gleich sauer wirst?«

»Weiß nicht.«

»Ich hoffe sehr, du besinnst dich anderes.«

»Warum?«

»Weil es bessere Berufe gibt, mein Schatz. Ich konnte nicht studieren, weil meine Großeltern nicht für meinen Lebensunterhalt aufkommen konnten, aber du kannst alles tun, was du willst. Du musst keine vorschnellen Entscheidungen treffen.«

Sie setzte ihn vor der Schule ab, und Cesare umarmte sie, als wäre er sich sicher, dass er sie nie wiedersehen würde. Sie gab Vollgas, um das Gefühl von Wut und Trauer abzuschütteln, das sie immer befiel, wenn sie ihn zurücklassen musste. Um sich auf andere Gedanken zu bringen, hielt sie an der ersten Telefonzelle am Weg und rief die Kommandozentrale der Carabinieri an. Dann kehrte sie nach Cremona zurück, um sich vor Ort blicken zu lassen.

Sie unterschrieb ein paar Berichte und wechselte ein paar nette Worte mit dem Polizeipräsidenten, der immer überrascht wirkte, sie nicht mit dem Besen in der Hand zu sehen (»Immerhin könnte man sich vorstellen, sie zu ficken«, hatte sie ihn mal sagen hören), dann nahm Otto sie beiseite. Er war einer ihrer Leute, einer der verlässlichsten. Eigentlich hieß er nicht Otto. Den Spitznamen verdankte er seinem Schnauzbart, der an den einer Comicfigur erinnerte, die wie er Anhänger Mussolinis war. »Hast du von dem gepanzerten Lieferwagen gehört?«

»Nein, ich war beschäftigt. Was für ein Lieferwagen?«

»Werttransport. Man hat ihn vor Bologna gestoppt, indem man eine Reihe von Autos in Brand gesetzt hat. Dann haben sie ihn mit Kalaschnikows und Handbomben angegriffen und siebenhundert Millionen an Bargeld und Gold abgeschleppt.«

»Nicht übel.«

»Die Schatzsuche ist bereits in vollem Gange. Wir werden sehen, ob es Informanten gibt, die uns nützen können. Mir würde es gefallen, ihnen als Erster auf die Schliche zu kommen.«

»Tu, was du nicht lassen kannst. Stell dich aber niemandem in den Weg.«

Otto nahm die Pistole aus der Schublade und steckte sie ins Halfter. »Nur den Bösen.« Er arbeitete in der Passabteilung, war aber selten an seinem Arbeitsplatz zu finden.

Mittags traf sich Itala mit dem Carabinieri-Leutnant Massimo Bianchi, den sie ins Baracchino – die Baracke – bestellt hatte, einen Imbiss, der Fleischspieße und Grillwürste servierte. Er lag unter einem der Bögen der Eisenbrücke und hatte ein großes Vordach, unter dem man vor dem Regen geschützt war. Der fiel jetzt nur noch in wenigen Tropfen. Itala bestellte zwei Panini, Bianchi Fleischspieße auf einem Plastikteller. Sie setzten sich an eines der perforierten Metalltischchen, die sich nun mit Arbeitern und Hausfrauen füllten. Vom Po sah man nur einen Streifen hinter dem Betondamm; über ihnen lastete die Brücke.