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Wer bist du, wenn niemand zusieht? Wer, wenn alle Augen auf dich gerichtet sind? Macht das einen Unterschied? Janis McDavid wirft einen verblüffenden Blick auf das stets im Narzissmusverdacht stehende Ich. Selbstwert genießt einen guten Ruf, das sogenannte Ego keineswegs. Es wird selten geschätzt, allenfalls geduldet. Dabei brauchen tragfähige Selbstwertschätzung und Empathie ein kraftvolles Ego, das zu sich selbst stehen kann. Jederzeit. McDavids Ausführungen sind so provokant wie augenzwinkernd, schonungslos offen und mitreißend selbstherrlich … pardon, selbstehrlich. Mit Humor und Aha-Effekten zeigt das Buch anhand der persönlichen Geschichte des ohne Arme und Beine geborenen Autors, welche Wege und Mittel ihn zu einer gesunden und stabilen Selbstwertschätzung brachten. Für alle, die Lust daran haben gängige Klischees und Paradigmen über Bord zu werfen, und stattdessen frappierend neue Blickwinkel erkunden möchten.
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Seitenzahl: 208
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Janis McDavid
Alle anderen gibt es schon
Die Kunst, du selbst zu sein
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlagkonzeption: Verlag Herder
Umschlagmotiv: © Katy Otto · www.katyotto.com
E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timisoara
ISBN E-Book 978-3-451-83456-1
ISBN Print 978-3-451-62345-5
Ouvertüre
Teil 1Selbstwertschätzung – was ist das?
Kapitel 1 Worum geht’s hier überhaupt?
Kapitel 2 Dein Blick auf dich selbst
Kapitel 3 Woran glaubst du?
Kapitel 4 Zwischen Fremd- und Selbstwert
Kapitel 5 Von der Würde des Menschen
Teil 2 Selbstwertschätzung aufbauen
Kapitel 6 Die Entscheidung
Kapitel 7 Selbstwert ist erlernbar
Kapitel 8 Die Macht der eigenen Bilder
Kapitel 9 Mut zum Ego
Kapitel 10 Wie redest du eigentlich mit dir?
Kapitel 11 Mut zur Krise
Teil 3Selbstwertstärke und Visionen
Kapitel 12 Willkommen bei dir selbst!
Kapitel 13 Grenzenlose Freundschaft
Kapitel 14 Vielfalt jenseits der Norm
Kapitel 15 Freiheit durch Technik
Danke!
Literaturverzeichnis
Über den Autor
Wer bist du, wenn niemand zusieht? Hast du dir jemals diese Frage gestellt? Und hast du sie jemals wirklich – also: wirklich – beantwortet? Wie geht es deinem Ego, wenn du nackt vor dem Spiegel stehst und nicht mehr geschmückt bist mit Insignien wie Jobtitel oder akademischem Grad, Kleidung, Schmuck, Auto, Familienstand, Make-up, Smartphone und all dem, was wir besitzen, nutzen und uns zulegen, weil es (angeblich) Ausdruck unserer Persönlichkeit ist?
Es war tatsächlich ein Spiegel, der mich vor über zwanzig Jahren mit mir selbst und der Frage „Was ist Selbstwertgefühl?“ konfrontierte (siehe Teil 1 dieses Buches). Damals, im Alter von acht Jahren, wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie sehr ich mich äußerlich von anderen unterschied: Ich hatte keine Arme und Beine, nur Rumpf und Kopf! Ich fühlte mich schrecklich und schämte mich meiner selbst. Ich schämte mich vor allem, weil dieser gravierende Unterschied für mich bislang nicht bedeutsam gewesen war – obwohl man ihn doch gar nicht übersehen konnte! Ich hatte es bisher eher so betrachtet wie die Tatsache, dass einige Menschen Sommersprossen haben, andere nicht. Im Spiegel musste ich erkennen, dass es wohl doch anders war.
Wie peinlich schien mir plötzlich mein Reden darüber, dass ich einmal Motorradpolizist werden würde, wie peinlich war überhaupt alles, was ich bis dahin mit größter Selbstverständlichkeit in Betracht gezogen hatte, obwohl es ohne Arme und Beine doch gar nicht umsetzbar sein würde. Dass ich keine Gliedmaßen hatte, war nicht zu übersehen, und ausgerechnet ich selbst hatte das offensichtlich nicht gecheckt. Wie dumm war das denn? Wie hatte ich mich so normal verhalten können, wo ich doch gar nicht normal war?
Von einer Sekunde auf die andere war meine Welt eine andere. Plötzlich spielte es keine Rolle mehr, dass ich bis dahin genauso glücklich und aktiv gewesen war wie meine Freunde und Klassenkameraden. Es spielte auch keine Rolle mehr, was ich alles ohne Arme und Beine machte und lebte.
Dass ich zwar keine Arme und Beine hatte, sie mir aber nicht fehlten und ich seit nunmehr acht Jahren dafür das beste Beispiel war – diese Sicht auf die Dinge erlosch in jenem Moment vor dem Spiegel. Die Selbstablehnung poppte prasselnd auf wie Maiskörner in einer heißen Pfanne. Alles wollte ich sein, aber nicht „das“ dort im Spiegel. Nach außen gab ich weiterhin den fröhlichen, lebendigen Janis, aber nach innen begann ein Kampf gegen mich selbst, kraftraubend und destruktiv.
Bis zu diesem Augenblick war ich mit meinem Rollstuhl gut durchs Leben gekommen. Er war so konstruiert, dass ich bei uns zu Hause und im Kindergarten frei herumcruisen konnte. Außerdem konnte ich den Sitz bis zum Boden absenken, um allein ein- und auszusteigen. Nun schien es mir besser, es mit Prothesen zu versuchen, denn so würde niemand auf den ersten Blick einen Janis ohne Gliedmaßen wahrnehmen. Ob diese Maßnahme optisch wirklich den Erfolg brachte, den ich mir erhofft hatte, kann ich aus heutiger Sicht nicht sagen. Die erwartete Verbesserung meiner Lebensqualität blieb jedenfalls aus. Eigentlich war genau das Gegenteil der Fall: Mit den Prothesen fühlte ich mich wackelig und unsicher, sie blieben für mich hemmende Fremdkörper. Ich bemühte mich sehr, damit das Gleichgewicht zu halten, aber es gelang mir nicht, weil ich die Prothesen einfach nicht zu einem Teil meines Körpers werden lassen konnte. Bald war klar: Das war nicht die Lösung.
So wie damals ein einziger Blick in den Spiegel alles verändert und eine Negativspirale in mir in Gang gesetzt hatte, war es später eine einzige Entscheidung, die aus dem Zerrbild von mir wieder ein Selbstbild machte, das diesen Namen im besten Sinn verdiente. Denn ich entscheide, ob ich mich annehme, so wie ich bin, und mir damit meine Welt erobere, oder ob ich mich ablehne und einem unerfüllbaren Wunsch hinterherlaufe: Arme und Beine zu haben.
In den letzten Jahren bin ich intensiv der Frage nachgegangen, was ein gutes Leben, ja eigentlich, was „Dein Bestes Leben“ ausmacht. Diese Formulierung taucht auch hier wiederholt auf und ich beziehe mich damit auf den Titel meines ersten Buches, in dem ich mich erstmals öffentlich mit dieser Frage beschäftigte. Nach vielen Gesprächen mit Menschen überall auf der Welt, einigen intensiven Erlebnissen im Umfeld von UNICEF, vielen Vorträgen und einige Bücher später habe ich jedoch festgestellt, dass es auf diese Frage keine allgemeingültige Antwort gibt. Treffender noch, es gibt darauf genauso viele Antworten, wie Menschen im Universum leben. So kam ich schließlich auf den Titel dieses Buches: Alle anderen gibt es schon.
Dennoch gibt es ein Merkmal, das bei allen Menschen, die tagtäglich Großartiges leisten und denen ich begegnen durfte, immer wieder auftaucht. Eine Eigenschaft, die mich zutiefst fasziniert, die Menschen glücklich sein lässt und die schlussendlich für mich der ausschlaggebende Punkt für dieses Buch war: Sie alle verbindet, dass sie sich zu sich selbst bekennen, sich ein Selbstbild erschaffen haben und stets auf dem Weg sind, mehr aus ihrem Leben zu machen.
Meine ganz persönliche Vorstellung meines besten Lebens hat jedenfalls keine Arme. Mein bestes Leben hat Möglichkeiten. Ich möchte ganz bewusst nicht sagen: „unbegrenzte Möglichkeiten“, denn selbstverständlich gilt für jeden Menschen, dass Aufgaben und Herausforderungen gewisse körperliche oder geistige Fähigkeiten voraussetzen. Ja, wir alle haben Grenzen. Natürlich. Von atemberaubender Grenzenlosigkeit aber ist die Kreativität, mit der wir Perspektiven schaffen, wie wir dennoch ans Ziel kommen und was wir anders oder neu denken können. An eine Grenze zu stoßen bedeutet nicht, dass der Weg zu Ende ist. Es bedeutet vielmehr, dass es einen anderen Weg gibt, auf dem wir weiterkommen. Eine Grenze bedeutet, dass wir gut daran tun, unsere Ziele zu prüfen und zu hinterfragen. Die Rucksackreisen mit meinen Freunden, meine Wanderungen an die entlegensten Plätze der Welt sind gute Beispiele dafür.
Mit diesem Buch möchte ich Wege aufzeigen, wieder in dieses unbeschwerte Leben zurückzukehren, welches ich als Kind hatte: Dass ich keine Arme und keine Beine habe, spielte keine Rolle – ich lebte einfach mit einem tiefen Verständnis meines Selbstwertes und meiner weiten Möglichkeiten. Ich bin überzeugt, dass jeder diesen Weg gehen kann. Einen Einblick, wie du diesen Weg zu dir selbst beschreiten und die Fähigkeit entwickeln kannst, du selbst zu sein, möchte ich dir durch dieses Buch ermöglichen. Abschließend lege ich den Fokus auf die Perspektiven, die sich durch diese Fähigkeit in einem größeren Kontext ergeben.
1. In diesem Buch geht es darum, die Basis für eine wichtige Entscheidung zu schaffen: die Entscheidung zu dir selbst. Diese wird nur dann frei und erfolgreich sein, wenn sie echter Selbstwertschätzung entspringt. Wenn sich also dein Ich, dein Ego weder kleinmachen noch unnötig aufblähen muss.
Was genau ich unter Ego und Egoismus oder Begriffen wie Selbstwertschätzung, Glaubenssatz oder Fremdwertschätzung verstehe, definiere ich gleich zu Beginn von Teil 1. Viele von uns nutzen diese Wörter vor einem unterschiedlichen Wertehintergrund, deshalb ist es mir wichtig, sie vorab zu klären und meine Sicht darauf deutlich zu machen. Um es mit dem amerikanischen Schriftsteller Russel Hoban zu sagen: „… wenn man’s recht bedenkt, wie viele Leute sprechen schon dieselbe Sprache, selbst wenn sie dieselbe Sprache sprechen?“ (Hoban, Der Kartenmacher, S. 149).
2. Das hier ist keine Heldenstory. Es ist keine Geschichte über fehlende Arme und Beine oder vom „Behindertsein“. Kein Buch über irgendeinen Kampf zurück ins Leben, weil ich einer gesellschaftlichen oder medizinischen Meinung nach „körperlich behindert“ bin. Weißt du, was meine einzige „Behinderung“ je war? Meine eigenen Gedanken und Urteile über mich selbst! Ich glaube, niemand steht zu irgendeinem Zeitpunkt außerhalb seines Lebens. Dein Leben ist dein Leben. Immer. Dieses Buch stellt die Frage, wie du in deinem Leben stehst. Wach und authentisch? Proaktiv oder reaktiv? Mit Führungskraft oder Führungsschwäche? Es gibt dir Antworten darauf – wenn du Mut hast.
3. Es wird auch mal wehtun beim Lesen. Liebgewordene (Denk-)Muster werden aufgebrochen, radikal infrage gestellt, auch mal karikiert oder überraschenderweise voll bestätigt werden. Du wirst dich eher im Sowohl-als-auch als im Entweder-oder bewegen. Wir müssen auch nicht in jedem Punkt einer Meinung sein. Es steht nicht das Beste, sondern dein Bestes im Mittelpunkt.
Wenn du eine narzisstische Selbstverliebtheit lebst, ist das nicht dein Buch, denn dann wirst du deine persönlichen Weiterentwicklungen meiden bzw. sie verwechseln mit mehr Prestige, mehr Anerkennung, mehr Geld, höherem Status, größerem äußerlichen Erfolg.
Wenn du gerne eine passive Opferhaltung einnimmst, ist das auch nicht dein Buch, denn dann wirst du deine persönliche Weiterentwicklung ebenfalls meiden und dein Vermeidungsverhalten mit ungünstigen äußeren Umständen begründen, um damit deiner Eigenverantwortung zu entgehen.
Wenn du für dein Leben inneren und vielleicht auch etwas äußeren Reichtum erlangen willst, Unabhängigkeit, Freiheit und maximale Lebenslust, dann ist dieses Buch genau für dich gemacht. Es wird dich darin bestärken, Scheinkompetenzen abzulegen. Souveränität ist das Hauptmerkmal wahrer Führungskraft, denn auf ihrem Boden gedeihen Selbstsicherheit und Handlungsspielräume.
Schau dich einfach in deinem Umfeld um und frag dich kurz, mit welchen Menschen du dich gern umgibst. Wen du respektierst, wem du gerne zuhörst, in wessen Nähe du dich inspiriert fühlst. Das werden weder die Blender noch die Profilneurotiker und ebenfalls nicht die allzeit Verzagten sein. Es sind vielmehr die authentischen Souveräne, die für die täglichen Herausforderungen aus der besten Kraftquelle schöpfen: dem Mut zu sich selbst.
In den letzten Kapiteln werden wir auf die konkreten Effekte echter Selbstwertschätzung blicken: bessere Ergebnisse bei deiner Arbeit; schnelleres Erreichen deiner Ziele; das Ende von Abhängigkeiten und der Beginn wahrer Freiheit. Wir werden auch den Blick auf größere Zusammenhänge wagen, wie du dein persönliches Selbstwerttraining für globale Krisen einsetzen kannst. Abschließend werden wir darauf schauen, wie auf dem Selbstwertfundament gesellschaftliche Visionen entstehen bzw. wie sich daraus für mich Perspektiven eröffnet haben.
Mit Prothesen hätte ich mich nie auf eine Bühne getraut. Wäre ich in dem Versuch steckengeblieben, einen scheinbaren Mangel (keine Arme und Beine) zu beheben, dann hätte ich nicht erlebt, wie selbstverständlich sich Erfolg entwickelt, wenn der Fokus auf den eigenen Stärken und den persönlichen Talenten liegt.
Dieses Buch beruht auf meinen Erfahrungen, dem intensiven Austausch mit vielen Menschen weltweit und der Anwendung der Mentaltechniken, in denen ich ausgebildet bin. Es erhebt nicht den Anspruch, therapeutische Hilfe zu leisten oder psychologisch abgeschlossene Sichtweisen zu bieten, sondern richtet sich an Menschen, die Impulse und Inspirationen suchen, um sich weiterzuentwickeln.
Wenn du nicht weniger als dein bestes Leben leben willst, dann starten wir jetzt gemeinsam.
Teil 1Selbstwertschätzung –was ist das?
Ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein hatte ich schon immer. Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Eltern mit ihrer Art, mich zu erziehen und ins Leben zu schicken, einen großen Anteil daran haben. Es sollte nichts geben, was mich auch nur im Ansatz glauben machen könnte, ich sei ohne Arme und Beine benachteiligt, weniger handlungsfähig oder weniger (liebens-)wert. Sie haben mich immer ermutigt, mich auszuprobieren, mich immer aufgefordert, alles Mögliche selbst zu versuchen. Ich wurde innerhalb unserer großen Familie in keiner Weise besonders in den Mittelpunkt gerückt, war Teil des Ganzen – wie alle anderen. Für manche Dinge brauchte ich Hilfe – aber die brauchten meine Geschwister ja auch.
Ich bin sehr froh, dass meine Familie gezielt auf Normalität gesetzt hat und mir dadurch nicht schon als Kleinkind das Gefühl gegeben wurde, dass ich „anders“ sei oder hilfsbedürftig und auf die Gunst anderer angewiesen.
Mich frei zu äußern war mir immer selbstverständlich. Meine sprachliche Begabung zeigte sich früh, und natürlich nutzte ich sie. Auch der Erkenntnismoment vor dem Spiegel vermochte dieses Fundament für ein selbstbewusstes Auftreten nach außen nicht aufzulösen. Dass und wie ich Wirkung erzeugen konnte, war mit genügend Erfahrungswerten unterlegt – einerseits.
Was sich – andererseits – dramatisch veränderte, war meine eigene Bewertung von mir selbst und mein Selbstbewusstsein. So selbstverständlich mir zuvor der Blick auf mich gewesen war, so schräg, peinlich und verrückt fand ich ihn nun. Nie zuvor hatte ich mich grundlegend infrage gestellt. Jetzt tat ich es mit fast schonungsloser Bösartigkeit.
Nach außen blieb mein inneres Drama verborgen. Nach wie vor agierte ich selbstbewusst – allerdings gepaart mit dem Gefühl, eine Mogelpackung zu sein. Ich hatte plötzlich Angst vor Angriffen und Demaskierung, vor Spott und Scheitern, vor Abwertung und Bloßstellung.
Dieser Situation mit einer doppelten Portion Selbstbewusstsein zu begegnen, war die Flucht nach vorn. Aber Flucht bleibt eben Flucht und hat mit freiem Handeln nichts zu tun. Ich hatte nicht mehr die Wahl. Ich musste eine große Klappe haben.
Es ist viel „Selbst“ unterwegs da draußen: Selbstbewusstsein, Selbstwirksamkeit, Selbstliebe, Selbstverliebtheit, Selbstbezogenheit, Selbstachtsamkeit, Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl usw. Oft geraten diese Wörter wild durcheinander, werden synonym verwendet oder in der Annahme, dass wir alle dasselbe darunter verstehen. Tun wir das?
Ist Selbstbewusstsein etwa immer ein Zeichen für ein gutes Selbstwertgefühl? Können wir selbstwirksam sein ohne Selbstliebe? Ist Selbstliebe reiner Egoismus oder nicht? Kann es Egoismus ohne Selbstverliebtheit geben? Wie gewinne ich Selbstvertrauen aus Fremdwertgefühl? Was ist das alles überhaupt?
Wenn ich über die folgenden Buchseiten und Kapitel hinweg bestimmte Begriffe verwende, dann meine ich:
Jeder von uns wird mit einem breiten Spektrum von Eigenschaften, Talenten und Merkmalen geboren. Jeder von uns hat seinen eigenen Wert. Einen Selbstwert. Er bildet den Boden, das Fundament deiner selbst. Du bist. Das ist eine gute Nachricht, denn es bedeutet für dich, dass es nicht darum geht, deinen Wert aufzubauen, sondern den vorhandenen Wert zu erkennen und (ein)schätzen zu lernen. Das ist für mich einer der spannendsten Punkte des Menschseins. Der griechische Dichter Pindar formulierte es so: „Werde, der du bist.“
Jeder Mensch ist im eigentlichen Wortsinn wert-voll. Von Anfang an.
Viele sprechen vom Selbstwertgefühl. Ich bevorzuge den Begriff Selbstwertschätzung, denn es geht nicht um ein Gefühl, sondern um eine Haltung. Im Wort „Selbstwertschätzung“ vereint sich zweierlei: zum einen Wertschätzung uns selbst gegenüber, zum anderen – und das ist enorm wichtig – die gesunde und klare Einschätzung dessen, was und wer ich bin. Das meint die Anerkennung aller meiner Facetten.
Fremdwertschätzung entsteht daraus, was andere Menschen über dich sagen oder denken bzw. was du glaubst, dass sie denken. Es ist wichtig, das voneinander zu unterscheiden. Im ersten Fall entsteht die Fremdwertschätzung aus dem realen Feedback einer anderen Person: Du erfährst, was sie oder er über dich denkt. Im zweiten Fall liegt der Fremdwertschätzung nur dein eigenes Kopfkino zugrunde. Du glaubst zu wissen, was andere von dir denken, und leitest daraus ab, wie sie dich bewerten. Diese zweite Variante ist tückisch, meistens destruktiv und vor allem komplett an deine eigene Selbstwertschätzung gebunden. Und wehe, die ist im Keller! Doch dazu später mehr.
Unter einem Glaubenssatz verstehe ich eine unbewusste und/oder bewusste Lebensregel, die du tief in dir verankert hast und als absolute Wahrheit empfindest (z. B. „Das Leben ist hart“, „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ oder „Ich ziehe echt immer die Arschkarte“). Wie das Wort „Glauben“ deutlich macht, haben diese inneren Regeln keine Fakten oder gesichertes Wissen zur Grundlage, sondern ziehen ihre Kraft ausschließlich daraus, dass wir sie (meistens) nicht infrage stellen. Glaubenssätze werden erworben, sie gehören nicht zur Grundausstattung, mit der wir auf die Welt kommen. Weshalb Glaubenssätze wichtig sein können, warum es sich dennoch lohnt, manche wieder loszulassen, und wieso das bei einigen ganz einfach geht, verrate ich in Kapitel 3.
In mancher Hinsicht funktioniert ein Mensch oder zumindest das Hirn wie ein gut durchbluteter Computer. Glaubenssätze und Prägungen können zu bestimmten Verhaltensmustern führen, die komplett automatisiert ablaufen und auf den ersten Blick kaum beeinflussbar scheinen. Ich nenne diese Verhaltensmuster gerne Sabotageprogramme, da sie deine Ziele, Wünsche und Bedürfnisse torpedieren. Das Perfide ist, dass nicht einfach mit dem Verstand oder mit Logik an diese Muster heranzukommen ist. Sie zu erkennen ist das eine. Um sie zu verändern, bedarf es gewisser, geradezu praktischer Werkzeuge. Und Mut. Sabotageprogramme zu erkennen und ihre Sprengkraft zu entschärfen, ist nichts für Memmen.
Ego heißt ich. Punkt. Dass das Wort in den letzten Jahrzehnten zunehmend eine negative Konnotation bekommen hat, finde ich höchst bedauerlich, weil ein Mensch sich von einer seiner größten Kraftquellen abschneidet, wenn er gegen das Ego handelt. Ich muss benennen dürfen, wer ich bin. In diesem Buch ist dein Ego dein Ich. Nicht mehr und nicht weniger. Wertfrei.
Egoismus bedeutet dem Wortsinn nach „Eigeninteresse“. Ich betrachte auch das vollkommen wertfrei, denn Egoismus in meinem Sinn heißt nicht, eine rücksichtslose Egozentrik zu leben, sondern sich selbst und die eigenen Bedürfnisse im Fokus zu haben. Egoismus und Empathie sind die beiden Seiten ein und derselben Medaille. Es gibt das eine nicht ohne das andere. Um eine wirklich authentische, klare Haltung für dein bestes Leben zu entwickeln, brauchst du beide Seiten dieser Medaille.
Meine mit acht Jahren erdrutschartig verlorengegangene Selbstwertschätzung war, wie erwähnt, gut getarnt durch ein zur Schau getragenes Selbstbewusstsein. Auf den ersten Blick mag diese charismatische Variante der Kompensation die verlockendere sein, im Gegensatz zum vielleicht verzagten Auftreten eines Menschen, der seine Minderwertigkeitsgefühle nicht zu verbergen weiß und damit die einfachere Zielscheibe abgibt. In Wahrheit ist jedes Ego ohne gesunde Selbstwertschätzung ein Sklave ohne freie Wahl. Es hängt am Gängelband der Anerkennung von außen und lebt in permanenter Angst, diese zu verlieren.
Genau deshalb ist die Auseinandersetzung mit Selbstwert versus Fremdwert essenziell für dein Leben. Denn ob du deinen eigenen Wert erkennst und (ein)schätzt, entscheidet darüber, wie du im Leben stehst, was dir gelingt, ob du weiterkommst oder immer wieder in denselben Sackgassen landest.
Ich erinnere mich allzu gut, dass ich in den Jahren, in denen ich mit mir haderte, ein Gefangener der äußeren Umstände war. Mich gut, richtig und vor allem selbstwirksam im eigenen Leben zu fühlen, hatte ich an eine unerfüllbare Bedingung geknüpft: Wenn ich einen anderen Körper hätte, dann …!
Diese Verknüpfung mit einer Bedingung (in diesem Fall sogar einer unabänderlichen) ließ mich mit einem latenten Gefühl der Ohnmacht und Aussichtslosigkeit durch jeden Tag gehen. Unendlich viele Menschen kennen diese Gedankenschleife, täglich oder phasenweise:
Wenn ich anders aussähe, dann …
Wäre ich eine Frau/ein Mann, dann …
Wäre ich jünger, dann …
Wäre ich größer, dann …
Wäre ich nicht so schüchtern, dann …
Wäre ich nicht so introvertiert, dann …
Nach außen lächelnd, aktiv und lebenstüchtig, nach innen verstimmt, voller Zweifel, Wut und Scham – das war mein anstrengender, sehr kraftraubender Alltagszustand. Im Zentrum stand dabei eine höchst zerstörerische Frage: Warum gerade ich? Warum ist das mir passiert? Warum hat es mich getroffen? Warum bin ich so, wie ich bin?
Ein ewiges Kopfkarussell. Meine Gedanken kreisten damals ausschließlich um diesen Schmerz, obwohl mir nichts wehtat. Es schien keine wirkliche Strategie zu geben, um ihm zu entkommen – aber natürlich wollte ich ihm entkommen. Niemand hält solche niederdrückenden Gefühle der Ohnmacht über längere Zeit aus. Doch wo die Möglichkeit zur Auflösung fehlt, bleibt nur die Kompensation.
An diesem Punkt werden wir anfällig dafür, unseren Wert im Übermaß aus Fremdwertschätzung abzuleiten. Im Außen suchen wir Zuspruch, Bestätigung und positive Rückmeldung. Wir passen unser Verhalten an die Erwartungen anderer an, bemühen uns, alles „richtig“ zu machen, perfekt zu sein, nicht aufzufallen, nicht anders zu sein. Geschmeidig, angepasst und angewiesen auf Schulterklopfen, ständigen Applaus und Komplimente, die am Ende schneller verpuffen als ein Regentropfen in der Sahara.
Menschen ohne Selbstwertschätzung sind wie ein Fass ohne Boden: stets bedürftig, suchend, nicht selten süchtig.
Irgendwann stellte ich diese Frage endlich laut. Ich fragte meine Mutter: „Warum gerade ich?“ Ihre Antwort überraschte mich: „Janis, ich glaube, dass jedes Kind, bevor es geboren wird, für sich selbst entscheidet, was seine Aufgabe ist. Du hast dir offenbar eine Aufgabe gegeben, bei der du dachtest, es sei besser, keine Arme und Beine zu haben.“
Es liegt mir völlig fern, an dieser Stelle einen religiös-spirituellen Diskurs anzufachen oder gar esoterisches Terrain zu betreten. Denn vollkommen unabhängig davon, aus welcher persönlichen Weltsicht meine Mutter mir in dieser Weise antwortete, die darin enthaltene Botschaft ist für mich bis zum heutigen Tag extrem weltlich, real und greifbar. Sie lautet: Du entscheidest für dich!
Das war – Peng! – das Ende meiner Ohnmacht.
Die Frage nach Selbstwertschätzung ist eine fundamentale Frage für deine Selbstentwicklung und dein Selbstbild. Für mich war es der zentrale Wendepunkt in meinem Leben, als ich die schmerzzementierende Frage „Warum gerade ich?“ mit der neugierigen Frage „Wer bin gerade ich?“ tauschte. „Wer ist dieser Janis, was kann er, was will er, wie tickt er, wie lebt er sein Leben?“ – in meiner späteren Ausbildung zum Mentaltrainer nahm diese Thematik aus gutem Grund einen zentralen Platz ein. In meinen Vorträgen stand sie von Anfang an im Mittelpunkt.
Freiheit beginnt mit dem Mut, sich selbst erkennen zu wollen.
Menschen, die mich von früher kennen, sind bzw. waren überrascht, als ich anfing, offen über den Kampf in mir selbst zu sprechen. „Du? Nee!“ Diese Reaktion erntete ich oft, denn ich bin als Kind und Jugendlicher eben nicht durch Selbstzweifel aufgefallen. Zumindest nicht auf den ersten Blick.
Vielleicht gab es Menschen, die manche meiner Attitüden anders zuordnen konnten. Vielleicht gab es Blicke, die sich nicht von meinem selbstbewussten Auftreten beirren ließen. „Entlarvt“ hat mich jedenfalls damals niemand. Der sichtbare Janis war ein normal vergnügter Teenager, gut in der Schule, aktiv, mit Freundeskreis, Interessen und großer Klappe.
Selbstabwertung und Selbstablehnung kann viele Gesichter haben. Meins war offensiv und mit geradem Blick in die Augen meines Gegenübers. Ich war weder ängstlich noch kleinlaut. Dass ich Sprache als Werkzeug und sogar als Waffe nutzen konnte, wusste ich. Ich wusste auch, welches Bild ich nach außen abgeben möchte. Niemand sollte in mir sehen, was ich in mir sah seit jenem Moment vor dem Spiegel.
Ich betone das deshalb, weil ein Mangel an Selbstwertschätzung meistens gleichgesetzt wird mit einem wenig selbstbewussten oder sogar unsicheren Auftreten. Das ist Unsinn. Jedem von uns sind schon Menschen begegnet, die wir für selbstsicher bis maßlos arrogant hielten, obwohl die Teflonbeschichtung auf ihrem Selbst nur zu einem diente: eigene Ängste und fehlende Selbstwertschätzung zu kaschieren.
Die Bandbreite, in der Selbstabwertung und Selbstablehnung sichtbar werden, ist immens. Sie reicht von labilem Auftreten mit deutlichem Minderwertigkeitskomplex bis zu krankhaft ausgeprägtem Narzissmus. Die meisten Formen von fehlender Selbstwertschätzung werden nicht unbedingt im Extrem, sondern im Mittelfeld dieses weiten Feldes anzutreffen sein. Es gibt hier kein Schwarz-Weiß, die Übergänge sind fließend, die Facetten vielfältig.
Aber ganz egal, wie stark oder schwach die Anzeichen der Selbstabwertung ausgeprägt sind, sie sind bei uns allen im Kern gleich. Bei mir sah es wie folgt aus, und ich lade dich ein, das mit deinen eigenen Mustern zu vergleichen:
Suche bis zur Sucht nach Aufmerksamkeit. Bestätigung von außen war lange Zeit absolut notwendig für mich. Das half mir, nicht spüren zu müssen, wie wenig ich mich selbst mochte. Wenn wir eher narzisstisch kompensieren, werden Erfolg, Applaus und Statussymbole zum Dauerfokus, auf den wir unser Leben ausrichten. Die andere Variante buhlt um Mitleid und Zugehörigkeit, stellt ein Übermaß an Bedürftigkeit zur Schau, um sich gesehen zu fühlen.
Feedback nicht annehmen können. Mein Verhältnis zu Feedback war sehr unentspannt. Je nach Tagesform zog ich mir jeden Schuh an oder eben gar keinen. Ohne gesunde Selbstwertschätzung kann Kritik nicht konstruktiv verarbeitet werden. Wir werten sie als Angriff und schmettern sie ab. Oftmals cholerisch und/oder beleidigt. Aber auch Komplimente sind positives Feedback, welches ich reflexartig abwiegelte, herunterspielte und kleinredete. Komplimente und Wertschätzung von außen nicht annehmen zu können, offenbart den Mangel an Selbstwertschätzung.
Fehlende Souveränität und Gelassenheit in Stresssituationen. Was habe ich mich früher verrückt gemacht! Wie unglaublich klein war meine Komfortzone! Wie unglaublich groß die Angst, dass etwas nicht funktionieren könnte und ich wie ein Vollpfosten dastünde. Wir eiern alle irgendwo zwischen lautstarkem Ausrasten und stammelnd angetretener Flucht herum, wenn uns die Selbstwertschätzung fehlt. Wenn es ungemütlich oder ungewohnt wird, wird unser Handlungsspielraum plötzlich immer kleiner.
Schuldabweisung bzw. -zuweisung. Ach, schien das leicht, sich hinter der Arm- und Beinlosigkeit verstecken zu können. Es hatte mich doch wirklich schlimm getroffen! Wirklich schlimm! War es denn ein Wunder, dass ich es unter diesen Umständen viel schwerer hatte als andere? Das ist ein typisches Zeichen für mangelhafte Selbstwertschätzung: Was auch immer nicht funktioniert, schiefgeht oder nicht erreicht wird – schuld sind immer die anderen, die Umstände, das Leben, der liebe Gott. Weder mit aufgeblähtem noch mit fehlendem Selbstbewusstsein sind wir in der Lage, Verantwortung zu übernehmen und Haltung zu zeigen.