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Erik Fenskov ist Chefingenieur in einer dänischen Lebensmittelfabrik, verheiratet und hat drei Kinder. Nach außen hin scheint alles in einer geregelten Ordnung, wären da nicht die Kinder, die ihm seit einiger Zeit schlaflose Nächte bereiten. Sein Sohn, in den er große Hoffnung gesetzt hatte, versagt im Studium und will neuerdings in einer Wohngemeinschaft mit Freunden wohnen. Auch die Tochter will sich nicht so recht nach den Wünschen des Vaters formen lassen. Sie hat sich in einen griechischen Arbeiter verliebt und will diesen nun heiraten, an ihre berufliche Zukunft denkt sie gerade wenig.Zu allem Überfluss will Eriks Fenskovs Arbeitgeber ihn nun auch noch ins Ausland versetzen. Der liberale Erik Fenskov aber kann diese neue Stelle nicht mit seinem Gewissen vereinbaren und ist von Zweifel geplagt. Die Situation eskaliert endgültig, als seine Frau ihm offenbart, dass sie sich von ihm trennen will...ALLE MEINE KINDER ist ein Roman über Generationskonflikte und das langsame Zerbröckeln der gesellschaftlichen und familiären Ordnungen in einem Land, das von Wohlstand bestimmt ist und dadurch seine eigentlichen Ziele aus den Augen verloren hat.Ein allzeit aktuelles Buch über die großen Themen: Liebe, Familie und Gesellschaft. Sehr Lesenswert! -
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Seitenzahl: 479
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Ditte Cederstrand
Roman
Saga
Alle meine Kinder
Aus dem Danish von Gisela Perlet
Originaltitel: Bagerbørn © 1967 Ditte Cederstrand
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711504864
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
„Hör mal, Erik, wenn jemand tolerant ist, dann sind wir das wohl – aber da mach ich nicht mehr mit!“
„Was hat sie denn gesagt?“
„Leck doch’n Schaf am Arsch!“
„Was?!“ Erik ließ das Buttermesser fallen. „Das hat sie gesagt?“ Gunvor nickte.
Er räusperte sich. „Bißchen stark, muß man schon sagen.“ „Ja! Und ausnahmsweise bin ich also mal in die Luft gegangen und hab zu Rie gesagt, daß ich so was nicht hören möchte, und wenn sich das wiederholte, würde ich Pusser eben einfach das Haus verbieten. Da ist sie gleich aufgebraust: ich solle ihren Freundinnen nicht zu nahe treten, das lasse sie sich nicht gefallen. Und ich hab dann gesagt, wenn jemand ein Recht habe, sich unangenehm berührt zu fühlen, dann sei ich das doch wohl. Sie haben mich angeguckt, als ob ich leicht übergeschnappt wäre, und haben sich einen Blick zugeworfen, ich sage dir, einen Blick! ... dann stöhnten sie und zuckten die Achseln, wackelten mit dem Hintern und rauschten lässig und sexy zur Tür hinaus, zuerst Pusser und dann Rie. – Soll man sich das gefallen lassen?“
„N-nein – aber sie sind doch jung.“
„Entschuldigt das alles?“
„Man sollte so ein – so einen Kraftausdruck doch nicht ernst nehmen.“
„Da kann ich dir wahrhaftig nicht zustimmen, und ich nehme das ernst. – Was soll man denn von den jungen Mädchen denken?“
„Überhaupt nichts. Eine Formsache. Pusser ist schon in Ordnung.“
„Ist sie vielleicht gewesen. Aber ein nettes Mädchen gebraucht solche Ausdrücke nicht.“
„Was heißt nett. Diese Sprache ist nun mal bei ihr zu Hause üblich. In unsern Ohren klingt sie freilich ein bißchen derb. Ist aber nur eine andere Terminologie.“
„Vielleicht geradezu nachahmenswert?“
„Um Himmels willen! – Aber so was gibt sich mit der Zeit. Du kannst beruhigt sein, Rie weiß sehr genau, was sie zu sagen hat, wenn sie Eindruck machen will.“
„Siehst du denn nicht, daß sie dadurch verrohen?“
„Ach laß doch.“ Er wischte sich mit der Serviette den Mund ab, hatte nicht recht Lust. Es war so ein schöner Morgen, und die Krokusse leuchteten in der Sonne. Diese Farbenpracht steckte an; er war einfach gut gelaunt, wollte das auskosten dürfen, wollte sich ein bißchen ausruhen in dieser Stimmung von heiterem Wohlwollen, die sich einstellte, wenn er sich mit dem Frühstück nicht übereilte und noch seinen kleinen Umweg am Wald entlang machen konnte. Aber nur gerade so eben. Er legte die Serviette auf den Tisch und stand auf.
„Willst du schon gehen?“
„Wieso schon? Ich hasse Überstürzungen, das weißt du.“ „Darf ich fragen, ob du es auch ganz natürlich fändest, wenn ich einen solchen Ausdruck gebrauchte?“ Sie wollte ihn keineswegs so leicht davonkommen lassen.
Er lachte laut auf. „Du! Das könntest du überhaupt nicht! Nee, Gunvorchen, du und ich, wir sind nette Menschen.“
Sie fauchte höhnisch: „Hier in der Stadt hat man wohl eine andere Meinung von uns.“
„Das ist eine Frage der Kriterien. Den Vorwurf, daß wir konventionell sind, kann man uns selbstverständlich nicht machen, aber trotzdem können wir nicht umhin – wir sind nett.“
„Ist das vielleicht ein Fehler?“
„Ich weiß nicht recht.“
„Tu nicht so dumm!“
„Ich meine das wirklich. Man schleppt so viel Ballast mit sich herum, der einen hemmt und von dem die nächste Generation jedenfalls nicht belastet zu sein scheint.“
„Ist das wirklich nur negativ? Eine gewisse Portion von dem, was du Nettigkeit nennst, öffnet auf alle Fälle einige der Türen des Lebens. Aber die Kinder und ihre Kameraden glauben, daß sie den Kopf haben, um ihn sich einzurennen.“
Er lachte wieder. „Ja, sie kriegen wohl mehr – äh – physische Beulen, dafür dürften ihnen einige der psychischen erspart bleiben.“
„Glaubst du das wirklich?“
„Bestimmt! Sie wissen, was sie wollen. Und tun das! Sieh dir nur Marianne an – heiratet, ohne daß man etwas davon weiß.“
„Und obwohl wir abgeraten haben ...“
„Ließ keine Kritik gelten. Ja danke.“ Er trat von einem Bein aufs andere. Er mußte nun wirklich los, aber geradezu unhöflich wollte man ja auch nicht sein. Schon gar nicht bei diesem Thema. „Und die beiden anderen“, sagte er und sah demonstrativ auf die Uhr, „zweifelst du vielleicht daran, daß sie genauso selbständig sind?“
„Selbständig vielleicht schon“, sagte sie langsam, sie wußte genau, daß sie ihn aufhielt, und nahm gleichsam einen Anlauf: „Aber ich finde nicht, daß sie – daß sie nett und freundlich sind.“
„Was sagst du?“ Er kam unwillkürlich einen Schritt zurück. „Nicht nett und freundlich?“
„Nein. Stell dir vor, manchmal finde ich, sie benehmen sich, als ob sie so gräßliche Eltern haben, wie wir sie hatten.“
„Ooch – gräßlich?“ Er fand das ein wenig zu stark, zumal nach so vielen Jahren.
„Na ja, zumindest verständnislos, streng und voller Vorurteile, so waren sie doch, das weißt du, meine Eltern und deine Eltern. Und manchmal hab ich Angst, du, doch ja, daß sie am Ende triumphieren werden: wir haben recht bekommen.“
„So ein Unsinn! Sie sind doch tot, und –“
„Deshalb können sie doch recht bekommen.“
„Womit recht? Ehrlich gesagt, ich versteh dich nicht.“ Er wurde immer ungeduldiger.
„Damit, daß man die Dinge nicht ernst genug genommen hat.“
„Aber Herrgott, Gunvor!“ Er zauste sie ein bißchen in den Haaren. „So was, bloß weil sie ab und zu mal was raushauen. Wir haben prächtige Kinder! Das weißt du so gut wie ich, und eigentlich verrät man sie ein bißchen, wenn man an ihnen zweifelt.“
Sie lächelte ihn an. „Vielleicht.“ – „Nicht ‚vielleicht‘!“ Er küßte sie auf die Wange, mußte sich jetzt beeilen.
Sie stand auf und stellte sich ans Fenster, während er zur Garage ging. Kurz darauf das gewohnte Brummen, der Wagen schwenkte halb in Fahrtrichtung, ein Winken mit der linken Hand, und er war weg. – Er mochte nicht mal mehr richtig zuhören, er wird langsam träge, dachte sie und hob die Zeitung auf.
Er spürte, daß ihre Worte ihm dennoch die Morgenstimmung verdorben hatten, und versuchte sie wieder hervorzuzaubern. Eine gute Stimmung zu bewahren – eigentlich beherrschte er diese Kunst fast bis zur Vollendung, und das hielt er für wichtig, wenn man mit vielen sprechen und arbeiten und in einer immer größere Anforderungen stellenden Position sein Bestes geben mußte. Ein paar Augenblicke, in denen man zu sich selbst finden konnte. Nie fiel ihm das leichter als in dieser fruchtbaren Landschaft.
Heute mußte er sich jedoch mit der Fahrt allein begnügen, wie ärgerlich, denn gerade jetzt im Vorfrühling war es hübsch, am Waldrand anzuhalten und ein Stück zwischen den Bäumen zu gehen. Aber er hatte doch noch genug Zeit, um langsam den großen, breiten Weg entlangzufahren, der durch ein Stück Tiefebene führte; auf der einen Seite der Wald und auf der anderen Seite, weit hinter den Feldern, der aufsteigende Höhenrücken mit vereinzelten Höfen und Häusern. Die Büsche im Gehölz waren rot vor Saft, noch leuchtender als vorgestern, als sie ihn darauf aufmerksam gemacht hatte.
Vorgestern, dachte er, da saß sie neben mir, und sie hatte ihre Hand auf meinem Knie, ließ sie dort liegen, als wir vom Weg abbogen, quer durch das erblühende Land am Höhenrücken fuhren, bergab und bergauf – und die Tannen schlossen sich hinter uns; die Räder knirschten auf dem Kiesweg, und sie saß da und sang, ganz leise, ich hörte es kaum, weil der Motor so brummte.
Er dachte an ihre kurzen Begegnungen, irgendwo, in einer Stadt, in einem beliebigen Wirtshaus, am liebsten aber hier oben auf dem Hügel. Wie jedesmal, wenn er an Elsa dachte, kam Ruhe über ihn. Eine heitere Freude belebte ihn, gab ihm das Gefühl eines fast kosmischen Gleichgewichts. Gunvors Worte fielen ihm ein, was ein nettes Mädchen dürfe – wieviel weniger nett würde man ihn finden, wenn jemand von dem zwischen ihm und Elsa wüßte. Und er dachte daran, daß man eine so innige Freundschaft wie die ihre mit dem Etikett Untreue versehen müßte. Dennoch war es eine Tatsache, daß auch sie dieser Forderung nach Nettigkeit unterlagen. Wieder fühlte er, daß sie vielleicht eine Schwäche war, diese Nettigkeit, die zu Kompromissen zwang, zu Rücksichtnahme, Höflichkeit. Konnte man ohne sie leben, sollte man es tun? Wäre man dann ehrlicher und vollkommener?
Aber im Grunde genommen wünschte er nicht, daß sich etwas ändern sollte. Er hatte versucht, sich Elsa in seinem Heim vorzustellen, an Gunvors Stelle. Und er war nicht sicher, ob das richtig wäre – nicht jetzt, vielleicht wenn sie älter würden und die Entbehrung sie zu Veränderungen zwang. Jetzt war Gunvor ein Teil seines Lebens, Elsa ein anderer. Beide gehörten dazu, als Teile des eigentlichen Lebens, auf dieselbe Weise wie die Kinder, und er fühlte, daß sein Leben dadurch reicher wurde. Alles das trug dazu bei, daß es zu einem richtigen Leben wurde, und gab ihm das Wissen um das Wesentliche.
In Artikeln über das Wohlbefinden am Arbeitsplatz, im Zusammensein mit anderen, wurde oft geschrieben, daß die äußere, aber auch die innere Nettigkeit ein Zeichen von Schwäche sei – ob das nun stimmte oder nicht, man mußte der Tatsache ins Auge sehen, daß man nett und durchschnittlich war. Viele Faktoren ließen einen so werden – Zuhause, Erziehung, Schule, Kameraden – vor allem die Eltern, die man nun einmal bekommen hatte. Das schloß ja nicht aus, daß man ein gewisses Bedürfnis nach Aufruhr gefühlt hatte, sich mit allem möglichen herumschlagen mußte, aber immer innerhalb der Grenzen, die, wie man wußte, von den andern und besonders von einem selbst, wenn es darauf ankam, respektiert werden konnten. An sich war das Wort „nett“ natürlich indiskutabel, es entstammte ebenso wie Pussers unglückseliger Ausbruch einer Sprachgewohnheit. Beispielsweise würde ihn Pussers Mutter, Marta, eine robuste und schlagfertige Frau, die in der Konservenhalle arbeitete, absolut als netten, ja sogar feinen Mann ansehen. Aber wenn ihr jemand erzählte, daß er, wie man sagt, seiner Frau untreu sei, ja, dann wäre er in ihren Augen ein Schuft. So verwickelt war das.
Er steigerte das Tempo etwas, wollte pünktlich sein. – Nett, aber unter allen Umständen guten Willens. Es konnte auf und ab gehen im Leben, auch in seinem, das fühlte er, aber was auch daraus wurde, ob sich etwas veränderte oder nicht, er gehörte zu den Männern guten Willens. Tja – aber recht besehen, was hatten sie denn erreicht, diese Männer?
Er spürte, wie ein Gedanke, der in letzter Zeit immer dann auftauchte, wenn er sich am wohlsten fühlte, sich nun wieder in ihm festsetzte und ihn daran zweifeln lassen wollte, daß das tatsächlich so positiv sei, dieses – man hat den guten Willen, und das ist genug. – Er schob den Zweifel von sich. Wieviel schlimmer für den einzelnen und für die Welt sähe es aus, wenn diese Männer gefehlt hätten, tröstete er sich.
Weit nach Nordost zog die Pappelallee ihre Linie rechtwinklig zur Landstraße. Je näher er kam, desto funkelnder fiel das Licht auf die Knospen der Zweige. Er philosophierte ein bißchen – wenn nun der Gründer der Fabrik, der vielleicht vor Augen gehabt hatte, wie sie zur Blüte kommen und Mittelpunkt einer ganzen kleinen Gesellschaft werden könnte, Eichen gepflanzt hätte, dann hätten sie die Kleinigkeit von hundert Jahren auf einen schattigen Weg warten müssen.
Bei der morgendlichen Konferenz erwartete ihn eine Überraschung; oder richtiger, sie kam etwas früher. Bevor man sich im Konferenzraum versammelte, bat ihn Ryholm, der Verwaltungsdirektor der Fabrik, zu sich.
Ryholm hatte die vertrauliche Stimme, und es überraschte Erik eigentlich nicht, daß nun die Entscheidung gefallen war – Chefingenieur Hansen sollte abgebaut werden. In den letzten Jahren hatte die Trinkerei dieses Mannes derartig zugenommen, daß man die von ihm angestellten Dummheiten schließlich nicht mehr durchgehen lassen konnte. Aber daß man ihn, Erik, zum Nachfolger ausersehen hatte, das hatte er nicht erwartet. Seine Freude über die Ernennung war aber nicht ungetrübt, denn ein paar seiner Kollegen konnten sich mit einigem Recht übergangen fühlen. Er deutete die prekäre Situation an, in die er kommen würde, aber Ryholm machte eine großartige Geste und lächelte, jedoch wie üblich, ohne den Angesprochenen anzusehen, und fragte, ob er vielleicht wisse, welche Pläne die Direktion mit den andern guten Leuten habe? Erik mußte zugeben, daß er das nicht wisse, und wenn seine Beförderung nur ein Glied in der Personalpolitik sei, freue er sich natürlich und sei sich dieser zweifellos großen Ehre bewußt. Nach dieser kleinen Vororientierung ging er für einige Minuten in sein Büro zurück.
Während der Konferenz jedoch, die wie üblich eine knappe Stunde dauerte und an der die Ingenieure, der stellvertretende Direktor, der Hauptbuchhalter, der Verkaufschef und der Personalchef teilnahmen, schoß Ryholm die Neuigkeit ab. – Sein Platz war bisher am unteren Tischende zwischen Ingenieur Cortsen und Ingenieur Christensen gewesen, und jetzt, da man ihn aufforderte, sich auf den freien Platz neben Chefingenieur Carlsen zu setzen, war es ihm, als verließe er mehr als seinen bequemen Stuhl, als wechselte er über in eine Nachbarschaft, in der er sich eigentlich nicht zuhause fühlte. Dazu trug vielleicht auch das Bewußtsein bei, daß Hansens Schicksal hiermit endgültig besiegelt wurde, jetzt wußte jeder, daß der Mann fallengelassen, untergegangen war. Ein tüchtiger Mann, gut – aber auch schwach. So waren die Bedingungen, nur unangenehm, daß er, Erik, nun gleichsam den Schlußstrich zog.
Nach der Konferenz scharten sie sich um ihn, beglückwünschten ihn, drückten ihm die Hand und wechselten witzige Bemerkungen, dann verschwand Ryholm in sein Zimmer, und die andern folgten seinem Beispiel – Gormsen jedoch erst, nachdem er Erik gefragt hatte, welche Änderungen er in Hansens früherem Büro wünsche. Erik ging langsam hinterdrein, blieb im Kontrollgang über den Hallen hier und da stehen und sah durch die Glaswände auf die Maschinen hinunter.
Chefingenieur also, Verantwortlicher für das wichtigste Drittel der Produktion, für etwa achthundert der fleißigen Ameisen da unten. Eigentlich war ja nichts anders als vor einer knappen Stunde, aber er hatte irgendwie das Gefühl, als trüge auch er jetzt so eine Art unsichtbaren Asbestanzug, mit dem sich, wie man glauben konnte, die oberste Leitung isolierte. Er hatte auch schon vorher Verantwortung gehabt, man hatte ihn mit gebührendem Respekt gegrüßt, aber er war nie einer derjenigen gewesen, vor denen sie unwillkürlich die Stimmen dämpften. – Na ja, man sollte so was natürlich nicht zu ernst nehmen, das sind Umstände, an die man sich gewöhnen muß, Tatsachen, die mit den Jahren und mit wachsender Verantwortung unvermeidlich kommen.
Von den Laboratorien ging er die wenigen Stufen hinunter zum nächsten Quergang, er dachte daran, wie oft er hier mit einer Gruppe ausländischer Gäste gestanden hatte, wie er ihnen die verschiedenen Maschinen gezeigt, von Typen, Kapazität, Produktionsvermögen gesprochen, Quoten, Zahlen und Maße genannt hatte. Auch in Zukunft konnte es passieren, daß er mit einer Gruppe dastehen würde, aber dann würden es andere, bedeutendere Leute sein, die eigentlichen Spitzen. Er ging weiter, blieb einen Augenblick vor der Konservenhalle, seinem Lieblingskind und bisher einzigen Arbeitsbereich, stehen und betrachtete sie. Obwohl er mit Arbeitsgang und Zusammenspiel bis ins kleinste Detail vertraut war, hatte er doch bis zum heutigen Tag eine stille Verwunderung darüber bewahrt, daß dies wirklich funktionierte, dieses Riesenunternehmen, daß sie sich nicht darin verliefen, die Ameisen da unten. Irgendwie großartig, phantastisch, daß man es faktisch in seiner Gewalt hatte, daß Pläne und Ideen sich verwirklichten, stichhielten, daß nichts in die Brüche ging. Dieser gigantische Wirrwarr, alle diese Glieder, die für die Gesamtheit notwendig waren, alle diese Menschen darin, die, von hier oben gesehen, in wahnwitziger Aktivität durcheinander stürzten. Alle, das wußte er, dachten an den Akkord. Halten wir den Akkord oder nicht – das war Ansporn und Triebfeder.
Unten am Ende der Treppe kam auf den glatten Fliesen mit üblichem Tempo Pusser angerast, rief „Tag!“ und rannte auf klappernden Holzschuhen in den Waschraum. Ein Anflug von Zärtlichkeit überkam ihn. Herrgott, dieses Mädchen. Tja, Gunvor hatte vermutlich recht, es gab kein frecheres junges Mädchen als eben die Freundin ihrer Tochter – draufgängerisch, naseweis, schlagfertig, ab und zu auch, allerdings gerade von ihnen selten überhört, geradezu grob. Augen, die vor Lebensmut funkelten, alles versuchen, überall dabeisein wollten und ständig auf Jagd nach etwas Neuem, Spannendem waren. Pusser gehörte zur Abteilung für Kindernahrung, eine der besten und saubersten Abteilungen der Fabrik. Wenn er Jonsen, dem Abteilungsleiter dort, etwas zu sagen hatte, ging er oft durch den Abfüllraum, wo sie saß, ging vom Fahrstuhl in den Vorraum und fingerte einen Augenblick an dem Mundschutz, den alle, die den Produktionsraum betraten, anlegen mußten. Man konnte sie bis hierher lachen und albern hören. Es war merkwürdig – obwohl die Mädchen nicht von dem phlegmatischen Jonsen ausgesucht wurden, arbeiteten hier lauter Blondinen, die meisten unter achtzehn Jahren. Ein richtiges Kinderzimmer. Mit ihrer quicklebendigen Frechheit waren sie völlig außer Rand und Band, voller Späße und Einfälle, manchmal auch Bosheiten; doch die Frechste, Vorlauteste, Naseweiseste – das war Pusser; und man mußte Gunvor eigentlich recht geben, wenn sie ab und an eine Bemerkung fallen ließ, daß Pusser wirklich eine Göre sei. Das war sie wohl, eine moderne Göre. Und dennoch so ganz unwiderstehlich, diese blitzenden graublauen Augen über dem weißen Mundschutz, hübsch auf eine Art, die, wie er wußte, zur Vergänglichkeit verurteilt war; nach ein oder zwei Jahren würde sie nur noch ein energisches, berechnendes, abgebrühtes Fabrikmädchen sein, wie so viele andere. Es fiel ihm schwer, auf sie oder die andern böse zu sein; aber eigentlich war ihr Geschrei völlig unzulässig, vielleicht sollte man sich darum kümmern. Er hatte auch oft bemerkt, daß ständig ein oder mehrere Burschen, die gerade Pause hatten, auftauchten, um mit den Mädchen zu tratschen, und immer war es Pusser, mit der sie sich in den Haaren lagen. Sie hatte einen regelrechten kleinen Hof um sich, wenn sie mit ihrer großen Schürze an der Maschine saß. Der Abfüllmechanismus lärmte, drehte und drehte sich – mechanische Bewegungen, sie brauchte überhaupt nicht auf ihre Arbeit zu sehen, die ging ruhig ihren Gang. Und währenddessen lachten sie, erzählten, riefen. Das ging wirklich zu weit, aber wenn Jonsen das mit größter Ruhe ertragen konnte und vielleicht sogar wußte, warum er sich so verhielt – sicher brauchten sie diese Entladungen, von dem Pulver und Quecksilber in ihnen mußte ein bißchen abgelassen werden, wenn sie funktionieren sollten –, ja, dann, du lieber Gott, die Arbeit ging doch, wie sie sollte.
Er persönlich wollte es ihnen auch nicht verdenken, daß sie sich ein bißchen Luft machten. Eine derartig geisttötende Arbeit, vielleicht nicht besonders unangenehm, weder feucht noch schmutzig, aber entnervend! Eine faltete Kartons, eine zweite kniffte sie zusammen, eine dritte stellte sie auf eine Maschine, eine vierte strich Leim drauf, eine fünfte nahm sie als fertige Schachteln herunter und setzte sie auf eine neue Maschine, dann glitten sie an einem automatischen Abfüllapparat vorüber, der mit dröhnenden Kolben aus einem Riesentrichter das richtige Quantum Mehl hineindrückte, und dann glitten sie auf dem Fließband weiter zu Pusser. Sie setzte sie auf ein neues Band, auf dem sie weiterliefen, bis sie automatisch geschlossen, mit der Hand gefaltet und gepreßt wurden, die Leimwalzen surrten, die Pakete drehten sich zum nächsten Mädchen, das sie abnahm und überwachte, wenn sie wie die Zinnsoldaten im Gänsemarsch durch ein Loch in der Wand hinter Pusser verschwanden. Und das wiederholte sich ständig, Pusser kontrollierte auch die fertigen Pakete. Manchmal passierte etwas auf der anderen Seite, und dann marschierten die Pakete in langen Reihen auf. Erik erinnerte sich noch an den Tag, als sie die neue, sinnreiche Maschine vorführten, er selbst hatte sie mit konstruiert, und sie war ihm und den anderen Sachverständigen in ihrer Wirkungsweise effektiv und einfach erschienen. Und doch mußte man die Mädchen bewundern, die sie so elegant bedienen konnten. Das sah immer noch sehr einfach aus, erforderte jedoch in Wirklichkeit ständige Konzentration, nur einen Augenblick Unaufmerksamkeit, dann lief ein Paket schief, der Karton wurde geknickt, kam verkehrt in die Presse, der Leim lief auf die Walzen und sonstwohin, und das Ganze ging zum Teufel. Getöse und Spektakel setzten ein, Pakete wurden unbrauchbar, Salzsäure mußte her zum Reinigen. Ja, er hatte das ein paarmal gesehen. – Aber ganz gleich, wie beschäftigt sie mit den Jungen war – mit Erzählen, Rufen, Äugeln –, nichts ging bei Pusser schief, das Mädchen wußte, was es tat.
Aber nun lief sie also hier herum, anstatt dort zu sein, wo sie zu dieser Zeit sein müßte; und wenn es auch wohl nicht seine Aufgabe war, sollte er ihr nicht doch eins auf die Nase geben? Nicht nur wegen der Bummelei, sondern vor allem wegen der unverschämten Art, wie sie und Rie – die eine stand der anderen wahrhaftig nicht nach – sich ihm und besonders Gunvor gegenüber benahmen. – Heute nicht. Ein andermal. Aber vielleicht – vielleicht sollte man Gunvor dennoch in ihren Bemühungen unterstützen, die Freundschaft zwischen den beiden ein bißchen abzukühlen. Ob Rie das nun mochte oder nicht, es gab Dinge, von denen sich – er ließ das Wort ein wenig auf der Zunge zergehen – die Tochter eines Chefingenieurs fernhalten sollte, Gesellschaft, von der sie sich etwas zurückziehen müßte.
Wie immer, wenn er direkt aus den Speisedünsten und dem Lärm der Halle kam, schloß sich sein Büro sicher wie eine Pappschachtel um ihn. Er blieb einen Augenblick stehen und sah sich um. Acht Jahre. Und so was wie eine Höhle. Warum diese unterschwellige Wehmut, wo es sich doch zum Besseren veränderte? Eigentlich merkwürdig. Vielleicht, weil er daran dachte, was er hier alles nicht erreicht hatte? – Na ja, mit der Zeit gewinnt man die Dinge eben lieb, trinkt Brüderschaft mit ihnen, sie verwachsen mit einem. Er ging umher und holte Nachschlagbücher, Statistiken, Listen und andere Dinge hervor, die er mit in das neue Luxusbüro nehmen wollte, all die geschäftsmäßigen Selbstverständlichkeiten, aber auch den gelben Krug mit den Bleistiften, den er neben dem Telefon stehen hatte, die Federschale, die ein bißchen altmodisch war, die ihn jedoch seit dem Studium begleitet hatte, und den Stein, den kugelrunden Stein, den Elsa – nun war es schon viele Jahre her – gefunden und ihm geschenkt hatte und den er als Briefbeschwerer benutzte. Elsa und Gunvor – er mußte telefonieren.
„Ich möchte irgendwas unternehmen“, sagte er von der Balkontür her.
„Großer Gott!“ Gunvor streckte sich im Bett aus. „Das soll doch wohl nicht heißen, daß du mit Energie geladen bist?“ „Ach was! Ich hab nur Lust zu irgendwas – irgendwas anderem. Was meinst du, wir fahren an der Küste entlang, frühstücken irgendwo?“ Er sah sie gutgelaunt an. „Das klingt ja wirklich ganz nett, aber – nein, das geht nicht! Sonntag! Du weißt doch, daß das sonntags nicht geht.“ „Sie werden schon nicht gleich sterben, wenn wir mal wegfahren.“
„Trotzdem – das können wir nicht.“
„Es ist noch früh, wir könnten das gut.“
Sie setzte sich auf, resolut, schwang die Beine über die Bettkante, erhob sich, fuhr sich durch die Haare und bohrte die Zehen in den Rya-Teppich, rekelte sich wieder.
„Das können wir nicht, wenn sie alle zu Hause sind. – Nach dem Frühstück vielleicht.“
Er wurde ein bißchen verdrossen – nach dem Frühstück, das wäre nicht dasselbe, und jetzt sollte sie das auch mal zu wissen bekommen. „Ehrlich gesagt, diese sonntäglichen Zusammenkünfte gehn mir langsam auf die Nerven. Jawohl!“
Sie sah ihn verständnislos, fast etwas zurechtweisend an. „Wir sind doch nur unter uns.“
„Vielleicht, aber all der Lärm und ihre Banalitäten, ja, und dann Harry, ich kann ihn nun mal nicht ausstehn.“
„Hör doch auf! Wir müssen das doch.“
„Was heißt müssen.“
„Doch, wir müssen!“
„Das sehe ich nicht ein. Ehrlich gesagt, ich finde es allmählich an der Zeit, daß wir das ein bißchen ändern.“ „Ändern?“ Sie sah verblüfft von der Schublade auf, aus der sie Unterwäsche hervorsuchte. „Auf was für Ideen du kommst! Wo wir es uns so nett machen. Ja, ich liebe nun mal unser gemeinsames Frühstück, überhaupt den Sonntagvormittag, wenn ihr zu Hause seid und alle durcheinander lauft und singt und trällert und spielt.“
„Krach macht, meinst du.“
„Und all das gute Essen, du – und das gemeinsam genießen, die ganze Bande. Herrlich!“
„Ich sage ja nicht, daß das nicht lustig sein kann. Aber jeden Sonntag dasselbe! – Hör mal“, kam er wieder, versuchte es noch einmal, „laß uns das machen – komm.“
„Ich will aber nicht!“ erklärte sie und schob die Schublade zu. „Dieses eine Mal in der Woche sollte man wohl ein bißchen für sie dasein können.“
Er schnitt eine Grimasse. „Uff!“
„Wir fahren anschließend“, sagte sie, suchte die restlichen Sachen zusammen und ging zur Badezimmertür. Die war abgeschlossen. „Verflixt noch mal! Nie kann man rein!“ „Da kannst du mal sehn!“
Sie setzte sich auf die Bettkante, wippte mit dem Pantoffel, blätterte wieder ein bißchen in der Morgenzeitung. Er ging zurück zur offenen Balkontür, sah hinaus, die Szillen auf dem Staudenbeet waren aufgesprungen. Frühling! – Er würde nun also irgendwas unternehmen. Konnte es nicht vertragen, daß aus selbstverständlichen Unternehmungen Zeremonien wurden. Wollte nun mal kein Gewohnheitstier sein! Ziemlich zahm schlug er vor: „Wir könnten zu Karl und Elsa fahren.“
„Besser, sie kommen her.“
„Oder wir könnten zusammen wegfahren, wir vier“, fuhr er fort. Sie erhob sich, sagte ärgerlich: „Du kommst nicht davon ab! Immer mußt du deinen Willen haben!“
„Na, na, wirklich? Ich finde eigentlich, daß ich mich nach euch zu richten pflege. Und wenn ich nun ausnahmsweise mal –“
„Aber ich hab doch gesagt, ich will nicht! – Ich liebe das Sonntagsfrühstück, wir tun das alle!“ Sie rüttelte wieder an der Tür. „Nun mach aber, daß du fertig wirst, Kurt!“ „Wo ich grade eben reingekommen bin“, tönte von innen Ries verdrossene Stimme.
„Sie!“ Gunvor sank wieder ins Bett. „Dann dauert es noch eine Ewigkeit! – Gib mir mal ’ne Zigarette.“
Er kam zu ihr und gab ihr Feuer, setzte sich einen Augenblick und legte den Arm um ihre Schultern. „Sei doch lieb. Ich muß dich heute mal ein bißchen für mich haben. Du und ich, ja?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich hab auch gar keine Lust.“
„Na ja, dann ...“ Er richtete sich auf, sah auf die Uhr, stand auf und ging zur Tür. „Dann rufst du an?“ – „Anrufen?“ fragte sie. – „Ja, Karl und Elsa.“ – „Das kannst du genausogut selbst machen.“ – „Wo du doch sowieso dasitzt und wartest. Ich fahre jedenfalls weg.“ – „Bring mal gleich Schlagsahne mit.“ – „Darum kann sich wohl Rie kümmern. Ich hab wirklich keine Lust, in einem stinkigen Bäckerladen Wurzeln zu schlagen.“ – „Entschuldigung!“ – „Ja, ich finde also –“
„Du liebe Güte. Im übrigen ist es ein starkes Stück, daß wir andern dafür büßen sollen, bloß weil du Harry nicht vertragen kannst. Denn du willst doch wohl nicht abstreiten, daß er der Grund dafür ist, daß du dir nichts mehr aus unsern herrlichen Sonntagen machst.“
„Quatsch. Wenn mir jemand gleichgültig ist, absolut gleichgültig, dann ist es Harry.“
„Guck mal an, wie du dich getroffen fühlst.“
„Bist du vielleicht von ihm begeistert? Seine idiotischen Witzeleien, seine –“
„Er ist der Mann unserer Tochter.“
„So was wird einem angehängt, Gott sei’s geklagt!“ Gunvor ergriff wieder die Türklinke. „Rie, jetzt will ich aber rein!“
Erik ging nach unten, pfiff ein bißchen zu laut.
Rie fuhr mit dem Fahrrad zu Pusser, um sie abzuholen. Die lag noch in den Federn und faulenzte, rekelte sich und konnte sich nicht recht überwinden aufzustehen.
„Beeil dich mal“, sagte Rie. „Mutti war sauer. Wir dürfen nicht allzuspät kommen. Wir sollen mit helfen.“
„Sie kann ja die andern anstellen.“
„Die waren noch nicht da.“
„Na, aber Marianne kommt doch.“
„Marianne? Du spinnst wohl! Die verläßt sich doch darauf, daß alles fertig ist, wenn Ihre Gnaden geruhen, sich zu zeigen. – Wenn man von der Ehe so wird, na dann prost ...“
„Ja, igittigitt – so werden wie die!“ Pusser lief es kalt den Rücken runter, und sie fügte hinzu: „Sonst geht’s ihr ja verdammt gut, so einer wie der!“ Sie schlenderten die Hauptstraße entlang. Rie schob das Fahrrad. Die Straße war voller Menschen. Einige lungerten am Kiosk herum, andere gingen zum Bäcker. Familien waren auf dem Wege zum Sonntagsessen. Vor der großen Eisbude sagte Pusser: „Läßt du was springen?“ – „Was willst du haben?“ fragte Rie und schob das Fahrrad über die Bordsteinkante. Scharen von jungen Leuten standen herum. Einige riefen „Hallo“ und „Hej“. Links von der Bude die Halbstarken der Stadt und ein paar Burschen aus der Fabrik in legeren Pullovern und Niethosen. Rechts die Ausländer in schwarzen Sonntagsanzügen und strahlend weißen Hemden.
Pusser stieß Rie an und konnte sich kaum halten vor Lachen: „Gott, haben die sich in Schale geschmissen, wie die Pfingstochsen!“ Sie wollten sich totlachen. Pusser grüßte zu einigen hinüber und antwortete auf die Zurufe der Jungen. Einer von ihnen kam mit einer deftigen Bemerkung, aber Pusser zahlte mit gleicher Münze zurück. Das Gelächter schwoll an. Der Bursche, der es einstecken mußte, versuchte die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, indem er einen Ausländer nachahmte, einen verschlafenen Spanier mit einem gewaltigen Bärtchen über der Oberlippe, der Eis in sich hineinschlang. Er zog eine Show ab, wand sich und verrenkte die Hüften, hatte schließlich das Gelächter ganz auf seiner Seite. Rie und Pusser lachten wie alle andern und konnten sich kaum noch halten. Es dauerte eine Weile, bis sich die Gruppe auf der anderen Seite darüber klar wurde, daß sie der Gegenstand der Belustigung war. Sie verschlangen die jungen Mädchen mit den Augen. Pusser, die beide Gruppen von der Fabrik her kannte, schoß Spitzen ab, über die der Haufen links in schallendes Gelächter ausbrach, während unter den Ausländern eine gewisse Unruhe entstand. Auch Rie war ganz aus dem Häuschen, die Tränen kullerten ihr über die Wangen, sie bog sich vor Lachen. Das mußte man gesehen haben! Allmählich begriffen die Fremden, standen jedoch immer noch todernst da wie dunkle Schatten und leckten ihr Eis. „Eine richtige Begräbnisgesellschaft“, japste Pusser. Rie mußte natürlich quietschen über diesen Vergleich. „Begräbnis! Hihihi!“
Ein paar Ausländer versuchten mitzulachen, aber dadurch wurden die andern noch unbeherrschter.
Ein Paar Augen aus der Gruppe der Ausländer ließen Rie plötzlich zusammenfahren. Ernste Augen, die sie mit Verwunderung oder – war das möglich? – Geringschätzung ansahen. Verächtlich? Was bildete sich solch ein Kerl denn ein? – Ihr verging das Lachen völlig, und sie wandte den Blick ab. Legte das Geld für das Eis hin und zog Pusser am Arm: „Komm jetzt!“
„Ist wohl nicht so wild“, antwortete Pusser und amüsierte sich. „Wir sollten zum Frühstück dasein, nicht wahr?“ Das kam fast ein bißchen scharf. Als Pusser jedoch vor lauter Lachen nichts zu hören schien, sagte sie weiter: „Aber du hast vielleicht keine Lust mehr?“
Pusser fuhr herum: „Was ist denn mit dir los? Natürlich. Los, ab!“
Rie schob das Fahrrad vorwärts, Pusser winkte mit großen Handbewegungen und pflanzte sich auf den Gepäckträger. „Los gehts!“
Rie schien zu überlegen, setzte sich jedoch auf den Sattel und begann zu treten. Als das Fahrrad über die Bordsteinkante holperte, drehte sie sich um und sah zurück – die Augen folgten ihr. Sie warf den Kopf in den Nacken und jagte den Abhang hinunter, in einem Tempo, daß Pusser aufkreischte.
Auf dem Bahnhofsplatz kam ihnen Kurt mit einem anderen Langhaarigen entgegen. Pusser stieß Rie an. „Was ist denn das für einer? Den hab ich noch nie gesehn.“
„Keine Ahnung. Er schleppt wohl was Neues von seiner Sorte mit nach Hause.“
„Lieber Gott, so was Doofes.“ Pusser stöhnte.
„Ja, die müßten Strafe bezahlen, daß sie einem die Aussicht verderben.“
Kurt rief: „He, he, grüßen könnt ihr wenigstens!“
Rie mochte nicht, steigerte das Tempo. Die Jungen fuchtelten wild hinter ihnen her.
„Jetzt hab ich das Warten aber langsam satt. Viertel nach eins!“
„Herrgott, Erik, du weißt doch, daß das seine Zeit dauert“, Gunvor kam herein und überschaute alles. „Aber wir sind auch fertig. Kommt nun, kommt, kommt.“
„Worauf haben wir eigentlich gewartet?“ fragte Marianne. „Du hast wohl gesehn, daß Kurt erst eben angestiegen kam“, sagte Harry.
„Ich weiß auch nicht, warum immer auf diesen Burschen gewartet werden muß“, rief Rie aus.
„Aber jetzt sind sie doch da, weshalb holt ihr sie denn nicht?“ meinte Erik.
„Irgendeiner kann sie wohl holen“, sagte Gunvor.
„Das ist mir ganz egal, ich setze mich jetzt jedenfalls hin“, Erik pflanzte sich ans Tischende und griff nach dem Brot. „Das übliche Theater. Das geht mir langsam über die Hutschnur!“
„Sind wir vielleicht die Störenfriede?“ fragte Harry.
„Mutter hat übrigens angerufen und uns hergebeten“, hauchte Marianne.
Gunvor meinte zögernd: „Na ja, hergebeten ... Aber nun setzt euch – Elsa und Karl, ihr müßt wirklich entschuldigen.“
Karl lachte: „Die liebe Familie – wir beneiden euch.“
„Das gehört nun mal zum Sonntagvormittag.“
„Vormittag? Sagtest du Vormittag? Gleich halb zwei!“ Erik wurde ärgerlich. „Zum Kuckuck noch mal, holt die Bengel jetzt runter!“
Sie lärmten und drängelten, niemand achtete auf ihn und Gunvor. Sie hätte auch wirklich mitfahren können. Die Fahrt war sehr hübsch gewesen. Er war über eine Stunde am Strand entlanggewandert. Richtig schön! Aber wenn man dann unmittelbar danach diese Wirtschaft sah!
Gunvor huschte umher: „Aber so setzt euch doch. Vater wird ärgerlich. Beeilt euch doch ein bißchen!“
Marianne sagte: „Aber was denn, er sitzt doch schon. – Rie, warum gehst du nicht hinauf und holst sie?“
„Warum gehst du nicht?“
„Laß sie doch, zum Teufel!“ Erik kochte.
„Nein, aber Erik!“ Elsa sah ihn an.
„Komm, komm“, er gab ihr einen Schubs, „setz dich. Sollen wir beide vielleicht wegen dieser Affen krepieren, wie? – Da – oder willst du Knäckebrot?“
Als sie sich alle niedergelassen hatten, ertönte von der Treppe her ein gewaltiger Spektakel.
„Das Ballett kommt!“ rief Rie. – „Ganz von allein“, jubelte Pusser.
In der Tür erschien Kurt mit seinem Busenfreund Kim. „Hier lang, hier lang zum Trog“, schrie Kurt. Kim begrüßte Gunvor. Kurt und ein dritter kamen hinterher. Gunvor sah auf. „Wer ist denn das?“ fragte sie. „Riesig netter Kerl“, erklärte Kurt. „Ja aber, wie heißt er denn?“ – „Oluf. Luffe.“ – „Haben Sie keinen Nachnamen?“ fragte Erik vom Tischende. „Sandersen.“ – „Na, dann setzen Sie sich, Sandersen, nehmen Sie nur Platz!“ – „Ja, versperr nicht die Aussicht, man sieht ja nicht mal, was es zu essen gibt“, rief Pusser. „Und bedienen Sie sich, junger Mann“, sagte Erik, „langen Sie zu, wenn Sie was abhaben wollen. So ist das hier.“
Erik war jetzt nahezu jovial, hatte auch den ersten stillen Schnaps mit Elsa getrunken. Er konnte aber doch nicht über eine gewisse Gereiztheit hinwegkommen. Alltags dachte man ja nicht so viel darüber nach, aber heute – sie ärgerten ihn, diese Burschen. Sie brauchten so viel Platz, krakeelten, machten sich breit, benahmen sich, als wäre kein anderer im Zimmer, und sie zwangen ihn dazu, sich zu langweilen. Das war fast das schlimmste.
Nach ein paar Püffen und Spitzen von Rie und Pusser kamen sie allmählich zum Sitzen. Harry rückte demonstrativ ab. Marianne hatte einen kleinen Zwischenraum zwischen ihrem und dem nächsten Stuhl. „Aber so komm doch näher, Marianne!“ forderte Harry sie auf. Gunvor bat alle zuzulangen. – „Ja, haut rein!“ rief Kurt und wedelte mit der Hand einladend über kaltem Aufschnitt und Leckereien. Während man den größten Hunger stillte, wurde es etwas ruhiger.
So war das immer. Die Gabel in einem Heringshappen, sah Erik zu Elsa hinüber. Verstohlen lächelten sie sich zu und waren beieinander. Aller Ärger glitt von ihm ab, der Ärger über die jungen Leute, über ihren Lärm und Pop, ihre Sentimentalität und ihr Hallo. Herrgott, es war ja Platz da für alle, hier an seinem Tisch – für sie selbst, die Jungen und ihren Anhang. Elsa erhob ihr Glas, er nahm wortlos das seine. Sie lächelten nur.
„Zum Teufel, kümmelt ihr euch ganz alleine einen an?“ fragte Kurt.
„Sollen wir uns das gefallen lassen?“
„Das fehlte gerade noch!“ rief Rie von ihrem Platz. „Guck dir das an – Frühstart!“
Die Flasche ging rund. Gunvor warf etwas nervös einen Blick auf die Mädchen und die langhaarigen Gestalten. „Für jeden einen“, betonte sie. „Und dann die Flasche wieder her.“ Als sie nicht kam, erhob sich Harry und stellte sie vor Erik auf den Tisch.
Der, der Luffe hieß, sah Kurt mitleidig an. Kurt wurde rot. Daß sie einen aber auch immer blamieren mußten! Benehmen sich, als ob man ein Kind wäre! Die sollten nur wissen, jawohl! Die sollten nur wissen! Er tauschte mit Luffe Grimassen aus. Erik sah im selben Augenblick auf, bemerkte den Blick und fühlte Unbehagen. Na, nicht vergessen, daß man selbst mal jung war.
Karl sagte etwas über Eriks Beförderung und wollte darauf anstoßen. Aber keiner prostete zurück. Die Gläser der jungen Leute waren leer. „Das ist wirklich toll“, sagte Karl, „in deinem Alter.“ – „Na ja, das Alter hat man wohl mittlerweile“, meinte Erik. „Aber, ehrlich gesagt, es ist wohl so, daß man das nicht so merkt, was?“ Erik müsse verdammt tüchtig sein, doch, bestimmt. – Sie sprachen eine Weile über die Fabrik. Über die Erweiterungen, die vorgenommen worden waren. Über Aktien, die immer höher stiegen. „Bekommt mit der Zeit einen ganz schönen Wert“, sagte Karl. Kurt machte eine Bewegung. Karl meinte: „Wäre das nicht etwas, wo er einsteigen könnte?“ – „Um Himmels willen!“ rief Kurt. Aber Karl sagte: „Wenn du mal fertig bist, ein Unternehmen von dem Format, das braucht weiß Gott auch Architekten, tüchtige Architekten. – Was macht übrigens das Studium?“ Kurt murmelte etwas. „Was sagst du?“ fragte Karl. „Scheiße, zum Sterben langweilig“, sagte Kurt, diesmal mit Nachdruck. „Ja, ja“, meinte Karl, „eine gewisse Eintönigkeit müssen ja alle überstehen.“ – „Puh“, rief Pusser, „in der Fabrik landen! Nein, du, halt dir das vom Leibe! So was von Dreckhaufen!“
Erik glaubte protestieren zu müssen und fragte: „Meinst du, Pusser?“ Aber Kurt fiel im selben Augenblick ein: „Warum bleibst du denn dann da?“
„Das muß ich ja wohl, was denn sonst?“
„Lern was“, schlug Rie vor.
„Ich?“ fragte Pusser empört.
„Ja, warum eigentlich nicht?“ mischte sich jetzt auch Gunvor ein, „hast du nie Lust dazu gehabt?“
„Lust vielleicht schon, aber wie sollten wir denn das schaffen, Mutter und ich sind allein, nicht?“ Wie immer, wenn die Rede auf ihre persönlichen Verhältnisse kam, wurde Pusser unsicher, und sie fügte in forschem Ton hinzu: „Ich würde mich auch zu Tode langweilen! Dasitzen und zentnerweise idiotische Bücher durchbüffeln. Nee, danke. – Übrigens haben wir nicht von mir gesprochen, sondern von dieser Mistfabrik!“
Erik kam darauf zurück. „Was stört dich daran?“
„Alles!“
„Wie hätten wir sie denn machen sollen?“ lächelte er.
„Das kann ich doch nicht wissen!“ erwiderte Pusser gereizt, „das sollten solche Klugen wie Sie und die andern raustüfteln.“
„Das schon“, gab Erik zu, „aber ein bißchen Hilfe könnte vielleicht doch nötig sein. Ganz so wie ihr stehn wir ja nicht drin!“
„Nein, zum Kuckuck! Ihr solltet das übrigens mal versuchen, das könnte vielleicht nicht schaden. Das stinkt nämlich zum Himmel, wie verkehrt das Ganze ist! Ja, das sollte wirklich alles umgekrempelt werden. Wir machen nämlich den ganzen Dreck und ...“
„Na, du bist doch im Kinderzimmer“, unterbrach Erik sie. „Klar“, rief Kurt.
„Schnauze“, fauchte Pusser und wandte sich wieder an Erik. „Na und? Möchten Sie vielleicht an dieser beschissenen Maschine stehn, die Sie sich ausgeknobelt haben, was? Möchten Sie das vielleicht? Oder Rie hinschicken?“
Erik tat entsetzt. „Sehr ungern!“
„Da können Sie mal sehn“, sagte Pusser. „Also müßten wir Prämien haben und hohe Löhne und nicht ihr da oben!“ Karl lachte schallend: „Ja, das möchtest du wohl!“ „Ja aber, Vater“, rief Rie dazwischen, „das ist doch eigentlich richtig!“
„Bravo, bravo!“ applaudierte Kurt, „Pusser – der Reformator!“
Pusser fuhr herum: „Natürlich – mach du dich bloß lustig – so ein ... Was weißt du denn überhaupt? Du Schmarotzer!“
„Nee, das geht zu weit – blöde Gans ...“
Erik wurde etwas lauter: „Kurt, dürfen wir –“
„Los, auf die Barrikade!“ trompetete Karl.
Harry mischte sich ein: „Ich muß sagen, ich finde es völlig fehl am Platz, mit etwas so Ernstem zu spaßen! Jawohl! Und wenn niemand von euch, hm, wenn ich so sagen darf, Kompetenten, das kleine Fräulein Madsen aufklären will, so gestattet ihr vielleicht, daß ich ihr einiges darüber erzähle, wie angemessen es ist, nach Qualifikationen zu entlohnen, angemessen nicht nur rein individuell, sondern fundamental; in einer hochentwickelten Gesellschaft ist dieser Stimulus der Entlohnung notwendig, dieser ...“
„Mann, du kannst uns mal ...“, grinste Kim, und Kurt sekundierte: „Halt die Schnauze, du Großkotz ...“ Ein kräftiges Räuspern von Erik veranlaßte ihn, den Rest zu verschlucken. Pusser sagte, die Augenbrauen bis unter die blonden Ponylocken hochgezogen: „Gott ja, Sie wissen ja auch, wie das ist.“
„Ja, in der Tat –“, begann Harry geschmeichelt.
„Natürlich: ein Offizier muß ja mit der Zeit ein Experte für Idiotenarbeit werden!“
„Nein, das geht zu weit!“ Marianne schlug auf den Tisch. „Wenn du glaubst, daß du dir alles erlauben kannst, dann ... Also, Mutter, wenn ich daran denke, wie sehr wir uns hier im Hause um Pussers Erziehung bemüht haben, dann verstehe ich einfach nicht, daß ihr euch das bieten laßt!“
„Worum habt ihr euch bemüht?!“ rief Rie aufgebracht dazwischen.
„Zum Kuckuck, wie redest du von meiner Freundin? Das lasse ich mir nicht gefallen!“
„Glaubst du vielleicht, ich lasse mir diesen Ton meinem Mann gegenüber gefallen?“
„Ich wohn hier!“
„Das ist wohl auch mein Zuhause. – Aber offen gesagt, Mutter, wenn man sich so was bieten lassen muß, dann glaube ich, daß wir es vorziehen ...“
„Da muß ich Marianne zustimmen“, stellte Gunvor fest. „Pusser, ja, und Rie, ihr solltet euch allmählich ein bißchen mehr ladylike benehmen können.“
„Hast du lady gesagt, Mutter? Wirklich?“ Kurt quietschte vor Vergnügen. „Lady Pusser Madsen!“, er machte eine geschraubte Verbeugung in ihre Richtung. „Humble serviteur.“ Sie schlug mit der Serviette nach ihm.
Als Pusser auf Harrys Beruf anspielte, hatte Erik laut gelacht, als das Gespräch jedoch in Streit auszuarten drohte, versuchte er sich das Lachen zu verbeißen. Nun sagte Karl obendrein: „Ja, ja, Leutnant, Kinder und Betrunkene ...“
„Soll das spaßig sein?“ fragte Harry säuerlich. „Nun seid doch mal vernünftig!“ bat Gunvor, „Erik, sag du doch mal was!“ – „Eßt!“ sagte Erik. „Ja hier“, warf Gunvor ein, „nimm doch noch etwas Lachs, Harry.“ – „Jetzt schmiert sie Balsam“, kommentierte Kurt. Erik räusperte sich: „Um auf die Sache zurückzukommen. Du meinst also, Pusser, daß du beispielsweise in meinem Büro sitzen und mein Gehalt haben solltest?“
Pusser stemmte die Hände in die Hüften: „Hab ich das vielleicht gesagt? Wie?“
„So ähnlich war es wohl“, meinte Karl.
Pusser sah ihn von oben herab an. „Überhaupt nicht. Ich meinte nur, daß diejenigen, die ’ne Arbeit haben, die Spaß macht, nicht auch noch das hohe Gehalt einkassieren sollten.“
„So, eine Arbeit, die Spaß macht“, Erik zögerte, „ich möchte nun nicht gerade behaupten, daß das, womit ich und die Leitung uns im übrigen beschäftigen, so geradezu zum Lachen ist.“
„Und die Verantwortung“, sagte Karl, „denk an die Verantwortung, die sie haben.“
„Nein, nun hört aber mal auf“, lachte Elsa, „natürlich macht das Spaß.“
„Darüber wissen wir zwei sicher nicht so Bescheid“, bemerkte Gunvor.
„Doch“, sagte Elsa. „Natürlich macht eine Arbeit, die, wie soll ich sagen, inhaltsbetont ist, die etwas von dir verlangt, Spaß. Sie ist anregend und interessant.“
Erik wollte gern zugeben, daß bis zu einem gewissen Grade ...
„Da könnt ihr sehn“, kam es prompt von Pusser, „dann dürften sie wohl auch nicht so sehr viel mehr haben. Wenn es also richtig sein sollte.“
Rie sah nachdenklich aus: „Es sollte wirklich gleichmäßiger verteilt sein.“
Erik sagte etwas von ideellen und praktischen Verhältnissen; und so wie die Welt nun mal sei, da –
„Hat man so was schon gehört?“ rief Kurt dazwischen, „so, wie die Welt nun mal ist, praktische Verhältnisse – uff, das sieht euch ähnlich!“
„Was meint der Bengel mit ‚euch‘?“ fragte Karl.
„Also die in euerm Alter, die überall bestimmen. – Und nur sagen, daß es nun mal so ist.“
„Warte ab, wieviel ihr verändern werdet.“
„Den Sauhaufen, den ihr hinterlaßt, aufräumen! Alles, was ihr verpfuscht habt! Um Gottes willen!“
„Manches ist wirklich nicht ganz so einfach, wie man das in eurem Alter glauben will“, meinte Erik.
„Wenn man erst resigniert“, bemerkte Rie höhnisch, „ändert sich nie was.“
„Jawohl“, sagte Kurt, „ihr gebt von vornherein auf.“
Erik ereiferte sich etwas: „Sag mal, was weißt du denn davon? Wieviel Ahnung hast du überhaupt von praktischen Dingen, Junge? Warte etwas mit deinen unreifen Meinungen, bis du mitreden kannst, etwas weißt!“
„Wir können unsere Gehirnwendungen wohl auch benutzen“, meinte Luffe.
„Ja, das dürfen wir wohl!“
„Dann tut es“, sagte Karl, „guckt ein bißchen unter die Oberfläche!“
„Wovon sprechen wir eigentlich?“ fragte Gunvor, „ich kann nicht folgen!“
„Wir reden um den Brei herum, um den heißen Brei, wie üblich“, kam es von Kurt.
Harry räusperte sich. „Man sondert Worte ab, Schwiegermutter, wie üblich, das darf wohl auch ich sagen.“
„Der heiße Brei, Kurt, was für ein heißer Brei?“
„Ja, daß man alles auf den Kopf stellen sollte.“
„Ach so! Und Land und Staat lenken und leiten und planen und regieren, wer sollte denn das?“ fragte Harry.
„Natürlich die, die was davon verstehen“, meinte Kim, „da hat Pusser völlig recht. Aber deshalb haben sie doch wohl nicht das Recht, alles Fett abzusahnen?“
„Meinetwegen können sie ruhig was davon abkriegen“, Pusser war großzügig, „aber wir müßten auch was haben. Und wenn man weiß, was sich manche Leute so für ein Leben leisten können – ja, ihr müßt schon entschuldigen, solche wie ihr –, und wenn man das mal mit meiner Mutter und mir vergleicht – ja, wir andern ... Nehmt ihr mich vielleicht für voll, wenn’s drauf ankommt? Das tut ihr natürlich nicht.“
Von allen Seiten wurde protestiert.
Pusser schnitt eine Grimasse, nahm den Protest aber dennoch an: „Naja, ist nicht so wichtig mit mir“, und schien getröstet zu sein, doch sie wußte, was sie wußte. „Aber sonst die Arbeiter, meine Mutter – ich weiß doch genau, wie meine Mutter ist, glaubt ihr nicht, daß ich das weiß? Und warum ist sie so? Weil nämlich alles so idiotisch ist, wie ich sage. Aber der größte Irrsinn ist, daß so was Wohlfahrt heißen soll! Was denn für eine Wohlfahrt – unsere nämlich nicht!“
„Hier zeigt der Neid allerdings deutlich sein häßliches Gesicht“, stellte Harry mit erhobenem Zeigefinger fest. „Aber jetzt will ich euch was sagen, das Prekäre ist, daß man bereits in einem allzu, allzu hohen Grad nivelliert hat. Was in diesen Jahren in diesem Lande vor sich geht, ist nichts weiter als ein einziger großer Nivellierungsprozeß. Eine umsichgreifende Verflachung und Angleichung, jawohl.“
„Ja aber, Angleichung“, sagte Gunvor, „das ist doch demokratisch.“
„Eben“, rief Karl, „gute Demokraten, das sind wir alle! Gib mir mal die Schlackwurst!“
„Man muß was tun, Vater“, sagte Rie. „Kannst du Pusser nicht woanders hinstecken?“
Pusser wandte sich zu ihr: „Uff, du verstehst auch überhaupt gar nichts.“
„Was verstehe ich nicht?“ fragte Rie verschnupft.
„Es geht doch nicht um mich, sondern um uns alle! Nicht nur um mich.“
„Aber das wäre doch sehr hübsch, nicht wahr, Pusser“, zog Kurt sie auf, „wenn wir dich nun so ein bißchen vergoldeten und eine neue Eliza aus dir machten.“
Das gab Erik einen kleinen Stich. Eine neue Eliza, zum Teufel, wie kam der Junge darauf? Aber eigentlich hatten sie Pusser ja in ähnlicher Weise hier im Hause aufgenommen und behandelt.
„Wozu soll ich denn ’ne Eliza oder sonst was werden, da hab ich doch nichts von – aber natürlich müßt ihr euch lustig machen, ihr könnt ja nichts anderes.“
„Nun sei mal nicht beleidigt“, sagte Erik.
„Ich bin überhaupt nicht beleidigt. Aber, puh, das sieht so einem wie Ihnen ähnlich, so was zu sagen!“
„So? So einer wie ich – bin ich so schlimm?“
„Hört, hört!“ lachte Elsa, „jetzt will er Komplimente hören.“
„Sich beliebt machen?“ Erik sah sie zum Schein ärgerlich an.
„Eben“, nickte Pusser, „so ein ...“, sie wollte etwas Deftiges sagen, verbiß es sich aber – „ein Schöntuer, der überall nur rumschmiert und rumläuft und was hören will.“ Und dann äffte sie ihn nach. „Das muß nun mal gehn, Leute. Aber, aber, das sind doch kleine Fische für euch, so wie ihr gebaut seid. Sicher geht das.“ Sie imitierte Eriks Fabrikstimme dabei so genau, daß er baff war. War man wirklich so? Sah man ihn so in der Fabrik?
„Ha! Da hast du’s aber gekriegt“, rief Kurt und schlug sich auf die Schenkel.
Erik zwang sich zum Lachen: „Hör mal, Pusser, weißt du was? Es könnte ja gut für mich sein, wenn ich so ein bißchen von diesem und jenem hörte, wir sollten vielleicht irgendwann mal einen kleinen Plausch machen.“
„Dann aber in der Arbeitszeit!“
– Es entstand allgemeines Gelächter. Als es sich etwas gelegt hatte, sagte Gunvor ablenkend: „Habt ihr gestern das Fernsehstück gesehn?“ Elsa und Karl hatten es gesehen.
„Das war ja was Merkwürdiges“, fand Karl.
„Bist du verrückt, Mann, das war doch kernig! – Merkwürdig?! Hö ...“
Gunvor unterbrach scharf: „Kurt, ich habe nicht nach deiner Meinung gefragt! Vielleicht würdest du Karl ausreden lassen!“ – Erik sagte: „Da siehst du’s.“ – „Was seh ich?“ fragte sie. „Hab ich nicht gesagt, daß man unter diesen Bedingungen kein Gespräch führen kann?“ – „Nun fang doch nicht wieder damit an!“ – „Was ist denn, Mutter?“ fragte Marianne und steckte eine Olive in den Mund. „Nichts.“ Gunvor wandte sich an Karl. „Ganz einfach war es natürlich nicht.“
„Ja aber, warum muß es denn immer so ein heillos verschrobenes Zeug sein?“ fragte Karl, „so ist die Wirklichkeit doch nicht.“
„Viel schlimmer“, stöhnte Luffe.
Karl sah ihn wütend an. „Das ist sie bei Gott nicht! Und ich könnte fuchsteufelswild werden, wenn man immer wieder mit all dem Quatsch kommt, daß es das reine Elend ist und daß wir alle Roboter sind und vieles andere – zum Kotzen. Es geht uns prima, und manchmal könnten wir uns darüber auch ein bißchen freuen.“
„Da hätten wir also die Sonntagspredigt!“
„Kurt!“ ermahnte Gunvor.
„Ja, ich kann nun mal beim besten Willen nicht einsehen“, wandte sich Karl an Gunvor und Elsa, „was der ganze Trübsinn soll; so verrückt ist das Dasein nämlich nicht, und diese verkrachten Individuen, die man uns in modernen Stücken vorführt, die sind einfach krank, unnormal!“
„Normal, Karl“, sagte Rie, „was bezeichnest du als normal?“
„Ja, das ist Wortklauberei! Hör auf damit! Jeder Mensch weiß doch, was normal ist. Ein gesundes und aufgewecktes Individuum mit intaktem Verstand.“
„Verstand wofür?“ fragte Kurt.
„Zum Teufel, um mit dem Leben und seinen mehr oder weniger lächerlichen Seiten auf adäquate Weise fertigzuwerden.“
„Also Verstand, daß man sich’s bequem macht“, sagte Luffe.
„Ja, du lieber Gott, das auch. Das ist wohl nicht zu verachten. Sich so einrichten, daß man meint, es gehe einem gut.“
„Ja, den Verstand habt ihr, das muß man schon sagen“, meinte Rie. „Du sagst das so mit Vorbehalt“, meinte Elsa, „ist daran vielleicht was nicht richtig?“
„Nein, nein“, gab Rie zu, „das wohl nicht, aber ...“
„Herr im Himmel!“ stöhnte Kurt und zog die Augenbrauen hoch. „Daß man so anspruchslos sein kann! Das meinst du doch, Rie, nicht wahr?“
„Ich weiß überhaupt nicht, was mit euch los ist“, sagte Erik mit einer Stimme, die alle übertönte. „Ihr seid die ganze Zeit mit Kritik geladen. Rückt doch raus damit, was nicht stimmt, Herrgott noch mal!“
„Nein, Vater, so ist das nun auch nicht“, wandte Rie ein, „es ist nur ...“
„... nur ihre verdammte Besserwisserei“, unterbrach Kurt. „In der Tat“, bemerkte Elsa, „läßt es sich ja nicht vermeiden, daß wir das eine oder andere besser wissen als ihr, weil wir ein paar Jahre länger gelebt und gesehen und gefühlt haben.“
„Aber es ist euch überhaupt nicht aufgegangen, daß jetzt alles anders ist.“
„Jetzt?“ brauste Karl auf. „‚Jetzt‘ gilt doch sowohl für euch als auch für uns, nicht wahr? – Ich meine, ihr könnt uns ja nicht einfach abschieben, bloß weil wir ein bißchen früher angefangen haben.“
„Und wie Erik sagt – ihr könnt nicht mal erklären, was ihr meint“, pflichtete Elsa bei.
„Etwa nicht?!“ rief Pusser.
Elsa schüttelte den Kopf. „Ihr tut es ja nicht, ihr werdet wild und macht ein gewaltiges Geschrei, aber mit uns reden, nein. – Übrigens sagt ihr auch zueinander nichts.“
Kurt und Pusser sperrten Mund und Nase auf. Rie fuhr hoch.
„Wir sagen nichts? Nee, jetzt ...“, sie sah die andern jungen Leute an.
„Da kann was dran sein“, meinte auch Erik. „Man hat ja gewisse, wie soll man das nun nennen, Mitteilungsversuche hier zu Hause und zum Beispiel im Kinderzimmer in der Fabrik mitangehört, was Pusser?“
„Bei dem Krach, wer das glaubt!“
„Zugegeben, aber dann in kleineren Gruppen. Sprecht ihr manchmal im Ernst miteinander, ja, was meint ihr selbst?“
„Hm“, Rie überlegte, Kurt kam mit einem Kalauer. Man ging zu anderen Themen über, dann nahm Rie die Herausforderung auf.
„Aber tut ihr das denn?“ – „Wie bitte?“ fragte Erik. „Ich frage, sagt ihr etwas zueinander? Gibt es überhaupt noch jemand, der das tut? Zum Beispiel du und Mutter?“
Erik zögerte, aber Gunvor antwortete rasch: „Ich muß schon sagen, das ist erschütternd. Das zeigt wahrhaftig, wie wenig du zu Hause bist, bei uns andern. So was zu fragen!“
Erik drückte sich um die Antwort, indem er aufstand und vorschlug, daß „die Erwachsenen“ auf der Veranda Kaffee trinken sollten. Marianne und Harry kamen mit, zu seinem Verdruß.
Er stand auf, um den Kognak zu holen, meinte, daß sie ihn ein bißchen nötig hätten. Der Eßzimmertisch sah aus wie ein Schlachtfeld; die Jungen waren nach oben gegangen. Ärgerlich nahm er einen Brotkorb mit hinaus in die Küche; sie deckten doch sonst den Tisch ab. Die Mißstimmung, die seit heute morgen in ihm steckte, nahm zu. Auch das, was Rie gesagt hatte: „Sagt ihr denn was?“ Sagten sie was? Hatten sie in der Zeit, die sie draußen gesessen hatten, irgend etwas gesagt, das es wert gewesen wäre, wiederholt zu werden? War auch nur ein Satz gesagt worden, der sie – ja – anging? Und das konnte nicht allein Harrys Schuld sein oder die Angst vor seinen pseudowissenschaftlichen Darlegungen. Er seufzte und ging die Flasche holen – Harry, ja, tatsächlich war Mariannes Heirat ein wunder Punkt, einer von denen, die sich mit den Jahren ansammeln. Er öffnete den Schrank, langte nach der Flasche. Verdammt noch mal! – Die war ja leer! Tranken sie etwa seinen Kognak? – Das war doch ... Kurt? Wer sonst? – Gunvor? Unmöglich. Sie hätte auch eine neue gekauft, falls ... Die jungen Mädchen? Nein, die mochten manches ausfressen, aber – dies mußte Kurt gewesen sein!
Er spürte, wie die Hand, die die Flasche hielt, klamm wurde. Er war schockiert, sagte zu sich selbst: „Reg dich nicht auf! – Hast du vergessen? – Den meisten Vätern passiert so was.“ Aber dahinter lag etwas wie Angst. Etwas stürzte ein. Er versuchte sich zu fassen. Nicht wert, daß man’s schwernahm – höchstens ein Grund, um wütend zu werden. So ein verflixter Lausejunge! Das war doch die Höhe! Seinen guten Kognak trinken! Konnte doch was Billigeres nehmen, wenn’s schon sein mußte! Er fuhr mit einem Satz auf, sah auf dem Regal nach. Er war auch hier dabeigewesen, Whisky und Gin, mal mehr, mal weniger, besonders mehr, sie genierten sich offenbar überhaupt nicht. Da hörte doch alles auf! Das ließ er sich nicht gefallen! Der Bengel sollte schon seinen Denkzettel kriegen! „Zum Teufel, muß man jetzt abschließen, in seinem eigenen Haus? – In meinem Heim! Bei uns! Den Teufel tu ich!“ Er knallte die Tür mit dem Fuß zu und dachte – denn das ärgerte, um nicht zu sagen, quälte ihn am meisten –, hat er das nötig gehabt? Wirklich? So ein blöder Kerl. Dussel. Hätte er das nicht sagen können? Konnten sie nicht mit allem kommen, und dann ... Der nützliche Zorn drohte abzuebben, der Enttäuschung Platz zu machen – er stachelte ihn wieder an, bewußt. Verdammte Schweinerei! Er stürzte nach oben, nahm die Treppe im Sprung – und hielt auf dem Absatz an. Nein, nein, da oben waren andere, er wollte es ihm nicht peinlicher machen als nötig. Er kehrte um und ging langsam wieder hinunter.
Aus dem Büfett holte er eine Likörflasche und ging zur Veranda zurück, sagte, daß er sich geirrt habe, was sie zu einem Whisky oder Likör meinten? Die Damen wollten Likör. Harry erhob sich und ging mit in die Küche, um Gläser zu holen. Sie standen dort drinnen. Wie üblich fiel Erik nichts ein, was er zu ihm hätte sagen können. Das Schweigen wurde hörbar. „Du holst mal die Eiswürfel, ja? Aus dem Kühlschrank. Und einen von den langen Löffeln.“ Gut, daß man immer was Praktisches sagen konnte. Sagt ihr was? „Nein, nein, nicht diese Gläser, die da links. Nein, die Flaschen nehme ich selbst. Selterswasser ist im untersten Fach.“ – „Wo ist der Flaschenöffner?“ fragte Harry. „Im Büfett im Eßzimmer.“ Schließlich waren sie wieder draußen. Etwas sagen – zu Harry – unmöglich.
Erik setzte sich so hin, daß er die Sonne im Rücken hatte, das Licht blendete jedoch trotzdem. „Würdest du mir mal meine Sonnenbrille holen, Marianne?“ Sie ging ins Haus und kam wieder zurück, setzte sich einen Augenblick auf die Armlehne. Er legte den Arm um sie. „Na, geht’s dir gut?“ – „Ja, ausgezeichnet“, sagte sie. Ihm schien das nicht sehr überzeugend zu klingen.
„Was macht das Boot?“ fragte er Karl.
Karls Gesicht hellte sich auf. „Phantastisch, du – so was von Boot hab ich noch nie gehabt! Nicht wahr, Elsa? Das kann man ein Boot nennen, sag ich nur!“
Erik betrachtete ihn. Jetzt war er in seinem Element, er beneidete ihn fast ein wenig. So war es immer mit Karl. Karl, der zum Sterben langweilig und nett war, vielleicht der beste Kamerad, den man hatte – einer, zu dem man nichts zu sagen brauchte, wenn man keine Lust hatte. Jedesmal in den Wolken, wenn er etwas Neues bekam. Solange es neu war. Elsa sagte: „Ja, diesmal hast du Glück gehabt.“ Erik erinnerte sich, daß sie das das letzte Mal, als sie den Wagen kauften, auch gesagt hatte. Sie schlug einen Ausflug vor.
„Wenn es nur nicht zu kalt wird“, meinte Gunvor.
Karl war Feuer und Flamme, wollte am liebsten sofort los. Erik hatte eigentlich auch Lust, dachte daran, wie nett das sein würde, ganz still dazusitzen, an Elsas Seite über das Wasser zu schauen, verstohlen ihre Hand zu nehmen. Gunvor und Karl würden schon sagen, was zu sagen war. Was zueinander sagen! War Elsa vielleicht – wenn alles zu allem kam – schließlich der einzige Mensch, mit dem er sprach – so wie Rie es meinte?
Er erhob sich.