Alle Schotten dicht - Manuela Sanne - E-Book
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Alle Schotten dicht E-Book

Manuela Sanne

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Beschreibung

Whisky am Wattenmeer – und ein toter Schotte! Für Fans von Gisa Pauly, Regine Kölpin und Emmi Johannsen  »Rosa schenkte sich Ostfriesentee ein. Doch sie kam nicht mehr dazu, einen Schluck zu nehmen. Die Tasse entglitt ihrer Hand, als ein markerschütternd lauter Schrei durchs ganze Haus gellte.«  Rosa und Sebi können ihr Glück kaum fassen: Colin Stewart hat als Dozent für einen Whisky-Workshop in ihrer Pension Zum Jadebusen zugesagt! Der Schotte gilt als echte Koryphäe, seine Workshops sind heißbegehrt. Leider währt die Freude nur kurz, denn am dritten Tag wird Whisky-Master Colin leblos im Bett des Wattzimmers aufgefunden – den Kopf nicht auf, sondern unter dem Kissen. Klar, dass Sebi am Boden zerstört ist und Rosa voller Elan mitmischt, als das Ermittlungsteam der Kripo in die Pension einrückt. Denn von den anwesenden Gästen scheint mehr als einer ein Geheimnis zu haben, das niemand herausfinden soll ... 

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Redaktion: Christiane Geldmacher

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Alexa Kim »A&K Buchcover«

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von shutterstock.com (ohenze), depositphotos.com (koya979, tomwang, aruba2000, kjolak, sara_winter) genutzt.

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

1 – Empfangskomitee

2 – Schalenhüter

3 – Schlaandschewah

4 – Abgang

5 – Schottendicht

6 – Spurensuche

7 – Schniefnase

8 – Dudelsack

9 – Geflüster

10 – Zimmercheck

11 – Torfkopp

12 – Pillepalle

13 – Fiona

14 – Tatverdächtige

15 – Privatsphäre

16 – Kuddelmuddel

17 – Trickkiste

18 – Betthase

19 – Bonnie

20 – Murmeltier

21 – Widersprüche

22 – Buddeln

23 – Fundstück

24 – Invest

25 – Drösselchen

Karamell-Espresso-Muffins mit Whisky

Danksagung

Zum Schluss

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

1Empfangskomitee

Rosa sah ihren Mann mit Riesenschritten auf den Rezeptionstresen zumarschieren – zum dritten Mal im Abstand von wenigen Minuten. Er schaute erst sie an, dann Wiebke, die ebenfalls hinter dem Tresen saß, und fragte: »Immer noch nichts?«

»Nö«, gab Rosa knapp Auskunft. Wiebke unterstrich dies durch ein synchrones Kopfschütteln, das ihre frisch ondulierte Lockenpracht zum Wippen brachte. Beim letzten Besuch waren Wiebkes Haare noch kurz, glatt und blond gesträhnt gewesen. Weil ihre späte Liebe Bernd jedoch fand, dass silbergraue Pudellöckchen seinem Schnuffelchen besser standen als ein moderner Stufenschnitt, kamen die Lockenwickler wieder zum Einsatz. Dazu eine Silbertönung, welche die zuvor aufgehellten Strähnchen violett schillern ließ.

»Immer mit der Ruhe, er wird jeden Moment eintreffen«, rief Sebi aufmunternd.

Zwar richtete er seine Worte scheinbar an Wiebke und sie, aber Rosa war klar, dass er eigentlich sich selbst gut zuredete. Ehe sie erwidern konnte, dass sie die Ruhe in Person sei, wenn er nicht andauernd hin und her tigern würde, rief Sebi: »Ich habe was gehört!«, und wetzte zum Eingang. Die mechanische Glocke bimmelte, als er schwungvoll die Tür aufriss.

Außer dem Gebimmel hörte Rosa nichts. Sie reckte sich, um einen Blick nach draußen zu erhaschen. Nichts zu sehen. Colin Stewart saß wohl kaum auf dem Elektroroller, der fast geräuschlos vorbeiglitt. Ansonsten kein Verkehr, abgesehen von vereinzelten Radfahrern, die dem ergiebigen Regen trotzten. Bei gutem Wetter war freitags in der Saison sonst mächtig was los in Dangast. Zusätzlich zu den Gästen, die ihren Urlaub hier verbrachten, kamen noch Ausflügler und Wochenend-Touris an. Aber gerade jetzt machte der Sommer Pause. Es war ein wenig einladender Mix aus böigem Wind, kühlen Temperaturen und reichlich Wasser von oben vorhergesagt. In der Nacht hatte es sich bereits kräftig eingeregnet.

Sebi blieb noch eine Minute stehen und spähte auf die nasse Straße. Kein Auto mit Hannoveraner Nummernschild kam in Sicht – erst recht keins, das in die Hofeinfahrt bog. Schließlich trottete er wieder durch den Flur Richtung Restaurant, das morgens als Frühstücksraum diente und wo der Rest des Empfangskomitees auf die Ankunft des verspäteten Gastes lauerte. Das Komitee setzte sich aus drei Pensionären zusammen: Erster Hauptkommissar a. D. Jasper Teschen, Polizeirat a. D. Bernd Ammermann sowie Sebi, welcher seinen Dienst bei der Wuppertaler Polizei nicht aus Altersgründen, sondern nach einer Erbschaft quittiert hatte und sich deshalb gern scherzhaft als Pensionär bezeichnete.

»Wusste ich’s doch, dass der Schotte nicht pünktlich kommt. Typisch Fipp«, tat Wiebke kund. »Aber wenn der sein Zimmer bezieht, wird er Augen machen, so fein ist das für ihn hergerichtet.«

Beinahe hätte Rosa laut losgeprustet. Der Grund war nicht, dass Wiebke englische Wörter unbelehrbar so aussprach, wie sie geschrieben wurden – also die Abkürzung VIP wie Fipp. Was sie erheiterte, war vielmehr Wiebkes Vorhersage. Mit der hatte sie absolut recht. Ganz gewiss würde der Fipp Augen machen!

Ich bringe das Wattzimmer für euren Ehrengast auf Vordermann, hatte Wiebke gestern beschlossen und Rosas Einwand, dies sei Aufgabe der Hausangestellten Beeke-Luise, geflissentlich ignoriert. Wenn Wiebke sich in der Pension aufhielt, vergaß sie bisweilen, dass sie diese nicht mehr führte. Der Inhaber hieß nun Sebi Fink, Wiebke war eigentlich nur noch Stammgast. Ein Urlaub, ohne als Gegenleistung für freie Kost und Logis auszuhelfen, kam für sie allerdings keinesfalls infrage, schon gar nicht in diesem Jahr. Denn die stellvertretende Pensionsmanagerin Agnes erwartete im August ein Baby und Wiebkes Wunsch, in der Hauptsaison einzuspringen, war Sebi Befehl gewesen.

Doch Wiebke, die ein Faible für Karomuster hatte und bei jeglicher Art von Hausarbeit karierte Kittelschürzen trug, war beim Herrichten des Zimmers übers Ziel hinausgeschossen. Ungeachtet der Tatsache, dass Colin Stewart mit seiner Ehefrau Fiona seit über zwanzig Jahren in Hannover wohnte, hatte sie sich bei Jasper nach den schottischen Nationalfarben erkundigt. Danach war sie zu einer Shoppingtour nach Varel aufgebrochen und mit einer Tüte zurückgekehrt, in der sich Bettwäsche, eine Wimpelkette und ein Set Tischdeckchen befanden. Sie hatte die Sachen gewaschen und getrocknet, dann das Bett neu bezogen, die Wimpel darüber aufgehängt und den Couchtisch, die Nachtkonsolen sowie sämtliche Regalböden des Kleiderschranks mit Deckchen verziert. Als Wiebke voller Stolz zur Besichtigung des von ihr aufgehübschten Wattzimmers lud, fühlte Rosa sich weniger in die Highlands als vielmehr in ein Oktoberfestzelt auf der Wiesn versetzt, denn alle Stoffe waren in Anlehnung an die Farben der schottischen Flagge blau-weiß-kariert.

Der Schotte war seit Wochen Hauptgesprächsthema – genauer gesagt, seit Jasper Teschen, ehemaliger Chef des Vareler Polizeikommissariats, es geschafft hatte, ihn als Dozenten für einen Whisky-Workshop im Nordseebad Dangast zu akquirieren. Den Wunschtraum einer hochklassigen Scotch-Schulung am Jadebusen hegte Jasper schon jahrelang. Seinen Freund Sebi davon zu überzeugen, dass dieses Event unbedingt in der Pension stattfinden musste, war im Vergleich zum Ködern des legendären Whisky Masters ein Leichtes gewesen. Unter Jaspers kundiger Anleitung hatte Sebi, zuvor nur italienischem Espresso und Rotwein besonders zugetan, im ersten Winter an der Nordseeküste seine Leidenschaft für Whisky entdeckt. Die Aussicht auf drei Veranstaltungstage mit ergiebigen Tastings bei kaltem, nassem und stürmischem Schietwetter hatte ausgereicht, um sofort begeistert zuzustimmen. Raue See und rauchiger Whisky, das passte doch hervorragend!

Es gab nur einen Haken an der Sache: Colin Stewart hatte ihnen keine Wahl gelassen, was den Termin anbelangte. In seinem übervollen Terminkalender gebe es nur noch im Juli eine Lücke, so seine klare Ansage. Mitten in der sommerlichen Hochsaison also! Ein suboptimales Timing, wie nicht nur Sebi fand – auch aus Kapazitätsgründen. Das Deichzimmer war bereits weit im Voraus vom Touristenpaar Kroll für zwei Wochen reserviert worden, das Hafenzimmer von Wiebke und Bernd für den gesamten Monat. Der Wunsch des Referenten, die ganze Pension für Whisky-Fans freizuhalten, ließ sich also beim besten Willen nicht umsetzen.

Zum Glück wohnten die meisten, die sich zum Workshop angemeldet hatten, in der Nähe. Da sie abends mit dem Taxi heimfahren konnten und keine Unterkunft brauchten, reichten die verfügbaren Zimmer aus. Für den Dozenten hatte Wiebke das Wattzimmer herausgeputzt, im Strandzimmer würden zwei Teilnehmer nächtigen, die mit der Doppelbelegung einverstanden waren. Einer kam aus Celle, der andere aus Nienburg. In der kleinen Nordseekammer unter dem Dach logierte die einzige an Whisky interessierte Frau, Julie Beyer. Rosa hatte ihr frei nach Udo Lindenberg den Spitznamen Lady Whisky verpasst.

Lady Whisky sprengte durch ihr Gardemaß und die durchtrainierte, aber dennoch sehr weibliche Figur mit phänomenaler Oberweite jeden Rahmen. Wenn sie einen Raum betrat, füllte sie ihn aus. Bernd und Jasper machten keinen Hehl daraus, wie beeindruckt sie von der kurvigen Brünetten aus der Lüneburger Heide waren. Sebi hingegen tat so, als wären ihm ihre Brüste und die endlos langen Beine nicht aufgefallen. Rosa wusste warum: Er wollte keinerlei Anlass zur Eifersucht bieten. Nach sieben Ehejahren hatte er sich zu einem One-Night-Stand hinreißen lassen, mit schwerwiegenden Konsequenzen: eine Scheidung von ihr – und ein Kind mit der anderen. Zehn Jahre später hatte Rosa ihrem Ex-Mann verziehen und ihn zum zweiten Mal geheiratet. Inzwischen war seine Tochter Frieda ein Teenager. Sie lebte in Wuppertal bei der Mutter, zusammen mit ihrem Ziehvater und zwei jüngeren Halbschwestern. Die Sommerferien verbrachte sie oft in der Pension, doch in diesem Jahr würde sie wegen einer Sprachreise nach England erst in den Herbstferien herkommen. Jedes Mal, wenn sie bei ihnen war, wurde Rosa aufs Neue das Happy End dieser Geschichte bewusst. Sebi und sie hatten keinen gemeinsamen Nachwuchs, aber sie hätte auch ein eigenes Kind nicht mehr lieben können als Frieda.

Während Rosa ihren Gedanken nachhing, hatte sie das unablässige Geplapper neben sich zeitweilig ausblenden können, aber nun drang es zu ihr durch.

»… sagt Bernd. Was meinst du, ob er einen Schottenrock trägt, mit nichts drunter?«

»Über was du dir Gedanken machst, Wiebke! Ich gehe nicht davon aus, dass er im Kilt erscheint. Den zieht man, falls überhaupt, nur zu besonderen Gelegenheiten an. Und selbst wenn, auf eine Unterhose wird er kaum verzichten.«

»Schon aus Gründen des Anstands und der Hygiene!«, mischte sich unvermittelt Agnes aus der Speisekammer ein, wo sie Vorräte sortierte. Ihr Mutterschaftsurlaub stand kurz bevor und sie verrichtete nur noch leichte Tätigkeiten. Als Nächstes war das typische Schnaufen zu vernehmen, das Agnes jedes Mal ausstieß, wenn sie sich schwerfällig von ihrem Höckerchen erhob. Kurz darauf bog erst eine gewaltige Kugel und danach der Rest von ihr um die Ecke. Rudi und Ruby, die auf dem Teppich in der Leseecke dösten, flüchteten sofort, als sie heranwatschelte. Der Fluchtinstinkt überkam die Pensionskatzen bei Agnes’ Anblick immer und hing mit ihr als Person, nicht mit ihrem Bauch zusammen – wenngleich dieser in der Tat allmählich beängstigende Ausmaße annahm. Letztens hatte Wiebke scherzhaft gefragt, ob sie denn sicher sei, dass sie nicht doch Zwillinge oder Drillinge austrage. Rosa, die mit ihren eigenen Pfunden permanent haderte, war empört gewesen. Wie unsensibel, sich über eine Schwangere, die auch vorher keine Elfe gewesen war, lustig zu machen, nur weil sie rundum ordentlich zulegte! Zum Glück war Agnes von Natur aus begriffsstutzig. Sie hatte die Anspielung nicht verstanden und todernst erwidert, im Ultraschall sei nach wie vor nur eins zu erkennen.

Das Glöckchen bimmelte. Die Tür wurde geöffnet – diesmal von außen. Der schlaksige Kerl in wetterfestem Friesennerz, der hereinstürmte, war jedoch mitnichten der überfällige Gast, sondern Agnes’ Ehemann. Florian Drossel ermittelte neuerdings bei der Kripo, und Rosa fand es immer noch gewöhnungsbedürftig, dass er im Dienst statt der vertrauten Uniform Zivilkleidung trug. Aus Floris Sicht war dieses Privileg die einzige Veränderung seit dem Wechsel von der Schutz- zur Kriminalpolizei. Hauptkommissar Alf Jürgens, der im vergangenen Jahr Jaspers Nachfolge als Leiter des Kommissariats in Varel übernommen hatte, traue ihm nichts zu, hatte er kürzlich frustriert geklagt. Von komplexeren Dingen würde Jürgens ihn absichtlich fernhalten und mit Routineaufgaben abspeisen, ungeachtet des mit Bravour bestandenen Fortbildungslehrgangs.

»Moin!« Flori nickte ihnen zu und sagte an Agnes gerichtet: »Wollte nur mal kurz schauen, wie’s dir geht, Ness.« Der Versuch, sie in die Arme zu nehmen, scheiterte bereits im Ansatz. Es war ein Ding der Unmöglichkeit. Mit einiger Anstrengung gelang es ihm, sich weit genug vorzubeugen, um ihr ein Küsschen auf den Mund zu schmatzen.

Rosa schmunzelte. Ness … immerhin nicht Nessie.

»Hab ein leichtes Ziehen im Bauch«, wusste Agnes zu berichten.

»Warum hast du mich denn nicht angerufen? Wir fahren sofort ins Krankenhaus!«

»Tanterlatant! Das sind nur Senkwehen«, klärte Wiebke den werdenden Vater auf.

Auch Rosa hielt die Vorsichtsmaßnahme für übertrieben. Aber was, wenn sich doch eine Sturzgeburt ankündigte? Fehlte noch, dass Agnes spontan in der Pension entband. Allein die Vorstellung reichte aus, um Rosa sagen zu lassen: »Fahrt mal lieber ins Krankenhaus, sicher ist sicher. Ein Entbindungstermin ist nicht in Stein gemeißelt, vielleicht hat man ihn falsch berechnet.«

Wiebke unterzog Agnes’ angeschwollene Leibesmitte einer kritischen Musterung. »Könnte sein«, überlegte sie laut. »Na, denn kommt inne Puschen!«

Durch Flori und den Wehenalarm war Rosa so abgelenkt gewesen, dass sie nicht mehr an den überfälligen Whisky-Dozenten gedacht hatte. Das änderte sich schlagartig, als das Glöckchen erneut bimmelte. Alle blickten zum Eingangsbereich, den in diesem Moment ein kleiner, zierlich wirkender Mann mittleren Alters betrat. Zusätzlich zur Reisetasche, die er mit einem Gurt über der Schulter trug, zog er einen großen schwarzen Hartschalenkoffer hinter sich her. Er blieb kurz in der offenen Tür stehen, um den Stockschirm zu schließen. Danach klopfte er ein paar Regentropfen ab, die trotz des Schirms auf dem Sakko seines dunkelgrauen Anzugs gelandet waren. Durchdringend stahlblaue Augen musterten das Quartett an der Rezeption. Rosa erkannte eine entfernte Ähnlichkeit mit James-Bond-Darsteller Daniel Craig. Der Mann hatte die gleichen Augen und eine ähnliche Gesichtsform mit kantigem Kinn. Komplettiert wurde der Eindruck durch die aschblonden Haare, wie bei Craig an den Seiten kurz, am Oberkopf länger und auf eine Art verwuschelt, die beabsichtigt wirkte. Er konnte aber allenfalls als Gesichtsdouble durchgehen, denn neben der Körpergröße fehlte ihm die geschmeidige physische Präsenz des echten Mimen.

»Moin«, sagte der Mann, bei dem es sich zweifellos um Colin Stewart handelte, mit angenehm dunkler, rauchiger Stimme und fügte hinzu: »What dreich weather!«

»Schottisch klingt fast wie Plattdeutsch«, wisperte Wiebke entzückt hinter vorgehaltener Hand. Dann rief sie freudestrahlend: »Moin! Ja, das will ich meinen, wat’n Schietwetter Sie mitgebracht haben, Herr Ste-wart!«

Rosa zischte ihr zu: »Stjuart, nicht Ste-wart.«

Der schottische Gast aus Hannover hatte gute Ohren. Er lachte – sogar das klang rauchig – und schlug vor: »Einfach Colin, okay? Sorry, I`m late … gibt es irgendwo einen Schirmständer?«

Kaum hatte Rosa die Frage bejaht, strömte das dreiköpfige Komitee aus dem Restaurant herbei. Sebi, Jasper und Bernd nahmen Colin in Empfang, Agnes verabschiedete sich und wankte, auf Flori gestützt, durch den Flur Richtung Hintertür, die zum Parkplatz auf dem Hof führte. Gleichzeitig kündigte das Klackern hoher Absätze auf der Treppe Julie Beyer an. Es konnte nur sie sein. Der andere weibliche Gast, Frau Kroll, war samt Ehemann in aller Frühe nach Wilhelmshaven gefahren. Davon abgesehen benötigte Frau Kroll orthopädische Einlagen, die nur in flache Schuhe passten.

»Hi!«, flötete Lady Whisky und stöckelte die letzten Stufen nach unten. »Wie schön, dich wiederzusehen, Colin. Unser letztes Tasting ist viel zu lange her …« Sie zeigte ihre makellosen Zähne und die Zungenspitze. Mit dieser befeuchtete sie ihre kirschrot geschminkten Lippen, bevor sie fortfuhr: »… für meinen Geschmack.«

»Julie! Such a surprise.«

Colins Lächeln wirkte auf Rosa freundlich, aber irgendwie gekünstelt, da es sich nicht in seinen kühlen Augen widerspiegelte. Der folgende Begrüßungstalk ging hauptsächlich von der Lady aus, die auf ihren hohen Hacken gut einen Kopf größer war als ihr Gesprächspartner. Sie stellte viele private Fragen, die Colin häufig nur knapp mit Aye oder Nein beantwortete. Mitteilsamer wurde er erst, als sie sich nach Einzelheiten des Workshops erkundigte. Rosa hörte fasziniert zu, als Colin die Programmpunkte erklärte. Ihr Interesse galt weniger dem, was der gebürtige Schotte sagte, als der Artikulation. Abgesehen von einem leichten Hang zum Kauderwelsch sprach er ein hervorragendes Deutsch, mit rollendem R und einer ulkigen Betonung, die sich vom typisch englischen Akzent unterschied. Ch klang bei ihm hart, so wie im schottischen Wort Loch. Endungen mit en vernuschelte er, drüben klang bei ihm wie drüm.

Unterdessen trippelte Wiebke auf der Stelle und lugte ständig in den Gang, der zu den zwei Gästezimmern im Erdgeschoss führte. Im Hafenzimmer logierte sie mit Bernd, daneben lag das zum Wiesnzimmer umdekorierte Wattzimmer. Rosas Vermutung, dass Wiebke darauf brannte, es dem Dozenten endlich zu präsentieren, bestätigte sich Sekunden später.

»So, jetzt zeige ich Ihnen erst einmal Ihr Reich, damit Sie Ihren Koffer abstellen und sich frisch machen können.«

»Very gut idea«, befand Colin.

Just in dieser Sekunde bimmelte ein weiteres Mal das Glöckchen. Ein sportlicher Typ, Ende dreißig und mit Basecap, betrat die Pension. Er stellte sich als Teilnehmer Erik Henzen vor. Colin und er schienen gute Bekannte zu sein, entsprechend ausführlich war die Begrüßung. Wohl oder übel musste Wiebke noch über fünf Minuten ausharren, bis der Dozent ihr endlich folgte. Rosa kümmerte sich um Herrn Henzen. Sie führte ihn zum Strandzimmer, das sich im ersten Stock befand, und öffnete es mit dem Chip.

»Normalerweise stehen die Betten mitten im Raum als Doppelbett zusammen, wir haben sie so weit wie möglich auseinandergeschoben. Ich hoffe, es ist in Ordnung so?«

»Alles wunderbar«, versicherte Herr Henzen.

Rosa ging wieder nach unten. Kurz bevor sie die Rezeption erreichte, war ein lautes »Uh, I’m blinded! Das tut ja in den Augen weh!« zu hören, gefolgt von dröhnendem Gelächter. Beides kam aus dem Wattzimmer, genauso wie Sekunden später Wiebke, die beleidigt vor sich hin schimpfte: »Da meint man es nur gut … also eins sag ich dir, euer Fipp ist bei mir unten durch.«

2Schalenhüter

»Wie wär’s mit Granat, fangfrisch vom Kutter?«, schlug Sebi vor. Doch sein Versuch, die kleine Gruppe vom Deich in Richtung Hafen zu lotsen, scheiterte. Colin Stewart fuhr fort, die Zubereitung von Haggis zu schildern – in sämtlichen unappetitlichen Einzelheiten.

»Man braucht einen leeren Schafsmagen. Then a Leber, Lunge, Herz and Hirn vom sheep. Die Innereien werden für zwei Stunden gekocht.«

»Mäh«, machte eines der wolligen Deichschafe. Mehrere andere schlossen sich ihm an. Ahnungsvoll schielte Sebi zu Rosa, die Schafe gern hatte. So sehr, dass sie es nicht über sich brachte, ihr Fleisch zu essen. Wenn er gelegentlich ein schönes zartes Lammfilet zubereitete, lehnte sie immer dankend ab. Rosas angewiderter Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass Colin es sich, nach Wiebke, soeben auch mit ihr verscherzt hatte.

»Then gießt man das Wasser in einen anderen Topf ab. Die Schafsinnereien werden fein gehackt«, redete Colin ungerührt weiter. »Man vermengt sie mit roasted Hafermehl and a little bit Brühe. Der Schafsmagen wird mit dieser Mischung gefüllt, zugenäht and rundum mit der Gabel eingestochen. Then ab damit zu der restlichen Brühe, bei Bedarf Wasser zugießen and alles noch mal drei Stunden kochen lassen. Dazu Kartoffeln and a solid Scotch. Best auf der ganzen Welt!«

Ein gequältes Stöhnen bahnte sich den Weg aus Sebis Brust. Hätte es doch einfach weiter so geplästert wie morgens! Bei Regen wäre er nicht auf die Idee gekommen, einen Verdauungsspaziergang durch den Ort vorzuschlagen. Wer hätte ahnen können, dass der Anblick einer friedlich grasenden Schafsherde den Dozenten animieren würde, sich zu erkundigen, ob es abends Haggis gebe? Zu seiner sichtlichen Enttäuschung war die Antwort negativ ausgefallen. Rosa hatte nie zuvor von dieser Speise gehört und spontan nachgefragt, was das sei. Jetzt war sie im Bilde.

Als besonnener Mensch neigte Sebi nicht dazu, vorschnell über jemanden zu urteilen, doch auch bei ihm verlor Colin Stewart einen Sympathiepunkt nach dem anderen. Schafe weidete er ohne jede Zimperlichkeit aus, zumindest verbal. Beim Anblick einer geköpften Maus hingegen hatte er sich am Mittag als Katzenhasser geoutet und darauf gedrungen, die Moggies von den Pensionsräumen fernzuhalten. So verächtlich, wie er das Wort ausgespuckt hatte, bedeutete es wohl Katzenviecher oder so etwas in der Richtung. Jedenfalls nichts Nettes. Keine Frage, das mit den Mäusen mussten Rosa und er den beiden abgewöhnen. Diese neue Angewohnheit konnte man in der Tat keinem Gast zumuten, doch der Ton machte die Musik – und Colins Ton hatte Sebi verärgert. Rudi und Ruby hockten seither eingesperrt im Anbau, die Klappe für den Freigang war provisorisch verriegelt. Nur so ließ sich verhindern, dass Colin nochmals über eine Katze oder deren vor der Rezeption abgelegte Beute stolperte.

Überdies schrie die Selbstverliebtheit des Masters zum Himmel. Er bildete sich allerhand auf seine Mitgliedschaft im elitären schottischen Whisky Club der Keepers of the Quaich ein, was übersetzt so viel wie Hüter der Schale bedeutete. Beim Mittagessen hatte er dem gebannt lauschenden Publikum, bestehend aus Jasper, Bernd, Erik und Julie, ausführlich davon erzählt. Wie er damals vor zehn Jahren in Blair Castle, dem Sitz des Duke of Atholl, in einer feierlichen Zeremonie seinen Eid geleistet und mit der rechten Hand auf dem riesigen Silberquaich geschworen habe, den Geist der Keepers of the Quaich und deren Ziele aufrecht zu erhalten. Und dass ihm vor einigen Wochen aufgrund seiner Verdienste die Ehre des Aufstiegs zum Master zuteilgeworden sei, begleitet von einer Laudatio und einem opulenten Dinner. Als Ehrengarde seien die Atholl Highlanders anwesend gewesen, Dudelsackspieler hätten für die musikalische Untermalung gesorgt.

Ja, er hörte sich selbst gern reden. Auf seinem Fachgebiet war der Schalenhüter in der Tat eine Koryphäe, das musste man anerkennen. Und Haggis war nun mal Kult – schwerlich zu verstehen, aber Geschmäcker waren bekanntlich verschieden. Sebi verlangte es jedenfalls genauso wenig wie Rosa danach, das schottische Nationalgericht zu probieren, geschweige denn zuzubereiten. Das heutige Menü würde den Master jedoch hoffentlich über das Fehlen von Haggis hinwegtrösten. Alle Speisen waren bereits vorbereitet, Joline musste während der Veranstaltung nur noch Kleinigkeiten erledigen. Sebis Laune besserte sich augenblicklich, als er an die maritimen Delikatessen dachte. Ein Entree aus gebratenen Garnelen an Sellerie-Apfel-Birnen-Salat mit einer Vinaigrette aus gerösteten Haselnüssen. Kabeljau-Steaks mit Kräuterkruste aus dem Ofen, dazu Tomaten-Relish und pürierte Kartoffeln als Hauptgang. Zum Dessert eine fruchtige Orangen-Tarte … allein die Vorstellung ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen.

»Sollen wir weitergehen? Ist ziemlich frisch hier im Wind«, klagte Julie unvermittelt.

»Meine Rede.« Sebi sah zu, wie Julie bibbernd am Reißverschluss des dünnen Designer-Jäckchens zerrte. Doch so sehr sie sich abmühte, ihre hochgepushte Oberweite erlaubte es nicht, die knapp geschnittene Jacke bis obenhin zu schließen. Auch ihre Beine waren dem peitschenden Wind in einer Kombination aus Minirock und Netzstrumpfhose nahezu schutzlos ausgesetzt.

Rosa zog ihre Kapuzenjacke aus. »Nehmen Sie die, mir reicht meine wärmende Speckschicht.«

Nachdem Julie sich in die Leihgabe eingewickelt hatte, marschierte Rosa los. Erstaunlicherweise konnte Julie trotz ihrer High Heels mühelos mithalten. Als Sebi ihnen folgte, kam in Bernd und Jasper ebenfalls Bewegung. Erik und der Schalenhüter bildeten mit einigem Abstand die Nachhut. Gelegentliche Blicke nach hinten zeigten Sebi, dass beide Männer-Duos sich im Gehen angeregt unterhielten. So bot sich ihm eine unverhoffte Gelegenheit, den Ablauf der drei Veranstaltungstage noch einmal gedanklich durchzugehen. Beginn heute um vier Uhr, nach der obligatorischen Vorstellungsrunde Einführung in Geschichte und Herstellung des Whiskys. Außerdem schottische Whisky-Regionen und charakteristische Merkmale jedes Gebiets, dazu drei Kostproben. Gemeinsames Dinner ab acht Uhr. Das große Tasting würde am zweiten Tag stattfinden, im Rahmen von Sensorik-Schulung, Verkostungstechnik und der Vorstellung verschiedener Whisky-Stile. Dazwischen gemeinsamer Lunch mit anschließender langer Mittagspause zur Regeneration, Ende gegen acht Uhr abends mit einem kleinen Imbiss. Am letzten Tag gemeinsames Frühstück, Vertiefung des Erlernten und nach dem Lunch das Programmhighlight: seltene und limitierte Abfüllungen. Neben der der Möglichkeit, Raritäten aus dem Bestand des Masters zu probieren, konnten Teilnehmer auch eigenen mitgebrachten Whisky begutachten lassen. Abschließend würde der Master noch Zertifikate ausstellen. Auf die waren einige Teilnehmer besonders scharf.

Beim konzentrierten Nachdenken hatte Sebi weder auf die Zeit noch auf die Umgebung geachtet. Überrascht registrierte er, dass sie fast angekommen waren. Die Pension Zum Jadebusen lag nur zehn Gehminuten hinter dem Deich, auf der gegenüberliegenden Straßenseite konnte man sie bereits sehen. Rosa und Julie wollten die Dorfstraße überqueren, im selben Augenblick ertönte ein lang gezogenes Hupen und ein dunkelgrauer BMW raste in überhöhter Geschwindigkeit heran. Gerade noch rechtzeitig hüpften die Frauen zurück. Eine Sekunde später bremste der Raser scharf und bog in die Hofeinfahrt.

»So ein Arsch!«, schrie Julie.

»Aber echt«, pflichtete Rosa ihr bei.

»Direkt den Führerschein abnehmen«, kam von Bernd und Jasper wie aus einem Munde. Colin knurrte etwas, das wie glikit klang. Was immer das auch bedeutete, es war nichts Nettes.

Erik erkundigte sich: »Kennen Sie den Verkehrsrowdy?«

»Nein.« Beim Versuch, trotz ihrer leichten Kurzsichtigkeit das Nummernschild zu entziffern, kniff Rosa die Augen zusammen. »CE … Celle … oje, ich nehme an, das ist der Gast, mit dem Sie sich das Zimmer teilen, Erik.«

Sebi kam zum gleichen Schluss. Ein Teilnehmer wohnte in Celle und war schon für den Mittag erwartet worden. Gegen halb zwölf hatte er angerufen, um Bescheid zu geben, dass er im Stau stehe und sich verspäte. Sebi beobachtete, wie der Mann aus dem Auto stieg. Er war Anfang vierzig, mittelgroß und stämmig. Sein kurzes, dunkelbraunes Haar sah so akkurat geschnitten aus, als käme er frisch vom Friseur. Trotz des bequemen Outfits aus Jeans, T-Shirt und Sneakers wirkte seine Körperhaltung unentspannt. Als er sich umdrehte, stellte Sebi fest, dass die Gesichtsmuskulatur genauso verkrampft war wie der Rest von ihm.

Grimmig nahm der BMW-Fahrer die näherkommende Gruppe ins Visier und brüllte: »Erst stehen, nach links und rechts schauen, dann gehen – als Kinder nie gelernt?«

»Herr Korte?«, fragte Sebi, die unverschämte Verdrehung der Tatsachen ignorierend. Rosa trat an seine Seite und fügte übertrieben freundlich hinzu: »Herzlich willkommen in der Pension Zum Jadebusen!«

Ruben Korte entgleisten die Gesichtszüge, als er begriff, dass die Pensionswirtin eine der beiden Frauen war, die er beinahe über den Haufen gefahren hatte. Es dauerte eine Schrecksekunde, bis sich sein angespannter Kiefer lockerte und er sprechen konnte. »Mist, mein Einstand war nicht der Beste!«, presste er hervor. »Okay, ich kann das erklären. Stress bei der Arbeit … und nach zwei Stunden im Stau musste ich noch ewig hinter einem Scheintoten über die Landstraße kriechen. Erst kurz vorm Ortsschild Dangast konnte ich den überholen und hab zu sehr aufs Gas getreten. Ich entschuldige mich vielmals und kann nur hoffen, dass Sie mir verzeihen!«

3Schlaandschewah

 

Der hintere Teil des Restaurants war mit wenig Aufwand zum Seminarraum umfunktioniert worden. Rosa hatte vorgeschlagen, alle Esstische in die Nähe des offenen Küchenbereichs zu schieben, wo später das Menü eingenommen werden sollte. Hinten standen nur noch drei kleine runde Tische, die für die Verkostungen mit Gläsern, Wasserkaraffen und Whisky bestückt waren. Sebi hatte ein gutes Dutzend Stühle halbkreisförmig aufgestellt, damit alle beim theoretischen Teil die Power Point Präsentation gut verfolgen konnten. Nachdem alle Vorbereitungen für das Essen abgeschlossen waren, wartete Rosa mit Wiebke und Aushilfe Joline an der Kücheninsel.

Wiebke seufzte und tastete mit beiden Händen den Sitz ihrer mit viel Haarspray fixierten Löckchen ab. Dabei zischelte sie: »Kommt der Schotte heut noch zu Potte?«

»Schön wär’s, aber der labert und labert einfach immer weiter. Hat schon eine Viertelstunde überzogen«, beschwerte sich Joline.

»Wheesht!«, machte Colin und führte den Zeigefinger vor den Mund.

Ja, es war eine Spur zu laut, dachte Rosa, doch wer sollte es ihnen verübeln, dass sie allmählich ungeduldig wurden. Vor allem Joline, die in Oldenburg studierte und regelmäßig in der Pension jobbte, hatte Grund dazu. Ihr Freund Max wohnte in Münster und war an diesem Wochenende zu Besuch. Trotzdem hatte sie sich netterweise bereiterklärt, spontan für Agnes einzuspringen, der nach dem Wehen-Fehlalarm für den Rest des Tages Bettruhe verordnet worden war. Rosa wusste, dass Jurastudent Max in der Prüfungsphase steckte und das Paar sich zurzeit noch seltener sehen konnte als sonst. Deswegen hatte sie vorgeschlagen, ihn mitzubringen. Nach anfänglichem Zaudern war Max Teil der mit Namensschildchen ausgestatteten Seminarrunde. Für Whisky interessierte er sich zwar nicht sonderlich, aber die Alternative wäre gewesen, bis spät abends allein herumzuhängen.

»Der ist gleich fertig«, sagte Rosa hoffnungsvoll. »Guck mal, Joline, war eine gute Idee, Max einzuschleusen. Er hört sehr aufmerksam zu.«

»Ja, weil ich ihm eben in der Pause gesteckt habe, wie krass viel Geld die anderen für ihre Teilnahme bezahlen müssen.«

Die Randbemerkung von Wiebke ließ keine Sekunde auf sich warten. »Soso, weiß dein Jurist also den geschenkten Gaul doch noch zu schätzen.«

Rosa schmunzelte und schaute zu Max. Links neben ihm saß Ruben, den sie inzwischen recht sympathisch fand. Jedenfalls war er ein angenehmerer Mensch als Colin, und dass seine Nerven zuvor blank gelegen hatten, konnte sie nachvollziehen. Wie wohl jeder, der einmal in Eile gewesen und durch einen langen Stau ausgebremst worden war. Jeder, bis auf Master Colin. Der hatte Rubens Entschuldigung mit einem Hinweis auf gute Manieren, die man sich nicht kaufen könne, beantwortet. Der reuige Raser bemühte sich zumindest, den schlechten ersten Eindruck wieder gutzumachen, während Colin Stewart es genau umgekehrt hielt. Er tat alles, um den guten ersten Eindruck zu ruinieren. Sogar Sebi nervten die Star-Allüren. Das schloss Rosa aus seiner unterlassenen Hilfeleistung bei Colins zunächst erfolglosen Versuchen, Laptop, PowerPoint und Beamer zum Laufen zu bringen. Mit der Technik kenne ich mich nicht aus, hatte Sebi behauptet, ohne mit der Wimper zu zucken.

Die Schlussrede des heutigen Abends dauerte an. Lady Whisky hing natürlich an Colins Lippen. Ob Inhaltliches der Grund war, warum sie begierig jedes Wort des Masters aufsaugte? Das wagte Rosa zu bezweifeln. Es sollte ja Frauen geben, die auf kleine Männer standen … oder auf verheiratete … aber womöglich tat sie ihr Unrecht und Lady Whisky wusste nichts von Colins Ehefrau.

Sebi, Bernd, Jasper, Max, Ruben, Erik und auch Leander, ein guter Freund des Hauses, hatten schon mehrere Male verstohlen auf ihre Uhren und zur Kücheninsel geschaut. Nur der harte Kern, wie Rosa die externen Teilnehmer nannte, zeigte noch keine Ermüdungserscheinungen. Zum harten Kern gehörten der Besitzer des Marten’s Scotch Pub in Wilhelmshaven und sein Barmann sowie vier Mitglieder eines Whisky Clubs.

»More than drei Jahrzehnte Whisky-Erfahrung haben gezeigt, dass Tagesseminare, geführte Tastings and Wochenend-Veranstaltungen wie diese as well nicht ausreichen. Not for specialists oder solche, die es werden wollen. In einem so begrenzten Zeitraum lassen sich Inhalte leider nur anreißen, aber nicht the details …« Wie zum Ausdruck seines Bedauerns legte Colin die Stirn in Falten und hielt für eine rhetorisch perfekt getimte Pause inne. Plötzlich glätteten sich wie durch ein Wunder die tiefen Furchen auf seiner Stirn, er lächelte gewinnend, breitete die Arme aus und fuhr fort. »Aus diesem Grund startet ab dem kommenden Jahr meine Master Academy in Hannover. For all, die mehr wollen – and that in einem stilechten Ambiente nach dem Vorbild der Clubräume schottischer Brennereien. Die Master-Akademie umfasst ein Grundsemester, ein vertiefendes Aufbausemester and finally the Masterclass. Erfolgreiche Absolventen are qualified for eine von mir geleitete Abschlussfahrt nach Schottland. Two weeks with Insiderwissen vor Ort … bei Interesse sprecht mich einfach jederzeit an.«

Ein Werbeblock in eigener Sache! Das erklärte manches, dachte Rosa. Sebi hatte gerätselt, wie es Jasper gelungen war, einen Hochkaräter wie Colin Stewart zu einem Workshop im beschaulichen Dangast und ausgerechnet in ihrer bescheidenen Pension zu überreden – das Honorar allein könne es nicht sein. Jetzt war die Sache glasklar: Es ging Colin darum, nebenbei seine Akademie anzupreisen. Bevor irgendjemand auf die Idee kam, den Master beim Wort zu nehmen und sogleich Interesse zu bekunden, begann Rosa zu applaudieren. Die anderen folgte ihrem Beispiel. Gleichzeitig bimmelte Wiebke mit dem Rezeptions-Glöckchen und rief in einem Ton, der keine Widerrede duldete: »Nu wolln wir mal erst n büschn essen!«

 

Die Sitzordnung war nicht festgelegt gewesen, aber natürlich thronte Colin zentral, eingerahmt von Julie und Erik. Jasper, Leander und Bernd saßen links, Max, Ruben und Sebi rechts daneben, die Männer vom Whisky Club und dem Marten’s Scotch Pub gegenüber. Rosa und Wiebke hatten sich die Plätze vor Kopf gesichert. Nicht, weil sie sich als head of the table fühlten, wie Colin ihnen andichten wollte, sondern weil sie von dort am besten Joline beispringen konnten. Vorspeise und Hauptgang des Küchenchefs waren super angekommen – sogar bei Colin, der zum Glück kein Wort mehr über den fehlenden Haggis verloren hatte.

Nachdem bei Tisch alle ihre Namensschildchen abgelegt hatten, war man schnell zum Du übergegangen. Mittlerweile konnte Rosa jeden beim Namen nennen. Nur zwei Teilnehmer brachte sie immer wieder durcheinander. Terence Wolter und Raimund Overlach vom Whisky Club hätten Brüder sein können, so ähnlich sahen sie sich. Beide hatten keine Haare auf dem Kopf, was sie durch üppige Gesichtsbehaarung in Form von dichten rostroten Rauschebärten ausglichen. Sie waren klein, gedrungen und ihre gewaltigen Wampen, über denen sich beige-braune Flanellhemden und dunkle Lederwesten mit öliger Patina spannten, machten wahrhaftig Agnes’ Schwangerschaftskugel Konkurrenz. Jasper und Bernd, beide um die Taille nicht die Schlanksten, wirkten gegen diese wandelnden Whiskyfässer schmal.

Der Vorsitzende des Clubs, Christopher von Sellenstett, bot optisch das genaue Gegenteil: ein groß gewachsener, schlanker Anzugträger mit schulterlangen hellen Haaren, streng nach hinten gekämmt und im Nacken zusammengebunden. Henri Dudek, das vierte Clubmitglied, war ein Durchschnittstyp, mittelgroß, mittelschlank und mittelblond. Sein herausragendstes Merkmal war die Schweigsamkeit – er trug als Einziger kaum ein Wort zur Unterhaltung bei. Möglicherweise lag es am Dekolleté seines Gegenübers. Direkt vor Henris Augen erhoben sich zwei pralle Hügel, in deren tiefem Tal eine Perlenkette verführerisch schimmerte. Julie setzte ihre Reize wenig subtil in Szene.